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Geschichte des deutschen Strafrechts und der Strafrechtstheorien 1. (einziger) Band des Handbuchs des deutschen Strafrechts Carl Ludwig von Bar 1882

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Geschichte des deutschen Strafrechts undder Strafrechtstheorien

1. (einziger) Band des Handbuchs des deutschen Strafrechts

Carl Ludwig von Bar

1882

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Inhaltsverzeichnis

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A. Vorwort zur OriginalausgabeSeite XXI

Es ist begreiflich, dass unmittelbar nach dem Erscheinen eines umfassenden einheit-lichen Gesetzbuches eine interpre-tirende, dialektische Behandlung des Rechts in denVordergrund tritt. Indess wird dieser Richtung gegenüber auch die mehr historische Be-handlung ihr Recht in Anspruch nehmen dürfen; auf ihr soll dies Handbuch ruhen, dessenersten Band ich hiermit der Öffentlichkeit übergebe; es soll das deutsche Strafgesetzbuchin allen seinen Teilen und Bestimmungen, wie in seiner Gesamtheit als Ergebnis einerlangen Vergangenheit zu erfassen und darzustellen versuchen. Dieser Versuch schliesst je-doch ebensowenig eine philosophische Behandlung wie eine praktische Verwertung aus;er fordert vielmehr erstere, wenn wir die Geschichte nicht auffassen als ein beliebigesKonglomerat von Tatsachen, und er führt zu letzterer hin, da der Ueberblick über einelange Entwicklung sicherer den Sinn einer gesetzlichen Bestimmung entziffern lässt, alsder leichtere, aber nicht selten irre führende Weg glänzender Dialektik. Nebenbei wer-den wir aber so auch Schlüsse ziehen können auf die künftige Entwicklung des Rechtes;mindestens werden wir davor bewahrt bleiben, alte Irrtümer, die immer wieder in modi-schem Aufputz aufzutauchen pflegen, für neue Wahrheiten zu halten und durch sie unsden Weg des stetigen und wahren Fortschritts versperren zu lassen, mindestens auch inden Stand gesetzt werden, wirkliche Sachkunde von einem Dilettantismus zu unterschei-den, der nicht selten mit Reformvorschlägen hervortritt, aber seine Wissenschaft etwakaum aus den neuesten Bänden der Zeitschriften oder nur aus der neuesten Zeitströmung

Seite XXIIbezogen hat. Um jenes Ziel anzustreben — das wirkliche Erreichen mag ausgeschlossensein — war es aber erforderlich, der geschichtlichen Betrachtung der einzelnen Rechts-sätze eine Gesamtgeschichte des deutschen Strafrechts vorangehen zu lassen, nicht eineGeschichte in dem Sinne, dass man darin eine vollständige Aufspeicherung aller jemalsgewesenen Strafrechtsnormen zu erwarten hätte, wohl aber eine Geschichte, welche esunternimmt, die jedes Mal wesentlichen Momente der Entwicklung scharf und zugleichgenügend konkret und im Zusammenhange mit, der allgemeinen Kulturgeschichte her-vortreten zu lassen. Und nicht nur eine Geschichte des Rechtes selbst war notwendig; esmusste hinzukommen eine Geschichte der Philosophie des Strafrechts (der Strafrechts-theorien); denn die Philosophie gehört zur Geschichte; sie wirkt gewissermaßen wie einBrennspiegel; indem sie die Wirklichkeit und ihre Bedürfnisse in allgemeinen Schlussfol-gerungen reflektiert, lässt sie diese in der Zukunft zünden, und gerade in der Geschichtedes Strafrechts ist die Wirksamkeit der philosophischen Betrachtung eine besonders be-deutsame gewesen und wird es voraussichtlich auch in der Zukunft sein. Eine derartigegeschichtliche Betrachtung aber wird die einzelnen Strafrechtstheorien nicht nur nachihrer abstrakten Richtigkeit, sondern auch nach ihrer Stellung zu den jedes Mal beson-ders wichtigen Bedürfnissen des praktischen Kulturlebens zu würdigen haben. Freilich

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A. Vorwort zur Originalausgabe

kann die Frage aufgeworfen werden, ob es schon jetzt im Hinblick auf die stets wei-ter fortschreitende Detailforschung, namentlich auf dem Gebiete des deutschen Rechtsangezeigt sei, eine allgemeine Geschichte des deutschen Strafrechts zu schreiben, undgewiss wird eine solche allgemeine Geschichte der Lücken und Mängel genug aufzuwei-sen haben. Aber von Zeit zu Zeit ist meines Erachtens es wünschenswert, eine solcheallgemeine Geschichte eines Zweiges unseres Rechts zu unternehmen, weil ohne dies dieErgebnisse der historischen Detailforschung für die Lösung wichtiger Einzelfragen desgeltenden Rechtes, für die allgemeine Anschauung der Praktiker und der für die Ge-setzgebung massgebenden Kreise im Grossen und Ganzen ungenützt bleiben. Über dieAusführung einer solchen allgemeinen Geschichte im Einzelnen wird sich streiten lassen.Vollständigkeit ist da. wenn nicht unter der Masse

Seite XXIIIder Einzelnheiten die leitenden und fruchtbringenden Gesichtspunkte verloren gehensollen, unmöglich. Ein gewisser Takt, über den sich sehr streiten lässt, muss da den Aus-schlag geben und der Schriftsteller sich darein ergeben, wenn er es etwa so unglücklichangefangen hat, dass die Auswahl Vielen miss-fällt und nur sehr Wenigen zusagt. Ver-langen kann man nur, dass der Schriftsteller die Einzelnheiten in ausreichendem Massekenne, dass er überall aus den besten Quellen und nicht lediglich aus den Werken, welcheüber die Geschichte geschrieben sind, schöpfe. Dies letztere m. E. unumgängliche Erfor-dernis brachte hier für meine Kräfte auch eine Beschränkung, die Beschränkung auf dieGeschichte des deutschen Strafrechts, den Aus-schluss der Geschichte selbst stammver-wandter Kulturvölker, den Ausschluss auch der Geschichte des nordischen Strafrechts,wenngleich hier und da auf auswärtiges Recht und auswärtige Rechtsentwicklung auf-merksam gemacht werden durfte.*)1 Eine kurze Geschichte des römischen Strafrechts,welches ja zu einem sehr erheblichen Teile bei uns rezipiert ist, war erforderlich, und ichhabe sie der hergebrachten Weise entsprechend — ungeachtet einer abstrakten Betrach-tung zufolge in einer Geschichte des deutschen Strafrechts mit dem Deutschen begonnenwerden und das rezipierte Fremde nur einen Inzidentpunkt bilden müsste — auch ausdem Grunde vorangeschickt, weil die Rezeption des römischen Rechts, wenigstens dermittelbare Einfluß desselben sehr früh beginnt, so früh, dass eine Geschichte des reinendeutschen Strafrechts nach den uns zu Gebote stehenden Mitteln nur einen kaum genaugenug abzuscheidenden Zeitraum erfüllen würde. Überall hat mir bei meiner Arbeit —und so wird es auch bei der Fortsetzung der Fall sein — die „liebevolle Hingabeän denStoff als Ideal vorgeschwebt. Es war mir nicht darum zu tun, neue und blendende Re-sultate zu gewinnen. Ich hielt es bei dieser Arbeit schon für lohnend die von Anderengewonnenen Resultate in einer allgemein zugänglichen, nicht allzu abschreckend gelehr-ten und abstrakten Darstellung in weiteren

Seite XXIVKreisen, möglicher Weise — was die Geschichte des Strafrechts betrifft — auch in gewis-sem Umfange Nichtfachmännern, vielleicht überhaupt manchem Gebildeten nutzbar zu

1In der Geschichte der Strafrechtstheorien sind auch nur diejenigen ausländischen Schriftsteller be-rücksichtigt, bei denen nachweisbar ein wirklicher Einfluss auf die deutsche Literatur stattgefundenhat.

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machen; was ja allerdings nicht ausschliesst, dass ich gelegentlich auf eine neue Auffas-sung kommen könnte. Immer aber war ich der Meinung, dass das Neue, welches haltbarist, in der Rechtstheorie nur eine Fortbildung des Früheren, nicht etwas absolut Neu-es,Ueberraschendes sein werde. Aus diesem Gesichtspunkte betrachte ich auch meineeigene Auffassung des Grundprinzips des Strafrechts. Sie fast vielleicht nur das, was ausden früheren Theorien haltbar erschien, unter einem allgemeinen Gesichtspunkt zusam-men und ist in diesem Betrachte nicht original. Aber auf Originalität kann es bei einerzusammenfassenden Arbeit nicht ankommen, bei welcher der Einzelne ohnehin empfin-det, dass sein Anteil an dem grossen Ganzen der wissenschaftlichen Entwicklung dochnur ein verschwindend kleiner sein kann, und bei welcher er meines Erachtens daherauch von vornherein die relative Wahrheit, den haltbaren Kern abweichender Ansichtenso weit als möglich anzuerkennen bestrebt sein wird. Dieser Standpunkt der relativenBerechtigung wird dann aber auch zu Gunsten dieser ganzen Arbeit angerufen werdenkönnen, deren Verfasser die besonderen Vorzüge anderer umfassender Arbeiten auf demGebiete des Strafrechts, insbesondere des v. Holtzendorffschen aus Einzelbeiträgen be-stehenden Handbuchs, des neuen Systems Hälschner’s gern anerkennt. Die vorhandenenLehrbücher von Berner, Schütze, Hugo Meyer und v. Liszt verfolgen andere Zwecke undmachen aus diesem Grunde die hier unternommene Arbeit nicht überflüssig.Göttingen, im März 1882.L. v. Bar.

Seite XXV

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A. Vorwort zur Originalausgabe

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B. Übersicht

Übersicht I. Geschichte des deutschen Strafrechts. A. Das römische Strafrecht. §. 1. Ver-schiedene Ausgangspunkte des Strafrechts. Rache, Zwang durch die Autorität, Religion.§§. 2. 3. Bedeutung des sog. sacralrechtlichen Elements des röm. Strafrechts; frühes Zu-rücktreten der Privatrache; nachweisbare Reste der letzteren. §. 4. Die öffentliche Strafe;Begriff der Perduellio; die Multae irrogatio durch die Plebs. §§. 5. 6. Unbestimmtheitdes röm. öffentlichen Strafrechts; Abgrenzung von Recht und Moral; die Rechtssphä-re des Individuums im Ver-hältniss zur öffentlichen Gewalt; die Rechtswissenschaft; dierealen Gründe der Mangelhaftigkeit des röm. Strafrechts. §. 7. Charakter der Strafge-setze der XII Tafeln. §. 8. Strafgewalt der Hausväter über Kinder, Ehefrauen, Sklaven,die Nota censoria; die Infamie im Privatrecht, die Popularklagen, als Ergänzung des öf-fentlichen Strafrechts. §. 9. Die Strafgesetzgebung der späteren republikanischen Zeit.§. 10. Strafensystem dieser Zeit; aristokratisch-milder Charakter desselben; Entziehungund Schmälerung politischer Rechte. §. 11. Reale Gründe des späteren Umschwunges;das militärische Strafrecht; das Strafrecht in den Provinzen; Härte des öffentlichen Straf-rechts gegen Sklaven; das Exil, spätere Bedeutung desselben; grobe Verbrechen in denhöchsten Kreisen zur Zeit Cäsars und der ersten Kaiser. §. 12. Die einzelnen Veränderun-gen des Strafensystems in der Kaiserzeit; Relegation und Deportation; Wiederaufnahmeder Todesstrafen; körperliche Züchtigungen; Freiheitsstrafen (?); Verwendung der Ver-urteilten zu öffentlichen Arbeiten; Verurteilung zur Bergwerksarbeit n. s. w., zum Gla-diatorenspiel; Unfähigkeitserklärung- in Bezug auf öffentliche Ämter, Gewerbebetrieb.§. 13. Nebenstrafen: Infamie, Vermögensconfiscationen, die Delatoren. §. 14. Charakteri-sierung der mit Strafe bedrohten Handlungen; Schutz des Privatrechts, der Sittlichkeit;Privatdelikte, Versuch und Teilnahme. §. 15. Das Crimen majestatis. §. 16. Die Chris-tenverfolgungen, Zusammenhang derselben mit dem Strafrechte und dem öffentlichenRechte d. röm. Staates überhaupt. §. 17. Zauberei und Wahrsagen. §. 18. PraktischeWirkungen und Handhabung des Strafrechts; die Beamtenjustiz; Verfolgung der Ver-brechen von Amtswegen. §. 19. Die Jurisprudenz, ihre Bestrebungen, ihre dauerndenErfolge; Gründe der Mangelhaftigkeit der röm. Strafrechts-Jurisprudenz im Vergleich zuder Blüte der Wissenschaft des Privatrechts. §. 20. Die spätere Kaiserzeit;

Seite XXVIEinfluß des Christentums; Strafgesetze zum Schutze der Kirche und gegen die Übergriffeder letzteren; Reflex der Not des Staates in den Strafgesetzen; Todesstrafen begründetdurch die eindringenden Ideen und Auffassungen des mosaischen Strafrechts; Willkür-lichkeiten; der dauernde Gewinn aus dem röm. Strafrecht für die spätere Kultur . . . S.1-50.B. Das älteste deutsche Strafrecht. §. 21. Die Rache des Verletzten als Grundlage des

ältesten deutschen Strafrechts; Öffentliche Strafe nur als Rache des Gemeinwesens gegen

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B. Übersicht

unmittelbare Verletzung oder Gefährdung des letzteren selbst; die Compositio als Bei-legung der Rache (Fehde); Friedensvermittelung der Gemeinde; der Fredus, als Gebührursprünglich für den vermittelten Frieden; die Friedlosigkeit der nordischen Rechte; dasVerbrechen nach germanischer Auffassung nicht formeller Friedensbruch, sondern ma-terielle Rechtsverletzung (Sittlichkeitsdelikte ?). §. 22. Bruch des besonderen Friedens,Dingfriedens, Königsfriedens u. s. w. §. 23. Einzelne besonders wichtige Delikte; Tarife derKompositionen. §. 24. Besondere Berücksichtigung des sog. objektiven Moments des Ver-brechens im älteren deutschen Strafrechte; das sog. subjektive Moment; Absicht, Fahr-lässigkeit (zufällige Verletzung); Qualifikationsgrund der Heimlichkeit der Begehung. §.25. Eingreifen der königlichen Gewalt durch öffentliche Strafen unter den Merowingernund Karolingern; die Harmiscara; Bemühungen die Fehden zu unterdrücken; der Ban-nus regius als Ergänzung des Strafrechts. §. 26. Die Strafgewalt der Familienhäupter,besonders gegen Unfreie; die Schuldknechtschaft als Folge der Verpflichtung zur Zahlunghoher Kompositionssummen; tatsächliche Verwandlung der Rache in Strafe gegenber denunteren und unbemittelten Volksklassen; Herabdrückung der grossen Masse des Volkesin den Stand der Unfreien und Einfluss dieser Tatsache auf das Strafrecht.......S. 51 - 70.C. Das Strafrecht der christlichen Kirche. §. 27. Das Recht der Ausschliessung von

der Gemeinschaft als Grundlage des kirchlichen Strafrechts. Die Pönitenzen als freiwilligübernommene Pflichten und Leistungen den Ausschluss abzuwenden; die Beichte; derZweck der Busse; die Besserung des Schuldigen; Inhalt der Bussordnungen. §. 28. Straf-recht der Kirche gegen ihre Diener; anderer Charakter dieses Strafrechts; AbschreckungAnderer; Annäherung an das weltliche Strafrecht; Einfluss der Kirche auf das staatlicheStrafrecht dadurch, dass die Kirche gewisse Handlungen ihrerseits für strafwürdig erklärt.§. 29. Kirchliche Gerichtsbarkeit über weltliche Delikte der Geistlichkeit. Verwendungdes kirchlichen Zwanges zu Staats-, des staatlichen Zwanges zu kirchlichen Zwecken unterden fr%�nkischen K^nigen. Vertretung der staatlichen Strafe durch die kirchliche Strafe.Delicta mixti fori. §.30. Einfluss des kirchlichen Asylrechts; weltliche Gerichtsbarkeit imBesitze der Kirche. §. 31. Veränderungen und Schwankungen des kirchlichen Strafrechts.Poenae medicinales und Poenae vindicativae. Die Fehler des kirchlichen Strafrechts. §.32. Das Verbrechen der Ketzerei. Nachtheile und Vorteile des kirchlichen Einflusses aufdas weltliche Strafrecht.......S. 71 - 86D. Das Strafrecht des späteren Mittelalters. §.33. Fortbestand der früheren Grundla-

gen des Strafrechts. Standesunterschiede. Fehde und Selbstläufe in ihrem Einflusse aufdas Strafrecht. §. 34. Die Landfrieden; ihre allgemeine strafrechtliche Bedeutung; Land-friedensbruch. Bruch des

Seite XXVIIgelobten Friedens. Der Verband unter einem Herrn; der Stadtverband; der Stadtfrie-den. §. 35. Die wichtigsten Deliktsbegriffe, welche eine Umbildung erfahren. Der Verrat;Mord; Totschlag; Körperverletzung; der Bruch des Hausfriedens; die Sittlichkeitsdelikte;Polizeigesetee. §. 36. Die allgemeinen strafrechtlichen Grundsätze, Prinzipiell gleicherstrafrechtlicher Schutz der Freien und Unfreien; Unterschiede zwischen Bürgern undNichtbürgern. Anstiftung-, Beihilfe, Versuch, Berücksichtigung besonderer Ueberlegung("vorsate"); Streben der inneren Schuld gerecht zu werden; moralisirende Tendenzen;Anwendung des mosaischen Strafrechts. §. 37. Einwirkungen des Beweisrechts; Präsum-

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tionen der Schuld; Durchgreifen nach polizeilichen Tendenzen und auf der Basis roher Ab-schreckung; willkürliche harte Strafen. §. 38. Das professionelle Gaunerthum im Kampfegegen das geldstolze Bürgertum; Eindringen der Idee der Talion aus dem mosaischenStrafrecht; Härte und grausames Raffinement der Strafen; die Ehrenstrafen, Landes-verweisungen, Vermögensconfiscationen; Steigerung des Verbrechertums gerade durchdiese Strafen. §. 39. Demoralisierende Wirkungen von Nebenumständen. Unterschiededer Bestrafung bei handhafter Tat; die Verfestung (Acht); die Taidigungen; die Justiz alsErwerbsquelle; das Eichten nach Gnade; Fürbitten; die Befugnisse des Strafrichters. Un-sicherheit und Willkür des Verfahrens, Unwissenheit und Willkür der Schöffen. Klagenüber die Misstände zu Ende des XV. Jahrhunderts; der Beschluss des Freiburger Reichs-tags von 1498 über Vornahme einer Reform der Strafjustiz. Möglichkeit unmittelbarerVerwendung eines Teiles des römischen Strafrechtes ....... S. 86 - 111.E. Das Strafrecht seit der Rezeption des römischen Rechts. §. 40. Gegensätze des

römischen und des deutschen Strafrechts. Die Vermittelungsarbeit der italienischen Ju-risprudenz; die Hauptwerke der letzteren. §. 41. Die populäre, die Rezeption der italie-nischen Jurisprudenz vermittelnde deutsche Literatur; deutsche Gesetzgebungsarbeitenauf Grundlage der italienischen Jurisprudenz (des römischen Rechts). Die Bambergi-sche Halsgerichtsordnung des Freiherrn Joh. v. Schwarzenberg. Verhältnis derselben zurgelehrten Jurisprudenz. §. 42. Strafensystem der Bambergensis (Grausamkeit?). Gel-tung lokaler Gewohnheiten; bürgerlich zu strafende Fälle. Bestrafung nach Analogie.Grundauffassung des Strafrechts in der Bambergensis; besondere Vorzüge derselben. §.43. Anerkennung der Bambergensis auch ausserhalb des Fürstentums Bamberg; die sog.Brandenburgica von 1516. Aufnahme der Arbeiten zur Reform der Strafjustiz seitens derReichsgewalt 1521 auf Grundlage der Bambergensis; dabei zu überwindende Schwierig-keiten. Die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karl V. von 1532; die salvatorische Klauselderselben. §. 44. Plan und Einteilung der P. G. 0.; Ausgaben derselben; Geltung der P.G. 0. in den einzelnen Territorien, verschiedenes Verhalten der Reichsstände. Wirkungender P. G. 0. in Süddeutachland, in Norddeutschland. §. 45. Einfluss der Kircheninfor-mation auf die P. G. 0. Ansichten der Reformatoren über das Strafrecht; protestanti-sche Ketzerrichter. §. 46. Die kriminalistische Literatur des XVI. Jahrhunderts; die Pra-xis der Fakultäten. und die Consiliensammlungen. §. 47. Die Herrschaft der Theologiein. Deutschland; die Hexenprozesse; Einfluss insbesondere der bigotten protestantischenGeistlichkeit auf das Strafrecht. §. 48. Die Stärkung des Fürstenabsolutismus durch dieprotestantische Geistlichkeit; Strafgesetze

Seite XXVIIIdes Fürstenabsolutismus in den einzelnen Territorien. §. 49. Das Majestätsverbrechen;Eingreifen der landesfürstlichcn Allgewalt auch in die Führung und Entscheidung ein-zelner Strafsachen. §. 50. Handel mit der Strafjustiz im XVII. und XVIII. Jahrhundert.§. 51. Stillstand der Gesetzgebung; Abhülfe und Willkür der Praxis nur Umgehung dergrausamen Strafen. Die sächsischen Juristen: Berlich und Carpzov. §. 52. Die Milde-rungsgründe der Juristen; die allmählige Verwandlung der verstümmelnden Strafen inFreiheitsstrafen; die ersten Zuchthäuser im XVII. Jahrhundert; der Einflnss des Be-weisrechts; die Tortur; die Verdachtsstrafe. §. 53. Die Juristen als Gesetzgeber für deneinzelnen Fall, besonders im XVIII. Jahrhundert. §. 54. Die allmählige Beseitigung der

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B. Übersicht

Hexenprozesse, die Aufklärung besonders seit dem Anfang des XVIII. Jahrhunderts;Emanzipation der Jurisprudenz von der Theologie und von der Anwendung des mosai-schen Rechts. Thomasius; Becearia. Die Glaubensfreiheit. Einfluss des sog. Naturrechtsauf das Strafrecht. Die Zurechnungslehre und insbesondere die Lehre von der morali-schen Freiheit. Fortschritte der Wissenschaft. Die Kommentare zur P. G. 0. von Kressund J. S. F. v. Boehmer. §. 55. Behandlung des Strafrechts in den Vorlesungen der Uni-versitäten. Die ersten systematischen Darstellungen (Kompendien). Das Verlangen nacheiner neuen Strafgesetzgebung. §. 56. Der Codex Maximilianeus Bavaricus von 1751;die sog. Theresiana von 1769; die Einzelgesetze Friedrich’s II. von Preussen. §. 57. Dasösterreichische Gesetzbuch Joseph’s II. von 1787. §. 58. Das Strafrecht des allgemeinenpreussischen Landrechts von 1794. §. 59. Das österreichische Gesetzbuch von 1803. §.60. Das ältere französische Strafrecht; Ideen und Gesetze der Revolutionszeit; der Codepenal von 1810. §. 61. Die neue Wendung der deutschen Strafrechtswissenschaft am En-de des XVIII. Jahrhunderts; Grolmann und Feuerbach; die Inangriffnahme der Reformdes Gefängniswesens, Anregungen durch den Engländer Howard. §. 62. Feuerbach alsGesetzgeber in Bayern; das bayerische Kriminalgesetzbuch von 1813. §. 63. Die Strafge-setzbücher der einzelnen deutschen Staaten bis zum Jahre 1848. Einfluss der politischenBewegung des Jahres 1848; die deutschen Grundrechte; Beseitigung und bezw. Wieder-einführung der Todesstrafe in mehreren Staaten, §. 64. Die preussische Gesetzgebung.Reaktion und Demagogenverfolgung. Die Vorarbeiten zu einem neuen preussischen Ge-setzbuche; das preussische Strafgesetzbuch von 1851. §. 65. Gesetzbücher auf Grundlagedes preussischen Strafgesetzbuchs; das bayerische Strafgesetzbuch von 1861. §. 66. DieBestrebungen zur Herbeiführung grösserer Rechtseinheit in Deutschland; die Ereignis-se des Jahres 1866 und die Errichtung des norddeutschen Bundes 1867. Der Entwurfzu einem norddeutschen Strafgesetzbuche von 1869. §. 67. Weitere Bearbeitung diesesEntwurfs; das Strafgesetzbuch für den norddeutschen Bund vom 31. Mai 1870; das Straf-gesetzbuch für das deutsche Reich vom 15. Mai 1871. §. 68. Die Strafgesetznovelle von1876; andere Zusatzgesetze und Strafgesetze des Reichs. §. 69. Die deutsche Strafrechts-wissenschaft im XIX. Jahrhundert......... S. 112 - 198.

II. Geschichte der Strafrechtstheorien.

A. Das griechische und römische Altertum. §. 70. Einleitung. Praktische Bedeutung derStrafrechtstheorien (Einteilungen). §. 71. Die Anfänge der Reflexion; die Sophisten. §.72. Sokrates, Die Ansichten

Seite XXIXPlato’s. §. 73. Aristoteles. §. 74. Die Epikuräer, die Stoiker; die Skeptik: die Römer:Cicero, Seneca, die Juristen; der Neuplatoniker Hierokles .......S. 190 - 213.B. Die Strafrechtsphilosophie des Mittelalters. §. 75. Ursprüngliches Verhalten des

Christentums zu Staat und Strafe. Aussprüche des neuen Testaments. Das Christen-tum als herrschende Staatsreligion. §. 76. Die Zusammenfassung der mittelalterlichenAnsichten bei Thomas Aquinas, Die Antipapisten........S. 214 - 218.C. Die Strafrechtstheorien der neueren Zeit. §. 77. Hugo Grotius. §. 78. Thomas Hob-

bes. §. 79. Spinoza. §. 80. Pufendorf. §. 81. Locke; Leibnitz; Sam. v. Cocceji; Thomasius;Wolft; Rousseau. §. 82. Beccaria ("dei delitti e dellc pene"); Filangieri. §. 83. Globig und

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Huster. §. 84. Servin (Notwehrtheorie); Wieland. §. 85. Kant’s Vergeltungstheorie. §.86. Fichte. §. 87. Grolmann’s Specialpräventionstheorie. §. 88. Feuerbach, Bentham. §.89. Die Notwehrtheorie Romagnosi’s: Oerstedt. §. 90. Bauer’s Warnungstheorie. §. 91.Reaktion gegen Feuerbach’s Abschreckungstheorie: G. E. Schulze; Steltzer. §. 92. Besse-rungstheorie auf Grundlage des Determinismus (Groos). Die Krause’sche Rechtsphiloso-phie, Ahrens, Röder. §. 93. Die Wiedererstattunngstheorie Welckers: Hepp’s Theorie derbürgerlichen Gerechtigkeit. §. 94. Wandlungen des absoluten Strafrechtsprinzips: C. S.Zachariä; Henke (Besserungstheorie). §. 95. Kombinationen des absoluten Prinzips mitrelativen Zwecken der Strafe: Rossi, Haus, Ortolan, Gabba, v. Preuschen, Henrici, Mohl,Mittermaier, v. Wieck. §. 96. Herbart’s Vergeltungstheorie des ästhetischen Urteils; Gey-er. §. 97. Hegel‘s Theorie der Negation des Unrechts. §. 98. Neuere theologisierende Rich-tungen: F. ,J. Stahl (Jarcke), v. Linck, J. de Maistre; neuere Theologen:Schleiermacher,Daub (Rothe). §. 99. Fortbildung der Hegel’schcn Theorie: Trendelenburg, Abegg, Heffter(Freytag), Köstlin, Merkel, Hälschner, Berner, Kitz. §. 100. Kombination der Hegel’schenmit der Fichte’schen Theorie: Heinze. §. 101. v. Kirchmann; Schopenhauer; Dühring; E.v. Hartmami: v. Liszt. §. 102. Binding’s Theorie der Folgen des Ungehorsams gegenüberder "Norm". Laistner S. 219-310.D. Die Ergebnisse. Die Theorie der sittlichen Missbilligung (Reprobation). §. 103. Die

Mängel der absoluten und der relativen Theorien. Berichtigung der Hegel‘schen Theo-rie. Die Moral als Wurzel des Rechtes. §. 104. Das sittliche, insbesondere das sittlichmissbilligende Urteil als notwendiger Bestandteil der Moral. Die Moral ein Ergebnissder Geschichte. Die Missbilligung der Tat und per consequentiam auch des Täters. Diemöglichen und berechtigten Ausdrucksweisen der Missbilligung. Die Vernichtung ohneweiteren Zweck: der st%�rkste Ausdruck der Missbilligung. Die Ausdrucksweisen derMissbilligung (Strafen) in der Geschichte. Die Missbilligung keine Vergeltung. Die Be-deutung des strafrechtlichen Urteils an sich. Verhältnis von Uebel und Missbilligung.Die Strafe keine Peinigung, aber auch nicht in erster Linie Erziehungsmittel; die Strafekeine Leistung. §. 105. Die Missbilligung in der Privatrache, in der staatlichen Strafe; dieStrafe ihrem Begriffe nach ein Recht der Gesellschaft, nicht des Staates; Konsequenzendaraus, insbesondere die Notwendigkeit einer subsidiären Privatanklage. §. 106. Zusam-menfassung

Seite XXXder Resultate; die Idee der Missbilligung vertreten auch in den Schriften anderer Juristenund Philosophen (Leibnitz, Montesquieu, Lieber); die Auffassung Hugo Meyer’s. Begriffdes Verbrechens. Zulässige Strafmittel. §. 107. Das Prinzip der Gerechtigkeit im Straf-rechte; das geschichtliche Moment. §. 108. Die strafbaren (mit öffentlicher Missbilligungzu belegenden) Handlungen. Prinzip der Sparsamkeit der Strafen. Zweckmässigkeit undGerechtigkeit im Strafrechte. Strafrecht und Moral im engeren Sinne. §. 109. Zivilunrechtund strafbares Unrecht, Zivilzwang und Strafe. §. 110. Die Polizeidelikte. Charakteris-tik, Verhältnis zu den Kriminaldelikten. §. 111. Die Disziplinarstrafe; die Ordnungs-strafe. Charakteristik des Disziplinarstrafrechts gegenüber dem öffentlichen Strafrecht.Verhältnis der öffentlichen Strafjustiz zur Handhabung der Disziplinargewalt. §. 112.Zusammenfassung der Resultate; sprachliche Bemerkung über das Wort ßtrafe"........S.311-361.

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B. Übersicht

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I. Geschichte des deutschen StrafrechtsSeite 1

Bar, Strafecht I.

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B. Übersicht

Seite 2

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C. Das römische StrafrechtSeite 3

Invernizzi: De publicis et criminalibus judiciis Romanoruin, 1787. Leipziger Abdruck1846. - Welcker: Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813, S. 535 ff. -Abegg: De antiquissimo Romanorum jure criminali, 1823. - Jarcke: Versuch einer Dar-stellung des censorischen Strafrechts, 1824. - Köstlin: Die Lehre von Mord und Totschlag,Th. I, 1838, das altrömische Parricidium. - Osenbrüggen: Das altrömische Parricidium,1840.- (Geib: Geschichte des römischen Criminalprocesses, 1842.) - Platner: Quaestionesde jure criminum Romano, praesertim de criminibus extraordinariis, 1842. - Rein: DasCriminalrecht der Römer von Romulus bis auf Justinian, 1844. - Laboulaye: Easai surles lois criminelles des Romains concernant la responsabilite des magistrats, Paris 1845.- Du Boys: Histoire du droit criminel des peuples anciens, Paris 1845, S. 237ff. - Walter:Geschichte des römischen Rechts, 2 Bde., 3. Aufl., 1860. - Rudorff: Römische Rechts-geschichte, 2 Bde., 1857, 1859. - v. Holtzendorff: Die Deportationsstrafe im römischenAltertum, 1859 (Teil des grösseren Werkes desselben Verfassers über die Deportationss-trafe). - Köstlin: Geschichte des deutschen Strafrechts im Umriss, herausgegeben vonGessler, 1859, S. 1-47. - Geib: Lehrbuch des deutschen Strafrechts, Bd. 1, 1861, S. 7-123.- Henriot: Moeurs juridiques et judiciaires de l’ancienne Rome, 3 Vols., Paris 1863-1865. -v. Ihering: Geist des römischen Rechts, zitiert nach der 3. Aufl., Bd. 1, S. 252ff. - v. Holt-zendorff: Handbuch des deutschen Strafrechts, I., 1871, S. 16ó39. - Mommsen: RömischeGeschichte. - Mommsen: Römisches Staatsrecht, 2 Bde., zitiert nach der 2. Aufl., 1876,1877. - v. Wächter: Beilagen zu Vorlesungen über das deutsche Strafrecht, 1, 1877, S.56-77. - A. Pernice: Antistius Labeo, das röm. Privatrecht im 1. Jahrhundert der Kaiser-zeit, II., 1878. - Padeletti: Lehrbuch der römischen Rechtsgeschichte, deutsche Ausgabevon v. Holtzendorff, 1879. - (Zumpt: Das Kriminalrecht der römischen Republik, 2 Bde.in 4 Abtheilungen, 1865 ff., ist wesentlich processualen Inhalts.) - (Vgl. übrigens auch:Thonissen, Etudes sur l’histoire du droit criminel des peuples anciens, 2 Vols., Paris1869, und Thonissen: Le droit penal de la rÈpublique Athénienne précédé d’une Ètudesur le droit criminel de la Grece legendaire, Bruxelles et Paris, 1875.)

Seite 4§. 1. Ebenso wie heut zu Tage noch zwei Hauptansichten über das Wesen des Straf-rechts sich gegenüberstehen, von denen die eine die Strafe als Selbstfolge des Unrechtsbetrachtet, die andere dagegen die Strafe rechtfertigt durch einen in der Zukunft zu er-reichenden Zweck, so weist der Ursprung des Strafrechts auch auf eine doppelte Wurzelzurück: auf das Princip der Rache1 wegen eines verletzten Rechtes und auf das Prin-

1Es wird nicht zu bestreiten sein, dass hierin eine freilich bei fortschreitender Cultur immer mehrzurücktretende Wurzel des Strafrechts liegt. Vgl. Thonissen II. S. 66ff., S. 258 über die Blutrachebei den Juden. Bei den Arabern sind die drei Haupttugenden: Tapferkeit, Gastfreiheit und Eifer derRache. Nach der Vorstellung der Griechen ruft das Blut des Getödteten um Rache, bis die Verwandten

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C. Das römische Strafrecht

cip der Unterordnung des einzelnen Menschen unter eine höhere Autorität, sei es derFamilie oder eines Stammeshauptes oder der Gemeinde oder des Staates selbst, einerAutorität, welche eine bestimmte Ordnung zu mehr oder minder bestimmten oder be-wussten Zwecken aufrecht zu erhalten bestrebt ist. Diese beiden Principien müssen sichim Laufe der Geschichte bei den verschiedenen Völkern in sehr verschiedenartiger Weisekreuzen und combiniren. Durch die leicht schrankenlose Rache der Einzelnen wird dieAutorität der Ordnung erschüttert, und diese sucht daher jene einzuschränken. Aber siekann das nicht anders, als dadurch, dass sie in gewissem Umfange die Rache der Einzel-nen in ihren Schutz nimmt und für den Einzelnen ausübt; denn der natürliche Trieb derRache lässt sich nicht ohne Weiteres beseitigen. Und es giebt auch Fälle, in denen dieAutorität sich unmittelbar selbst angegriffen erachten muss, in denen sie selbst also demEinzelnen unmittelbar als rächende Feindin gegenüber tritt, in denen sie den Einzelnenfür ihren Feind erklärt, und dies unmittelbar auf die Autorität sich selbst beziehendeStrafrecht kann der Ausübung nach andererseits wieder jedem Einzelnen, jedem Beliebi-gen aus dem Volke mitüberwiesen werden. Die öffentliche Autorität ist entweder noch zuschwach, um selbst unbedingt durch ihre Organe die Bestrafung auszuüben, oder abersie hat den unmittelbaren Unwillen des Volkes über die Schandthat zu respectiren odersie beabsichtigt, gerade diesen Unwillen sich in besonders wirkungsvoller Weise nutzbarzu machen - wobei es sich dann von selbst versteht, dass wer in solcher Weise als Straf-vollstrecker der Gesammtheit auftritt, die That auf Erfordern hinter-

Seite 5her zu rechtfertigen hat, ebenso wie derjenige, der Rache ausübt, deshalb zur Rechen-schaft gezogen werden kann.2

Dazu kommt noch, dass die Rache nicht sowohl um eines egoistischen Triebes ausge-übt wird, denn vielmehr als Dienstleistung für eine höhere Idee erscheint3 und dass siedaher in Verbindung gesetzt ward mit den Vorschriften der Religion. Das Verbrechenverletzt die Götter, als die Hüter des Rechts und der Sitte, und die Strafe, welche denSchuldigen vernichtet, reinigt des Vaterlandes heiligen, durch das Verbrechen entweihtenBoden4 und besänftigt den Zorn der Götter. So erhält die Strafe in gewissem Umfangeeine religiöse Bedeutung und Färbung, und so gewinnen die Priester Einfluss auf dieStrafe. Man beruhigt sich dabei, wenn sie die Handlung milder beurtheilen, versichern,dass der Zorn der Götter auf andere Weise auch als durch Vernichtung des Schuldigenabgewendet werden könne5, und umgekehrt findet der Rache Uebende eine moralische

den Mörder oder Todtschläger zur Rache ziehen. Unterlassen sie es, so verfolgt sie schwerer Fluch.Vgl. Meier u. Schömann, der attische Process. S. 280.- Cicero Top. c. 23: "Natura partes habet duas,tuitionem sui et ulciscendi jus."

2Vgl. namentlich über den Zusammenhang der Coercitio und Judicatio der römischen Magistrate unddas anfängliche Aufgehen der Judicatio in der Coercitio: Mommsen, röm. Staatsrecht I. S. 133 ff.,153 ff.: -die Judicatur ist nichts als eine beschränkte und regulirte Coercition"

3Vgl. bezüglich der Anschauungen der Inder die Aussprüche Manu’s, mitgetheilt und übersetzt beiThonissen, I. S. 9, 10. - Vgl. über diese Idee bei den Israeliten 4. Mos. 35, 33.

4Nach den Vorstellungen der Griechen und der Orientalen muss der Mörder wenigstens aus dem Landegejagt werden, dessen Boden von dem Blute des Getödteten feucht geworden ist. Vgl. Odyssee XV,272.: XXXXXXXXXXXX"

5Vgl. über die Asylstädte bei den Israeliten, welche im Falle nicht-beabsichtigter Tödtung den Schuldi-

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Stütze und bei Anderen auch leichter reelle Hülfe, wenn die Vertreter der Gottheit eineHandlung für unbedingt fluchwürdig erklärt haben. Es giebt aber auch Handlungen, diedirect als ein Vergreifen an dem Heiligthum der Götter, als eine Verletzung der diesengeschuldeten Pflichten erscheinen: hier übt das Priesterthum selbst oft unmittelbar Ra-che, und wo das Priesterthum das gesammte Gemeinwesen zu beherrschen anfängt, istes leicht begreiflich, dass diese Pflichten den ersten Rang einnehmen, dass in ihren Kreisaber auch Vieles gezogen wird, was andere Völker nur als Verletzung des menschlichenoder bürgerlichen Rechts betrachten oder überhaupt gar nicht für strafwürdig halten.§. 2. Auch in Rom begegnen uns, so weit unsere Nachrichten zurückreichen, diese

Elemente des Strafrechts.Sehr stark tritt äusserlich das religiöse Element hervor. Sogleich das Wort Supplicium

- Strafe und besonders Todesstrafe bedeutend -Seite 6

ist sacralen Ursprungs. Es bezeichnet ursprünglich Sühnopfer, ein Opfer mit Flehen umGnade und ist abzuleiten von sub und placare, besänftigen6, und nicht selten werden,wenn ein Verbrechen begangen ist, noch besondere Sühnopfer gebracht, den Zorn derGötter zu beruhigen, und sacer7 heisst der Verbrecher, der aus dem Verbände der Götterund Menschen ausgestossen für vogelfrei erklärt wird, so dass Jedermann, ihn tödtend,noch ein den Göttern wohlgefälliges Werk verrichtet.8 Leges sacratae heissen ferner späterdie Gesetze, welche die Todesstrafe in nachdrücklichster Weise gegen Diejenigen verord-neten, welche die geheiligten Rechte der Plebs, beziehungsweise des einzelnen Bürgers,anzutasten wagen, so dass auch Derjenige sacer genannt wird "quem populus judieavit".9Endlich die von Staats wegen erfolgende Hinrichtung geschieht unter Gebräuchen, welchestark erinnern an den Göttern dargebrachte Opfer.10

Dennoch ruht selbst das ältere römische Strafrecht nicht auf theokratischer Grundla-ge. Nur die Strafe wird durch den Fluch der Götter geschärft, der Einzelne durch diesenFluch zur Vernichtung des Verbrechers aufgefordert oder doch wenigstens zur Aufhebungder Gemeinschaft mit dem Verbrecher.11 Die Bestimmung aber der charakteristischenMerkmale der strafbaren Handlungen wird wenig beeinflusst durch die Rücksicht aufdie Götter. Nicht wie in dem theokratischen Staatswesen der Hebräer12 finden wir dieTodesdrohungen gegen Abfall vom Glauben, Nichtheiligung der Feiertage, Blasphemie.

gen gegen den Bluträcher (Goel) schätzten, 2. Mos. 21, 12 u. 13. - Thonissen, II. S. 264ff.6Rein, S. 29. Auch die Worte castigare = castum agere und luere (poenani luere) weisen auf Reinigung7Einziehung des Vermögens zur Strafe heisst in der älteren Zeit Consecratio bonorum.8Ich trete hier durchaus v. Ihering I. S. 281, 282, bei, der aufmerksam macht auf die Analogie desnordischen Wargus, Waldgängers, während Mommsen, Römische Geschichte, 6. Aufl., I., S. 175, wohlmit Unrecht ein solches Tödten ohne gerichtliche Procedur für aller bürgerlichen Ordnung zuwiderlaufend erklärt.

9Vgl. Festus s. v. Sacer mons und Huschke, S. 197 Anm., ferner 5. Mos. 13, 6-11; 17, 2-5. Diejenigen,welche den verbotenen Abfall vom jüdischen Glauben wahrnehmen, werden aufgefordert, den Schul-digen sofort zu steinigen, obwohl ohne Zweifel auch dar¸ber ein Richterspruch ergehen konnte, - Auchin Rom war eine Anklage und öffentliche Hinrichtung des Sacer möglich. Rein, S. 32, 33.

10Mommsen, Staatsr. II. S. 49, sagt, jede Todesstrafe sei in Rom ursprünglich eine Opferhandlunggewesen.

11Thonissen II. S. 313.12Plinius Hist nat. 18, 3, vgl. Gellius 11, 18.

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C. Das römische Strafrecht

Die Handlungen, welche für den Schuldigen den Zustand des Sacer begründen, berührenvielmehr wesentlich das Interesse der Familie, des Gemein-

Seite 7wesens.13 Der Patron, der gegen den Clienten die Treupflicht verletzt,14 der Sohn, derden Vater misshandelt,15 die Schwiegertochter, welche gegen heilige Familienpflichtenverstösst, verfallen in den Zustand des Sacer, und wenn ein alter auf Numa zurückge-führter Rechtssatz den Zerstörer eines Grenzzeichens für sacer erklärte16, die XII Tafelnaber den nächtlichen Felddieb der Ceres zu tödten befahlen, so wird durch diesen Zusatz- suspensumque Cereri necari jubebant17 - das offenbar einen wirksamen Schutz des Ei-genthums gewährende Gesetz sicher nicht zum religiösen18: es schimmert vielmehr über-all nur die Absicht durch, einerseits gegen den Frevel eine besondere Scheu zu erregen,andererseits aber die Strafverfolgung, die möglicher Weise bei manchen dieser Delicteeine zu nachsichtige gewesen - wie z. B. wegen des obwaltenden Familienverhältnisses-, durch die Hinweisung auf die Religion und durch das Gestatten sofortiger Executi-on zu einer besonders nachdrücklichen zu machen. Einen wirklich religiösen Charactertragen nur die Delicte, welche direct als Antastungen des vom Staat geheiligten Cultuserscheinen, und dieser sind wenige. Sicher bezeugt ist19, wenn wir von Disciplinarstrafengegen unbotmässige Priester absehen, nur die Unzucht der Priesterinnen der Vesta unddie Unzucht mit ihnen, welche für die Vestalin die Strafe des Lebendigbegrabens20), fürden Buhlen aber die Tödtung durch Geisselhiebe nach sich zog21).

Seite 8Eigenthümlich ist dem römischen Strafrecht, dass die Privatrache als Rechtsinstitutschon früh in den Hintergrund gedrängt ist. Vollkommen rein finden wir sie in den nochvorliegenden Ueberlieferungen überhaupt nicht mehr: wir vermögen indess aus diesennoch einige weitere Schlüsse zu ziehen.§. 3. Die dolose Tödtung ist schon früh der öffentlichen Strafgewalt anheimgegeben.

13Sehr richtig sagt Platner S. 26: "Civitate potius religio quam religione civitas continebatur. - Cicerode legg. II. c. 21 führt aus, wie die scientia juris civilis die blosse auctoritas pontificum, welche keinGesetz sei, aufhebe.

14Dionysius H. II. 10 erwähnt, dass auch der Client, der seine Pflichten verletzte, für sacer erklärt wurde.15Festus b. v. Plorare: ßi parentera puer verberit, aste olle ploraesit, puer divis parentum sacer esto"hier

als Gesetz des Servius Tullius bezeichnet.16Festus b. v. Termino: "Numam statuisse accepimus: eum qui terminum exarasset, et ipsum et boves

sacros esse "17Vgl. über diese sämmtlichen Fälle Abegg S. 45 ff.18Sehr wohl vereinbar ist mit der Verneinung des theokratischen Charakters des älteren römischen Straf-

rechts die Annahme, dass die Priester einen bedeutenden Einfluss auf das Recht und speciell das Straf-recht ausübten. Die römischen Priester sind Staatsbeamte, und dieser Einfluss ist eine nothwendigeFolge davon, dass weltliche und geistliche Gewalt ursprünglich in denselben Händen sieh befanden.Mommsen, röm. Staatsr. II. S. 49.

19Festus s. v. Pellices erwähnt noch: "Pellex aram Junonis ne tan-gito; si tauget, Junoni crinibus demissisagnum feminam caedito".

20In der ältesten Zeit wurde auch die Vestalin zu Tode gegeisselt,21Platner, S. 27, meint, es habe sich bei dieser Strafgewalt der Priester gegen den schuldigen Mann nur

um Sclaven der Priesterschaft gehandelt. Dann würde die Strafgewalt der letzteren allerdings nurals eine disciplinare betrachtet werden können. — Richtig ist, dass gegen die etwa von den PriesternAbsolvirten noch von Staatswegen inquirirt werden konnte.

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Die Quaestores parricidii 22 und ein Todesurtheil wegen absichtlicher Tödtung im Jäh-zorn begegnet uns schon in der bekannten Erzählung von den Horatiern (Liv. I. 23), undaus den Gesetzen des Numa Pompilius wird (von Festus s. v. Parici Quaestores) die alteVorschrift erwähnt: „Si quis hominem liberum dolo sciens morti duit, parricida esto".Die culpose Tödtung sollte schon nach eben diesen Gesetzen mit dem Sühnopfer einesBockes von der Rache gelöst werden können, und dieser Bock musste, da die Tödtungeines Bürgers als Angelegenheit des Staates betrachtet wurde, in concione, d. h. in derBürgerversammlung offerirt werden. Dagegen hat eine Rachebefugniss des Ehemannesund des Vaters einer ehebrecherischen Tochter gegen den auf der That ertappten Ehebre-cher ohne Zweifel lange bestanden. Die Lex Julia de adulteriis unter August hat darüber,indem sie zugleich eine Anklage wegen Adulterium in einem Iudicium publicum einführt,genauere Bestimmungen, darauf berechnet, diese Rache möglichst einzuschränken; mandarf nach Gellius N. A. X. 23 „In adulterio uxorem tuam si prehendisses, impune sinejudicio necaresännehmen, dass sie bis dahin in einem weiteren Umfange geübt wurdeund insbesondere auch der Mann die auf der That ertappte Frau ohne Weiteres tödtendurfte.23

Auch wegen Körperverletzungen scheint bis zu den XII Tafeln nicht selten von derRache Gebrauch gemacht zu sein. Die XII Tafeln setzten

Seite 9ihr äusserstes Maass in die Talion24, insofern der Schuldige nicht in anderer Weise sichmit dem Verletzten abzufinden vermochte.25 Bei geringeren Verletzungen — os fractum

22Die Ableitung und ursprüngliche Bedeutung des Wortes Parricidium, welches später allerdings denMord naher Verwandten bezeichnet, sind bestritten. Während Rein, S. 450, noch die Ableitung vonpater und caedere festhält — Andere haben das Wort von parens und caedere abgeleitet — hatOsenbrüggen das Wort in scharfsinniger Weise einfach als arge (dolose) Tödtung erklärt von para =per, wie perjurus, wie per-fidia und Huschke, S. 183, erklärt sich noch wieder für die Ableitung vonparem caedere, Tödten eines gesellten Gleichen, eines Volksgenossen.

23Vgl. Abegg, Untersuchungen aus dem Gebiete der Strafrechtswissenschaft, 1830, S. 166. Der Ehemanndarf nur den Ehebrecher tödten, nicht die Frau, und ersteren auch nur, wenn derselbe zu den viliorespersonae gehört. Der Vater darf den Ehebrecher nur tödten, wenn er zugleich die Tochter tödtet.

24Die bekanntlich im mosaischen Rechte (vgl. besonders 3 Mos. 24, 20: Schade um Schade, Auge umAuge, Zahn um Zahn; wie er hat einen Menschen verletzt, soll man ihm wieder thun), aber auchsonst vielfach wichtige Talion (vgl. z. B. in Betreff Griechenlands Hermann, Lehrb. 70, Anm. 9ff.;„XXXXXXXXXXXXXXïst nicht als unbedingtes Gebot, sondern als Beschränkung der Rache auf-zufassen, da der Gesetzgeber die Rache eher beschränken, als völlig beseitigen konnte. Vgl. darüberbesonders treffend Thonissen, II. S. 66.

25Dass nur absichtliche Körperverletzungen gemeint sind, folgt einerseits durch die Subsumtion unter dasnur dolo mögliche Delict der Injurie bei Gajus, andererseits aber aus der erwähnten Bestimmung überculpose Tödtung. Musste hier die Familie des Getödteten sich mit einem Sühnopfer zufrieden geben,so durfte sie bei blosser Körperverletzung auch gewiss, nicht mehr Rache üben. Anderer Meinungsind freilich auf Grund von Gellius XX. 1, §. 34, Köstlin, Mord und Todtschlag, S. 44, und v. Ihering,das Schuldmoment im rörn. Privatrecht, 1867, S. 11. Allein die Worte „decemviri ... neque ejus quimembrum alteri rupisset . .. tantam esse habendam rationem, ut an prudens imprudensve rupisset,speetandum putarent"beziehen sich nach richtiger Auslegung auf den Fall, dass zwar der Schlag selbstdolos geschehen, die specielle Art der Verletzung allerdings nicht beabsichtigt war, ebenso wie auchheut zu Tage noch über die Qualification einer Körperverletzung als schwerer oder leichter wesentlichder Erfolg entscheidet. Denn von einer „Violentia pul-sandi atque laedendi", die man, wie Gellius 1.c. sagt, im Zaume halten wollte, kann doch nur bei absichtlicher Misshandlung, nicht bei culposen

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C. Das römische Strafrecht

aut collisum, im Gegensatz zu dem membrum raptum — schlossen sie bereits die Talionvöllig aus und bewilligten dem Verletzten bestimmte Busssätze26

Auf Privatrache weist ferner noch zurück die Behandlung des Diebstahls. Den Furnocturnus 27 und den bewaffneten Dieb (den mit Waffen

Seite 10sich zur Wehr setzenden) gestatteten die XII Tafeln zu tödten; freilich erscheint das imspäteren Rechte nur als erweiterte, präsumirte und endlich nur als wirkliche28 Nothwehr,insofern an sich dem Bestohlenen Hausherrn) die Befugniss zusteht, den auf der ThatErtappten zu ergreifen. Aber unzweifelhaft deutet auf Privatrache die ausgezeichneteAhndung des Furtum manifestum29: „Poena manifesti furti ex lege XII tabularum ca-pitalis erat; nam liber verberatus addicebatur ei cui furtum fecerat", sagt Gajus IV,189. Die Addiction wird an die Stelle der uralten Tödtungsbefugniss getreten sein. Ge-rade um die Rache des Be-stohlenen auszuschliessen, die dem auf der That Ertapptengegenüber besonders schwer zu beseitigen war, musste das Gesetz30 das Recht des Be-stohlenen bei dem Furtum manifestum möglichst weit erstrecken31, so dass dann späterauch das Furtum manifestum die prätorische Strafklage auf das Vierfache32, das Furtum

Verletzungen bei Gelegenheit an sich erlaubten Thuns die Rede sein, und nur auf erstere passt auchder Schluss der Stelle „quoniam modus voluntatis praestari posset, casus ictus non posset". Ob manschlagen, stossen will, hat man in der Gewalt; nicht aber, wie der Schlag, der Stoss treffen, schädigenwird.

26Hauptstelle: Gaj. III, 223 „Poena autem injuriarum ex lege XII tabu-larum propter membrum quidemruptum talio erat, propter os vero fraetum aut collisum treeentorum assium poena erat veluti si liberoos fractum «rat; at si servo CL: propter ceteras vero injurias XXV assium poena erat constituta."WieGajus hinzufügt, waren nach den Geldverhältnissen der alten Zeit „in magna paupertate"diese Buss-sätze gar nicht so unbedeutend.

27Decemviri in XII Tabulis . . . dixerunt... Si nox furtum factum sit, si im occisit, jure caesusesto."Macrob. Saturn I. c. 4. — Vgl. Gellius VIII, 1. XI, 18: „furem qui manifesto furto prensusesset, turn demum occidi permiserunt (XII Tabb.), si aut cum faceret furtum, nox esset, aut interdiutelo se quum prenderetur, defenderet. — Cic. pro Milone c. 3. Collatio leg. Mosaic. VII. pr. L. 9 D.ad leg. Aqu. 9, 2. — Vgl. Abegg, Untersuchungen S. 142.

28Coll. VII. 2. Paullus libro V ad legem Corneliam de sicariis et veneficis. Si quis furem noeturnum veldiurnum, cum ee telo defenderet, occiderit, hac quidem lege non tenetur: sed melius fecerit qui eumcomprehensum transmittendum ad praesidem magistratibus optulerit". Das. c. 3, §. 1 . . Pomponiusdubitat, num haec lex sit in usu. — Paulus in L. 9 D. ad leg. Corn. de sicariis 48, 8: Furem noeturnumsi quis occiderit, ita demum impune feret, si parcere ei sine periculo suo non potuit.

29Ueber die Definition des Furtum manifestum vgl. besonders Gaj. III. 18430Der Sclave büsste nach den XII Tafeln mit dem Leben. Er wurde gegeisselt und dann vom Felsen

herabgestürzt. Gellius N. A. XI. 18.31Vgl. Hepp, Versuche über einzelne Lehren der Strafrechtswissenschaft, 1827, S. 132 ff.32Andere Erklärungen (vgl. über dieselben Hepp a. a. 0. S 110ff., Rein, S. 298 Anm. und Zumpt I.

S. 376) befriedigen doch wohl nicht Dass der auf der That ertappte Dieb stets der gefährlichere,verwegenere sei, ist unzweifelhaft unrichtig: im Gegentheile kommt oft der Verwegenere schliesslichleichter davon, als der Zaghafte; die Annahme, dass der für sein Eigenthum Wachsame besondershabe belohnt werden sollen, ist zu künstlich — der Wachsame wird ja ohnehin belohnt, indem er seineSachen behält, und Belohnungen und Aufmunterungen, sein Eigenthum gegen Widerrechtlichkeitenzu vertheidigen, sind wohl im Allgemeinen überflüssig genug. — Die Erklärung, dass man, aus Furchtungerecht zu urtheilen, nur dem Ertappten oder Geständigen die volle Strafe zuerkannt habe (soz. B. auch Zumpt) paast ferner nicht, weil auf das Geständniss hier gar nichts ankommt Auch voneiner grösseren Beleidigung des Bestohlenen durch das F. manifestum kann nicht die Rede sein; das

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nec manifestum nur eine Strafklage permiserunt (XII Tabb., si aut cum faceret furtum,nox esset, aut interdiu telo se quum prenderetur, defenderet. — Cic. pro Milone c. 3.Collatio leg. Mosaic. VII. pr. L. 9 D. ad leg. Aqu. 9, 2. — Vgl. Abegg, UntersuchungenS. 142.

Seite 11auf das Duplum nach sich zog33. Es erklärt sich aber auch so sehr einfach, weshalb beieinem Diebstahle (mit Ausnahme des erwähnten an Feldfrüchten) von einem sacer essedes Diebes nicht die Rede ist. Wen das Gesetz für sacer erklärt, gegen den fordert esdie Rache heraus; und das zu thun, hat der Gesetzgeber bei der in roherer Zeit ent-schieden wohl überall vorhandenen Neigung — man denke nur an unsere Bauern —Eigenthumsdelicte strenge und auf der Stelle zu ahnden, gewiss keine Veranlassung. DieAusnahme bezüglich des nächtlichen Felddiebs findet dabei auch leicht ihre Erklärung,einerseits als Concession an den bisherigen Usus, andererseits aus uns leicht begreiflichenZweckmässigkeitsrücksichten.§. 4. Bei der Tödtung ist schon frühzeitig Privatrache und Privatbusse verschwunden

und öffentliche Strafe an die Stelle getreten. Das kleine von vielen Feinden bedrängteGemeinwesen der Römer empfand die dolose Tödtung eines Bürgers als einen Angriffauch auf die Kraft nnd das Gedeihen des Staates selbst, also auch als eine Treulosigkeitgegen diesen, und eben dieser Umstand ist für das römische Strafrecht verhängnissvollgeworden. Das einzige ursprüngliche Verbrechen gegen das Gemeinwesen selbst ist diePerduellio, d. h. der Kriegszustand des Einzelnen gegenüber dem Gemeinwesen (Duellum= Belluni; Perduellis = arger Feind). Es gehört dahin zunächst Verrath des Vaterlandesan den äusseren Feind, Uebergang zum Feinde im Kriege und Antastung

Seite 12der Verfassung des Vaterlandes durch Vornahme von Handlungen, die als Anmaassungder höchsten Rechte des Gemeinwesens selbst betrachtet werden können, zur Zeit derRepublik insbesondere Streben nach der Alleinherrschaft und Untemehmungen gegendie speciell für sacrosanct erklärten Magistrate der Plebs wie später in der KaiserzeitUnternehmungen gegen die Person des Princeps. Allein darauf ist, wie man nach unseren

Ertapptwerden ist meist nur eine Folge mangelnder Geschicklichkeit des Diebes. — Für die im Texteangenommene Ansicht spricht auch die ältere noch in der L. 7. §. 1 D. de furtis 47, 2 gebilligte römischeAuffassung, welche für das Furtum manif. das Ergriffensein des Diebes verlangte und nicht mit derunmittelbaren Wahrnehmung der That sich begnügte. Zu Justinians Zeit (vgl. §. 3 J. 4, 1) hatteman für den Ursprung der besonderen Rechtssätze über das F. manif. kein Verständniss mehr; daherdie hier gebilligte weitere Ausdehnung des Begriffs. — Eine künstliche Ausdehnung des F. manif.war es, wie Gaj. III. 194 selbst sagt, dass nach den XII Tafeln als F. manifestus behandelt wurdeDerjenige, bei dem die gestohlene Sache mittelst feierlicher Haussuchung (Lance et licio) gefundenwurde. Derjenige, bei dem ohne solche Haussuchung gestohlenes Gut gefunden wurde, zahlte wegenFurtum conceptum das Triplum (indess wohl nur, wenn er über den rechtlichen Erwerb sich nichtsofort ausweisen konnte), eine Strafbestimmung, welche zugleich den Hehler traf. (Vgl. Rudorff II. S.352.) Zum Schutze der feierlichen Haussuchung diente die Actio furti prohibiti aut das Vierfache desWerths der gestohlenen Sache gegen Den, der die in gehöriger Form geforderte Haussuchung nichtgestattete.

33Eine Privatabfindung durch Geld war wohl schon vor den XII Tafeln vielfach üblich gewesen, woraufdas alte Klagformular „pro fure damnum decidere oportere"deutet. Der Prätor hat wohl nur die Sittefixirt. Vgl. Rudorff II. S. 350.

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C. Das römische Strafrecht

heutigen Anschauungen freilich annehmen möchte, der Begriff nicht beschränkt. Nachrömischer Auffassung kann vielmehr jede That infolge besonderer Umstände den Charak-ter einer böswilligen Gefährdung des Gemeinwesens annehmen und als solche behandeltwerden, und darüber entscheidet der Inhaber der höchsten Gerichtsbarkeit souverain,wenn auch nach einem durch das Herkommen geleitetem Ermessen, in alter Zeit derKönig, nach der Lex Valeria, welche die Provocation gegen Urtheile der Magistrate zueinem Rechtsinstitute erhob, in letzter und in dem Rechte der XII Tafeln das Volk selbstin den Centurialcomitien. Perduellio ist, wie die Anklageformel „Tibi perduellionem in-dico"34[ andeutet, nicht sowohl eine verbrecherische That, als vielmehr ein Strafzustanddes Schuldigen, die Behandlung als Staatsfeind.,35 Daher war es allerdings auch möglichdie dolose Tödtung eines Bürgers, die dolose Tödtung der Schwester in der Erzählungvon den Horatiern als Perduellio zu behandeln,36 und daher konnte z. B. später derSenat auch ohne Weiteres die Bacchanalien, die Giftmischereien römischer Frauen, alscontra rempublicam geschehen, da sie einen staatsgefährlichen Charakter anzunehmenschienen, als Staatsverbrechen verfolgen. Die weitere strafrechtliche Qualität der Thatwie des Thäters ist dabei durchaus gleichgültig.Besonders deutlich wird dieser unbestimmte Charakter der Perduollio durch ihr ple-

bejisches Gegenbild, die Multae irrogatio seitens der plebejischen Magistrate.37 Indemdie Gesetze Angriffe auf das geheiligte Recht der Plebs als Handlungen eines der PlebsVerfallenen, mit ihr im Kriegszustande Befindlichen erklärten, war es möglich, dass dieTribuni (bezw. Aediles) plebis gleichsam zur Auslösung aus diesem Kriegszustande demSchuldigen die höchsten, durch willkürlichen Anschlag bestimmten, Geldbussen durchdie Plebs zuerkennen liessen (Multae irrogatio), und dass als solcher Ahndung unterlie-gende Handlungen z. B. ausser dem

Seite 13Streben nach der Alleinherrschaft, Behalten eines Amtes über die Amtszeit hinaus,Kriegführung ohne Geheiss des Senats, Missbrauch der Amtsgewalt, Beleidigung desVolkes durch übermüthige Aeusserungen, auch z. B. Unregelmässigkeiten bei Verthei-lung der Kriegsbeute, Peculat, Verwendung von Soldaten zu Privatzwecken, Missbrauchder Censur, Vergehen gegen die Religion, Zauberei, Wucher, ja selbst Stuprum und an-dere Sittlichkeitsdelicte im engeren Sinne erschienen.§. 5. Die in der That ungeheure Unbestimmtheit des alten Staatsverbrechens — ur-

sprünglich wohl des einzigen öffentlichen Verbrechens — beruht aber unserer Ansichtnach nicht — und hierin differiren wir insbesondere von Huschke (S. 210, 211)38 — aufdem Wesen des Verbrechens überhaupt, sondern auf der specifisch römischen Auffas-34Liv. I. 26, 7. — Vgl. XXVI. 3.35So richtig Rudorff II. S.365 Anm.l. und Huschke S. 185 Anm. 109. gegen Rein S.466 ff.36Vgl. Nissen: Das Justitium, eine Studie aus der römischen Rechtsgeschichte. 1877, S. 24 ff.37Vgl. darüber insbesondere die vortrefflichen Untersuchungen Huschke’s, S. 145 ff. und namentlich die

Bemerkungen S. 179.38„Das Verbrechen als solches ist bloss ethische Negation; es hat in sich selbst keine rechtlichen Unter-

schiede, da non entis nulla sunt praedicata". So Huschke, S. 211. Ich glaube, dass hier Rechtsverletzungund Strafe verwechselt werden. Das Verbrechen als Rechtsverletzung muss ebenso wie das verletzteRecht bestimmt sein, feste Grenzen haben. Aber freilich die Strafe ist ursprünglich immer nur eine,die Ausstossung aus der Gemeinschaft oder der Tod.

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sung des Verhältnisses des Einzelnen zum Gemeinwesen. Nach dieser Auffassung hat derEinzelne dem Gemeinwesen gegenüber kein wirkliches Recht. Das zeigt sich deutlich inder bekannten Unverantwortlichkeit des republicanischen Magistratus, der unmittelbarden Populus vertretend gedacht wird, während der Amtsdauer, in der Unmöglichkeit,eine Amtshandlung eines Magistratus unmittelbar als nichtig zu behandeln — es findetdagegen nur die Intercession einer par majorve potestas statt — in der Unmöglichkeit,den Fiscus vor Gericht zu belangen,39 endlich später in der sofort schrankenlosen Ge-walt des Princeps. Allerdings fehlt es nicht an Gesetzen, welche versuchen dem Bürgereine bestimmte Rechtssphäre auch dem Gemeinwesen gegenüber zu garantiren, und alleGesetze über die Judicia publica sind solche Versuche, das ursprünglich unbestimmteStrafrecht des Staates in festere Grenzen einzuschliessen,40 freilich aber auch dadurch inder Anwendung sicherer zu machen. Allein der römischen Auffassung nach ist das dochimmer nur eine freiwillige, jeder Zeit möglicher Weise zurückzunehmende Concession desStaats, nicht eine Folge einer beharrlich festgehaltenen Rechtsidee, und zurückgenommenwird z. B. jene Concession, wenn der Senat den Staat als in Gefahr befindlich erklärt,41

bei Ernennung eines Dictators. Auch ist soSeite 14

leicht erklärlich, dass ursprünglich alle Freiheitsrechte des Einzelnen gegenüber den Ma-gistratus, weil sie eben nur eine positive Concession sind, beschränkt sind auf die StadtRom und deren nächsten Umkreis,42 Nach germanischer Auffassung verhält sich das —und diese Vergleichung scheint mir zur Verdeutlichung besonders geeignet — durchausanders. Die Rechtssphäre des Einzelnen ist auch der Gesammtheit gegenüber nicht nurgegründet auf ein positives, beliebig zu modificirendes oder gar ausser Kraft zu setzen-des Gesetz, sondern beruht auf der Rechtsidee, deren Ausdruck nur Gesetz und Vertragsind. Auch der König muss nach germanischer Rechtsauffassung vor Gericht Recht neh-men; gegen den Fiscus, gegen die Gesammtheit kann man Jura quaesita in weitestemUmfang erwerben, und dem Germanen folgt sein persönliches Recht überall; Befehle,die wider Recht ergehen, gelten nicht. Es ist in der That nicht richtig, wenn gewöhn-lich43 die welthistorische Bedeutung des römischen Rechts darin gefunden wird, dass esden Einzelmenschen zu selbständiger Bedeutung, zu in gewissem Umfange unabhängi-ger Stellung gegenüber der Gesammtheit verholfen habe. Dies ist doch im Wesentlichenerst eine Folge des Eingreifens der germanischen Rechtsideen in die Culturentwicklungder Menschheit. Es ist auch nicht einmal wahr, dass gerade hierin von den Römern einFortschritt im Vergleich zu den Griechen gemacht sei. Die weit sorgsamere Umgrenzungder Competenz der attischen Magistrate, der von Anfang weit wirksamer und sorg-fältiger gestaltete Rechtsschutz der Einzelnen (besonders im Strafverfahren) in Athensprechen entschieden dagegen. Allerdings geht die römische Auffassung nicht dahin, dass

39Der Procurator fisci und nicht das Gericht entscheidet später in Fiscalsachen.40Vgl. darüber insbesondere die citirte Schrift von Nissen.41Daraus erklärt sich auch, dass die Römer, insbesondere zur Zeit der Republik, dem Strafgesetze oft

rückwirkende Kraft beilegten „qui fecit, fecerit", ohne darin etwas Abnormes zu finden. Vgl. Seeger,Abhandlungen aus dem Strafrecht II, 1862, S. 1 ff.

42Vgl. Puchta, Institutionen I. §. 51, Anm. 6.43Vgl. z. B. Hildenbrand, Geschichte und System der Rechts- und Staatsphilosophie, I. S. 524.

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C. Das römische Strafrecht

der Staat ein unbedingtes Recht darauf habe, dass der einzelne Bürger vortrefflich sei,dass er ohne Weiteres als integrirendes Glied des Gemeinwesens erzogen werden könne,und Strafgesetze, die mit Rücksicht auf das Wohl des Individuums, wie die des Zaleukosund Charondas Strafen für schlechten Umgang androhen, wie die der Lokrer das Trinkenunvermischten Weines, wie selbst die des Solon den Mangel eines bürgerlichen Erwerbs-zweiges mit Strafe bedrohten,44 oder gegen den Selbstmord einschritten,45 begegnen unsin Rom nicht. Danach kann man freilich sagen, der römische Staat

Seite 15habe Recht und Moral strenger als der griechische geschieden, aber dem Einzelnen dochkein unverbrüchliches Recht dem Gemeinwesen gegenüber zugestanden.Und daraus erklärt sich der verglichen mit dem Privatrecht in vielfacher Beziehung

unbefriedigende Zustand des römischen Strafrechts, insbesondere das häufig brutale, wieman es nennen darf, Einschreiten der Gesetze, der Kaiserconstitutionen und Senatus-consulte gegen Handlungen. die an sich das Recht gar nicht verletzen, vielleicht nur alsentfernte Gefährdungen des Rechts betrachtet werden können, wie der gleichsam poli-zeilich unbestimmte Charakter der meisten umfassenden römischen Strafgesetze,46 dieum recht sicher zu gehen Vorbereitungshandlungen, wie wir heut zu Tage sagen würden,dem eigentlichen Verbrechen gleichsetzen; daraus erklärt sich auch, dass die Jurispru-denz auf dem Gebiete des Strafrechts, wenigstens was die Wirkung für den römischenStaat selbst betrifft, theilweise nur eine Sisyphus-Arbeit verrichtete, welche erst für unsdauernde Früchte getragen hat, dass sehr oft die Theorie der römischen Privatstrafkla-gen, in denen das Rechtsprincip reiner zur Geltung kommt, für uns wichtiger ist, als dieAussprüche der römischen Juristen über die Crimina publica, oder dass doch wenigstensdiese Aussprüche durch Heranziehung der Theorie über die Privatstrafklage ergänzt odermodificirt werden mussten, um für uns brauchbar zu werden.47

44Hermann, Lehrb. der griechischen Privatalterthümer, §. 60 zu Anm. 4 ff.45Hermann a. a. 0. §. 62 zu Anm. 27. Dem Selbstmörder wurde in Athen die Hand abgehauen.46Laboulaye, S. 265, erklärt diese eigentümliche Art der Abfassung der Strafgesetze daraus, dass sie eben

nur Competenzgesetze gewesen seien, und der Verweisung verschiedener Delicte an dieselbe Quaestioja nichts entgegen gestanden habe. Allein die Competenz ist doch nicht das Einzige, mit dem dieStrafgesetze der Republik sich befassen: sie bestimmen auch Strafen; und eben der Umstand, dassmehr auf die Competenz des Gerichts, als auf eine genaue Bestimmung der Delicte selbst gesehenwurde (vgl. Laboulaye S. 304), ist ein Beweis mehr für die Willkür, mit welcher man das materielleStrafrecht behandelte.

47Ein bezeichnendes Beispiel für das Verfahren der römischen Strafgesetzgebung ist die Lex Corneliade sicariis, das für die gesammte spätere Rechtsentwicklung maassgebende Gesetz über die Tödtung.Schon das Umhergehen mit Waffen, in der Absicht, einen Menschen zu tödten, aber auch nur umeinen Diebstahl zu begehen, das Anfertigen, Verkaufen von Gift, mit dem Menschen eventuell um-gebracht werden sollen, die Brandstiftung in Rom selbst und dem nächsten Umkreise der Stadt, dasfalsche Zeugniss, mit welchem ein Unschuldiger in Capitalstrafe gebracht werden soll, die Bestech-lichkeit oder auch die Parteilichkeit eines Magistrats oder Judex quaestionis zu gleichem Zweck, diegesetzwidrige Aburtheilung eines römischen Bürgers durch Magistrate oder Senatoren ohne Judiciumpublicum (vgl. darüber Cic. pro Cluentio c. 54), alles dies fällt unter dasselbe Gesetz, welches diewirkliche absichtliche Tödtung eines Menschen verpönt, und kaiserliche Constitutionen und Senats-schlüsse bringen damit noch in Verbindung das Verbrechen der Castration, ja sogar das Halten von„mala sacrificia"(vgl. L. 1, 4, 13 D. ad leg. Corneliam de sic. 48, 8). Ein anderes Beispiel liefert die LexCornelia de falsis, nach deren Erweiterung durch ein Senatsconsult auch Der wegen falsum bestraft

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Seite 16Man wird vielleicht einwenden, dass Gelegenheitsgesetze in Frage seien, die z. B. derzeitweise überhand nehmenden öffentlichen Unsicherheit entgegentreten sollten. Alleindie Bezeichung eines Gelegenheitsgesetzes passt doch z. B. auf die unter August erlas-sene Lex de adulteriis nicht, und eben der Umstand, dass jene Gesetze, wenn sie zumTheil auch Gelegenheitsgesetze waren, lange Jahrhunderte hindurch gleichsam das Kno-chengerüst des öffentlichen Strafrechts bilden konnten, der Umstand, dass später nie derVersuch gemacht wurde, diese Gesetze durch andere mit bestimmteren Rechtsprincipienzu ersetzen, dass vielmehr die Fortbildung des Strafrechts durch Kaiserconstitutionenund Senatusconsulte in der gleichen willkürlichen Weise erfolgte, oharakterisirt die rö-mische Strafgesetzgebung deutlich genug.§. 6. Die Rechtswissenschaft48 vertritt in der Kaiserzeit in mancher Beziehung die

Reaction der Rechtsidee gegen die Willkür der Gesetzgebung. Wir bemerken, dass sie dieeinzelnen, in den Gesetzen oft bunt durcheinander gewürfelten Fälle strenger zu sondern,gerechtere Abstufungen der Strafbarkeit einzuführen bemüht ist. Allein den Mangel einesfesten objectiven Thatbestandes in den Gesetzen hat sie doch zu ersetzen meist nichtvermocht und die nicht von bestimmten Traditionen und Principien getragenen Eingriffeder Gesetzgebung, d. h. nun der Kaiserconstitutionen und Senatusconsulte erschwertenihr die Arbeit, so dass schliesslich in dem öffentlichen Strafrechte das Willkürliche undZufällige von Dem, was bleibenden Werth beanspruchen kann, weit weniger getrennterscheint als im Privatrecht.

Seite 17Die letzte reale Erklärung für diesen eigentümlich willkürlichen Charakter des römischenStrafrechts ist wohl nur darin zu finden, dass die fortwährenden Kämpfe, in denen derzuerst so kleine römische Staat um seine Existenz ringen musste, von vornherein dieIdee einer beständigen festen Grenze zwischen der eigentlich strafbaren und zugleichsittlich verwerflichen und der nur gefährlichen Handlung ausschlossen. In Zeiten derGefahr scheint eine sonst nicht bedeutende Handlung leicht einen anderen Charakteranzunehmen, und man wird geneigt, der schleunigen, energischen Repression wegen,um den Schwierigkeiten des Beweises zu entgehen, die volle gesetzliche Strafe auf Fälleanzuwenden, in denen eine genauere, gerechtere Betrachtung doch einen wesentlichenMangel im Thatbestande entdecken lässt. „In hello (populus) sic paret ut regi: valet

wird, der Geld nimmt für Ablegung eines Zeugnisses, ja nach einem SCum Claudianum auch Derje-nige, der als Schreiber eines Testaments eine Disposition zu seinen Gunsten, wenn auch auf Geheissdes Tcstators und vielleicht optima fide niederschreibt (L. 15 pr. D. eod. L. 3 C. de his qui sibi 9,23): die blosse Möglichkeit einer Fälschung genügt hier zur Verurtheilung zu einer Criminalstrafe. DieLex Julia de adulteriis bestraft ohne Weiteres als Kuppler den Ehemann, der die auf dem Ehebruchertappte Frau nicht verstösst (L. 2 §. 2 D. 48, 5). Die Lex Julia de vi bestraft Denjenigen, der Waffenin ungewöhnlicher Menge besitzt und sich über einen besonderen erlaubten Zweck nicht sofort aus-weisen kann, ferner Denjenigen, „qui pubes cum telo in publico fuitünd wirft diese Fälle zusammenmit dem Falle wirklicher, gewaltsamer Erstürmung von Ortschaften, von Stuprum violentum undbewaffnetem Diebstahl bei Gelegenheit einer Feuersbrunst.

48Vgl. auch Padeletti, S. 258 ff. — Pernice, S. lff., glaubt den römischen Juristen in grosssem UmfangePrinciplosigkeit und Oberflächlichkeit bei Behandlung des Strafrechts nachweisen zu können. Ichzweifle, ob seine Einwendungen und Auffassungen in dieser Hinsicht richtig sind.

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C. Das römische Strafrecht

enim salus plus quam libido."49

Wenn solche Zeiten oft wiederkehren, und wenn, wie es zweifellos ist, die militärischeZucht, der die Bürger einen grossen Theil ihres Lebens hindurch unterworfen waren,eine solche Behandlung des Straf-rechts ohnehin nahelegte, wenn, wie bemerkt, die Frei-heiten des römischen Bürgers in älterer Zeit schon ausserhalb des nächsten Umkreisesder Stadt ihre Geltung verloren, so war es natürlich, dass endlich auch die dauerndeGesetzgebung kein Verständniss besass für den Unterschied wirklicher Rechtsverletzungund nur gefährlicher Handlung’. Und dazu kommt noch, dass bald nach der Königszeitdie gesammte Criminaljurisdiction (zunächst allerdings nur in Folge der Provocation vonden Urtheilen der Magistrate) der Volksversammlung anheimfiel, die, da sie zugleich diegesetzgebende Gewalt inne hatte, nicht streng an ein festes Gesetz zu binden war undhäufig mehr ein Urtheil über die Person, die Gesinnung des Angeklagten, als über dieThat füllte, welche den Gegenstand der Anklage bildete.Damit hängt wiederum zusammen die durchaus vorherrschende Berücksichtigung des

Dolus, die Vernachlässigung der Thatseite des Verbrechens in den Judicia publica. Dasöffentliche Strafrecht, aus der Perduellio hervorgewachsen, verleugnet seinen Ursprungnicht: ist man doch auch heut zu Tage geneigt, bei Staatsverbrechen im engeren Sinne aufden Animus hostilis gegen die Kos publica, wie die Römer sagen, vorzugsweise Gewichtzu legen.§. 7. Einen gewissen Gegensatz zu den übrigen Strafgesetzen der Republik bilden al-

lerdings die Zwölftafeln. Sie sollten, wie berichtet wird, in der That das geltende Rechtfest und klar stellen, eine Codification sein, bei der freilich einzelne Fortbildungen nichtausgeschlossen waren, zum Schutze insbesondere der Plebs gegen Willkür. Die Rechts-

Seite 18sätze der XII Tafeln sind nicht von jener polizeilichen Unbestimmtheit, der wir später sooft begegnen. Neben den bereits erwähnten Sätzen über dolose (bezw. culpose) Tödtung,über Diebstahl, Körperverletzung enthielten die XII Tafeln die Androhung der Todestra-fe gegen den Landesverräther,50 gegen Den, der ein Haus oder einen neben einem Hausegelagerten Getreidevorrath (absichtlich) in Brand setzte,51 gegen Den, der falsches Zeug-niss ablegte, der als Judex oder Arbiter sieh bestechen liess,52 und Denjenigen, der Spott-oder Schandgedichte verfasste und veröffentlichte.53 Auch ist überliefert, dass sie (ver-mutlich mit dem Tode) bestraften das Aussprechen von Zauberformeln zum Nachtheileanderer Personen oder fremder Saaten,54 das Halten nächtlicher Versammlungen in derStadt.55 Möglicherweise enthielten sie noch andere criminelle Strafbestimmungen,56 wiedenn auch Bestimmungen polizeilicher Natur und solche gegen den Luxus in ihnen nicht49Cic. de rep. I. c. 40 §. 63.50Qui hostem concitaverit quive civem hosti tradiderit". L. 3. pr, D, ad leg. Jul. maj. 48, 4.51L. 9. D. de incendio ruina 47, 9.52Gellius XX. 1, §§. 7 u. 53. Der falsche Zeuge sollte vom Tarpejischen Felsen herabgestossen werden.53Zumpt, I. S. 382, will die Bestimmung auf politische Spottlieder beziehen.54Qui fruges excantassit . . neve alienam segetem pellexeris. Vgl. Bruns, Fontes juri Rom. antiqui, 3.

Aufl., S. 28.55Primum XII tab. cautum esse cognoscimus, ne quis in urbe coetns nocturnos agitaret. Bruns 1. c. S.

31.56Ueber Vergiftung. Vgl. L. 236 D. de V. S. 50, 16.

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fehlen (z. B. Verbot der Begräbnisse in der Stadt,.57 Beschränkung des Aufwandes beiLeichenbegängnissen und Begräbnissen, Cic. de Legg. II. c. 23).58

§. 8. Bei den einfachen Verhältnissen der älteren römischen Zeit konnte man aber mitwenigen öffentlichen Strafvorschriften ausreichen.Denn erstens wurde das Strafrecht ergänzt durch eine äusserst umfassende Straf- und

Disciplinargewalt des Hausvaters über die seiner Gewalt unterworfenen Kinder, Ehefrau-en und Sclaven. Wenn die öffentliche Strafgewalt durch diese keineswegs ausgeschlossenwurde, es vielmehr vom Ankläger abhing, ob er die öffentliche Gewalt anrufen, oderauch von dem Ermessen eines Magistratus, ob er einschreiten wollte, so wurden durchdie Disciplinargewalt der Hausväter und Herrn59

Seite 19daneben doch wohl manche Handlungen jener gewaltabhängigen Personen bestraft, ge-gen welche bei gewaltfreien Personen das Sittengericht der Censoren einschritt.Die Censoren hatten keine eigentliche Strafgewalt, aber indem sie die Listen der steu-

erpflichtigen und stimmberechtigten Bürger aufstellten, hielten sie sich hierbei nichtunbedingt gebunden an den Maassstab des Vermögens, sondern erachteten sich, da je-de Amtshandlung eines Magistratus ohne Rücksicht auf ihre Begründung gültig undwirksam war, auch für befugt, wegen persönlicher Unwürdigkeit60 dem Einzelnen seinpolitisches Recht für die Dauer des Census61 durch Versetzung in eine andere Tribus(durch das inter aerarios referre),62 durch Weglassen seines Namens in der Liste derSenatsmitglieder zu schmälern, beziehungsweise zu nehmen, ihn zugleich zur Strafe miteinem besonders hohen Steueransatze zu beschweren, und ihn mittelbar dadurch zu-gleich der allgemeinen Nichtachtung oder Verachtung preiszugeben.63 So schritten dieCensoren ein gegen Meineid, der nicht bürgerlich strafbar war,64 gegen Neuerungssucht

57Hominem mortuum in urbe ne sepelito neve urito. Bruns S. 33.58Vgl. Bruns S. 33, 34.59Auch Sclaven können auf Grund der Leges öffentlich angeklagt werden, es müsste denn die Strafe

(z. B. Geldstrafe wegen Mangels des eigenen Vermögens) für sie nicht passen. Vgl. L. 12 §. 4 D. deaccusat, 48, 2, über Haussühne vgl. L. 6 §. 2 D. ad leg. Jul. de adulter. 48,5. Vielleicht verhielt sichdie Gerichtsbarkeit des Staates zu der der Familie so, dass de facto das Urtheil des Familienhauptesrespectirt wurde, auch wenn es ein freisprechendes war. Uebermässige Strenge des Familienhauptesrief zuweilen Missbilligung hervor. — Vornehmen Frauen ersparte man die Schande öffentlicher Hin-richtung, indem man sie nach geschehener Verurtheilung der Tödtung durch die Familie überwies.Liv. XXXIX. 13. Zumpt I. S. 358.

60Die Nota censoria ist juristisch keine Strafe; sie kann daher auf Grund einer anderweiten Strafe ver-hängt werden. Cic. pro Cluentio c. 42 ff. Vgl. Platner S. 13.

61Die neuen Censoren konnten mit dem neuen Lustrum die Amtshandlungen ihrer Vorgänger einfachdurch Veränderung der Listen wieder aufheben. Es trat so häufig von selbst eine Rehabilitation ein,während der auf einem Judicium beruhende Ehrverlust einen dauernden Charakter hatte.

62Da es in der späteren Zeit keine Aerarii mehr gab, beschränkte sich freilich die Macht der Censoren aufdie Versetzung aus den angeseheneren ländlichen Tribus in eine der 4 städtischen Tribus. MommsenII. S. 384.

63Da es in der späteren Zeit keine Aerarii mehr gab, beschränkte sich freilich die Macht der Censoren aufdie Versetzung aus den angeseheneren ländlichen Tribus in eine der 4 städtischen Tribus. MommsenII. S. 384.

64Eine reichhaltige Aufzählung der verschiedenen Fälle siehe bei Jarcke S. 16 ff. und Mommsen II. S.364 ff.

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C. Das römische Strafrecht

bei Gesetzesvorschlägen und gegen Mangel an Achtung vor den alten Gesetzen, gegenVerletzung der Ehrfurcht vor der Obrigkeit, gegen ruchlose, wenn auch nicht strafbareGrausamkeit, Vernachlässigung von Zucht und Sitte in der Ehe, Ehelosigkeit, übermäs-sigen Luxus und schlechte Wirthschaft.

Seite 20Ferner kann man die Bestimmungen des Civilrechts über die Infamie als eine Ergänzungdes Strafrechts betrachten. Wer auf gewisse Civilklagen verurtheilt wird, die entweder einDelict oder doch einen Bruch des Vertrauens voraussetzen, wird infamis, verliert damitdie Fähigkeit zu Ehrenämtern, das Stimmrecht in der Volksversammlung und erleidetauch bei der Rechtsverfolgung Nachtheile,65 die wir für die damalige Zeit nicht als ganzgeringfügige betrachten dürfen. So wird infamis, Wer verurtheilt wird auf die Actio furti,die Actio injuriarum, die Actio fiduciaria, die Actio pro socio, tutelae, mandati, depositi(directa);66 so wird aber auch infamis der Insolvente, dessen Güter von den Gläubigernnach erfolgter Missio in bona proscribirt und verkauft sind, und die Infamie tritt in denDelictsfällen auch ein, wenn Jemand nicht verurtheilt ist, sondern sich nur losgekauft hat,und in einigen Fällen, die wir als Verbrechen behandeln, war die Infamie67 die einzige,aber unmittelbar aus der Handlung resultirende und zugleich empfindliche Folge.68

Eine letzte Ergänzung des Strafrechts bildeten später jedenfalls auch die Actionespopulares,69 bei denen im Wege des Civilprocesses seitens einer Privatperson eine Geld-strafe eingeklagt wurde, welche dem Kläger zufiel. Diese Fälle,70 soweit sie uns überliefertsind, beruhen meist auf dem Edicto des Prätors und sie betreffen meist das Gebiet derheutigen Polizeidelicte oder sie beziehen sich auf culpose Beschädigungen.71 So wirdmit Actio popularis geahndet das Beschädigen des öffentlich ausgehängten prätorischenEdicts selbst, die Tödtung oder Beschädigung eines freien Menschen durch Hinabwerfeneines Gegen-

Seite 21standes aus einem Hause, das unbefugte Bebauen öffentlicher Wege und Plätze; dochgehört hierher auch die Verletzung von Gräbern u. s. w. Und in gewissem Sinne kannman auch die strenge civilrechtliche Schadenersatzpflicht, z. B. die Beschädigung frem-der Sclaven nach der Lex Aquilia, überhaupt das au Privatstrafen so reiche Civilrechtals eine Ergänzung des Strafrechts betrachten.65In Ansehung der Fähigkeit, sich durch Andere vor Gericht vertreten zu lassen oder Andere vor Gericht

zu vertreten. In einzelnen Fällen trat auch Unfähigkeit zum Zeugniss ein. L. 21 pr. D. de testibus 22,5.

66L. 6 §. 7. D. de his qui notantur infamia 3, 2. Contrario judicio damnatus non erit infamis: neeimmerito, nam in contrariis non de perfidia agitus, sed de calculo qui fere judicio solet dirimi.

67Insofern man einen Stellvertreter bestellte, entging man allerdings der Infamie. L. 6 §. 2 D. 3, 2.Daher werden im späteren Rechte die betreffenden Fälle unpractisch. Vgl. v. Savigny, System desröm. Rechts, II. S. 175.

68Insofern man einen Stellvertreter bestellte, entging man allerdings der Infamie. L. 6 §. 2 D. 3, 2.Daher werden im späteren Rechte die betreffenden Fälle unpractisch. Vgl. v. Savigny, System desröm. Rechts, II. S. 175.

69Die Entstehungszeit der Actiones populares ist noch nicht genauer festgestellt.70Ueber die einzelnen Fälle vgl. Walter, II. §. 802. Rudorff, II. §. 46.71Vgl. z. B. auch über Beschädigung durch wilde Thiere, die in der Nähe eines öffentlichen Weges gehalten

werden, L. 40—42 D. de aedil. edicto 21, 1.

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§. 9. Die Strafgesetzgebung der Republik hat im Uebrigen—die letzte Zeit ausge-nommen — für uns wenig Interesse. Privatverbrechen wurden in der aristokratischenRepublik — quum et res et cupiditates minores, wie Cicero Fragm. pro Tullio §. 9sagt — von gewaltfreien Personen selten begangen.72 So kommen denn wesentlich nurStrafbestimmungen vor gegen Verletzungen der Rechte der Plebs, gegen Verletzung desPro-vocationsrechtes,73 gegen Verhinderung der Wahl von Volkstribunen,74 gegen dieVerhängung körperlicher Züchtigung über römische Bürger75 seitens der Magistrate, al-so Gesetze zum Schutze des öffentlichen und politischen Rechts; ferner Luxusgesetze(Leges sumtuariae)76 als Fortsetzung der einschlagenden Bestimmungen der XII Tafeln.Die Reihe der für die spätere Zeit und für uns noch wichtigeren Strafgesetze beginnt

mit dem Strafgesetze gegen Excesse77 der Magistrate in den Provinzen. Die Lex Calpur-nia (605 a. u.) repetundarum setzt eine Untersuchungs- und Aburtheilungs-Commissionfür darauf bezügliche Anklagen ein und wird das Vorbild einer ganzen Reihe solcher Le-ges, die seit Sulla sich auch auf andere als politische Verbrechen zu beziehen anfangen.Die unmittelbar praktische Bedeutung der meisten

Seite 22dieser Leges war eine mehr processuale, als materiellrechtliche, um so mehr, da die Rich-ter, die Traditionen beibehaltend der souveiaincn Volksversammlung, an deren Stelle sierichteten, oft nicht sowohl die einzelne Handlung als vielmehr Charakter und Gesinnungdes Angeklagten beurtheilten. Dass Erpressungen78 der Beamten in den Provinzen einerenergischen Repression bedurften, von Seiten des Senats geahndet, die Schuldigen zurRückgabe der erpressten Summen angehalten wurden, die Volkstribunen beim Volke dieVerhängung einer Multa beantragen konnten, war nichts Neues.79 Aber die neue Lex ge-währte, während früher nur auf besondere Bitte eine Untersuchung vorgenommen wurde,oder aber ein Tribun nach seinem freien Ermessen sich zum Einschreiten bewogen ge-

72Cic. 1. c. „ut perraro fieret, ut homo occideretur, idque nefarium ac singulare facinus putaretur, nihilopus fuisse judicio de vi coactis ar-matisque hominibus.

73So bald nach dem Sturze des Decemvirats die Lex Duilia ne quis ullum magistratum sine provocationecrearet; qui creasset eum jus fasque occidi, neve ea caedes capitalis noxae haberetur. Liv. III. 54, 55.

74.qui plebem sine tribunis reliquisset", Liv. III. 55 (Lex Duilia).75Die Leges Porciae (vgl. darüber Walter, I. §. 104). Liv. X. 9. „Porcia tarnen lex sola pro tergo eivium

lata videtur quod gravi poena, si quis verberasset necassetve civem Romanum, sanxit. — Laboulaye,S. 94, erblickt in der Lex Porcia eine Ausdehnung der Lex Valeria auf den Schutz der Bürger gegendie Gewalt der Magistrate in den Provinzen (mit Ausnahme der Soldaten). Vgl. Cic. II. in VerremV. c. 55.

76Besonders oft genannt die Lex Oppia gegen den Kleiderluxus der Frauen 539 a. u., die Leges Orchia,Didia (cibaria) gegen den Luxus bei Gastgelagen (vgl. darüber Walter I. §. 256, Rudorff I. §. 14 [S.37]).

77Excesse auch im Sinne unwürdiger Behandlung römischer Bürger. So eine Lex Sempronia („He decapite civium injussu populi quaereretur . . . Si quis magistratus judicio quem circumvenerit, de ejuscapite populi esse animad versionem"), Cic. Cat IV. 5 (Laboulaye, S 213).

78In naher Beziehung zu den Erpressungsgesetzen stehen die Gesetze gegen Amtserschieichung (Legesambitus), Kauf und Verkauf von Stimmen bei den Wahlen zu den öffentlichen Aemtern, die dannwieder zu Erpressungen in den Provinzen benutzt wurden (vgl. über die älteren hierher gehörigenGesetze Rudorff I. S. 80). Ueber die Lex Julia peculatus (Entwendung aus dem Staatsvermögen),vermuthlich von Cäsar, vgl. Rudorff I. S. 91.

79Vgl. Laboulaye S. 192, Mommsen II. S. 289ff.

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C. Das römische Strafrecht

funden hatte, ein Recht durch einen Ankläger die Verurtheilung zu fordern und schuf zudiesem Zwecke ein genau geregeltes Verfahren vor einem besonderen Richtercollegium,das doch in gewissem Umfange eine strictere Beobachtung des Rechts sicherte, als diesouveraine Volksversammlung selbst. Indirect führte das von selbst zur Beschreibung,Definition der Handlungen, welche man diesem Verfahren unterwerfen wollte, und nachund nach beginnen diese Leges,80 da das Vorfahren sich bewährte und bei stets sinken-der Moralität eine mehr energische Repression nothwendig wurde, auch das Gebiet derstrafbaren Handlungen, welche gegen die Rechte der Einzelnen sich richten,81 wenigstens

Seite 23theilweise zu erfassen. Wenn daher auch die spätere Jurisprudenz die in diesen Legesunter Strafe gestellten Fälle mehr nur als Beispiele behandelte und ad exemplum legisStrafen verhängte,82 so hat man in ihnen doch, wie bemerkt, das Knochengerüst desspäteren Strafrechts in gewissem Umfange zu erblicken.§. 10. Eigentümlich ist der Eindruck des Strafensystems dieser Leges.Die alte Strafe des „Sacer esse"war wohl, abgesehen von den Fällen, in denen man

sich für berechtigt hielt, Jemanden ausdrücklich als Feind des Vaterlandes, insbesonderewegen Verschwörung oder Strebens nach der königlichen Gewalt, zu erklären und als sol-chen zu tödten, von selbst zu einer juristisch bedeutungslosen, wenngleich durch Altergeheiligten und moralisch immerhin noch respectirten Formel geworden, und eine solchejuristisch bedeutungslose Formel liegt, nach dem völlig unbestimmten Thatbestande zuurtheilen, bereits in der oben erwähnten Strafdrohung der XII Tafeln gegen das pflicht-widrige Benehmen des Patrons gegen den Clienten.83 Bei vorgeschrittener und noch nichtvöllig in Fäulniss übergegangener Cultur ist die dem Publicum gegebene Erlaubniss, Je-manden zur Strafe zu tödten, wirkungslos. Gegen die Aufnahme von Todesstrafen indas Gesetz sträubte sich der Stolz des Civis Romanus: trat doch der Magistratus undSenator auswärtigen Königen gegenüber nicht selten als Gebieter auf, und der einfacheBürger, der in der Volksversammlung über die Magistrate abstimmte und seine Stimmevon den Vornehmsten sich abschmeicheln Hess, fühlte sich wieder als Gebieter jener, als80Die wichtigen Leges majestatis (Lex Appuleja de majestate mi-nuta, etwa aus der Mitte des 7. Jahrh.

der Stadt, Lex Cornelia majestatis, 673, Lex Julia maj., 708) bezogen sieh ursprünglich auch wohl nurauf Handlungen der Magistrate, durch welche der Würde oder dem eminenten Rechte des PopulusRomanus etwas vergeben wurde. Vgl. namentlich Cic. in Pisonem 21 (50): „Exire de provincia, educereexercitum, bellum sua sponte gerere, in regnum injussu populi ac senatus accedere, quum plurimacleges veteres, turn lex Cornelia majestatis, Julia de pecuniis repetundis vetant". Sulla hatte vielleicht(zuerst) Reden unter die Strafbestimmungen der Lex majestatis gestellt und Strafsanctionen auch zumSchutze der Magistrate aufgenommen (Laboulaye S. 267). „Est niajcstas, ut Sulla voluit, ne in quemvisimpune declamare liceret". Cic. Ep. ad div. 3, 11, 2. Die Lex Julia Caesaris bildet die Grundlage fürdas spätere Recht; sie ist in den justinianischen Rechtsquellen commentirt und fortgebildet.

81So die Lex Cornelia testamentaria (numaria, de falsis), von Sulla das massgebende Gesetz über Fäl-schung (ahndet freilich z, B. auch die Bestechung von Richtern, Pauli. Rec. S. V, 25 §. 2), die LexCornelia de sicariis et veneficis (691 a. u.), die Lex Pompeja de parricidiis, die Lex Pompeja de vi(702), die Lex Julia de vi (708), fortgebildet in den Leges Juliae de vi publica und de vi privata unterAugust.

82Vgl. z. B. L. 7 §. 3 D. ad leg. Jul. maj. 48, 4: „si non tale sit de-lictum quod vel ex scriptura legisdescendit, vel ad exemplum legis vindicandum est". - L. 3 D, ad leg. Pomp. de parricidiis 48, 9.

83Vgl. auch Padeletti, S. 77, der sogar ein ausdrückliches Verbot der Tödtung eines Menschen ohneUrtheil und Recht in den XII Tafeln annimmt.

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Theilhaber der Majestas populi Romani. Freilich hat man wie bekannt in ausserordentli-chen Fällen Bürgerblut genug vergossen, und wenn auch die Gracchischen Unruhen, dieProscriptionen in den Bürgerkriegen nicht in das Gebiet des Strafrechts gezogen werdenkönnen, so wurde doch in den Provinzen de facto der römische Bürger von gewaltsamenund ruchlosen Magistraten oft in der schändlichsten Weise seiner Habe und seines Le-bens beraubt — man denke hier nur an die Schandthaten, welche Cicero dem Verres mitgutem Grunde zur

Seite 24Last legt — und massenhafte Hinrichtungen wurden vollzogen bei dem Einschreiten desSenats gegen die Bacchanalien84 und gegen die wiederholt grassirenden Giftmischereien85

der römischen Frauen. Ja, die Tödtung der Catilinarier auf Beschluss des Senats magals eine nicht durchaus ausserhalb des Rechts fallende Thatsache angesehen werden.86

Aber der Gedanke an Henker und Todesstrafe schien des römischen Namens unwürdig;man liess diese Dinge für ausserordentliche Nothfälle gelten; in einem Gesetze erschienihre Erwähnung in der späteren Zeit der Republik unmöglich; „Carnifex et obductio ca-pitis et nomen ipsum crucis abest non modo a corpore civium Romanorum, sed etiam acogi-tatione, oculis, auribus. Harum enim omnium rerum . . . etiam exspec-tatio, mentioipsa ... indigna cive Romano atque homine libero est."87 Rein politischen Delicten unddem Missbrauche eines öffentlichen Amtes gegenüber war aber allerdings die Strafe derEntziehung politischer Rechte,88 z. B. die Entziehung des passiven Wahlrechts, rechtwirksam, und die Aquae et ignis interdictio, die Untersagung des Gebrauchs von Was-ser und Feuer auf dem heimischen Boden, d. h. das Exil,89 konnte die politische,90 dieVerhängung unerschwinglicher Geldstrafen91 die ökonomische Existenz des Angeklagtenvernichten. Aber man erstaunt doch darüber, dass solche Strafen auch gegen das gemei-ne Verbrechern92 für genügend erachtet wurden, wenn in der letzten Zeit der RepublikLohnmord und Giftmischerei gewerbmässig betrieben wurden,93 ja Vater-und Mutter-mord nichts sehr Seltenes war,94 und da es ein Recht des Angeklagten war, sich jederVorurtheilung durch freiwilliges Exil zu84Liv. XXXIX. 18.85Liv. VIII. 18 und Liv. XL. 37.86Vgl. Nissen. S. 32ff.87Cic. pro Rabirio c. 5 (§. 16).88Vgl. z. B. Diocass. XXXVI. 21 über die Bestrafung des Ambitus.89Exilium hoc est aquae et ignis interdictio". L. 2 D. de publ. jud. 48,1. — Nach der Lex Tullia wurde

ein zehnjähriges Exil als Strafe des Ambitus hinzugefügt. Cic. pro Murena c. 41 (§. 89).90Denn politisches Leben existirte nur in Rom.91Vgl. z. B. über die nach und nach gesteigerten Strafen der Erpressungen in den Provinzen Laboulaye,

S. 239.92Die Strafe der Lex Cornelia de sicariis war ursprünglich nur Verbannung. Cic. pro Cluentio c. 71.93Vgl. Gengler, die strafrechtliche Lehre des Verbrechens der Vergiftung I. (1842) S. 40ff. — Henriot

II. S. 164ff. — Cic. de Nat. D. III. c. 30 (§. 74) ... „haec quotidianae, sicae, veneni, peculatus,testamentorum etiam lege nova quaestiones."

94Henriot II. S. 179. Darauf läset die häufige Erwähnung des Vatermordes bei den Dichtern und dieMotivirung durch die Gier nach dem väterlichen Gute schliessen; die Übergrosse Ausdehnung derPatria potestas mochte freilich auch dazu beitragen. — Die Lex Pompeja de pameidiis stellte dasparricidiuni unter die Strafe der Lex Cornelia de sicariis, L. 1 D. 48, 9. Die alte, in der Kaiserzeitwiederhergestellte, Poena culei hinderte in der späteren Zeit der Republik die Verurtheilung.

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C. Das römische Strafrecht

Seite 25entziehen,95 und letzteres den Verbannten keineswegs hinderte, an einem angenehmenOrte zu loben und die in Sicherheit gebrachten Erträgnisse begangener Verbrechen be-haglich zu geniessen,96 so war für gemeine Verbrecher, die politische Rechte und den Auf-enthalt in Rom nicht hoch anschlugen, bei einiger Vorsicht Straflosigkeit gesichert. Mehrals die Verurtheilung zu bestimmter Strafe fürchtete der Angeklagte oft den Unwillendes Volkes und die politischen Gegner, welche diesen durch die Anklage hervorgerufenenUnwillen zu Gewaltthätigkeiten benutzten — wie denn z. B. Clodius in dieser Weise denBrand und die Plünderung des Cicero’schen Hauses bewirkte — und so kam nicht seltenmehr die Thatsache der Verurtheilung als der Grund derselben in Betracht. So wurdez. B. die Anklage gegen Verres, der unschuldige römische Bürger an Stelle gefangenerSeeräuber hatte hinrichten lassen, um durch den Verkauf der letzteren ein gutes Ge-schäft zu machen, nicht wegen dieser scheusslichen Mordthat, sondern technisch wegenErpressung angeklagt: jene schreckliche Thatsache diente dabei, wie wir sagen würden,nur pro coloranda causa.97

§.11. Trotz dieses aristokratisch-milden Charakters des Strafrechtes, welches den Ver-brecher auf Kosten der allgemeinen Sicherheit begünstigte, finden wir jedoch schon frühMomente, welche den schnellen Umschwung,

Seite 26der nach dem Beginn der Kaiseizeit erfolgte, sehr begreiflich erscheinen lassen.Erstens war der römische Bürger, so sehr er daheim eines weitgehenden Schutzes gegen

magistratuale Willkür genoss, als Soldat im Felde dem rechtlich schrankenlosen discipli-naren Ermessen des Feldherrn und seiner Stellvertreter überwiesen und die schwerstenLeibes-uud Lebensstrafen konnten alsdann über ihn verhängt werden.98 Und bis zu demSempronischen Gesetze vom J. 631 d. St. galt die Provocation gegen Amtshandlungen derMagistrate militiae auch für Nichtsoldaten rechtlich nicht.99 Nun wird es immer schwerhalten neben einem eroberungssüchtigen Militarismus, der seiner Natur nach nicht gernan Gesetze sich bindet, freiheitliche Institutionen aufrecht zu erhalten, und in Rom botdie tatsächliche[100 Betrauung des Princeps mit der Feldherrngewalt auch im Inneren derStadt die bequeme Form der schrankenlosen Strafgewalt, welche in den Bürgerkriegen

95Ursprünglich war das Exil überhaupt keine Strafe, sondern nur ein Mittel die Strafe zu vermeiden. Cic.pro Caecina c. 34 (§. 100). Freilich konnte auf das freigewählte Exil der Ausspruch folgen: „Ei justumesse exiliumünd damit die Aquae et ignis interdictio, die Rechtlosigkeit auf dem heimischen Boden —Liv. XXV. 4; XXVI. 3. — Vgl. über das freiwillige Exil Geib, Geschichte des röm. Criminalprocesses, S.120 ff., S. 304. — Auch in Griechenland sühnte ursprünglich freiwillige Entfernung auch das schwersteVerbrechen. Der Einzelne kann das Band lösen, welches ihn dem Gemeinwesen unterordnet, und damithört das Recht des letzteren ihm gegenüber auf. Anders, wenn erst ein Ausspruch des Gemeinwesenserfolgt ist. Uebrigens traf in älterer Zeit das Exil oft hart genug.

96Juvenal Sat. I. 1, 48:— „et bis damnatus inani judicio — quid enim salvis infamia numis? — exulab octava Marius bibit et fruitur dis iratis —". Vgl. auch Suet. Div. Jul. c. 42: „Poenas facinorum(Julius Caesar) auxit; et quum locupletes eo facilius scelere se obligarent, quod integris patrimoniisexulabant, parricidas, ut Cicero scribit, bonis omnibus, reliquos dlimidia parte multabat".

97Cic. in Verrem (A. II.) V. c. 27 (§. 69).98Abhauen der Hand (Val. Max. II. 7—11); Kreuzigung (Liv. XXX. 43). - Vgl. Du Boys S. 449.99Mommsen, Staatsr. I. S. 65ff.; II. S. 110.0

100Vgl. Nissen S. 140ff. — Der Respect vor dem Pomoerium dauerte bei den Kaisern freilich nicht lange.

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bereits hervortritt.Sodann aber hatte man, während früher die Sclaven thatsächlich mild behandelt wur-

den, sich nicht nur gewöhnt, sie mit den Mitteln der hausherrlichen Gewalt zu peinigenund zu morden, sondern handhabte auch ein äusserst grausames öffentliches Strafrechtgegen sie, in welchem vermuthlich die Anschuldigung des Herrn die Hauptrolle spielte.101

Eine solche Ungleichheit in der Behandlung von Menschen wirkt auf die Dauer auch fürdie Bevorrechteten verderblich. Der tägliche Anblick öffentlicher Auspeitschungen, grau-samer Hinrichtungen (am Kreuze), für welche ein besonderer Platz am EsquilinischenThore diente,102 gewöhnte allmählig an die Anschauung, dass die ordentliche Strafge-walt statt wie in der späteren Zeit der Republik der Person des Bürgers gegenüber sichwesentlich passiv zu verhalten habe und nur indirect ihn zum Exil nöthigen könne, auchactiv und direct die Person des Schuldigen ergreifen dürfe.103

In der That war auch das alte Exil, mit welchem man jede weitere Strafe abwendenkonnte, in der Kaiserzeit für die grosse Mehrzahl kaum noch eine Strafe (Inane judiciumnennt es Juvonal).104 Die politischen

Seite 27Rechte und die politische Wirksamkeit kamen bei der Alles überwuchernden kaiserlichenGewalt nicht mehr in Betracht; sie waren entweder noch ein harmloses Spielwerk oderwurden gar nicht mehr ausgeübt. Man entbehrte also höchstens die speciellen GenüsseRoms, was für empfindliche Seelen und solche, die die Hofluft liebten, allerdings schmerz-lich war. Wenn also bei dem auch in den höchsten Ständen massenhaft auftretendengroben Verbrechen105 die Kaiser die Strafen verschärften — und schon Cäsar beganndamit106 — so hatten sie entschieden dio allgemeine Meinung für sich, und man be-greift, wie das Volk auch den schandbaren Mordthaten solcher Despoten wie Tiberius,Caligula, Nero gleichgültig zusehen konnte: war es doch dem Fernstehenden nicht leicht,Schuld und Unschuld, Verdientes und Unverdientes zu unterscheiden und hatte man sichdoch gewöhnt, auch bei den Vornehmsten107 die Möglichkeit der gemeinsten Verbrechenohne Weiteres vorauszusetzen.

101Vgl. Du Boys S. 456 ff.102Val. Max. VIII. 4, 2.103Sehr richtig hebt diesen Gegensatz hervor v. Holtzendorff, Deportationsstrafe, S. 60.104Sat. I. 1. 47, 48.105Der Giftmord grassirte z. B. der Art, dass die bekannte Lucusta, Nero’s Helferin, unverhohlen damit

ein Gewerbe treiben konnte (Suet. Nero 33).106Vgl. oben Anm. 96.107Die vornehmen Frauen betrieben systematisch — um in ihren Vergnügungen nicht gestört und in ihrer

Schönheit nicht beeinträchtigt zu werden — die Abtreibung (Juv. Sat. VI. 594, 595), und gewöhnlicheDiebstähle selbst scheinen in den höheren Ständen nicht selten gewesen sein (Honestiores werden alsFurcs balnearii, als gemeine in den öffentlichen Bädern stehlende Diebe — Paletotmarder würden siebei uns heissen — genannt in L. 1 D. de für. baln. 47,17; die Principales civitatis werden als Urheberoder Theilnehmer eines Latrocinium erwähnt in L. 27 §. 2 D. 48,19). L. ID. (Ulpian) de effractoribus47, 18 spricht von einer für Honestiores, die Expilatores sind, in praxi angewendeten Strafe; §. 2 das.erwähnt eines römischen Ritters als Effractor (unter Marc Aurel) und die L. 10 §. 1 D. ad leg. Jul. pec.48, 13 eines mit grösster Frechheit und Schlauheit ausgeführten Tempelraubes durch einen „Juvenisclarissimus". Für „Splendi-diores"bestimmt Hadrian speciell eine Strafe wegen Grenzverrückung, L.2 D. 47, 21.

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C. Das römische Strafrecht

§. 12. Die erste Strafe, welche rechtlich eine Veränderung erfuhr - denn die vielenTodesstrafen, welche die Kaiser alsbald verhängten, sind oft schwer unterscheidbar vomMorde und konnten immerhin noch als Tödtung eines Feindes des Vaterlandes betrachtetwerden, insofern der Princeps mit dem Populus Romamis identificirt wurde — war dieStrafe des Exils. Sie wird schon unter August zur Relegatio,108 d. h. entweder Verban-nung nach einem bestimmten Orte oder Verbannung mit dem Verbote, einen bestimmtenRayon zu besuchen,109 und auch insofern

Seite 28die kaiserliche Gewalt die zwangsweise Fortschaffung des Verurtheilten selbst übernimmt,zur Deportation,110 ein Ausdruck, der anfangs nur die zwangsweise Fortschaffung alsFactum bezeichnet, nachher aber die technische Bedeutung einer mit schwereren Folgenverknüpften lebenslänglichen111 Relegation an einen bestimmten Ort annimmt. DieseFolgen, anfangs durch die kaiserliche Willkür bestimmt, welche die Deportation und Re-legation besonders gegen politische Verbrecher odor Solche, die dies zu sein schienen,verwandte, wurden erst später von den Juristen genauer bestimmt. Während der Rele-girte Civität und Testamenti factio nicht verlor, auch, wenn er nur auf bestimmte Zeitrelegirt wurde,112 jedenfalls eine selbst nur theilweise Vermögensconfiscation nicht zuerleiden hatte, war mit der Deportation113 Verlust der Civität und aller durch letzterebedingten Rechte — der Rechte des Jus gentium blieb der Deportirte fähig — und sodannVermögensconfiscation verbunden,114 Kaiserliches Ermessen oder kaiserliche Willkür be-stimmten bei beiden Strafen den Ort der Verbannung,115 und es gab neben erträglichenAufenthaltsorten wüste zur Ausführung der Deportationsstrafe dienende Inseln, auf de-nen den Deportirten ein baldiger Tod in Aussicht stand,116 abge-

Seite 29sehen auch von den heimlichen Mordbefehlen, denen nicht selten unter despotischen

108v. Holtzendorff S. 28ff.109Niemand, dem Feuer und Wasser untersagt war, sollte sich auf dem Cotinente betreffen lassen, noch

auf irgend einer Insel, die nicht über 50000 Schritt vom Festland entfernt war (ausgenommen Cos,Rhodos, Sardinien, Lesbos). Vgl. v. Holtzendorff S. 31 Anm. 5

110v. Holtzendorff S. 4O ff.111Nur die kaiserliche Gnade konnte eine Restitution vornehmen. Zuweilen wird die Hoffnung darauf

ausdrücklich abgeschnitten (Irrevocabile exilium, vgl. z. B. L. 14 § 3 L. de sacros. ecclesiis 1, 2). Vgl. v.Holtzendorff S. 28. — Die praktische Bedeutung dieses Zusatzes, welche v. Holtzendorff zu vermissenscheint, bestand wohl darin, dass die Statthalter angewiesen waren, etwaige Begnadigungsgesucheder Verurtheilten nicht zu befördern. Vgl. L. un. C. de Nili aggeribus I. 9, 38.

112L. 7 §§. 3, 4 D. de interdictis 48, 22.113Die Deportation musste als entehrende Strafe deshalb besonders in die Augen fallen, weil sie der

republicanischen Ansicht von der Unzulässigkeit eines directen persönlichen Strafzwangs entgegenwar. Vgl. v. Holtzendorff S. 60.

114Man liess dem Verurtheilten nur die sog. Pannicularia, einige Kostbarkeiten und Kleidungsstücke (vgl.darüber das Rescript Hadrians in der L. 6 D. de bonis damnatorem 48, 20) und concedirte ausserdemden Kindern — ausgenommen die Fälle des Majestätsverbrechens — einen Theil des Vermögens. —Ueber die Einzelheiten vgl. v. Holtzendorff S. 79ff.

115In Aegypten kommt Deportation nach einer in der Wüste befindlichen Oase vor, L. 7 §. 5 de interdictiset relegatis 48, 22.

116Die Felseninsel Gyaros, eine der Cykladen im Aegäischen Meere, war in dieser Hinsicht besondersberüchtigt; es fehlte hier an Wasser. Tac. Ann. IV. 30. Vgl. auch Juv. Sat. XIII. 246.

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Kaisern die Verbannten zum Opfer fielen.117

An häufige Todesstrafen, zunächst gegen wirkliche oder angebliche Majestätsverbre-cher, gewöhnte zuerst wieder die kaiserliche Willkür,118 und im Gegensatze zu der alt-römischen Anschauung, welche in der Todesstrafe nur die nothwendige Vernichtung desSchuldigen erblickte, nicht, die Qualen des Todes als das Wesentliche betrachtete, fingman unter Tiberius an, was Sueton als besonders auffällig bezeichnet, die zum TodeVerurtheilten am Selbstmorde zu verhindern.119 Bald griffen dann einfache und raffi-nirte Todesstrafen120 auf das Gebiet nichtpolitischer Verbrechen über. Die alte Strafedes Culeus wurde wohl schon in der ersten Kaiserzeit — für Vater- und Muttermord —wiederhergestellt, oder durch Damnatio ad bestias121 ersetzt. In anderen Fällen doloserTödtung naher Verwandter wurde einfache Todesstrafe122 (Enthauptung) üblich unddiese wird später gegen Personen geringeren Standes123 in den schwereren Fällen derLex Cornelia de sicariis angewendet. Die eigenthümliche Art, in welcher im römischenStrafrecht heterogene Fälle in ein und dasselbe Strafgesetz zusammengeworfen wurden,bezw. in welcher später durch Senatusconsulte und kaiserliche Constitutionen neue Fälleunter die bereits vorhandenen Strafsätze untergebracht wurden,124

Seite 30musste zugleich der öfteren Anwendung der Todesstrafe von selbst Vorschub leisten.Dass die Frechheit125 des Verbrechens nicht selten energische Repression verlangte,126

ist bereits erwähnt worden; vielleicht war es z. B. auch nöthig den schwereren Fällen der

117Diesen Befehl erhielten z. B. unter Tiberius und Caligula oft die mit der Escorte betrauten Mann-schaften. Vgl. v. Holtzendorff S. 49.

118Man vergleiche die furchtbare Schilderung der Schreckenszeit unter Tiberius bei Suet. Tib. 61.119Suet. 1. c. „Mori volentibus vis adhibita est vivendi". Später war eine Wahl der Todesart eine besondere

vom Kaiser gewährte Gnade. L. 8 §. 1 D. de poenis 48, 19.120Kreuzigung und Feuertod, Verurteilung zum Gladiatorenspiel oder zum Zerrissenwerden durch wilde

Thiere bei öffentlichen Schauspielen (gegen Personen niederen Standes wie gegen Sclaven angewen-det).

121L. 9 D. de lege Pompeja de parricid. 48, 9. Die Strafe des Culeus wird angewendet, wenn das Meernahe ist „alioquin bestiis objicitur seeun-dum Divi Hadriani Constitutionem".

122Das Herabstürzen vom Felsen, das noch unter Tiber vielfach Anwendung fand (vgl. Suet. 1. c.) wurdespäter verboten (L. 26 D. de poenis 48, 19), auch das Erdrosseln im Gefängnisse wurde abgeschafft;später suchte man die Vollziehung der Todesstrafe besser zu regeln.

123L. 16 D. ad leg. Corn. de sic. 48, 8 (Modestinus). Vielleicht kann man aus L. 4 D. eod. schliessen, dassschon unter Hadrian dolose Tödtung bei Personen niederen Standes Todesstrafe nach sich zog.

124So wurde durch ein Rescript Hadrians das Castriren von Menschen und auch das Sichcastrirenlassen,durch ein Rescript des Antoninus Pins gar die (rechtswidrig an einem Nichtjuden vorgenommene)Beschneidung mit der Strafe der Lex Cornelia de sicariis belegt. L. 4 §. 2 D. 48, 8. L. 11. D. eod.

125Bewaffnete Grassatores (Räuber) wurden (vgl. L 28 §. 10 D. 48, 19) im Rückfalle mit dem Todebestraft. — Böswillige Brandstiftungen kamen z. B. in Rom massenhaft vor, zum Theil auch alsSpeculation auf das Mitleid (wie heut zu Tage als Speculation auf die Brandversicherungssumme).Vgl. Henriot II. S. 156. Ueber freche betrügliche Bankerotte das. II. S. 150 ff.

126Famosos latrones — furca figendos, compluribus placuit L. 28 §. 15 D. de poenis 48, 19, — BöswilligeBrandstiftung in civitate durch einen Humilior verwirkt nach L 12 §. 1 D. de incendio 47, 9: bestiisobjici; nach L. 28 §. 12 D. de poenis (Callistratus): Lebendigverbrennen. — Ueber Mensehenräuber,welche gewerbmässig Kinder raubten und in Sclaverei verkauften vgl. L. 7 C. ad leg. Fabiam 9, 20(Diocletian) und L. un C. Th. 9, 18 (Constantin).

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C. Das römische Strafrecht

Münzfälschung127 mit Todesstrafe entgegen zu treten.Auffälliger als die Todesstrafe erscheint die gegen römische Bürger in der republika-

nischen abgekommene, in der Kaiserzeit freilich nur gegen Personen niederen Standes(Humiliores) wieder hervorgesuchte körperliche Züchtigung.128 Aber diese Strafe wurderechtlich gerechtfertigt durch das überall gültige militairische Imperium der Principesund factisch war sie gegen ein vermögensloses Gesindel, wie es damals in den grossenStädten und besonders in Rom zusammenströmte, schwer zu entbehren;129 man hät-te sonst, da das damalige Freiheitsstrafensystem nicht ausreichte, zu verstümmelndenStrafen greifen müssen.Allerdings giebt es auch Freiheitsstrafen für Römer. Aber sie beruhen nicht auf dem

allein hier fruchtbringenden Gedanken, durch zeitweilige Entziehung der Freiheit zurStrafe den Schuldigen zum vernünftigen Gebrauche der demnächst wiederzuerlangendenFreiheit zu er-

Seite 31ziehen. Diesen Gedanken hat freilich schon Plato,130 hierin seiner Zeit vorauseilend, aus-gesprochen; im Uebrigen ist er der Anschauung des Alterthums ziemlich fremd geblieben.Die Freiheitsentziehung wird noch von Ulpian principiell nicht als Strafmittel betrachtet.„Carcer ad continendos homines, non ad puniendos haberi debetßagt er in der L. 8 §. 9 D.de poenis 48, 19; und Antoninus rescribirte in der L. 6 C. de poenis 9, 47 „Incredibile estquod allegas, liberum hominem, ut vineulis perpetuo contineretur, esse damnatum."131

Allein in der Kaiserzeit diente das Gefängniss doch zuweilen als Strafe132 von kürzererDauer für gerinfügigere Delicte, besonders auch solche, bei denen zugleich der öffentli-chen Ruhe wegen einstweiliges Verschwinden und Unschädlichmachen des Schuldigen133

wünschenswerth schien.134

Aber da man von jeher gewohnt war, Sclaven durch besonders mühsame Arbeiten zu

127Fälschung von Goldmünzen (L. 8 D. de lege Com. de falsis 48, 10, Ulpian). Später wurde bekanntlichdie Münzfälschung in Verbindung gebracht mit dem Majestätsverbrechen (L. 2 C. de falsa moneta 9,24, Constantin).

128Dieselbe, meistens bestehend in Stockschlägen (Fustigatio), wird häufig erwähnt. Vgl. namentlich L.8 §§. 3—5 D. poenis 48, 19. Ausser den Stockschlägen kommen vor Ruthen- (Virgae), Peitschen-,Knutenhiebe (Flagellum) unter den späteren Kaisern: auch Bleikugeln wurden später in die Knuteneingeflochten (Plumba) (vgl. z. B. L. 1 C. de his qui potentio-rum nomine 2, 15) (Arcadius undHonorius) und Stacheln (Scorpio). Vgl. Invernizzi S. 173, Pauly, Realencyklopädie VI. S. 2466.

129Ueber körperliche Züchtigung, als Zusatzstrafe bei Relegation, Verurtheilung zum Opus publicum, Admetalla vgl. L. 4 §. 1 D. de incendio 47, 9.

130Sein Sophronisterion (Legg. IX. 908) ist in seiner Grundidee die Besserungsanstalt des XIX. Jahrhun-derts. Vgl. Thonissen: Droit penal de la rep. Athenienne, S. 439 ff.

131Freilich erwähnt die Stelle auch den durch die Juristen gemissbilligten Usus der Statthalter, Ketten inden Gefängnissen anzuwenden.

132Wie aus dem Schlusse der Stelle hervorgeht, war das bei Sclaven freilich nicht unerhört. Sclaven undPersonen niederen Standes wurden thatsälchlich oft gleich behandelt. Vgl. auch Invernizzi S. 173 ff.,Henriot II. S. 361 ff.

133Die Präventivhaft war ursprünglich gesetzlich nur beschränkt durch die Amtsdauer des Magistrats,der sie verhängte und durch etwaige Intercession einer par majorve potestas. Vgl. Mommsen, röm.Staatsr. II. S. 149, 529, 530.

134Vgl. L. 8 §. 9 D. de poenis cit — Ueber Anwendnng von Gefängnissstrafen in Athen vgl. Thonissen:D. pénal de la rep. Ath. S. 114.

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bestrafen, kam man, da die geringen Freien von den allmächtigen kaiserlichen Beamtenthatsächlich wenig mehr respectirt wurden, als die Sclaven, leicht auf den Gedanken, zuden grossen Arbeiten, die der Staat unternahm, die Kräfte dem Strafgesetze verfallenerPersonen zu benutzen, wozu vielleicht auch die Bekanntschaft mit dem Brauche andererdem römischen Staate einverleibter Nationen beitrug.135 So erwähnt bereits der jüngerePlinius136 die Verwendung der Verurtheilten zu öffentlichen Arbeiten (Opus publicum),zur Reinigung der Cloaken, Besserung der Wege, zu Arbeiten in den öffentlichen Bädern.Eine schwerere Strafe dieser Art war die Verurtheilung ad metalla, zur Bergwerksarbeit,und in opus metalli. Die Sträflinge beider Kategorien trugen Fesseln und verloren alsServi poenae die Freiheit, und aus letzterem

Seite 32Grunde war die Strafe auch stets eine lebenslängliche;137 die ad metalla Verurtheiltentrugen schwerere, die in opus metalli Verurtheilten leichtere Fesseln.138 Die allgemeineMeinung betrachtete diese Strafe als eine langsam qualvolle Todesstrafe;139 die Behand-lung dieser Sträflinge muss also wohl eine sehr harte140 gewesen sein, und nach einemRescripte Hadrian’s wurde die Verurtheilung zum Gladiatorenspiel (ad ludum), welchedem Verurtheilten, wenn er Beifall fand, die Chance gewährte frei zu werden, als mildereStrafe angesehen.141Und noch andere Verwendungen werden erwähnt: jüngere Personenwurden z. B. benutzt zum Jagdspiel im Circus oder als Tänzer, insbesondere Waffen-tänzer bei öffentlichen Schauspielen.142 Nicht selten waren dabei auch vorübergehendeBedürfnisse massgebend. Constantin wies im Jahre 319 n. Chr. den Statthalter von Sar-dinien an, die wegen leichterer Verbrechen Verurtheilten nach Rom schaffen zu lassen:sie wurden daselbst zur Mehlfabrikation gebraucht, und die Constitution, welche dieseDamnatio in pistrinam urbis Romae anordnete, ist mehrmals erneuert worden.143

Mit der (wohl wesentlich polizeilichen) Strafe der Entziehung der Befugniss zur Aus-übung eines Gewerbes,144 der Unfähigkeitserklärung zu öffentlichen Aemtern145, oderdoch zu gewissen öffentlichen Aemtern, der Ausstossung aus einem höheren Stande,146

den Geldstrafen, welche z. B. wie in der republikanischen Zeit noch bei der Anklage de

135Bei den Aegyptern findet sich z, B. schon früh die Verurtheilung zur Bergwerksarbeit Thonissen: Droitpenal des peuples anciens, I. S. 157 ff.

136Ep. ad Tiaj. X. 41.137Vgl. das Rescript Hadrian’s in L. 28 §. 6 D. de poonis 48, 19.138L. 8 §. 6 D. de poenis.139Vgl Henriot II. S. 357.140Frauen, die man zu dieser schweren Arbeit untauglich erachtete, wurden in gleichen Fällen zum Mi-

nisterium metallicorum verurtheilt, d. h. zur Dienstleistung für die Bergwerkssträflinge. Eine solcheVerurtheilung konnte auch als zeitlich beschränkte vorkommen. L. 8 §. 8 D. de poenis. — Wer krankoder schwach war, wurde in der Regel, wenn er zehn Jahre ausgehalten hatte, den Verwandten zurweiteren Pflege übergeben. L. 22 D. de poenis.

141Collatio XI. 7 §§. 3, 4 (Ulpian).142L. 8 §. 11 D. de poenis. Die Verurtheilten wurden auch in diesen Fällen Servi poenae.143L. 3, 6, 6 C. Theod. de poenis 9, 40.144L. 8 pr.; L. 9 §. 10; L. 43 pr. D. de poenis 48, 19.145L. 8 pr.; L. 9 §. 10; L. 43 pr. D. de poenis 48, 19.146Vgl. über den Verlust des Decurionenstandes L. 43 §. 1 D. de poenis. Der Standesunterschied war

übrigens strafrechtlich und strafprocessual allerdings wichtig genug.

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C. Das römische Strafrecht

residuis (Nichtablieferung, bezw. NichtVerwendung öffentlicher Gelder) stattfandenSeite 33

(unter Umständen auch bei Peculat),147 Platz griffen, sind die Hauptstrafen der dama-ligen Zeit erschöpft.§. 13. Nebenstrafen waren Infamie und Vermögensconfiscation. Die erstere behauptete

auch in der Kaiserzeit noch eine erhebliche Bedeutung, insofern der Infamis zu keinemöffentlichen Amte berufen werden konnte oder (vielleicht richtiger gesagt) sollte.148 DieVermögensconfiscation aber, welche als totale jede Capitalstrafe begleitete,149 und wel-che als partielle z. B. mit lebenslänglicher Relegation nicht selten verbunden war, 150

hat sich in Rom unter despotischen Kaisern noch ganz anders verhängnissvoll erwiesen,als dies in Athen151 unter der Herrschaft der von Demagogen geleiteten Volksmasse derFall war. Mit persönlicher Rachsucht und Despotenlaune verband sich bei schlechtenKaisern auch die Annehmlichkeit einer Bereicherung des kaiserlichen Fiscus, wenn dieVerfolgung eines begüterten Mannes in Frage stand und, nicht zu gedenken der mannig-fachen Vortheile, welche selbstsüchtigen Beamten aus dem Verkaufe confiscirter Güterzu erwachsen pflegten, zogen die Prämien,152 welche man der Denunciation gewährte,die bekannte Pest des Delatorenunwesens gross. Vertrauensverhältnisse, geheiligt durchSitte und Religion, zersetzten sich unter dem Einflusse dieses Giftes, und die Strenge,die man gegen unbegründete Delationen und Anklagen und dadurch ermöglichte Erpres-sungen zeitweilig zu üben sich veranlasst fand, wurde der Rechtspflege wieder in andererWeise verderblich: je höher der Einsatz für Ankläger und Delator sich stellte, um soweniger musste dieser bedenklich sein in der Wahl der Mittel, die Sache siegreich durch-zuführen, um so näher lag die Versuchung zur Bestechung von Zeugen und Richtern.153

Dass das Gewerbe der Delatoren bald als thatsächlich infa-Seite 34

mirend154 betrachtet wurde, dass Delationen155 von Sclaven, Freigelassenen gegen dieHerren und Patrone nicht angenommen wurden,156 dass bessere Kaiser, insbesondere

147Vgl. Walter II. §. 813.148So v. Savigny, System des röm. R. II. S. 201, 202 nach L. 2 C. de dign. 12, 1. — Vgl. indess L. 2 D.

de off. assessorum 1, 22. — Ob mit der Infamie der Verlust eines bereits erlangten Amtes ipso jureverbunden war, kann zweifelhaft erscheinen. In der Kaiserzeit kam es nicht eben darauf an, da derKaiser oder der vorgesetzte Beamte das Amt disciplinarisch entziehen konnte. — Die Nebenwirkungder Infamie bezüglich des Auftretens vor Gericht kann hier ausser Betracht bleiben.

149Vgl. Geib I. S. 115; L. 8 §§. 1—4 D. qui testamenta 28, 1.150Vgl. z. B. Pauli. R. S. II. 26 §. 14; V. 25 §. 8.151Vgl. darüber Thonissen: Droit pénal Ath. S. 123. Wenn der Staatsschatz leer und bedürftig war,

begannen die Verfolgungen.152Vgl. z. B. L. 1 de his quae ut indignis 34, 9.153Es kam auch vor, dass der Verfolgte den Delator bestach. Von einer solchen Bestechung — allerdings

in einer Civilsache; denn auch abgesehen von der Confiscation zur Strafe, verfiel Vieles dem Fiscus— redet L. 29 pr. D. de jure fisci 49, 14.

154L. 1 D. »4, 9; L. 2 pr.; L. 44 D. de jure fisci 49, 14. Eine Delation, welche nicht mit Rücksicht aufGewinn erfolgte, infamirte nicht.

155Vgl. über die Delatoren namentlich Platner S. 170 ff.; Rein S. 814; Rudorff II. S. 460.156Nach einer Constitution des Severus wurden solche Delationen bestraft. L. 2 §. 6 D. de jure fisci. —

Eine Anzahl von Ausschliessungsgründen der Delation beruhte theils darauf, dass die betreffendenPersonen als Angehörige eines vornehmen Standes nicht in Versuchung geführt werden sollten, theils

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Titus, Trajan, Hadrian gegen die „humani generis inimici", die „execranda delatorumpernicies"mit der grössten Strenge auftraten, half auf die Dauer nichts, da gerade beiden in dieser Hinsicht gefährlichsten Anklagen, den Anklagen wegen Majestätsverbre-chen,157 die Rücksicht auf die geheiligte Person des Princeps und Imperator alle anderenBedenken leicht wieder überwog und das Hebel an der Wurzel zu erfassen nicht gestat-tete.§. 14. Was das Gebiet der mit Strafe belegten Handlungen betrifft. so kann jedenfalls

nicht davon die Rede sein, dass bis zum Ende der classischen Jurisprudenz, abgesehenvon den Majestätsverbrechen und den Christenverfolgungen, das Strafrecht die Grenzedes Nothwendigen wesentlich überschritten habe,158 wenngleich kaiserliche Willkür überdiese Grenze nicht selten hinausging. Aber die Rechtsbildung wendet sich jetzt mehr demSchutze des Privatrechts und der Sittlichkeit zu. Die Lex Julia de adulteriis unter August(v. J 736 d. Stadt) bildet in letzterer Beziehung einen interessanten Wendepunkt. Sieist darauf berechnet der einreissenden Sittenlosigkeit durch empfindliche Strafen gegenEhebruch, dessen freilich der Ehemann als solcher sich nicht schuldig machen kann, gegenUnzucht von Männern mit ehrbaren Frauenzimmern und mit dem eigenen Geschlecht,gegen Verkupplung, gegen Ehen und Concubinate unter nahen Verwandten entgegen zutreten. Eigenthümlich dabei ist, wie das allgemeine Publicum zum Hüter der

Seite 35Sittenreinheit und Ehre der Familie bestellt wurde, die Verletzung des subjectiven Rechtsund des Interesses der Familie gegenüber dem polizeilichen Interesse des Staates in denHintergrund trat. Nicht nur der Ehemann und der Vater der Frau hat das Anklagerechtwegen Ehebruchs — Ehemann und Vater der Frau sind nur besonders bevorrechteteAnkläger159—, nach einer bestimmten Frist kann jeder Dritte die Anklage erheben,160

und der Ehemann wird sogar wegen Lenocinium strafbar, wenn er die auf der Thatertappte Frau nicht anklagt. Nur in einer entarteten Gesellschaft kann man solche dieRuhe der Familien gefährdende und die Erpressung161 begünstigende Bestimmungen füranwendbar halten, und die durch L. 8 u. 9 D. de adulteriis bezeugte Möglichkeit derBestrafung wegen Lenocinium geht wohl hinaus über die Grenzen, welche man heutzu Tage einem strafrechtlichen oder polizeilichen Einschreiten gegen Unsittlichkeiten zuziehen gewohnt ist.Mehr unmittelbar den Schutz der Privatrechtssphäre bezwecken die späteren Ausdeh-

nungen der Leges Juliae de vi durch Kaiserconstitutionen, Senatsschlüsse und Jurispru-

darauf, dass die Delationen solcher Personen sich als besonders gefährlich erweisen mussten, z. B.die Delationen der ad metalla Verurtheilten („ne desperati ad delationem facile possint sine causaconfugere"). L. 18 §. 3 D. de jure fisci

157Hier wurde auch der Sclave als Delator gegen den Herrn zugelassen. Vgl. L. 6; L. 8 §. 6 C. de delat.10, 11.

158Hier kommt auch in Betracht die Lockerung der Familiengewalt, die Ertheilung des römischen Bür-gerrechts an besitzlose Leute. Für die mangelnde häusliche Disciplin — die häusliche Gerichtsbarkeitgegen Frauen ist freilich in der ersten Kaiserzeit noch öfter geübt worden —, für die in der Kaiserzeitnicht mehr haltbare, bald verschwindende Nota censoria musste die staatliche Strafgewalt eintreten.

159L. 4 D. de adulteriis 48, 5.160Gleichwohl fehlte es begreiflicher Weise oft an Anklägern. Suet. Tib. 35.161Vgl. über Missbräuche des Anklagerechtes L. 18 (17) a. E. D. h. t.

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C. Das römische Strafrecht

denz162 — das bereits erwähnte zuerst von Domitian erlassene Verbot der Castration163

gehört mehr den Sittlichkeitsgesetzen an —, die Bestrafung des Betruges (Stelliona-tus),164 und besonders wichtig war es, dass nunmehr das Furtum in manchen Fällenbesonderen Interesses für die öffentliche Sicherheit un bedingt,165 in allen Fällen aber, indenen ein Furtum rei vorlag und nicht etwa ein blosses Furtum usus oder possessionis,auf Antrag des Verletzten166 einer

Seite 36öffentlichen Bestrafung unterzogen wurde, und meist geschah letzteres: „Meminisse opor-tebat, nunc furti plerumque crimiualiter agi". Der Diebstahl war ja nicht anders inSchranken zu halten „quia visum est temeritatem agentium etiam extraordinaria cogni-tione coercendam."167 Ueberhaupt geht die Entwicklung dahin, Privatdelicte oder nurmit Popularklage bedrohte mehr und mehr in öffentliche mit Criminalstrafen belegte De-licte zu verwandeln oder doch nach dem Ermessen der Behörde oder des Verletzten sieals öffentliche Delicte behandeln zu lassen,168 eine Tendenz, die theilweise in der natür-lichen Entwicklung des Strafrechts begründet ist, in Rom aber allerdings auch durch diesouveraine Macht der Beamten einer- und durch die Ueberhandnahme eines besitzlosenProletariats andererseits gefördert wurde. Man kann vielleicht, da insbesondere auch derVersuch des Verbrechens zwar nicht auf Grund einer allgemeinen gesetzlichen Vorschriftoder eines bestimmt ausgesprochenen Princips, wohl aber tatsächlich mehr und mehrbei den schwereren Delicten auf Grund specieller Praxis oder auf den Titel eines andernDelictes bestraft wurde, da die Theilnahme am Verbrechen in derselben Ausdehnung wieetwa heute strafbar war, sagen, dass zur Zeit der classischen Juristen der Umfang descriminell strafbaren Rechts sich ungefähr, wenn auch nicht ganz,169 mit dem Umfangedes strafbaren Unrechts nach dem früheren gemeinen Rechte deckte. Nach und nach

162Vgl. z. B. L. 1 §. 2 D. de vi private 48, 7; L. 6 D. eod.; L. 5 §. 2; L. 6 D. de vi publica 48, 6; L. 152D. de R. J. 50, 17: „Hoc jure utimur, ut quiequid omnino per vim fit aut in vis publicae aut in visprivatae crimen invidat".

163Ueber die Bestrafung einer Abtreibung, welche eine verheirathete Frau selbst unternahm, vgl. L. 4 D.de extraord. crimin. 47, 11.

164Eigenthümliche Betrügereien waren die sog. Venditio fumi, d. h, Betrug durch die Vorspiegelung, demBetrogenen eine Ehrenstelle verschaffen zu können (vgl. Rein S. 723); ferner der Fall, dass ein Freiersich betrüglich als Sclaven verkaufen Hess (L. 7 §. 1; L. 14, 18 D. de lib. causa 40, 12; L. 5 §. 1 D. destatu hom. 1, 5): der Verkaufte sollte hier die Freiheit zur Strafe verlieren, wenn er älter als 25 Jahrwar.

165So das Furtum der Abactores, direetarii, effractores, saccularii, fures nocturni, fures balnearii. — DieHehlerei wurde als besonderes Delict bestraft. Vgl. tit.. D. de receptat. 47, 16.

166Der Verletzte konnte zwischen der Civilstrafklage und der Bestrafung des Diebes extra ordinem wählen(L. 93 D. de furtig. L. 3 §. 1 D. de off. praef. vigilim 1,15. L. 15 D. 12, 4). So entstand praktischwohl ein Zustand ähnlich demjenigen bei den heutigen sog. Antragsdelicten, und der Umstand, obder Schuldige Ersatz leisten konnte, wird dabei wesentlich ins Gewicht gefallen sein.

167L. 93 D. de furtis (Ulpianus).168vgl. über Injurien: L. ult. D. de injur. 47,10 (Hermogenian); ferner z. B. L. 3 §. 7 D. de sepulero viol.

47,12, L. 1 pr. §. 1 L. 5 D. de extraord. crim. 47, 11; L. 35 D. de injuriis.169Abweichungen z. B.: nach der Lex Cornelia de sicariis waren manche Handlungen strafbar, die dies

nach heutigem Beeilte als blosse Vorbereitungshandlungen nicht sind; Körperverletzungen waren nachröm. Rechte nur als Injurien, also auch nur als dolose strafbar; die sog. Sittlichkeitsverbrechen deckensich nicht mit denen des heutigen Rechts.

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gewann dabei auch die Bestrafung der Culpa, deren Berücksichtigung dem öffentlichenrömischen Strafrechte ursprünglich fremd war, einigen Boden, namentlich bei Tödtungund Brandstiftung.170

§. 15. Durchaus verhängnissvoll für das Strafrecht der Praxis erwies sich das Crimenmajestatis. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Interessen des Staates in der man-nigfachsten Weise vorletzt werden können und dass diese Interessenverletzungen einenschwer zu berech-

Seite 37nenden Einfluss auf das Schicksal des Staates haben können; denn der Staat ist nicht einbestimmt abgegrenztes Object, sondern je nach der Auffassung gewissermassen überallund nirgends. So nehmen Gesetze über Hoch- und Staatsverrath leicht einen unbestimm-ten Charakter an: Vieles bei den hier in Betracht kommenden Thatbeständen ist wenigerdurch Worte, als durch ein vernünftiges Ermessen zu bestimmen, und wenn immer in ab-solut regierten Staaten es Tendenz sein wird, Staatsinteresse und Interesse der Fürsten zuidentificiren, so lässt sich leicht einer jeden Handlung, welche auch nur thatsächlich demwirklichen oder vermeintlichen Interesse der Fürsten171 zuwiderläuft, der Charakter ei-ner staatsfeindlichen beilegen.172 Bei der schrankenlosen Gewalt der Kaiser, ihrem stetenpersönlichen Eingreifen in die Rechtspflege und noch mehr der Liebedienerei, welche jedeübermächtige Gewalt lavinenartig anschwellen lässt, den verlockenden Confiscationen,endlich dem Verfahren in Majestätssachen, bei welchem im Interesse des Staats gegen-über dessen angeblichen Feinden die wichtigsten den Angeklagten schützenden Garantienausser Anwendung gesetzt wurden,173 bedürfen die mit der Majestätsanklage bemäntel-ten Mordthaten unter Tiberius, Caligula, Nero, Domitian keiner weiteren Erklärung. Inden Rechtsbüchern Justinian’s finden wir freilich diese Ausschreitungen nicht mehr lega-lisirt;174 aber man ersieht aus den missbilligenden Aussprüchen der Juristen oder z. B.auch aus einem kaiserlichen an einen vermuthlich geängstigten und friedliebenden Bür-ger gerichteten Rescripte, wie die Praxis der Despoten175 und übereifriger Beamter176

gewesen sein mag.

170L. 8 §. 1 D. 1,15; L. 4 §. 1 D. ad leg. Corn. de sic. 48, 8; L. 6 §. 7 D. de off. praes. 1,18.171So wurde die Majestätsanklage bald „omnium actionum complementum"(Tac. Ann. III. 38), das Ver-

brechen der Schuldlosen „crimen illorum qui crimine vacarent"(Plin. Paneg. 42).172Unter Tiberius fing man an, Schmähreden gegen den Princeps als Crim. maj. zu behandeln. Augustus

hatte übrigens bereits Libelli famosi, die gegen vornehme Personen Beschuldigungen erhoben, aufden Titel des Crim. maj. verfolgen lassen. Tac. Anm. I. 72. Vgl. Pauli. R. S. V. 29 §. 1 a. E.

173Man liess z. B. als Ankläger auch solche Personen zu, bei denen in anderen Fällen das Anklagerechtgerechte Bedenken erregte und deshalb cessirte; man nahm hier keine Rücksicht auf Verhältnisse desVertrauens u. s. w. (L. 7 pr. §. 2 D. ad leg. Jul. maj. 48, 4), man torquirte alle und jede Zeugen,sobald dies nur zweckmässig schien (L. 10 §. 1 D. de quaest. 48, 18. Pauli. R. S. V, 29 §. 2).

174So sieht sich Marcian in L. 5 pr. §. 1 D. 48, 4 veranlasst, zu bemerken, dass Reparatur und nichtbe-absichtigte Beschädigung kaiserlicher Bildsäulen kein Majestätsverbrechen sei. Man hat es als Maje-stäteverbrechen (Beleidigung!) geahndet, wenn Jemand in der Nähe einer kaiserlichen Bildsäule sichentkleidet, einen Sclaven gezüchtigt hatte. Rein S. 533, 544.

175Vgl. l, 2 C. ad leg. Jul. maj. 9, 8. Der Anfragende hatte beim Genius des Kaisers geschworen, seinenSclaven schlecht zu behandeln, diesen Schwur aber nicht gehalten. — Vgl. über die Bestrafung desfalschen Eides, unter Anrufung des Genius principis: Rein, S. 533, 534.

176Modestin spricht in der L. 7 §. 3 D. 48, 4 eine Warnung gegen übereifrige Beamte aus.

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C. Das römische Strafrecht

Seite 38§. 16. In einer gewissen Verbindung mit dem Crimen majestatis stehen die Christenver-folgungen. Ihre Erklärung finden sie in Folgendem. Ein Staat, der, wie es der römischevon Anfang au gethan hat, die Religion seinen Zwecken dienstbar macht, wird sich nichtindifferent verhalten können gegen neu eindringende Religionen. Allerdings wird er nicht,wie der unter Priesterherrschaft stehende Staat, principiell einen neuen Cultus verfol-gen; aber er wird es thun, sobald das Interesse des Staates es zu fordern scheint. Sohatte der römische Staat von jeher das Recht geübt gegen den Cultus von Religionen,welche gefährlich, insbesondere sittenverderblich schienen, einzuschreiten.177 Bekannt istin dieser Beziehung das SCum gegen den fanatischen Bacchuscultus vom J. 547 d. St.,und erwähnt werden wiederholte Massregeln gegen den Isis- und Serapis-Cultus, wieauch die Unterdrückung des von den Druidon in Gallien gepflegten Cultus. Und wie essich schon nach dem Wortlaut des SCum de Bacchanalibus keineswegs nur um einenöffentlich geübten Cultus handelte, so sagt auch Cicero (De legg. II. c. 8) im Geistedes römischen Staatswesens: „Separatim nemo habessit deos; neve novos, sive advenas,nisi publice adscitos, privatim colunto.Ëin jeder neue Cultus bedurfte streng genommenstaatlicher Erlaubniss.Die Christen nun forderten Misstrauen und Hass der übrigen nach dem Scheine urthei-

lenden Bevölkerung heraus. Sie sonderten sich von ihren Mitbürgern ab, fehlten bei denöffentlichen Festen, opferten nicht den einheimischen Göttern und erwiesen den Bild-säulen der Kaiser keine göttliche Verehrung. So mass man ihnen alsbald die Schuld beian öffentlichen Unglücksfällen, die das Volk auf den Zorn der vernachlässigten einheimi-schen Götter zurückführte; so behauptete man, dass die Christen bei ihren heimlichenGastmahlzeiten wie die Anhänger und Theilnehmer anderer verwerflicher Culte und Mys-terien in Blut und Wollust schwelgten, so betrachtete man sie als Majestätsbeleidiger,endlich einfach als publici hostes.178 Die Abwendung der Christen von dem gesammtenheidnischen Staatswesen, ihre Prophezeiungen über die Strafgerichte Gottes, welche überdas Heidenthum und die ganze sittenlose Zeit hereinbrechen sollten, machten sie selbstsolchen Staatsmännern

Seite 39verhasst, die zwar in ihren sittlichen Anschauungen vielfache Berührungspunkte mitdem Christenthum gefunden haben würden, einen andern Staat aber als oben den heid-nischen zu denken nicht vermochten. Diesen wollten sie doch erhalten, wenn auch aufdie alten republikanischen Tugenden und die Grundsätze der Philosophie stützen; einefremde Secte, in Rom in auffälliger Weise zusammenströmend und im Stande selbst inden Hofkreisen Anhänger zu gewinnen, musste ihnen gefährlich scheinen. So hatte manvon Anfang an ab und zu Christen als rei superstitionis externae gestraft und so erzähltkurz und ohne Spur von Mitleid Sueton im Nero (c. 16): „Afflicti suppliciis Christianigenus hominum superstitionis novae et maleficae"; so ist Tacitus, indem er von den aufNero’s Befehl in dessen Gärten als lebendige Fackeln verbrannten Christen berichtet, der

177Vgl. Platner S. 46 ff.178Vgl, namentlich Ebert, Tertullian’s Verhältniss zu Minutius Felix, in den Abhandlungen der historisch-

philolog. Classe der Königl. sächs. Gesellschaft der Wissenschaften Bd. V. N. 5 S. 19ff. (S.337ff.);.Hausrath Neutestamentliche Zeitgeschichte III. (1874) S. 297 ff.

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Ansicht, dieselben hätten die schärfsten Todesstrafen verdient; nur das tadelt er, dassihr Tod nicht als öffentliche zum allgemeinen Nutzen verhängte Strafe, sondern als Aus-fluss der Laune eines Einzelnen erschienen sei.179 Als dann der jüngere Plinius, der zwarden Christen besondere Verbrechen nachzuweisen nicht vermochte, sie aber für gefähr-lich hielt, anfragte, rescribirte ihm Trajan, zweifelhaft wohl, wie er sich verhalten sollte,aber mit dem Wunsche, der öffentlichen Meinung zu folgen, in der bekannten verhäng-nissvollen Weise: „Conquirendi non sunt; si deferantur et arguantur, puniendi sunt.Ërwollte es darauf ankommen lassen, ob man sich über die Christen beschwere. Damit wardie Christenverfolgung legalisirt, so oft die allgemeine Meinung sie zu verlangen schien.Daraus erklärt sich aber auch, dass man zeitweilig die Christen gewähren, ihre Lehresich ausbreiten liess, und dann wieder plötzlich, wenn das Staatsinteresse es zu fordernschien, mit furchtbarer Strenge gegen sie einschritt. Unzweifelhaft konnte eine Lehre,wie die des Christenthums sich nicht ausbreiten, ohne Hass und Verfolgung herauszufor-dern. Dass aber diese Verfolgungen zeitweilig eine so systematische, von der Staatsgewaltselbst gegebene Form annahmen, war doch nur durch den Fehler ermöglicht, an dem dasrömische Strafrecht von Anfang an litt, durch den polizeilichen Charakter des römischenStrafrechts, welcher von dem Erfordemiss der Verletzung bestimmter Rechte absehend,die Delictsbegriffe nach dem wirklichen oder vermeintlichen Staatsinteresse wesentlichbestimmte. Fehler der Rechtsbildung, welche der Laie schwerlich beachtet, haben in stür-mischen Perioden von jeher Einfluss auch auf die grossen Geschicke der Völker gehabt.

Seite 40§. 17. Wiederum mit dem Verbrechen des Anhängens an einen uner laubten Cultus stehtendlich in Verbindung das Verbrechen der Zauberei und des Wahrsagens.180 Der Glaubean die Kraft besonderer Beschwörungsformeln und dabei gebrauchter Opfer ist bei denRömern alt. Schon während der Republik hat man allgemeine Calamitäten auf solcheDinge zurückgeführt und dann ausserordentliche Massregeln dagegen beschlossen, so beieiner im J. 320 d. Stadt ausgebrochenen Seuche und im J. 541 während des zweiten pu-nischen Krieges. In der Kaiserzeit drang dann noch fremder Aberglaube aus dem Orient;die Chaldaei, Arioli, Astrologi, Mathematici, Magi werden oft erwähnt. Man glaubtefest an die Möglichkeit des Behexens. Germanicus181 sollte dadurch sein Leben verlorenhaben; Liebestränke mit Zauberformeln werden nicht selten erwähnt, Veneficium182 undZauberei neben einander gestellt.183 Gelinder wurde das blosse Wahrsagen bestraft. Die-jenigen, die über das Leben des Kaisers wahrsagten, wurden ebenso wie Sclaven, welcheeinen Wahrsager de salute domini befragten, mit dem Tode bestraft. Man hielt solcheWahrsagereien für gefährlich, und in der That konnten Prophezeiungen über einen etwanahen Tod des Kaisers Unruhen zur Folge haben, der nebenbei mittelst der Wahrsagereioft geübten Betrügerei184 nicht zu gedenken. Da aber die Kaiser abwechselnd selbst sich

179"Quanquam adversus sontes et novissima exempla meritos miseratio oriebatur, tanquam non utilitatepublica, sed in saevitiam unius absumerentur". Ann. XV, 44.

180Vgl. Kein S. 901 ff., Platner S. 234fl.181Tac. Ann. II. 69.182Paull. R S. V. 23, 15; L. 13 D. ad leg. Corn. de sic. 48, 8. -Zaubereien zu guten Zwecken galten als

erlaubt; Amulette zu guten Zwecken waren vielfach in Gebrauch.183Vgl. Paull. E. S. V. 23 §. 1.184Gaunereien, verübt von Gauklern, die mit Schlangen umherzogen sind vielleicht gemeint in L. 11 D.

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C. Das römische Strafrecht

mit Wahrsagekünsten befassten185 und bei der grossen Masse der Bevölkerung die alteStaatsreligion einstweilen nur durch den Aberglauben ersetzt wurde, konnte man desUebels thatsächlich nicht Herr werden.§. 18. Um überhaupt die praktischen Wirkungen des damaligen Strafrechts zu er-

messen, muss man noch folgende Umstände ins Auge fassen. Die alte stolze Freiheitdes römischen Bürgers konnte zwar dem zersetzenden Einflüsse des in Rom zusammen-strömenden Weltverkehrs, des bedeutenden Vermögensbesitzes vieler Freigelassenen undselbst solcher, die wenig geachtete Gewerbe betrieben, der absoluten Monarchie nicht wi-derstehen. Trotzdem fühlte letztere das Bedürfniss, gewisse Standesvorrechte aufrecht zuerhalten oder neue zu schaffen, und besonders mussten in damaliger Zeit, in welcher po-litische Rechte wesentlich nur dem Senate

Seite 41verblieben, Privilegien in strafrechtlicher Beziehung sich empfehlen.186 Sie kosteten dieKaiser nichts und ermöglichten ihnen andererseits, in die Rechtspflege der Provincial-statthalter fortwährend einzugreifen, diese und ihre Amtseingesessenen an die Unter-werfung unter die Obergewalt des Kaisers fortwährend zu erinnern,187 So nimmt dennauch in dem Pandektentitel „de poenis"den ersten Platz eine Stelle Ulpians ein, in wel-cher vor Allem auf die Wichtigkeit der Standesunterschiede bei Bestimmung der Strafenhingewiesen wird. Für die höheren Stände188 sind Deportation und Kelegation die re-gelmässigen Criminalstrafen, erstere wesentlich für das Gebiet der auf Grund der altenLeges judiciorum publicorum zu bestrafenden Fälle, letztere im Ganzen bestimmt fürdas Gebiet der extraordinaria coercitio, so jedoch, dass Strafmilderung oder Strafschär-fung im einzelnen Falle die Grenzbestimmung verschieben konnte;[189 für die Humiliorestreten Todesstrafe, Verurtheilung ad metalla, Verurtheilung zum Opus publicum, kör-perliche Züchtigung ein.190 Indess bei Verbrechen gegen den Kaiser selbst verschwindendiese Unterschiede: in den schweren Fällen des Crimen majestatis sind Angehörige allerStände der Todesstrafe unterworfen,191 wenn man auch meist bei vornehmen Personenmit Deportation sich begnügte, und andererseits gegen Humiliores die Todesstrafe in der

de extraord. crim. 47, 11.185Vgl. Platner, S. 237, Rein, S. 905.186Diese Entwicklung kam zu einem sicheren Abscbluss erst durch Marc Aurel und Alexander Severus.

Unter despotischen Kaisern, wie Nero, Caligula, Domitian, waren Todesstrafen der vornehmstenMänner sehr häufig gewesen, hatte man die ersten Personen des Staates als Strafarbeiter bei denStrassenbauten beschäftigt gesehen, v. Holtzendorff S. 110.

187Dies zeigt sieh besonders in der für die höheren Stände berechneten Deportation. Diese konnte nur nachkaiserlicher Bestätigung des Vorschlags des Provincialstatthalters eintreten. Der in Rom befindlicheund gleichsam unter den Augen des Kaisers urtheilende Praefectus urbi aber hat die Befugniss derDeportation. L. 2 §§. 1, 2 de poenis 48, 19.

188Senatoren, Ritter, Decurionen. Anscheinend konnte richterliches Ermessen auch andere Personen als„Honestiores"behandeln. Ueber ein besonderes Privileg der Veteranen und ihrer Kinder vgl. L. 3 D.de veteranis 49, 18. Vgl. überhaupt v. Holtzendorff S. 111.

189Todesstrafe soll nach Hadrian’s Bestimmung, abgesehen vom Crimen majestatis, nur eintreten wegenElternmordes. L. 15 D. de poenis.

190L. 28 §§. 2, 9 D. de poenis. Natürlich kamen oft Irrthümer bei solchen Unterscheidungen vor. NachL. 10 §. 2 D. de poenis sollte eine zu Unrecht erlittene körperliche Züchtigung die sonst gesetzlicheInfamie ausschliessen.

191Paulli R. S. V. 29 §. 1.

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scheusslichen Gestalt des „Bestiis objici"verhängt zu werden pflegte.Die Beamtenjustiz aber, welche schon im ersten Jahrhundert n. Chr. allmälig die alte

Volksjudicatur völlig verdrängte, erinnert in manchenSeite 42

äusseren Zügen an die Criminaljustiz, wie solche heut zu Tage in Grossstädten auf-zutreten pflegt. Wir finden da, wie der Pandektentitel „de custodiaünd „exhibitionereorumßeigt, ein ausgedehntes, durch detaillirte Vorschriften geregeltes Gefängniss- undGefangenentransport-Wesen,192 auch Register über erfolgte Vorbestrafungen,193 Regis-terführung über die Gefängnisse, Bestimmung über humane Behandlung von Untereu-chungsgefangenen. Das Anklageprincip verliert, wenngleich es nicht geradezu beseitigtwird, doch mehr und mehr an Terrain und realer Bedeutung. Zahlreiche Polizeibeam-te spüren ex officio den Verbrechen nach, verfolgen Anklagen von Amtswegen, und derrichtende Beamte wird thatsächlich unbeschränkter Leiter und Herr des Processes, unddiese unbeschränkte Beamtenjustiz, so sehr sie in manchen Beziehungen der bestechli-chen Justiz der alten Geschworenen vorzuziehen war, beförderte doch andererseits wiederFormlosigkeit194 und Willkür und eine Unzahl von Missbräuchen der Ober- und Unter-beamten.195

Und in den veränderten Formen bleibt das römische Strafrecht seinem alten Charakterder Rücksichtslosigkeit gegen den Verurtheilten treu, wie es denn auch das griechische Al-terthum196 nicht der Mühe werth erachtete, auf eine richtige Proportion von Verbrechenund Strafen Gewicht zu legen, zur Erforschung dieses Problems erhebliches Nachdenkenaufzuwenden. Es ist hier gewissennassen noch ein Best der alten Anschauung, welchein dem Verbrecher nur den Feind des Gemeinwesens erblickt, den man mit allen Mit-teln bekämpfen kann, und zuletzt fehlt jede Spur des Gedankens, dass das Verbrechenim Grossen und Ganzen auch eine Schuld des Gemeinwesens selbst ist. Wenn daherauch die römische Strafjustiz der classischen Zeit weit entfernt ist von jener grimmigenSelbstbefriedigung, welche man seit den letzten Zeiten des Mittelalters bis in das vorigeJahrhundert unter der Herrschaft theolo-

Seite 43gischer Ideen bei der raffinirten Peinigung des Verbrechers empfand,197 so setzt man doch

192L. 2 C, de exhibendis et transmittendis reis 9, 3; L. 5 C. de custodia reorum 9, 4.193L. 11 §. 1 D. 48, 3; L. 7 D. eod.194Dafür ein Zeugniss z. B. in der L. 18 §§. 9,10 D. de quaestionibus 48, 18. Der Praeses provinciae lässt

die Gefangenen massenweise aus den Kerkern sich vorführen und kann sie nach Befund der Sachesofort verurtheilen. Die Stelle schreibt vor, dass der Praeses solche Audienz- und Visitationstagevorher kund machen soll, damit die Angeklagten ihre Vertheidigung vorbereiten können, nicht durchBelastungsbeweise völlig überrascht werden. — Vgl. auch L. 12 D. de publ. jud. 48, 1.

195Gegen scandalöse Missbräuche der Unterbeamten, Erpressungsversuche derselben ist gerichtet L. 1 C.9, 4 (320 n. Chr.). Ueber schlechte Justiz und bestochene Zeugen vgl. L. 18 §. 6 D. de adulteriis 48,5.

196Vgl. Thonissen’s Bemerkungen über Plato’s Strafrechtsphilosophie: Droit pénal Athen. S. 445 ff. undüber die Aussprüche der griechischen Redner das. S. 73.

197Vgl. z. B. L. 8 §. 3 D. de poenis 4«, 19: „Nee ca quidem poena damnari quem oportet, ut verberibusnecetur vel virgis interimatur nee tormentis". — Die allerdings auch vorkommenden grausamen To-desstrafen beruhen, insoweit sie nicht etwa durch despotische Willkür einzelner Kaiser dictirt wurden(vgl. über solche Fälle scheusslicher Bestrafung Invernizzi S. 177 und z. 15. Suet. Tib. c. 62;, nicht

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C. Das römische Strafrecht

gleichmüthig dieselben schweren Strafen auf die verschiedenartigsten Handlungen, undwenn Zeit und Umstände es so mit sich bringen, so erscheinen die entsetzlichsten Qualendes Verur-theilten auch vollkommen unerheblich. Dieselbe Strafe der Deportation findenwir z. B. angedroht für erfolglose Gewaltthätigkeit, für Verführung eines Mädchens198

und andererseits für vollendeten Giftmord,199 und wiederum, Wer unbefugt, z. B. nurneugieriger Weise, das Testament einer noch lebenden Person öffnet oder verliest, wirdmit Deportation bezw. Verurtheilung ad metalla belegt.200 Man trägt kein Bedenken,Fluchtversuche von Gefangenen in Nichtbeachtung des so natürlichen Freiheitstriebesmit enormen Strafsteigerungen zu bedrohen,201 und wenn z. B. in einer Gegend ein Ver-brechen besonders oft begangen wird, so kann man nach Saturninus, um Exempel zustatuiren, die Strafe schärfen.202 Wie die Christenverfolgungen zeigen, und insbesondereauch Trajans berühmtes oben erwähntes Rescript, kommt es unter Umständen, wenn dasStaatsinteresse in Frage zu stehen scheint, gar nicht so genau auf Schuld oder Unschuldan. So bestimmt auch ein unter Nero erlassenes Senatsconsult, dass, wenn Jemand vonden eigenen Sclaven gewaltsam ermordet sei, auch diejenigen der im Testamente Frei-gelassenen203 hinzurichten seien, welche im Hause geblieben waren. Tacitus (Ann. XIII,32)

Seite 44findet, indem er davon berichtet, das ganz in der Ordnung: „Factum est senatus consul-tum ultioni juxta et securitati". Die Verurtheilung zur Tödtung im Gladiatorenspiel, zurVerwendung bei den öffentlichen Schauspielen mit wilden Thieren, wobei die Verurtheil-ten oft lange Zeit noch mit der Aussicht auf diesen qualvollen Tod gepeinigt wurden,204

zeugt ebenfalls von dieser Gleichgültigkeit. Ein Recht, das diesen Charakter trug, war

sowohl auf dem Bestreben, den Verbrecher zu peinigen, als auf religiösen und anderen Vorstellungen,z. B. auf einer gewissen Talionsidee, so z. B. die Feuerstrafe bei der Brandstiftung.

198Hier kann nach L. 1 §. 2 D. de extraord. crim. 47, 11 unter Um-ständen sogar Todesstrafe stattfindenund selbst gegen die Comites des Hauptschuldigen.

199Vgl. v. Holtzendorff 8. 130.200L. 38 §. 7 D. de poenis 48, 19.201L. 8 §. 7 de poenis 48, 15).202L. 16 §. 10 D. eod.203Allerdings mochten die Sclavenmassen in Rom oft bedenklich genug erscheinen, und dass die Sclaven

in jenen Fällen sämmtlich sterben mussten, war alte Sitte. Tac. Ann. XIV, 42. Vgl. tit. D. de SCoSilaniano et Claudiano- (10 n. Chr.) 29, 5. Nur diejenigen Sclaven blieben verschont, welche erweislichdem Herrn zu Hülfe geeilt waren. Der sonst so milde Hadrian rescribirte, dass eine Sclavin, welche— vielleicht aus Schrecken oder Furcht — nicht um Hülfe gerufen hatte, unbedingt hinzurichten sei.L. 1 §. 28 D. 29, 5.

204Collatio XI. c. 7 §. 4: „Ad gladium damnati confestim consurauntur vel certe intra annun debentconsumi". Ohne Zweifel suchten die Provincialmagistrate oft durch massenweises Zusammenbringender zum Kampfe mit Löwen, Tigern u. 8. w. bestimmten Verurtheilten die Schauspiele besondersglänzend zu machen. Gegen Missbräuche dabei richtet sieh das in der L. 31 §. 1 D. de poenis 48, 19erwähnte Verbot, nach welchem Verbrecher nicht von einer Provinz in die andere transportirt werdensollten. Freilich heisst es in derselben Stelle auch, dass über Verurtheilte, welche sich in solchenKämpfen hervorgethan haben und also einstweilen auch mit dein Leben davon gekommen seien, anden Princeps berichtet werden soll, wenn man erwarten könne, dass diese Verurtheilten dem Volke derStadt Rom würdig zu präsentiren seien! Zuweilen verlangten übrigens die Zuschauer wegen Tapferkeitund Todesmuths der Kämpfer deren Freilassung. Diesem Verlangen sollten die Provincialmagistratenicht nachkommen.

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freilich immer der Gefahr nahe, Rückschritte nach den Zuständen längst vergangenerPerioden zu machen, und so werden denn die Auswüchse, welche wir bei dem Crimenmajestatis z. B. wahrnehmen, die Verfolgung des Verbrechens auch nach dem Tode desSchuldigen, die Damnatio memoriae, die Strafen, welche man auch gegen die Nach-kommen von Majestätsverbrechern verhängte, nicht lediglich auf Rechnung willkürlicherDespotie der Kaiser zu setzen sein. Wie Mommsen nachgewiesen hat, grub man ja inder Kaiserzeit so mannigfache Fundamente altrömischen Staatsrechts wieder aus, undso konnte es auch mit dem Strafrechte geschehen.§. 19. Dennoch ermöglichte die Beamtenjustiz ein ganz anderes Eingreifen der Ju-

risprudenz. Blosse kaiserliche Beamte durften sich doch nicht erlauben, weniger über dieThat, als über die Person zu urtheilen und an die Bestrafung den Massstab der Oppor-tunität, des allgemeinen Staatsinteresses zu legen.205 Sie erschienen nur als Vollstreckerdes Gesetzes oder des dem Gesetze gleichgestellten Willens des

Seite 45Kaisers oder des Senats.206 Zugleich aber gingen nach anderer Seite die Machtbefug-nisse der Beamten weiter. Sie waren nicht, wie die Volksgerichte der Quaestiones, be-schränkt auf die Cognition einzelner Delicte und die einfache Bejahung oder Verneinungder Schuldfrage. Sie untersuchten, wenigstens soweit ein Verfahren von Amtswegen statt-fand, den Thatbestand nach allen denkbaren juristischen Richtungen, und ausserordent-lich umfangreich waren ihre Befugnisse bei Bestimmung der Strafe207: oft war diese ganzihrem Ermessen überlassen; zuweilen kann sie nach ihrem Ermessen bis zur Todesstra-fe sich steigern, und allgemein sagt Ulpian in der L. 13 D. de poenis: „Hodie licet eiqui extra ordinem de crimine cognoscit quam vult sententiam ferre vel graviorem velleviorem, ita tarnen ut in utroque modo rationem non excedat". Diese „Ratio"bei derBestrafung liefert die Jurisprudenz, verkörpert in dem ans Rechtsgelehrten bestehendenConsilium, und trotz der oft eingreifenden kaiserlichen Machtvollkommenheit, trotz desoft verderbten Beamten-und Menschenmaterials hat die Jurisprudenz ihre Schuldigkeitgethan. Ohne Zweifel war die Wissenschaft des Rechts damals eine reale Macht, welcheihre Träger mit nicht geringem moralischem Muthe erfüllte: „Quae facta laedunt pieta-tem, existimationem, verecundiam nostram et ut generaliter dicam contra bonos moresfiunt nec facere nos posse credendum est"208 lautet der bekannte Ausspruch des berühm-testen aller römischen Juristen, der unter Caracalla selbst als Hochverräther hingerichtet

205„Semper graves et sapientes judices in rebus judicandis, quid utilitas civitatis, quid communis sa-lus, quid reipublicae tempora poscerent, cogitaverunt". Cic. pro Flacco c. 39. Vgl. dazu Geib, Rom.Criminalprocess, S. 301. Letzterer geht allerdings in der Annahme rechtlicher Ungebundenheit derVolksrichter (Geschworenen) zu weit, und man darf nicht übersehen, dass Cicero insbesondere oft vomParteistandpunkte aus spricht. Siehe dagegen Seeger: Ueber das Verhältniss der Strafrechtspflege zumGesetz im Zeitalter Cicero’s, 1869.

206Der Kaiser selbst und der Senat als richtende Behörden hielten freilich sich berechtigt, über die beste-henden Gesetze hinauszugehen (vgl. Geib S. 657), und Jurisprudenz und Gerichte überhaupt nahmenimmerhin zunächst noch eine etwas freiere Stellung ein, als bei uns (vgl. v. Savigny, System d. röm.Rechts I. S. 300). Die einmal erkannte Strafe sollten die Richter nicht erlassen. Erlass der Strafe bliebdem Kaiser vorbehalten (L. 27 pr. D. 48, 19).

207Vgl. Geib, Röm. Criminalproc. S. 660 und die das. angeführten Belegstellen.208L. 16 D. de conditionibus 28, 7.

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C. Das römische Strafrecht

(richtiger ausgedrückt: ermordet) wurde.Zwar ist dem Alterthume, welches in dem Strafgesetze wesentlich nur das Mittel er-

blickt, die an sich strafwürdige Handlung recht sicher zu treffen, noch nicht zum Bewusst-sein gekommen, dass über den unmittelbaren Sinn des Gesetzes hinaus eine Bestrafungder Sicherheit der individuellen Rechtssphäre wegen unzulässig sein müsse,209 und dierömische Praxis hielt sich berechtigt, nicht nur ex sententia und ad oxemplum legis zustrafen,210 sondern auch nach den Bedürfnissen des

Seite 46Lebens Strafen einzuführen gegen Handlungen, die früher nicht bestraft worden wa-ren.211 Allein, wie schon oben bemerkt wurde, sie ist eben hier nicht über das wirklicheBedürfniss hinausgegangen, und der römischen Jurisprudenz, welche selbst hei dem Ma-jestätsverbrechen, gegen kaiserliche Willkür mit Erfolg ankämpfend, die Unterscheidungzwischen Perduellio und den übrigen Fällen des Majestätsverbrechens einfühlte und auferstere die unterschiedlos von den Kaisern gedrohten schweren Strafen beschränkte,212

der Jurisprudenz, welche die Kaiser zur Sanction der denkwürdigen Aussprüche der L. 7§. 3 D. 48, 4 über das Majestätsverbrechen zu bewegen vermochte, verdanken wir auchdie beiden in ihren Consequenzen so weitreichenden Fundamentalsätze, welche heut zuTage Strafrecht und Strafprocess bei allen civilisirten Nationen beherrschen : „Interpre-tatione legum poenae potius molliendae sunt quam exasperandae"213 und „Satius esseimpunitum relinqui facinus nocentis quam innocentem damnare",214 verdanken wir dendenkwürdigen Ausspruch Marcians über die Ausmessung der Strafe,215 216 verdanken wirdie Grundlagen einer richtigen Lehre der Zurechnung, die heut zu Tage freilich oft nichtgenug gewürdigten Titel der Pandekten de furtis, de injuriis, de falsis und den für eineder Cardinalfragen des Strafrechts, die Frage des Causalzusammenhanges, so wichtigenTitel ad legem Aquiliam, welcher letztere für die Römer wegen principiell mangelhafterRücksichtnahme ihres Rechts auf den Erfolg der Handlung nur privatrechtliche Bedeu-tung hatte und für das Strafrecht erst von der mittelalterlichen Jurisprudenz nutzbargemacht werden musste. Allerdings hat die römische Jurisprudenz, weil das römischeStrafrecht von Anfang an zu wenig den Standpunkt des Schutzes auch der Privatrechtss-phärc berücksichtigte und von Anfang an zu sehr gewissermassen einen polizeilichenCharakter annahm, sich auf dem Gebiete des Strafrechts nicht zu der Blüthe erheben

209Vgl. in Bezug auf Athen Thonissen: Dr. pen. de la rep. Athen. S. 66, 140ff., in Bezug auf Rom HenriotII. S. 106.

210Vgl. B. B. L. 6 §. 1 D. de V. S.; L. 22 §§. 8, 9 D. 48, 10 de lege Corn. de falsis; L. 7 §. 3 D. 48, 4; ReinS. 225, 226.

211Vgl. tit. D. de extraord. crim. 47, 11 und dazu Geib, Röm. Criminalproc. S. 661. In der späteren Zeitund bei dem in dieser eintretenden Verfalle der Rechtswissenschaft suchten die Kaiser freilich dieBefugnisse der Richter wieder zu beschränken. Schon hundert Jahre vor Justinian wurde das vondiesem wiederholte Verbot der Interpretation der Gesetze aufgestellt. Vgl. Geib a. a, 0. S. 663.

212L. 11 D. 48, 4 (Ulpian).213L. 42 D. de poenis 48, 19.214L. 5 pr. D. eod. Der Ausspruch ist einem Rescript Trajan’s entnommen.215L. 11 pr. D. de poenis 48, 19.216Andere Sätze: „In maleficiis voluntas speetatur, non exitus". Rescript Hadrian’s in L. 14 D. 48, 9.

„Cogitationis poenam nemo patitur". L. 18 D. 48,19 „Nec consilium habnisse nocet nisi et factumsecntum fuerit". L. 53 §. 2 D. de V. 8. (Paulus).

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können, welche wir am römischen Privatrechte be-Seite 47

wundern, und so ist insbesondere die Ausbildung der Lehre vom Dolus, so sehr auchdas römische öffentliche Strafrecht principiell den Dolus zur Grundlage nimmt, auf hal-bem Wege stehen geblieben, da der Erfolg im Ganzen wenig Beachtung fand und derDolus wiederum nur, wenn er auf einen bestimmten Erfolg bezogen wird, schärferer Be-griffsbestimmung zugänglich ist. Vielleicht hat aber gerade deshalb andererseits auch dasrömische Strafrecht ein so wirksames Ferment für das germanische Strafrecht abgegeben.§. 20. In der späteren Kaiseizeit sind im Ganzen nur Rückschritte des Stafrechts zu

verzeichnen. Wenn früher die Christen verfolgt waren, so wendet sich die Staatsgewaltseit der Bekehrung der Kaiser zunächst nun gegen das Heidenthum, dessen Cultus manbei strenger Strafe verbietet,217 dann bald mit besonderer Härte gegen die Ketzer, ge-gen Diejenigen, welche abweichen von dem von der Staatsregierung für richtig erklärtenGlauben. Nun sind die Häretiker Ungehorsame und Feinde des Staats. Aber freilich warman weit davon entfernt, der Kirche die Verfolgung zu überlassen oder den Glaubendes Einzelnen zu untersuchen; zu dieser grausamen Verkehrtheit brachte es doch erstdie Herrschaft der Theologie im Mittelalter. Es sind vielmehr immer nur die Anhängerbestimmter Secten,218 welche mit besonderen Strafgesetzen von verschiedener Härte ver-folgt oder sonst gesetzlich benachtheiligt werden,219 und manche dieser Secten waren inder That wohl hei der damaligen Erbitterung kirchlicher Parteien gegen einander ohneGefahr für die öffentliche Sicherheit und Ruhe nicht leicht zu dulden.220 Hieran schliessensich dann neue und strenge Strafdrohungen zum Schutze der Kirche und der Geistlich-keit, zum Schutze gegen Störungen des Gottesdienstes, gegen Gewaltthätigkeit verübtan functionierenden Geistlichen, gegen Verführung von Nonnen,221 gegen Beeinträch-tigung des Asylrechtes der Kirche und gegen Beeinträchtigung ihrer Privilegien durchStaatsbeamte.222

Aber der allmählig schwächer weidende Staat sieht sich auch ge-Seite 48

nöthigt, die oft übermächtige Geistlichkeit und ihren Anhang, ungeachtet er erstereselbst wohl zur Beaufsichtigung der Beamten der Strafjustiz benutzt,223 wiederum durchStrafgesetze im Zaum zu halten. So werden z. B. die Conventicula in Privathäusern,weil sie oft zu Tumulten Anlass gaben, strenge verboten, und gegen die Excesse derParabolani, der kirchlichen Armen- und Krankenpfleger, welche oft eine dem Bischofe

217Platner S. 248 ff.218Uebrigens wurde allerdings auch der Uebertritt vom Christen- zum Heiden- oder Judenthume bestraft,

ebenso der Act des Wiedertaufens an sich. Vgl. Platner S. 264ff. Die Vornahme der Beschneidung aneinem Christen war später Capitalverbrechen.

219Platner S. 252ff.220Vgl. z. B. L. 2 u. 3 C. Theod. 16, 4 (v. J. 388, 392). Diese Gesetze verbieten unbefugte öffentliche

Disputationen über die Religion. — Die L. 5 C. (De his qui ad ecclesiam) 1, 12 von 450 (Marcian)droht hier für gewisse Fälle „ultimum supplicium".

221L, 5 C. de episcopis et clericis 1, 3.222Vgl. über alles Dieses Platner S. 269ff.223Die Bischöfe inspiciren z. B. die Gefängnisse. L. 9 C. de episcopali audientia 1, 4 (409 von Theodosius).

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C. Das römische Strafrecht

unbedingt gehorchende, gewaltthätige Garde224 bildeten, richtet sich z. B. die L. 17 C. 1,3 (vom J. 417).225 Ja bei der Wichtigkeit, welche allmählig die Geistlichkeit für den Staatgewinnt, mischt sich die kaiserliche Gesetzgebung selbst in die Details der Disciplin; dieL. 19 C. 1, 3 (420) verbietet den Klerikern das Zusammenwohnen mit Frauen, welchenicht ihnen nahe Verwandte sind: die Nov. 123 c. 10 verbietet ihnen gar das Brettspielen.In der That versucht der Staat gegen Feinde aller Art durch zahllose Strafdrohungen

sich zu vertheidigen. Er vertheidigt sich gegen die immer stärker andringenden Barba-ron durch Strafdrohungen gegen den Unterricht der Barbaren im Schiffbau,226 gegenden Handel mit Waffen und solchen Gegenständen, welche die Barbaren im Kriege starkmachen können;227 er vertheidigt sich gegen mächtige Grundbesitzer, die hier und daanfangen, so gut es gehen will, den Souverain zu spielen, durch Strafsatzungen, welchedas Halten von Privatgefängnissen,228 von bewaffneten Leibtrabanten (Isauriern) verbie-ten229, gegen Personen, welche dem Fiscus gehörige Sachen oder Rechte an sich reissen,usurpiren, die kaiserlichen Posten missbrauchen,230 die Zufuhr nach der Hauptstadt be-einträchtigen, die Konipreise willkürlich in die Höhe treiben;231 er

Seite 49vertheidigt sich gegen Pflichtwidrigkeiten und Nachlässigkeiten der eigenen Beamtendurch stets wiederholte Drohungen schwerer Geldstrafen.232

Der Einfluss des Christenthums äussert sich dabei, abgesehen von der Verfolgung desHeidenthums und der Irrgläubigen und den bereits ererwähnten, speciell gegen die Kirchegerichteten Delicten, in einer anderen Behandlung der Ehebruchsfälle durch Beschrän-kung des Anklagerechts auf den Ehegatten und die nächsten männlichen Verwandten,so dass nun das Verbrechen mehr erscheint als Verbrechen gegen das Recht der Fa-milie, der Bestand der Ehe nicht mehr rücksichtslos dorn polizeilichen Staatsinteressegeopfert wird;233 ferner in einem ausgedehnten polizeilichen Schutze des Sclaven,234 in

224L. 16 C. 1, 3 (404 von Arcadius und Honorius). — Ueber Einmischung von Geistlichen in Executionenvgl. L. 6 C. 1, 4.

225Ueber Gewalttätigkeiten der Monachi vgl. (L. 6 cit.) L. 16 C. Theodos 9,40 (von 398).226L. 25 C. 9, 47 (von 419).227Vgl. schon L. 11 pr. D. de publicanis 39, 4; L. 2 C. quae res exportari non debeant. 4, 41 (Marcian).

— Auch die Ausfuhr von Gold wird in der L. 2 C. de commerciis 4, 63 (von Valentinian und Valens)verboten.

228Vgl. schon L. 28 §. 7 D. de poenis 48,19. L. 1 C. de privatis carceribus 9, 5.229Vgl. L. 10 C. ad leg. Jul. de vi publ. s. priv. 9, 12 (468 von Leo und Anthemius).230Vgl. über alles Dieses Platner S. 306 ff.231Die Sorge für die Annona datirt freilich schon aus den Zeiten der Republik. Ursprünglich wurden

Handlungen der bezeichneten Art von den Aedilen mit einer Multa oder auf erhobene Anklage vomVolke willkürlich gestraft. Später normirte die Lex Julia de annona. Vgl. über das Dardanariat na-mentlich L. 6 D. extraord. crira. 47, 11, über unerlaubtes Monopolisiren L. un C. de monop. 4, 59.— Vgl. Kein S. 829, 830.

232Meist in Pfunden Goldes ausgedrückt. Vgl. v. Holtzendorff S. 134 ff.233Diese Aenderung führte sogleich Constantin ein. Vgl. namentlich v.Wächter, Abhandlungen a. d. Straf-

recht S. 118 ff. und L. 2 C. Theodos. 9, 7 (L. 29 [30] C. J. 9, 9): „ne volentibus temere liceat foedareconnubia".

234Vgl. z. B. L. 6 C. 11, 41 de spectaculis (v. J. 428), welche den Herren untersagt, Sclavinnen in dieBordelle zu geben; und bereits Constantin verbot (vgl. L. 1 C. de emendatione servorum 9,14) mehrereim Gebrauche befindliche unmenschliche Züchtigungen bei Strafe des Homicidium.

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welchem das Christenthum principiell den Menschen und Bruder erkennt, hauptsächlichaber in einer Verschärfung der Strafen für eine grosse Anzahl von Verbrechen.235 OhneZweifel begann es, wie namentlich die vermuthlich zu Ende des vierten Jahrhundertsnach Christus verfasste sog. Collatio Legum Mosaicarum et Romanarum zeigt, zugleichmenschliche und göttliche Gerechtigkeit identificirend, an die weltliche Gesetzgebung denAnspruch zu stellen, sich der mosaischen Gesetzgebung und natürlich, so wie man letz-tere damals auffasste, zu conformiren, und unter Berufung auf bekannte Aussprüche derheiligen Schrift fing man an, in einer Reihe von Fällen, die vom römischen Rechte dabeinicht oder doch nicht unbedingt oder doch nur für die unteren Volksklassen angewendeteTodesstrafe zu fordern. So ist auf den Einfluss des Christenthums zurückzuführen dieTodesstrafe gegen den Adulter, welche sogleich Constantin verordnete, die später freilichwieder beseitigte, dann von Justinian wieder eingeführte Todesstrafe gegen incestuoseEhe, und in den Worten der L. 3 C. de episcopali audientia 1, 4 (von Valentinian, Theo-dosius und Arcadius):

Seite 50„Homicida et parricida quod fecit semper exspectet"begegnet uns deutlich der dem rö-mischen Rechte fremde verhängnisvolle Gedanke obligatorischer Talion.Allerdings aber sind die in der späteren Kaiseizeit so häufig angedrohten Todesstrafen

in noch erheblicherem Grade auf Belieben der Kaiser und eine Art der Gelegenheits-gesetzgebung zurückzuführen, welcher der Sinn für die Unterscheidung von Criminal-und Polizeistrafen verloren gegangen ist, und welche ohne Kenntniss der Wirkungen, dieübertriebene und wechselnde Strafbestimmungen auf die Volksmoral ausüben, mit einerrohen Abschreckungstheorie wild experimentirt. Es genügt hier sich zu erinnern an diebarbarischen Strafbestimmungen des despotischen Constantin gegen das Verbrechen derEntführung236 und andererseits z, B. der L. 2 C. Theodos. 14, 10 und der L. 4 eod.,welche das Tragen von Hosen in Rom, das Tragen langer Haare mit schwerer Criminal-strafe bedrohen oder der L. 2 C. Theodos, de cursu publico 8, 5, nach welcher Denjenigendie Entsetzung aller Würden oder bezw. die Deportation treffen soll, der sich erkühntdie Gäule der kaiserlichen Posten mit Knotenstöcken anzutreiben.237 Bessere Kaiser, zudenen auch Justini an zu zahlen ist, haben dann freilich manche derartige Auswüchsewieder entfernt. Im Ganzen aber hatten die zum Theil vortrefflichen Sätze des römi-schen Strafrechts stets nur eine unsichere, precäre Geltung; sie waren wohl Besitz derJurisprudenz, aber nie unverbrüchliches Eigenthum des Volkes geworden. Es ist aberandererseits als eine günstige Fügung zu betrachten, dass sie neben vielen Willkürlich-keiten, die zum Theil mit dem specifisch römischen Staatsverbrechen zusammenhängenund doshalb zweifellos unübertragbar waren, in der Sammlung Justinians aufbewahrtwurden. Der Genius der germanischen Völker konnte die Willkürlichkeiten zurückwei-sen, aber gleichwohl jene Grundsätze zu einem dauernden Besitzthum der gesammton

235Feuertod gegen den Fälscher eines Solidus angedroht in der L. 5 C. Theod. 9, 21; Capitalstrafe (d. h.wohl nach Ermessen Todesstrafe) gegen Peculate (L. 1 C. Theod. 9, 28); Todesstrafe gegen Urheberund Verbreiter von Libelli famosi (L. 10 C. Theod. 9, 34).

236Den Ammen (richtiger wohl Gouvernanten), welche der Beihülfe schuldig sind, soll glühendes Blei inden Mund gegossen werden. L. 1 C. Theodos. 9, 24.

237Vgl. über Dieses und Aehnliches v. Holtzendorff S. 146.

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C. Das römische Strafrecht

civilisirten Welt erheben.238

238Die Schicksale des römischen Strafrechts nach Justinian haben für die Geschichte des deutschen Straf-rechts kein nahes und unmittelbares Interesse, uebrigens ist merkwürdig, aber auch leicht erklärlich,dass das spätere griechische Recht in mancher Beziehung mit dem Strafrechte des germanischen Mit-telalters übereinstimmte, namentlich das Princip der Compositio, der Abfindung mit dem Verletzten,Eingang gefunden hatte. Vgl. E. Zachariä v. Lingenthal: Geschichte des griechisch-römischen Rechts,2. Aufl„ 1877, S. 303 ff.

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D. Das älteste deutsche StrafrechtSeite 51

Wiarda: Geschichte und Auslegung des Salischen Gesetzes, 1808. — Henke: Grundriss ei-ner Geschichte des deutschen peinlichen Rechts, 2 Bde., 1809. Vgl. hier Bd. 1 S. 1—108.— Eichhorn: Deutsche Staata- und Rechtsgeschichte, 5. Aufl., Bd. 1 §§. 71, 206. —Rogge: üeber das Gerichtswesen der Germanen, 1820.— Jarcke: Handbuch des deut-schen Strafrechts, Bd. 1 (1827), S. 10 ff. — Grimm: Deutsche Rechtsalter- thtümer, 2.Aufl., 1854 — Abegg: Untersuchungen aus dem Gebiete der Rechtswissenschaft, 1830. —Warnkönig: Flandrische Rechts- geschichte, 3 Bd., 1838—39. — v. Woringen: Beiträgezur Geschichte des deutschen Strafrechts. Erster Beitrag. Erläuterungen über das Com-positionenwesen, 1836. — Wilda: Das Strafrecht der Germanen, 1842. — v. Wächter:Beiträge zur deutschen Geschichte, insbesondere des deutschen Strafrechts, 1845. Das.Beitr. II: Das Faust- und Fehderecht des Mittelalters. — Walter: Deutsche Rechtsge-schichte, 2. Aufl., 1857, Bd. 2, S. 319—417 ff. — Du Boys: Histoire du droit criminel despeuples modernes, 4 Vols., Paris 1854 ff. — Waitz: Deutsche Ver- fassungsgeschichte I.(3. Aufl., 1880), besonders S. 418—442. — Köstlin: Geschichte des deutschen Strafrechtsim Umriss, herausgegeben von Gessler, 1859, S. 58 ff. — Geib, Lehrb. des deutschenStrafrechts I. (1861) S. 152—196. — Osenbrüggen: Das alamannische Strafrecht im Mit-telalter, 1860. — Osenbrüggen: Das Strafrecht der Langobarden, 1863. — v. Holtzendorff,Handb. d. deutschen Strafrechts I. S. 57—67. — Dahn: Westgothische Studien, 1874, S.140—242. — Pasquale del Giudice: La Vendetta nel diritto Langobardo, Müano, 1876.— R. Löning: Der Vertragsbruch im deutschen Recht, 1876. — Dahn: Fehdegang undRechtsgang der Germanen, 1877. — v. Wächter: Bei- lagen zu Vorlesungen über das deut-sche Strafrecht, I. 1877, S. 77 ff. — Jastrow: Zur strafrechtlichen Stellung der Sclavenbei Deutschen und Angelsachsen, 1878. — Sickel: Geschichte der deutschen Staatsver-fassung. Abth. I.: Der deutsche Freistaat, 1879.§. 21. Weit deutlicher als im römischen zeigt sich im älteren deutschen Rechte Ra-

che1und Abwehr als Princip des Strafrechts.Seite 52

Nur dem Verletzten und seiner Sippe 2steht das Strafrecht in Gestalt der Bache zu; aberfreilich kann der Verletzte auch das Gemeinwesen selbst sein, wenn der Verbrecher diesesselbst unmittelbar angreift, oder seine Pflichten gegen dasselbe nicht erfüllt: der Verbre-cher ist Feind entweder des Einzelnen oder des Gemeinwesens. Nur im letzteren Falle

1Lex Bajuv. VIII. c. 8 „secundum legem vindicta subjaceant".2Tac. Germ. c. 21: „Suscipere tarn inimicitias seu patris seu propinqui quam amicitias necesse est".Die Rache erscheint als sittliche Pflicht wie auch bei anderen Völkern auf den Anfangsstufen derRechtsbildung;. Zum Beweise bedarf es z. B. nur der Erinnerung an die Nibelungensage. Vgl. übernordische Sagen, in denen die moralische Verpflichtung zur Rache dem nächsten Blutsverwandteneingeschärft wird, Wilda S. 172, 177.

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D. Das älteste deutsche Strafrecht

aber kommt, weil nur dem Gemeinwesen gegenüber der Einzelne untergeordnet erscheint,unmittelbar die Idee der öffentlichen Strafe zur Geltung, so dass Tacitus Germania c. 12das „Discrimen capitis intendere"nur auf Delicte unmittelbar gegen das Gemeinwesen,auf Verrath, Uebergang zum Feinde und schimpfliche Heeresflucht bezieht 3während dieschwerste Verletzung eines Einzelnen, das Homicidium, nach Tacitus Germ, c. 21. nureine Lösung der Feindschaft mit Geldeswerth zur Folge hat. „Luitur enim et homicidi-um certo armentorum ac pecorum numero, recipitque satisfactionem universa domus".Nur bei Verbrechen gegen die Nation selbst hat, wie bereits Eichhorn (I. S. 387) richtighervorhebt, die Nation Gewalt über Leib und Leben des freien Mannes und so sagt auchnoch die Lex Bajuv. tit. 2 c. 1:„Ut nullus liber Bajuvarius alodem aut vitam sine capitali crimine

Seite 53perdat; id ist si iu necem ducis consiliatus fuerit, aut inimicos in proviuciam invitaveritaut civitatem capere ab cxtraneis machinaverit. .. Tunc in ducis sit potestate vita ipsiuset omnes res ejus in patrimonium."4

3„Licet apud consilium accusare quoque et discrimen capitis intendere. Distinctio poenarum ex delic-to. Proditores et transfugas arboribus suspendunt; ignavos et imbelles et corpore infames caeno acpalude, iniecta insuper crate mergunt". Das viel bestrittene „corpore infamesïst allerdings wohl aufwidernatürliche Unzucht zu beziehen (vgl. Tac. Ann. I. 13). Indess war dieselbe nach dem ältestendeutschen Rechte wohl nur dann strafbar, wenn sie im Heerlager begangen wurde, wie denn die citirteStelle des Tacitus auch nur von Verbrechen redet, die bei Gelegenheit eines Kriegszuges vorkommen.Im Heerlager erstreckte sich die Disciplin nothwendiger Weise weiter als das gemeine Strafrecht, undgrade im Heerlager ist zu dem genannten Delicte Verführung und Anlass besonders gross. Vgl. Ar-nobius adv. nationes 4, 7 p. 146, 19 R.: „Etiamne militaris Venus castrensibus flagitiis praesidet etpuerorum stupris". Ueber andere Erklärungen vgl. Waitz I. S. 396 (2. Aufl.) S. 425 (3. Aufl.). HenkeI. S. 4 bezieht das „corpore infamesß. B. auf freiwillige Verstümmelung in der Absicht, dadurch demKriegsdienste zu entgehen. Auch Pasquale del Giudice, S. 5, bezieht die Stelle des Tacitus nur aufdie Ausübung einer disciplinaren Gewalt während des Heerzuges und macht mit Recht darauf auf-merksam, dass es c. 11 bei Tacitus heisst: „Silentium per sacerdotes quibus tum et coercendi jus estimperatur". Die Priester haben das Jus coercendi nur während der Versammlung.

4Wo Todes- und Leibesstrafen gegen Freie wegen Privatverbrechen in den Volksrechtcn vorkommen,sind sie m. E. auf fremden Einfluss, auf römisches Recht und königliche Satzung zurückzuführen, mitAusnahme vielleicht der mehrfach vorkommenden Todesstrafe wegen Diebstahls; denn das letztereVerbrechen galt als des Freien unwürdig. — Anders freilich neuerdings v. Amira (Ueber Zweck undMittel der germanischen Rechtsgeschichte, 1876, S. 57—59), der dem germanischen Strafrechte ur-sprünglich einen wesentlich sacralen Charakter vindicirt. Ich kann indess weder darin, dass in dennordischen Quellen und bei den heidnischen Friesen eine gewisse Verbindung zwischen Todesstrafeund Menschenopfer stattgefunden hat, noch in der bekannten Stelle des Tacitus (Germ, c. 7) über dieStrafgewalt der Priester diesen Charakter für das germanische Recht im Ganzen begründet finden.Die Idee, dass bei Verbrechen gegen das Gemeinwesen auch die Götter, welche letzteres schützen,versöhnt werden müssen, soll freilich auch für das germanische Alterthum, dem sie in der That zunahe liegt, nicht abgewiesen werden. Allein dieser gleichsam sacrale Beigeschmack bestimmt nichtden Charakter des Strafrechts. Die Stelle des Tacitus aber redet allein von Verbrechen auf dem Hee-reszuge, und hier glaubten ja, wie Tacitus ausdrücklich sagt, die Germanen speciell an die Gegenwartihrer Götter, und nur während des Heereszuges beugten, wie Tacitus ferner ausdrücklich sagt, dieGermanen sich einer gewissen disciplinaren Strafgewalt, welche durch die Priester ausgeübt wurde,durch sie allerdings eine höhere Weihe erhielt. Wenn endlich v. Amira behauptet, erst durch denEinfluss des Christenthums sei eine Mehrzahl schändlicher Verbrechen, die in heidnischer Zeit denTod (Opfertod) zur Folge gehabt hätten, in sühnbare oder mit Acht belegte verwandelt, so ist die-se Behauptung, wenngleich sie für Skandinavien richtig sein mag, für den Umfang des fränkischen

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Seite 54Jenes schliesst allerdings äussersten Falls die Befuguiss zur Tödtung seitens des Verletz-ten nicht aus, wenn der Verbrecher die vom Gemeinwesen auferlegte oder vereinbarteBusse zu zahlen nicht im Stande ist:„Et si eum in conpositione nullus ad fidem tullerunt hoc est ut redimant, de quo

domino non persolvit, tunc de sua vita conponat"(Lex Sal. LVIII. 2 a. E. ed. Bohrend).5Der Verbrecher wurde dann wohl der Familie des von ihm Getödteten zur Ausübung

der Privatrache durch die Gerichtsgewalt überwiesen, wie wir das noch im späten Mit-telalter zuweilen finden (vgl. Warnkönig, Flandrische Rechtsgeschichte III. S. 160).Sonst erscheint bei dem Verbrechen das Gemeinwesen lediglich insofern betheiligt, als

es den Frieden zwischen den feindlichen Parteien, dem Verbrecher und dem Verletztenvermittelt,6und dann7, wenn

Reichs durch nichts erwiesen und m. E. entschieden unrichtig. Allerdings ist es — und darauf beruftv. Amira sich ebenfalls — richtig, wie v. Richthofen (Zur Lex Saxonum, Berlin, 1868, S. 218 ff.)bewiesen hat, dass die heidnischen Sachsen auf Mord, Ehebruch und einige andere nicht gegen dasGemeinwesen gerichtete Verbrechen die Todesstrafe verhängten, und dass mehrere derjenigen Fällevon Todesstrafe, denen wir in der Lex Saxonum und den sächsischen Capitularien Karl des Grossenabweichend von anderen germanischen Stammcsrechten begegnen, jenem älteren Rechte entnommenoder nachgebildet sind (z. B. Anzünden einer Kirche, Tödtung in einer Kirche). Allein daraus folgtnoch keineswegs, dass das sächsische Strafrecht, wie es unmittelbar vor den Gesetzen Karls des Gr.bestand oder auch ein Jahrhundert früher, das älteste sächsische Strafrecht oder das Strafrecht diesesStammes etwa zur Zeit des Tacitus darstellt. Die Privatrache kann auch ohne die Zwischenstufe derCompositio in öffentliche Strafe sich verwandeln, und das ist ganz besonders da sehr begreiflich, wodie früher vorhandene Gleichheit der Stammesgenossen unter der Herrschaft eines Einzelnen oder dereiner mächtigen, aber verhältnissmässig wenig zahlreichen Aristokratie verschwindet. Das Letztereaber war unzweifelhaft der Fall bei den Sachsen, wo die Nobiles sich ja kastenartig (vgl. v. Richthofena. a. 0. S. 223ff.) gegen die Gemeinfreien abschlossen, gegen den Gemeinfreien, der eine Edele heirat-hete, die Todesstrafe verhängten — was bei anderen deutschen Stämmen nicht vorkommt — und sichselbst das sechs (!) fache Wergeid eines Gemeinfreien beizulegen vermochten. Vielleicht galten jeneStrafen eigentlich nur gegen Nichtadlige, gegen den Adligen aber nur die Fehde — woraus sich derbesondere Schutz des Faidosus in gewissen Fällen erklären möchte (vgl. Richthofen, S. 231, über einederartige Bestimmung der Lex Frisionum, welche auf die Lex Saxonum Licht wirft). Daraus würdesich dann auch erklären, dass, nachdem Karl der Gr. die Adelsherrschaft gebrochen, später das alteRecht der Compositio einfach in der Hauptsache wieder auflebte und als uraltes Recht gerade inNorddeutschland so lange erhalten bleiben konnte. Vgl. jetzt auch die treffenden Ausführungen vonSickel, S. 72ff., besonders S. 76, 77: „Wenn man die Verhältnisse, unter denen das deutsche Priester-thum lebte, näher erwägt, so erkennt man, dass selten eine Priesterschaft ungünstigere Bedingungenfür ihre Entfaltung gehabt hat".

5Vgl. Wiarda, S. 272; Pardessus, Loi salique S. 664. So erklärt die Stelle auch Abegg, S. 319. Noch in denZusätzen des Grafen Balduin zur Keure von Gent aus den letzten Jahren des XII. Jahrhunderts heisstes für den Fall, dass ein Extraneus einen Oppidanus (Bürger) verletzt und ihn nicht binnen bestimmterFrist befriedigt hat (quod si nondum satisfeceritreus): „licebit male tractato, sine omni forisfacto . .. qualemcunquc potuerit vindietam sumere". Warnkönig, Flandrische Staats- u. Rechtsgeschichte II.1 Note VII (S. 18).

6Germ. c. 12: „Sed et levioribus delictis pro modo poena: equorum pecorumque numero convicti mul-tantur. Pars multae regi vel civitati, pars ipsi qui vindicatur, vel propinquis ejus exsolvitur".

7Die Einsicht, dass dem Gemeinwesen die offene Feindschaft unter mehreren Genossen schädlich sei,musste sich von selbst geltend machen „quia periculosiores sunt inimicitiae juxta libertatem". Wahr-scheinlich vermittelten die Führer auf den Heeresversammlungen den Frieden, und der Fredus warwohl ursprünglich ein von dem Verbrecher gutwillig dargebrachtes Geschenk.

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D. Das älteste deutsche Strafrecht

Seite 55der Verletzte sich befriedigt erklärt mit der Leistung einer Entschädigung, die in ältesterZeit in einer Anzahl Viehstücke bestand, dafür d. h. für die Vermittlung8des Friedens

8Die meistens angenommene Ansicht (vgl. namentlich Waitz I. S. 440, Gierke I. S. 31), dass der Freduseine Strafe für den gebrochenen, und nicht eine Gebühr für den vermittelten Frieden (zwischen demVerbrecher und dem Verletzten) sei (vgl. z. B. Walter, Rechtsgeschichte II. §. 714, Waitz [3. Aufl.] I. S.440) will es nun unentschieden sein lassen, ob der Fredus Preis für den wieder zu erlangenden Friedenoder Sühne für den gebrochenen Frieden sei. — Dieser Unterschied ist mir unklar; die Belohnung fürdie Friedensstifter weist Waitz zurück, eher aber will er doch Belohnung für richterliche Thätigkeitzulassen?), hat besondere Beweise nicht für sich, sondern nur die allgemeine, aber unrichtige Vorstel-lung (vgl. unten), dass das Verbrechen Bruch des allgemeinen Friedens sei. Vgl. für die bereits vonKemble, The Saxons in England I. S. 270, angenommene entgegengesetzte Ansicht auch die treffendenBemerkungen J. Möser’s (Patriot. Phantasien, Ausg. v. Abeken, IV. S. 126 ff.), v. Wächter, BeiträgeS. 42, v. Siegel, S. 29). Positiv beweisend ist, dass nach den Capitularien, Cap. Karol. M. Ticinensea. 801 n. 24 (Pertz S. 86), der Fredus nicht an den Richter des Bezirks gezahlt wird, in welchemdas Verbrechen begangen (der Friede gebrochen) ist, sondern an den Richter, der die Compositionvermittelt, die Zahlung derselben für den Verletzten in Empfang nimmt, dass ferner nach uraltemund bis in das späteste Mittelalter erhaltenem Rechtssatze (vgl. z. B. Lex Rib. LXXXIX., Cap. KaroliM. a. 801 cit. n. 24, Brünner Stadtr. a. d. Mitte des XIV. Jahrhunderts, §. 41 bei Rössler S. 358, v.Maurer, Geschichte der Städfeverfassung in Deutschland III. S. 656, Brünner Schöffenbuch N. 245)der Richter dies Friedensgeld, die Emenda oder Wette nur annehmen darf, wenn zuvor die Satisfac-tio oder Compositio dem Verletzten gezahlt ist, und dass endlich der Fredus oder später die Wettenicht gezahlt wird, wenn öffentliche Strafe eintritt (Sachs. Landrecht III. 50, Schwabenspiegel 176[Lassberg]): die öffentliche Strafe ist Surrogat der Rache, also das Gegentheil des vermittelten Frie-dens; wäre sie, wie allerdings der modernen, nicht aber der Anschauung des Mittelalters entspricht,Herstellung des Friedens zwischen dem Gemeinwesen, dem Verletzten und dem Verbrecher, so würdeebenso wie neben der compositio auch neben der öffentlichen Strafe der fredus gezahlt worden sein.Erst seit dem Aufkommen des Verfahrens von Amtswegen nahm der Fredus den Charakter einer öf-fentlichen Strafe an (v. Maurer a. a. O.). Damit steht es denn auch in Verbindung, dass noch bis späthin im Mittelalter oft ein tiefgreifender Unterschied gemacht wird zwischen dem Verbrecher, der sichfreiwillig stellt, und demjenigen, der gefangen eingebracht wird. Der erstere musste z. B. nach dembamberger Rechte, auch wenn er durch Zeugen überführt wurde, frei wieder entlassen werden: eineCapitalstrafe war unzulässig, Brunnenmeister: Die Quellen der Bambergensis, 1879, S. 44, 45. — v.Woringen, S. 105 ff., nimmt sehr richtig an, dass das Verbrechen ursprünglich nicht allgemein fried-los gemacht habe, folgert daraus aber unrichtig, dass der Fredus für den gebrochenen Frieden habebezahlt werden müssen, da der Frieden für den Verbrecher nicht verloren gegangen, also auch nichtwieder zu kaufen gewesen sei. Allein welcher Unterschied besteht zwischen gebrochenem und verlore-nem Frieden? Ich wüsste keinen anzugeben; dagegen ist sehr wohl zu unterscheiden Frieden mit demVerletzten und Frieden mit dem Gemeinwesen. — Dass der Fredus je nach der Grösse der Verletzungabgestuft ist, erklärt sich auch nach der hier angenommenen Ansicht leicht. Kann nicht die Gebührfür Vermittlung des Friedens verschieden abgestuft werden nach der Wichtigkeit des Streites und istdies nicht etwas sehr Natürliches? — Sickel, S. 154, will den Fredus ursprünglich insbesondere des-halb nicht für eine Gerichtsgebühr halten, weil das Richtercollegium zu gross gewesen sei, um davonVortheil zu ziehen. Allein konnten nicht einzelne Bevorzugte, z. B. die, welche den Friedensvorschlagmachten, existiren? Die bereits von Kogge, S. 15 Anm. 25, herangezogene Erzählung von Gregor vonTours (Hist. Franc, c. 47) spricht gleichfalls dafür, dass die Zahlung der Compositio ursprünglichnur auf einem gütlichen Vergleiche beruhte, den die Führer des Volkes, allerdings um des gemeinenNutzens willen, vermittelten. Die Richter hielten sich in dem erwähnten Falle, nur um den Streit aufirgend eine Weise zu beseitigen, für berechtigt, einer mächtigen Person eine Compositionssumme zubewilligen, auf welche sie dem strengen Rechte nach gar keinen Anspruch mehr hatte. — Die spätereöffentliche Strafe tritt nun keineswegs an die Stelle des Friedensgeldes, sondern an Stelle der Rache,der Privatgenugthuung; deshalb heisst es im Sächs. Landr. III. 50, wenn der deutsche Mann Leib

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das Friedensgeld (fredus oder fredum)Seite 56

von dem Verbrecher erhält. Nicht richtig ist es daher, wenn Wilda und Andere als dieälteste Strafe des Verbrechens auch bei Privatver- brechen die allgemeine Friedlosigkeitin dem Sinne betrachten, dass der Verbrecher ohne Weiteres zu den Thieren des Waldesverstossen, Wald- gänger (Wargus) geworden sei und von Jedem ungestraft habe getöd-tet werden können, ein Vertrag, wie besonders v. Amira ausführt, mit dem Verletztenoder dessen Angehörigen aber rechtlich unwirksam gewesen, die Friedlosigkeit also ohneWeiteres öffentliche Strafe im eigentlichen

Seite 57Sinne gewesen sei. In den nordischen Quellen kommt die Friedlosigkeit in dieser Anwen-dung freilich vor.9Allein die nordischen Quellen,10die ja auch bei weitem nicht heranrei-chen an die Entstehungszeit der Volksrechte, zeigen uns gar nicht überall das germanischeStrafrecht in seiner ältesten Gestalt, und keineswegs ist es gestattet, alle Rechtsinstituteder nordischen Völker für allgemeine germanische zu erklären. Für die ger- manischenRechtsquellen kann Friedlosigkeit als Selbstfolge des Ver- brechens (und nicht etwa alsverhängt von der königlichen oder richterlichen Gewalt zur Strafe der Rechtsverweige-rung, also als Acht11nur

oder Hand verwirkt habe, zahle er weder Wette noch Busse, und erkannte die kursächsische Praxisnoch im XVII. Jahrhundert ein Wergeld nicht zu, wenn der Verurtheilte Todesstrafe erlitt, währenddie Italiener, ausgehend von der Selbständigkeit des Civilanspruches gegenüber dem Strafanspruche,Entschädigungsansprüche der Hinterbliebenen des Getödteten auch bei einem auf Todesstrafe lauten-den Urtheile gegen den Todtschläger oder Mörder anerkannten. Berlich, Conclus. practicabil. IV. 19n. 15 ff. besonders n. 24. Die Vermögensconfiscation, nicht aber eine bestimmt bemessene Geldstrafeoder Schadensersatzverpflichtung ist mit der Idee der Rache vereinbar; denn die Vermögensconfis-cation ist ökonomische Vernichtung des Schuldigen, während die bestimmt bemessene Busse nachaltdeutscher Ansicht ein Pactum voraussetzt. Daher kommen neben Todes- und verstümmelndenStrafen auch vielfach Vermögensconfiscationen vor. Der Unterschied der Vermögensconfiscation undder Wette und Busse wird übersehen von Köstlin: Krit.Ueberschau Bd. 3, S. 183.

9Vgl. gegen die im Texte bekämpfte Ansicht auch die richtigen Bemerkungen v. Woringen’s, S. 103,104, und Hugo Meyer: Das Strafverfahren gegen Abwesende, 1869, S. 48 ff.

10v. Amira: Das altnorwegische Vollstreckungsverfahren, 1874, S. 1—78, besonders S. 18 ff. Vgl. dazudie Bemerkungen K. v. Maurer’s in der Münchener kritischen Vierteljahrsschrift 16 (1874) S. 83 ff.

11Vgl. Rogge S. 19 ff. Erst wenn der Beleidiger die Vermittlung der Volksgemeinde verschmäht, derLadung des Klägers zur Versammlung nicht nachkommt, tritt — aber wohl erst in der Zeit, als mandie Annahme dieser Vermittlung für eine Rechtspflicht erachtete — Friedlosigkeit ein, die in denfränkischen und deutschen Quellen, in Folge des Entstehens der königlichen Gewalt nun als Aech-tung erscheint. Vgl. Lex Sal. 56, 1 (ed. Behrend) „Si quis ad mallum venire contempeerit... si nee decompositione nec ineo nec de ulla legem fidem facere volnerit, tunc ad regis praesentia ipso manniredebet... §. 2 . . tunc rex .. extra sermonem suum ponat eum". Rogge irrt übrigens darin, dass er demBeleidiger in dieser Zeit noch das Wahlrecht zwischen Compositio und Fehde einräumt. Der Beleidi-ger erscheint vielmehr unbedingt verpflichtet, die Compositio zu zahlen, wenn der Beleidigte sie will.Vgl. gegen Rogge auch Eichhorn I. §. 18 Anm. 6 und v. Woringen a. a. 0. S. 38. Damit stimmt auchüberein die aus dem langobardischen Rechte hervorgegangene Rechtsentwicklung in Italien. Der hierim späteren Mittelalter so wichtige und in den Statuten wie von den Juristen so vielfach behandeltestädtische Bann in schweren Straffallen ist zunächst Ungehorsamsfolge, wird aber freilich insofern zueiner Strafe, als in der Regel der schuldbewusste Beklagte sich dem Gerichte nicht stellte, und somitder Gedanke, den Gehorsam zu erzwingen, zurücktrat gegenüber dem Bestreben, den Bann — diegänzliche oder theilweise Entziehung des Rechtsschutzes — so empfindlich zu machen, dass er die

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D. Das älteste deutsche Strafrecht

Seite 58insofern anerkannt werden, als es dem Verletzten in der ältesten Zeit freistand,12sich andem Verbrecher zu rächen, ihn als faidosus zu behandeln und als etwa andere Genossensich bewogen finden mochten, ihm hierin beizustehen, und als etwa der Verbrecher dieihm seitens des Verletzten angebotene Vermittelung durch die Volksgemeinde, in späte-rer Zeit die auf Antrag des Verletzten erfolgende Ladung des Königs (des Gerichtes) vonsich wies oder thatsächlich nicht beachtete.13Möglicher Weise hätte die Entwicklung imFrankenreiche dieselbe sein können, wie nach den nordischen Quellen, und ein Ansatzdazu mag sich in den von Wilda angeführten Stellen der Lex Salica (LV. 2 ed. Behrend)und der Lex Ribuariorum LXXXV. finden.14Abgesehen von den speciell gegen den Königoder das Gemeinwesen gerichteten Handlungen ist vielmehr das Verbrechen eben nichtBruch des gemeinen, sondern Bruch des Friedens mit dem Verletzten.1516Das Wesen

eigentlich verwirkte Strafe ersetzte. Vgl. Ficker: Forschungen zur Reichs- und Rechtsgeschichte Itali-ens, L, 1868, S. 92 ff. besonders S. 97. Dass unter Umständen der blosse Ausweisungsbann auch alsselbständige Strafe erscheint, steht dem nicht entgegen, wird vielmehr dadurch leicht erklärlich, dasseinerseits, wenn man Unfrieden und Fehde von dem ferneren Verbleiben des Schuldigen in der Stadtbefürchtete, diese Strafe aus Zweckmässigkeitsgründen sich besonders empfahl, und dass andererseits,wenn der Schuldige nicht zahlen konnte, die Ausweisung der sonst eintretenden subsidiären verstüm-melnden Strafe gegenüber als das Mildere betrachtet werden musste. Auch die deutsche Reichsachtund

12Vgl. Eichhorn I. §. 18, v. Woringen S.32 ff., Pardessus S.653ff., v. Wächter Beitr. S. 43, 249. Inder späteren Zeit musste freilich auch der Verletzte sich mit der Compositio begnügen. Dagegenkann ich hierin nicht, wie v. Amira will, uraltes Recht erkennen. Es ist vielmehr, wie noch dasheutige Duellwesen zeigt, ein uralter Zug des germanischen Charakters, das Recht sich lieber selbstzu nehmen, als es sich vom Richter geben zu lassen. Bezeichnet doch auch Tacitus als die nächsteFolge eines Delicts die Inimicitiae, die durch Zahlung einer Busse beseitigt werden.

13Die Rache musste übrigens auch wohl unter Beobachtung gewisser Förmlichkeiten geübt werden, gleich-sam öffentlich, damit man sie vom Verbrechen unterscheiden konnte. So wurde bei den Salfrankender Kopf des bei Ausübung der Rache Getödteten auf einen Pfahl gesteckt, und ein Dritter durf-te ihn nicht herunter nehmen. Lex Sal. XLI. 8, Zus. 2. Die Rache erscheint hiernach als förmlicheRechtsinstitution. Vgl. Wiarda S. 273. Der Tödtende erbot sich durch die Ausstellung des Kopfesgewissermassen zur öffentlichen Rechtfertigung seiner That. Pardessus S. 658.

14Hier (Lex Sal.) wird über Jemanden, der einen Begrabenen wieder ausgräbt und beraubt, bestimmt:„wargus sit usque in die illa quam ille cum parentibus ipsius defuncti conveniat et ipsi pro eumrogare debent, ut illi inter homines liceat accedere. Et qui ei antequam parentibus conponat, autpanem dederit aut hospitalitatem dederit, seu parentes seu uxor proxima, DC dinarios qui faciuntsolidos XV culpabilis judicetur". Das hier bezeichnete Delict hat übrigens wohl eine entschiedenreligiöse Beziehung, und ist eben deshalb eine exceptionelle Behandlung erklärlich.

15So sagt auch Waitz, 3. Aufl. I. S. 436 in Uebereinstimmung mit Walter, §. 705: „man könnte sagen,dem Einzelnen, dem Verletzten und seiner Familie gegenüber war der Uebelthäter friedlos, habe erden Frieden verwirkt". Vgl. neuerdings auch Sickel, S. 149ff., der meiner Ansicht nach richtig aus demisolirten Leben der einzelnen Familien den Schluss zieht, dass um die Verletzung Einzelner sich dasGemeinwesen nicht kümmerte.

16Die Annahme, dass das Verbrechen bei den Germanen ursprünglich Bruch des gemeinen Friedens ge-wesen sei, ist nichts Anderes als die Annahme eines öffentlichen Strafrechts auch für Das, was wirheut zu Tage als Privatverbrechen im Gegensatze zu den Staatsverbrechen u. s. w. bezeichnen. So u.A. noch Waitz, I. S. 427 ff., der hierin der (übrigens unklaren) Auffassung Wilda’s folgt. Allein wenneine derartige Ausdehnung der öffentlichen Strafgewalt bereits zu Tacitus Zeit, wie Waitz behauptet,bestanden hätte, wie wäre damit ungeachtet der auftauchenden und erstarkenden königlichen Gewaltder spätere geringe Umfang und die spätere Schwäche der öffentlichen Strafgewalt selbst unter Köni-

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des Verbrechens ist also Reichsaberacht ist nach richtiger Auffassung Ungehorsamsbann,nicht selbständige Strafe gewisser Verbrechen. Ficker a. a. 0. S. 174 ff.

Seite 59nach germanischer Auffassung nicht Bruch der formalen Rechtsordnung, sondern mate-rielle Rechtsverletiung,17und es ist wichtig, dies von Anfang an festzuhalten, wenn mandas deutsche Strafrecht und seine geschichtliche Entwicklung richtig verstehen will. Dasdeutsche Rechtsbewusstsein hat das sog. formale Verbrechen,18das Verbrechen ohne Ver-letzung eines materiellen Rechtes von jeher nur als singuläre Ausnahme betrachtet.19Undauch nach den nordischen Quellen dürfte es sich

Seite 60kaum anders verhalten: dio Bücksicht auf den Vorletzten motivirt nur die allgemeineFriedlosigkeit. Das Verbrechen ist nicht wesentlich Friedensbruch gegenüber dem Ge-meinwesen, wohl aber kann es ihn bewirken. Die Eintheilung der Delicte in Friedcnsbrü-che und in Delicte, die das nicht sind, bezieht sich also im ursprünglichen Sinne nichtauf den Thatbestand oder auf das Object der Delicte, sondern auf die Rechtsfolgen.§. 22. Der Bruch des besonderen Friedens, welcher nach den deutschen Rechtsqucll-

cn für gewisse Personen, Versammlungen, Orte, Zeiten und Sachen besteht — und einsolcher Frieden wird namentlich gewährt den Volks- und Gerichtsversammlungen (Ding-frieden), den Kirchen (aber auch den Personen, welche sich zur Volks- oder Gerichts-

gen wie Karl d. Gr. vereinbar? Wie ist es aber gar mit jener Ansicht vereinbar, wenn Waitz, 3. Aufl.S. 439, selbst sagt, dass überall nur die Klage des Verletzten zu einer Verfolgung des Uebelthätersführte?

17Ich trete hier durchaus Löning: Der Vertragsbruch im deutschen Rechte, S. 48, bei, der bestimmt dieFehde als die einzige Rechtsfolge des Delictes nach dem ältesten deutschen Rechte bezeichnet. DieFehde wird nach der Lex Salica durch das Gelöbniss der Leistung der Composition beseitigt und aufLeistung dieses Gelöbnisses ist das Urtheil gerichtet.

18Damit hängt es auch zusammen, dass der sacralrechtliche oder religiöse Gesichtspunkt im ältestendeutschen Strafrechte durchaus zurücksteht, Delicte begangen gegen Einzelne nicht als Verletzungender Götter betrachtet werden. Nur bei den Delicten gegen die Heeresordnung gedenkt Tacitus derStrafgewalt der Priester und zwar mit der Erklärung „deuin adesse bellantibus credunt",während diebesondere Ahndung der Verletzung eines den Göttern geweihten Heiligthums bei den Friesen (LexFris. Add. 11) leicht dadurch erklärlich wird, dass hier die Gottheit ebenso als selbst verletzt erscheintwie der Einzelne, dessen Haus widerrechtlich erbrochen wird.

19Auch die Bestrafung der Unzuchtsdelicte als solcher, d. h. insoweit sie nicht als Verletzungen oder Inju-rien anderer Personen, z. B. der Inhaber der Familiengewalt, erscheinen, war wohl dem germanischenRechte ursprünglich fremd. Die bekannte Stelle des Tacitus (Germ. c. 12) über die corpore infames istzwar der richtigen Erklärung zufolge auf die Ahndung der Paederastie zu beziehen. Allein dem ganzenZusammenhange der Stelle nach redet Tacitus nur von der Bestrafung der gegen die Heeresordnunggerichteten Handlungen, also von der Päderastie nur insofern sie im Heerlager begangen wurde. Vgl.oben Anm. 241. Auch im Cap. Ansegisi c. 48 (Pertz, Legg. I. S. 278) ist nur von Kirchenbusse wegenwidernatürlicher Unzucht die Rede. Soll man etwa annehmen, dass die anfangs geübte Bestrafung derwidernatürlichen Unzucht später wieder aufgegeben sei? Und bis in das XIII. Jahrhundert hinein sinddie norddeutschen Quellen gegen Sittlichkeitsdelicte ausserordentlich milde. Die Bigamie wurde z. B.in Lübeck nur mit massiger Gcldbusse bestraft. Vgl. Frensdorff in den Hansischen Geschichtsblättern,1874 (I.) S. 36, 37, Rive, Zeitschr. für Rechtsgeschichte, III. S. 210ff. Nohi in späteren süddeutschenund schweizerischen Quellen wird die unnatürliche Wollustbefriedigung häufig als „Ketzereiünd „Un-christliches"bezeichnet (vgl. Osenbrüggen: Alamannisches Strafr. S. 289), ein entschiedener Hinweisauf den Ursprung der betreffenden Rechtssätze aus dem Einflüsse der Kirche.

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D. Das älteste deutsche Strafrecht

versammlung oder zum Heere oder zur Kirche begeben) dem Hause, den Mühlen, demHofe oder überhaupt dem Aufenthaltsorte dos Königs (oder Herzogs), den Geistlichen,Reisenden —, bildet daher nicht eine besondere Delictsart, sondern qualificirt nur dassonst schon existirendo Unrecht und nimmt der sonst etwa durch Berufung auf recht-mässige Fehde zu rechtfertigenden Gewaltthat diese Entschuldigung. Darüber kann auchdie Ausdrucksweise der älteren Quellen kaum einen Zweifel lassen. Immer erwähnen20

sie das anderweit begangene Delict, und niemals ist in ihnenSeite 61

von einem abstracten Bruche des Friedens z. B. des Dingfriedens oder Hausfriedens dieRede.21Ein besonderes Delict bildet erst in späterer Zeit der sog. Landfriedensbruch,d. h. der Privatkrieg, wie solcher noch lange Zeit hindurch unter den Mitgliedern derhöheren Stände, unter den Reichsunmittelbaren, den Rittern und Städten vorkam, alsandere Gewaltthätigkeiten, verübt von Einzelnen, schon längst die Entschuldigung derSelbsthülfe und Fehde verloren hatten, oder auch als Bruch eines von einem Einzelnenspeciell gegebenen Versprechens wegen eines bestimmten durch Vergleich oder Vertragabgethanen Streitpunktes keine Fehde erheben zu wollen.22

§. 23. Diejenigen Delicte, die für die damalige Zeit die wichtigsten waren und die wirdaher am meisten in den Volksrechten behandelt finden, sind Tödtungen, Körperver-letzungen und gewisse Verletzungen des Eigenthums. Insbesondere enthalten die Volks-

20Vgl. z. B. Lex Salica (ed. Behrend) LXIII. §. 1: „Si quis hominem ingenuum in oste oeeiderit . . . LexSax. XXL: „Qui in ecclesia hominem oeeiderit vel aliquid furaverit vel eam effregerit . . ."XXIII.:„Qui homini ad ecelesiam vel de ecclesia die festo pergenti .. . insidias posuerit cumque occiderit."—XXVIL: „Qui hominem propter faidam in propria domu occiderit capite puniatur.Äuch das Hausund dessen Friede macht also hier keine Ausnahme. Als Hausfriedensbruch ist ursprünglich nur derFall zu betrachten, dass Jemand in anderweit verbrecherischer Absicht, z.B. um zu stehlen oder zutödten oder Fehde zu üben, gewaltsam in das Haus einbricht. Der wirklichen Gewalt wird dann dasbewaffnete Eindringen (gegen oder ohne den Willen des Eigentümers) wohl gleichachtet. Lex Rib.64 (66), Lex Burgund. XV., Lex Bajuv. (Textus I.) XI. (de violentia). Im Ed. Rothari 278 heisstes sogar: „Mulier curtis rupturam faccere non potest, . . . absurdum videtur esse, ut mulier liberaaut ancilla quasi vir cum armia vim facere possit". Dieser Satz ist freilich später im langobardischenRechte aufgehoben.

21Wenn es z. B. im Cap. Karoli M. a. 803 (Pertz Legg. S. 126) heisst „Ut ecclesia, viduae, orfani, velminus potentes pacem rectam habeant. Et ubicumque fuerit infractum sexaginta solidis conponatur",so ist damit nur gemeint, dass gegen die genannten Personen Gewalt unter der Ent- schuldigung derSelbsthülfe nicht ausgeübt werden dürfe.

22Vgl. Löning, d. Vertragsbruch, I. S. 133, der sich mit Recht dagegen erklärt, dass Wilda und nach ihmKöstlin und Geib den gelobten Frieden zu einer höheren Art des allgemeinen Friedens erheben wollen.Aus dem Bruche des gelobten Friedens ist später das specielle Delict des Urfehdebruchs geworden(Löning, S. 500). Als Qualificationsgrund des anderweit verübten Delictes erscheint der Bruch desgelobten Friedens im Ed. Roth. 143. Die Handlung konnte als eine besonders schändliche betrachtetwerden und legte in der That den Gedanken nahe, dass der den Frieden Brechende von der Rechts-gemeinschaft sich völlig lossage (vgl. die Friedlosigkeitsformel der Gragas für diesen Fall, mitgetheiltvon Grimm S. 3!)). Auch die Gesetzgebung hatte allen Grund, es mit diesem Falle besonders strengezu nehmen. Damit stimmen auch die Erörterungen der Postglossatoren über die Wirkungen der Paxfaeta überein. Ein Delict wird nicht deshalb als eine Verletzung der Pax betrachtet, weil der Schul-dige mit dem Verletzten sich früher vertragen hat, sondern nur dann, wenn es animo vindicandi mitRücksicht auf den beigelegten Streit begangen ist. Vgl. z. B. Bartolus in L. Verum est n. 3—5 D. defurtis; Derselbe in §. Causa D. de poenis.

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rechte sehr detaillirte Tarife der Entschädigung (Compositio), welche bei TödtungenWeregildum, Werigilt (= Mannesgeld oder Mannespreis) auch wohl Leudus oder Leudisheisst, namentltch mit Rücksicht auf die Wichtigkeit des verletzten oder von dem Ver-letzten eingebüssten Gliedes und auf den Stand des Verletzten.23

Seite 62Doch wird auch die Abstufung des Busssatzes vorgenommen mit Rücksicht auf eine mit-unterlaufende Verletzung der Ehre24und es fehlt nicht gänzlich an Bestimmungen, welcheauch nur wörtliche Kränkungen der Ehre ahnden.25Als Eigentumsverletzungen kommenbesonders in Betracht: Beschädigung und Tödtung von Hausthieren, Niederbrennen undsonstige Zerstörung des Hauses, Feldfrevel und Diebstähle.§. 24. Dem älteren germanischen Rechte ist oft der Vorwurf gemacht worden, dass

es wesentlich nur die äussere Verletzung berücksichtige, auf den Willen dagegen keineRücksicht nehme.In der That macht es nun regelmässig bei der Corapositio keinen Unterschied, ob

die Verletzung absichtlich oder unabsichtlich, mit oder ohne Vorbedacht geschah. DerHerr, der seinen Litus anstiftet einen Anderen zu tödten,26also absichtlich, überlegt han-delt, zahlt z. B. nicht mehr an Compositio wie Derjenige, der durch geringe, vielleichtvon unglücklichem Zufalle kaum unterscheidbare Fahrlässigkeit den Tod eines Anderenherbeiführt.27Auch finden sich nur einige Ansätze den Versuch eines Delicts zu bestra-fen,28und die Behandlung der Theilnahme29

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23Für die Verletzung oder Tödtung eines Ingenuus wird höhere Busse gezahlt, als für die eines Li-tus oder Servus: die Nobilitas kommt nach vielen Stammesrechten busserhöhend in Betracht (Vgl.Grimm, Rechtsalterth. S. 272 ff.) und auch die Zugehörigkeit zur Gesellschaft des Königs (in trustedominica esse). Für Frauen wird nach einigen Rechten (wenn die Frau gebärfähig ist) ein höheresWergeld gezahlt, nach anderen allgemein ein niedrigeres. Geringere Busssummen werden oft gezahltfür Verletzungen durch eine Person des unfreien Standes (wohl mit Rücksicht auf den Herrn, derfür seinen Servus haftet, wenn er ihn nicht der Rache des Verletzten, später der öffentlichen Strafeüberliefern will). Grimm, S. 658.

24So wird nach der Lex Sal. XVII. 8 der Faustschlag strenger gebüsst als der Schlag mit dem Knittel(n. G daselbst). — lieber Realinjurien z. B. Scheeren des Haupthaares oder Bartes wider Willen desBetreffenden vgl. Lex Alam. Hloth. LX. n. 23, 24, Ziehen am Barte Aethelbirht’s Gesetze Kap. I. n.33 (feaxfang), Schmid, Ges. d. Angelsachsen, 2. Aufl. S. 6, 7, Ed. Roth.383; Versperren des Weges LexSal. XXXI. (de via lacina); unziemliches oder unzüchtiges Anfassen von Frauen (schon das einfacheBerühren eines Fingers oder Armes) wird mit 15 solidi gebüsst nach Lex Sal. XX. Besonders oft undals schwerer Fall wird erwähnt die Nothzucht (vgl. Lex Sal. XXV. 1, Ed. Roth. 186).

25Vgl. Lex Sal. XXX. — Vorwurf der Feigheit „Si quis alterum leborem (leporem) si clamaverit". LexSal. XXX. 5. „Si quis alium arga per furorem clamaverit". Ed. Roth. 381. Noch schwerer wiegt dieRede, dass Jemand seinen Schild in der Schlacht weggeworfen habe. Vgl. Grimm, S. 644ff.

26Vgl. Lex Sal. VIII. (Lex Fris. I. 14).27Lex Sax. LIII. „Si arbor ab alio praecisa casu quemlibet oppresserit, conponatur multa pleno weregildo

a quo arbor praecisa est". LIX. „Si ferrum manu elapsum hominem percusserit, ab eo cujus manumfugerit, conponatur excepta faida".

28Vgl. darüber unten die Lehre vom Versuche.29So wird in der Regel die Anstiftung nicht als Mitschuld am Verbrechen behandelt, Lex Fris. II. 2; Ed.

Rothari 10, 11. Die Lex Visig. (vgl. z. B. VI. 5, 1.2) freilich bestraft den Anstifter oft ebenso wie denThäter und lässt wegen absichtlicher Tödtung durch Mehrere für Alle öffentliche Strafe eintreten.

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D. Das älteste deutsche Strafrecht

am Verbrechen entspricht nicht den Grundsätzen eines öffentlichen Strafrechts.30Gleichwohldarf man diese vorherrschende Berücksichtigung der objectiven Seite des Unrechts nichtlediglich als ein Zeichen der Roheit der germanischen Stämme ansehen oder gar behaup-ten, dass den Germanen die Idee der Schuld im ethischen Sinne völlig fremd gewesen sei;denn einerseits wurde hier das Recht in gewissem Umfange durch die Sitte vertreten undandererseits liegt in der Auszeichnung gewisser für besonders schwer erachteter Delicteeine Rücksichtnahme auf Gesinnung und Absicht des Thäters. Auf den Anfangsstufender Rechtsbildung ist das Bedürfniss einer äusserlich festen leicht zu handhabenden Re-gel grösser als das einer vollkommenen materiellen Gerechtigkeit, welche dem Ermessenund damit allerdings auch der Willkür mehr Raum gewährt. Das vorzeitige „Indivi-dualisirenïn der Rechtspflege gefährdet, da es eine weit grössere richterliche Gewaltfor-dert, die Freiheit. So kann es unter Umständen angemessen sein, dass das Recht beinoch unvollkommener Rechtspflege absichtliche und culpose Verletzungen gleich mildebehandelt, dafür dann aber häufig für culpose Beschädigung präsumirt,31wo wir genau-er untersuchend nur Casus annehmen, zumal, wenn erstere, wie bei unvollkommenemRechtsschutze leicht möglieh, die Entschuldigung rechtmässiger Selbsthülfe oder Fehdeoder doch die Ueberzeugung des Handelnden von der Existenz dieses Entschuldigungs-momentes für sich haben können. Die Sitte aber hat unzweifelhaft

Seite 64zwischen absichtlicher und unabsichtlicher Verletzung früh einen Unterschied gemacht.Wenn ursprünglich der Verletzte bei schweren Verletzungen, insbesondere bei Tödtungeines Verwandten, zwischen Fehde und dem Verlangen der Compositio wählen konn-te,32so wird er doch im Falle unabsichtlicher Verletzung33selbstverständlich meistens30Interessant ist in der fraglichen Beziehung auch Lex Fris. II. 2. Wenn ein Freier einen Freien angestiftet

hat, einen Dritten zu tödten, und der Thäter nicht entflohen ist, sondern von den Verwandten desGetödteten in Anspruch genommen werden kann, so kümmert sich das Recht gar nicht um dieAnstiftung, sondern hält sich allein an das äussere Factum des Thäters. Allein der Anstifter magsehen, wie er die Verwandten des Getödteten aussöhne, "nihil solvat, sed inimicitias propinquorumhominis occisi patiatur, donec quo modo potuerit eorum amicitiam adipiscatur". — Die Lex Sax.XVIII. giebt bei absichtlicher Tödtung (durch Anstiftung eines Servus) dem Verletzten das Wahlrechtzwischen Compositio und Faida. Bei nur culposer Tödtung soll Compositio gezahlt und genommenwerden „excepta faida". Vgl. auch das allerdings schon eine weiter vorgeschrittene Rechtsbildungzeigende Ed. Roth. 75,138 (147) „cessante faida, quia nolendo fecit".

31Ich habe diesen Gedanken genauer darzulegen versucht in meiner Schrift über „Das Beweisurtheil desgermanischen Processes", Hannover, 1866, besonders S. 41 ff. Auch Dahn: Westgothische Studien,1874, S. 273, erklärt es für das Charakteristicum des germanischen Beweisrechtes, dass es „primärauf Präsumtionen gebaut sei".

32In ältester Zeit konnte, wie Dahn: Fehdegang u. Rechtsgang, S. 34ff., sehr richtig ausführt, auchder Verletzer es auf die Fehde ankommen lassen, und praktisch bedeuteten, wenn nicht die königlicheGewalt ausnahmsweise einschritt, noch zur Zeit der Merowinger die Busssätze wohl nichts anderes alsdass, wenn beide Theile den Rechtsgang wählen, das Gericht dem Verletzten die bestimmten Beträgezubilligen würde. Allerdings wurde durch die Gewissheit dessen, was der Eine eventuell zahlen, derAndere empfangen würde, ein gütlicher Vergleich sehr wesentlich erleichtert. Die Erzählungen Gregorsvon Tours (a. a. 0.) zeigen, dass thatsächlich zu dieses Geschichtsschreibers Zeit oft nur die Kirchemit eigenen Opfern einen Ausgleich ermöglichte.

33Auch der Satz, dass Unmündige kein Friedensgeld zahlen (vgl. Lex Sal. XXIV. 5 „Si vero puer infraXII annos aliqua culpa committat, fretus ei nullatenus requiratur"), deutet darauf, wie ja auch nachden nordischen Rechten Unmündige nicht von der Friedlosigkeit getroffen wurden (Wilda S. 640 ff.).

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mit der Compositio sich befriedigt erklärt haben34und bald ist er durch die Sitte, späterdurch das Recht dazu gezwungen worden, als man bei offenbar absichtlicher Verletzungnoch die Fehde erlaubte.35

Besonders ausgezeichnet sind aber schon früh Delicte durch das Moment der Heimlich-keit 36; wurden sie doch gleichsam vom Thäter als rechtswidrige, eine Verteidigung nichtzulassende gekennzeichnet. So wird besonders schwer gebüsst der Mord, d. h. Tödtungmit Verbergung des Leichnams 37und der Diebstahl, zu dessen Begriffe noch

Seite 60zur Zeit der Rechtsbücher und selbst später noch das Moment des heimlichen Wegneh-mens gehört.38Es ist aber nicht sowohl der Mangel an Muth, welcher solche heimlicheWegnahme hier qualificirt — das würde einer erkünstelt moralischen Auffassung entspre-chen, nicht aber einer Rechtsordnung, welche überall noch mit der Gewalt kämpft — alsvielmehr der Umstand, dass bei offenem Todtschlag, offenem Wegnehmen einer Sachedoch in Zeiten gewaltsamer Bache und Selbsthülfe die Entschuldigung möglich ist, manhabe in der wirklichen oder vermeintlichen Ausübung eines Rechtes gehandelt, währenddie heimliche That der allgemeinen Kegel nach solche Entschuldigung nicht zulässt.§. 25. Eine starke königliche Gewalt, wie wir sie bereits unter den ersten Merowingern

finden, die sich besonders unter dem Einflusse christlicher Ideen39als obersten Schutz desRechts betrachtete, musste aber Verbrechen, auch wenn sie zunächst nur gegen Einzelneund nicht etwa gegen den König oder das Gemeinwesen selbst sich richteten, alsbaldauch als Verletzung der eigenen Autorität empfinden.40Schon unter den Merowingern

34Die Unterscheidung von Delicten, die Friedensbrüche sind, und solchen geringeren Verletzungen, diedies nicht sind (vgl. Wilda S. 268ff.), gehört, wenngleich in den scandinavischen Quellen vorkommend,doch wohl erst der späteren Entwicklung an, welche das Gebiet der Friedbrüche, d. h. der Fälle, indenen Rache und Friedlosigkeit eintrat, immer mehr beschränkte.

35Vgl. z. B. auch Lex Sax. LIX. Es soll keine Faida stattfinden: Si ferrum manu elapsum hominempercusserit

36Vgl. auch Osenbrüggen: Der ethische Factor im altdeutschen Rechte, in O.’S Studien zur deutschenund schweizerischen Rechtageschichte, 1868, S. 1- 18.

37Vgl. z. B. Lex Rib. XV. „De homine mordrido. Si quis ingenuns Ribuarium interfecerit et eum cumramo cooperuerit vel in puteo seu in quocumque libet loco celare voluerit quod dicitur mordridus,sexcentis solidis culpabilis judicetur"(dreifaches Wergeid). — Ed. Roth. 14: „Si quis homieidium inabsconso penetraverit . . noningentos solidos conponat . ."Neunfaches Wergeid wird gezahlt nach LexSax. XVIII. (ed. Merkel).

38Lex Sal. XXXIII. 1: „Si quis de diversis venationibus furtum fecerit el celaverit ..."Lex Bajuv. (TextiisI.) IX. 9: „Si quis occulte in nocte vel die alienum cavallum aut bovem aut aliquod animal occideritet negaverit et postea exinde probatus fuerit tanquam furtivum conponat". Vgl. auch unten die Lehrevom Diebstahl. — Bei den Langobarden und Alamannen betrug die Diebstahlsbusse das Neunfache(Ed. Roth. 253 ff.). Uebrigens kommt in einzelnen Volksrechten schon früh Todesstrafe für mancheDiebstahle vor (Lex Sax. XXVIII.—XXX. XXXII. ff.) oder doch der Satz, dass der Dieb sein Wergeidals Fredus zahle (Lex Fris. III. 1,4). Das erklärt sich aus der auch der Stelle nach unbeschränktenRachebefugniss in solchem Falle: an die Stelle dieser Befugniss trat die öffentliche Strafe (vgl. unten).

39„Regum officium est proprium facere judicium et justitiamßagt Hieronymus c. 23 C. XXIII. qu.. 5.— Cyprianus in c. 40 das.: „Rex debet furta cohibere, adulteria punire, impios de terra perdere,parricidas et pejerantes vivere non sinere". Vgl. auch Jarcke, Handb. I. S. 21, 22 Anm. Waitz II. (2.Aufl.) S. 156 ff., IV. S. 477. Cap. Aquisgran. c. 32, 33 (Pertz Legg. I. S. 95).

40Der unbestimmte, häufig als fast unbegrenzt behandelte Begriff der „fidelitas", der Treue gegen denHerrn und also, auch gegen das von ihm gesetzte oder gehandhabte Recht hat ohne Zweifel stark

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D. Das älteste deutsche Strafrecht

begegnen wir daher der Androhung der Todesstrafe für Räuberei41und Diebstahl,42demVerbote des Privatvergleichs über Diebstahl,43der Androhung der Todesstrafe für gewisseFälle der in-

Seite 66cestuosen Ehe,44 für Tödtung der Strafe des Handabhauens für Meineid (freilich wohlmeistens nur in der Art, dass dem Verbrecher die Befugniss zustand, die Hand mitGeld zu lösen). 45 Indess scheinen diese öffentlichen Strafen, obwohl die Könige46 undbesonders die ersten Merowinger mit Strafen und Strafandrohungen oft sehr willkürlichverfuhren47und namentlich demüthigende Strafen unter dem Namen „barmiscara"nebendem Banne auch unter den Carolingern aus königlicher Machtvollkommenheit verhängtwurden, doch nicht sehr lange praktisch gewesen zu sein.In den Capitularien der Carolinger ist die absichtliche Tödtung ebenso wie in den sog.

Volksrechten — mit Ausnahme der Lex Visigothorum, die schon in bedeutendem Masserömisches und germanisches Recht vermischt — wieder regelmässig48nur mit Zahlung derCompositio geahndet; ja die königliche Gewalt hat Mühe, die Fehde überhaupt nieder-zuhalten49und ist meist zufrieden, wenn nur der Verletzte auch sich mit der Compositioabfinden lassen will; allenfalls zwingt sie durch Verbannung die Parteien zu gütlichemVergleiche. Nur gegen gemeingefährliche Räuberei,50gegen Münzfälschung, falsches Zeug-niss51(Ur-

mitgewirkt zur Entwicklung eines öffentlichen Strafrechts. Vgl. Waitz III. S. 296.41Vgl. Childeberti const. a. (ca.) 554 (Pertz Legg. I. S. 1).42Childeberti II. et Chlotarii II. Pactum a.593 n. 1 (Pertz Legg. I. 8. 3).43Vgl. das in vorhergehender Anmerkung citirte Pactum n. 3: „Qui furtum vult celare et sine judice

compositionem acceperit, latroni similis est."44Childeberti II. decr. a. 596 n. 7.45Childeberti II. decr. a. 596 n. 2 u. 5. Die Redaction dieser letzteren Bestimmung deutet auf theologi-

schen Ursprung.46Im langobardischen Rechte kommen einige Fälle vor, in denen zunächst den Verwandten ein Strafrecht

gegen eine Frau zugeschrieben wird, in denen aber subsidiär die Strafgewalt des Königs einschreitet,vgl. Ed. Roth. c. 221 (und dazu Pasquale del Giudice, S. 23).

47Waitz II. S. 151 ff. Ueber Harmiscara das. IV. S. 445.48Ausnahmsweise Todesstrafe, Cap. Aquisgran. a. 817 c. 1 (Pertz Legg. I. S. 210): „Si quis aut ex levi

causa nut sine causa hominein in ecclesia interfecerit, de vita conponat"(vgl. Waitz IV. S. 231). Da-neben mochte man wohl auch in anderen besonders schlimmen Fällen auf die formell nicht beseitigteConstitution Childeberts recurriren. So heisst es im Cap. a. 779 (Francicum) c. 8: „Ut homieidas autceteros reos, qui legibus mori debent, si ad ecclesiam confugeriut, non excusentur". Vgl. auch c. 8 desCap. Langob. das. Strafe des Verwandtenmordes in Cap. a. 803 zur Lex Sal. n. 5 (Pertz Legg. I. S.113) „Si quis de libertate sua fuerit interpellatus, et timens ne in servitutem cadat aliquem de pro-pinquis suis, per quem se in servitium casurum timens occiderit, id est patrem, matrem, patruelem,avunculum vel quemlibet hujusmodi propinquitatis personam, ipse qui hoc perpetraverit, moriatur .."

49So sagt schon König Rothari (Ed. Roth. 74), er habe die Compositionssumme erhöht, um dadurch dieFehde zu beschränken. — Vgl. auch die Vorstellung der Bischöfe an den König vom J. 829 (PertzLegg. I. S. 340).

50Cap. a. 779 (Francicum) c. 23; Cap. Tic. a. 801 n. 4 (Pertz Legg. I. S. 84); auf Kirchendiebstahlmit Einbruch steht Todesstrafe nach demersteren Cap. c. 10. — Hinsichtlich der Vollstreckung derTodesstrafe vgl. Cap. Tic. a. 801 c. 4 (Pertz S. 84). Cap. Aquisgran. 813 c. 11: „judices atque vicariipatibulos habeant".

51Cap. Hlotharii I. a. 832 c. 10 (Pertz S. 3G1) „manus ei amputetur".

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Seite 67kundenfälschung) und Meineid52finden wir allgemein öffentliche Strafe angedroht; dochkonnte auch jetzt noch die Strafe des Abbauens der Hand, des Gliedes, mit welchem dasVerbrechen begangen worden, mit Geld abgekauft werden, 53

Eine sehr wichtige Ergänzung, welche zugleich die Idee der öffentlichen Strafe mehrzur Geltung bringen musste, erhielt das Strafrecht durch den Bannus regius.54Wie Ver-brechen gegen die Person des Königs als Verbrechen gegen das Gemeinwesen selbst be-trachtet und schon früh nach den römischen Bestimmungen über das Crimen majestatisbestraft wurden,55so erschien andererseits die Nichtachtung königlicher Befehle gewisser-massen als mittelbare Verletzung oder Beleidigung des Königs selbst: der Schuldige mussdem Könige die Busssumme von 60 solidi zahlen, falls nicht in der Handlung ein anderesDelict liegt, welches schwerere Strafe fordert.56So beherrscht die Bannbusse wesentlichDas, was wir heut zu Tage das Gebiet der Polizei, der Heeresordnung, der fiscalischenRechte und Gefälle nennen würden, ohne dass sie jedoch darauf beschränkt wäre. Siedient auch dazu, gewaltsame Fehde einzuschränken und neben der Compositionssummein manchen Fällen eine öffentliche Strafe aufzustellen57ganz besonders aber dazu,

Seite 68den Rechtsschutz auf Personen und Sachen auszudehnen, die früher keinen Rechtsschutzgenossen hatten, jetzt aber eines solches bedürftig erschienen.58

§. 26. Ausserdem hatte der Ehemann über die Ehefrau (vgl. Tac. Germ. c. 19), derHausvater über die in seiner Gewalt (seinem Hause) befindlichen Kinder eine gewisse, derHerr aber über seine Sclaven59eine unbeschränkte, unzweifelhaft oft mit grosser Härte

52Der Schreiber der falschen Urkunde verlor früher den Daumen, später die rechte Hand; Lex Rib. LIX.3. Ed. Roth. 243.

53Ueber das Lösen der Hand vgl. Waitz IV. S. 435, 436. Der Meineid nahm in der späteren Zeit derCarolinger offenbar sehr überhand.

54Vgl. über den Königsbann insbesondere Waitz II. (2. Aufl.) S. 589ff. III. S. 271 ff.55Vgl. Waitz II. S. 149, 150, dann über die spätere Zeit noch VI. S. 472.56Ueber das Belegen an sich schon strafbarer Handlungen mit dem Königsbanne vgl. z. B. Cap. a. 811

de exercitalibus c. 2—4 (Pertz S. 169,170).57Man vergleiche die bekannten acht alten Bannfalle im Cap. de dominico (Pertz, S. 34, 35). Die Fälle

2, 3, 4: „Qui injuste agit contra viduas", „De orfanis", „Contra pauperinos qui se ipsos defendere nonpossunt"chliessen Fehde und gewaltsame Selbsthülfe gegen die genannten Personen aus (möglicherWeise gehen sie auch gegen ungerechte Klagen, wegen der Gefahr des Zweikampfes dabei). Die Fälle 5,6, 7: „Qui raptum facit, hoc est qui feminam ingenuam trahit contra voluntatem parentum suorum",„Qui incendium facit infra patriam, hoc est qui incendit alterius casam aut scuriam", „Qui harizhutfacit, id est qui frangit alterius sepem aut portam aut casam cum virtuteßtellen unter öffentlicheStrafe Handlungen, die schon als Rechtswidrigkeiten galten. Der Fall 8: „Qui in hoste non vadit"

58So nahm der König auch wohl die Fremden unter seinen Schutz. Vgl. Epist Karoli M. ad Offam regemMarciorum a. 796 (Walter Corp. J. Germ. II. S. 125).

59Jastrow: Zur strafrechtlichen Stellung der Sclaven, und Georg Meyer in d. Zeitschr. f. Rechtsgeschichte,germanistische Abtheilung, 1881, S. 85 ff.

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D. Das älteste deutsche Strafrecht

ausgeübte Strafgewalt,6061und die Volksrechte verordnen ausserdem gegen Unfreie, diegegen Dritte Delicte begingen, öffentliche Strafen, sei es unbedingt, 62sei es für den Fall,dass der Herr den Knecht nicht lösen will. 63Die Anwendung der Lebens- und Leibess-trafen aber gegen Unfreie, die nicht selten auch von dem Verletzten oder dessen Familieausgeübt, zuweilen auch durch die königliche Gewalt vorgeschrieben waren, musste spä-ter, als die Zahl der vollkommen Freien in den Zeiten allgemeiner staatlicher bezieht sichauf die Heeresordnung, der Fall 1 endlich: „Dishonoratio sanctae ecclesiae"betrifft wiederden besonderen Schutz der Rechtsinstitution der Kirche. Vgl. Cap. Saxon. Aquisgran. a.797 pr. (Pertz S. 75) Adrt. VII. zur Lex Bajuv. 1 (ed. Merkel, Pertz Legg. III. S. 477).

Seite 69Unordnung in Folge der Bedrückungen durch die Beamten und Mächtigen so sehr sichminderte, für die Auffassung des Strafrechts überhaupt von grösster Bedeutung werden,Strafen, die man täglich an Unfreien vollstreckte, konnte man auch bald den Freien ge-genüber nicht für durchaus ungerecht erachten,64zumal da factisch die äussere Stellungeines Knechtes von der eines heruntergekommenen Freien oder eines Halbfreien sich oftkaum unterschied.65Und sehr wesentlich wirkte auch die bedeutende Höhe der Busssät-ze. 30, 40, 60 solidi mussten sehr oft bei Verletzungen und bedeutend mehr noch beiTödtungen gezahlt werden — 200 solidi war z. B. das Wergeld der freien Franken —Geldsummen, welche den Werth von hunderten von Rindern repräsentirten.66Wer dieseSummen nicht zahlen konnte, verfiel der Schuldknechtschaft,67die oft genug zu dauern-der Unfreiheit werden mochte (wenn sie es etwa auch nicht von Anfang an war), nichtselten auch der unbeschränkten Rachebefugniss der verletzten Familie: „quod si raptor

60Vgl. Walter II. §. 388; Waitz I. S. 183; Tac. Germ. c. 25: „Verberare servum ac vineulis et opere coercererarum: occidere solent, non disciplina et severitate, sed impetu et ira, nisi quod impune sit". Pasqualedel Giudice, S. 24, 25, nimmt hier noch nach langobardischem Rechte eine rechtlich unbeschränkteWillkür des Herrn gegen den eigenen Sclaven an. Liutpr. (Neigebaur) 56: „Ipsi vero domini distringantet inquirant servos sicut ipsi amant"(Cap. Pip. a. 802 c. 16, Pertz Legg. I. p. 105). Die Strafgewaltdes Herrn war ursprünglich allerdings wohl nur eine Folge seines unbeschränkten Dispositionsrechtsüber seine Sclaven.

61Vgl. über die gegen Unfreie angewendeten Strafen: Schläge, Castration, Abhauen der Hand, Ausstechender Augen, Todesstrafen, Maurer: Geschichte der Fronhöfe, I. S. 533, 534. Dabei wurde übrigensanfangs zwischen Unfreien und Liten (Hörigen) streng unterschieden, obwohl auch gegen letztereLeibes- und Lebensstrafen da vorkommen, wo freie Leute nur mit Geld büssen (Maurer a. a. 0. S.535). Indess konnte der Herr in vielen Fällen den Unfreien loskaufen.

62Lex Sal. 12; Lex Ribuar. 58, 17 u. 18; Lex Alam. Hloth. 38, 2.63Der Herr, der des Sclaven That nicht vertreten oder vertheidigen wollte, lieferte den Schuldigen auf

Gnade und Ungnade an den Verletzten, bezw. dessen Sippe aus. Ed. Roth. c. 142: „sic tarnen ut servusvel ancilla ad occidendum tradatur ut nulla sit redemptio aut excusatio mortis servi vel ancillae".Vgl. Pasquale del Giudice S. 29.

64Prügelstrafe gegen geringere Freie wird unter den Karolingern öfter erwähnt (vgl. Waitz IV. S. 436),z. B. wenn Jemand ohne genügenden Grund das Urtheil des Königs anruft, zum palatium kommt,Pippini cap. 7 (Pertz S. 31). („Si major persona fuerit, in regis arbitrio erit".)

65Vgl. über diese im angelsächsischen Rechte besonders deutliche Entwicklung Jastrow, S. 43 ff.66Waitz II. S. 614. Vgl. auch Roth: Geschichte d. Forst- u. Jagdwesens in Deutschland, 1879, S. 21 ff.

Ungefähr kann man annehmen, dass ein merowingischer Goldsolidus 12, ein karolingischer 15 jetzigeReichsmark werth war. Der Werth des Silbers gegen Gold verhielt sich zur Zeit Karls des Gr. etwawie 1:12, der Preis des Brotes gegen Silber ist seitdem auf das Zehnfache gestiegen.

67Grimm, S. 329ff.

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(Frauenräuber) solutionem . . . unde solvere non habuerit, puellae parentibus adsigne-tur, ut faciendi de eo quod ipsi maluerint, habeant potestatem",68und da diese Rache(Tödtung) öffentlich ausgeübt werden musste, um für eine rechtmässige zu gelten — beiden Franken z. B. wird der Leichnam auf dorn Bargus, der Clida, einem galgenähnlichenGerüste ausgestellt69—, so unterschied sich diese Tödtung äusserlich nicht so sehr vonder späteren Hinrichtung durch die öffentliche Gewalt, namentlich wenn sie etwa voneiner mächtigen und vornehmen Person mit einem grossen Gepränge angeordnet undvollzogen wurde. So verwandelte sich die Privat-

Seite 70busse oft thatsächlich in öffentliche Strafe. Wenn aber der Fall oft sich ereignete, dassgeringere Freie — Freie, die nicht andere Personen als Knechte und Unfreie unter sich hat-ten — die hohen Busssätze nicht zahlen konnten, so mochte man eine öffentliche Strafe,z. B. körperliche Züchtigung oder selbst Verstümmelung, leicht als eine selbstverständ-liche bei ihnen ansehen,70und um so leichter, als diese Strafen der Schuldknechtschaftgegenüber etwa noch als mildere erscheinen konnten.717273

Die Idee der öffentlichen Strafe, welche unter den Carolingern in voller Schärfe nur beiden Vergehen gegen den König hervortritt — hier finden wir Todesstrafen, verstümmeln-de Strafen, Vermögensconfiscationen —, gewann daher bei dem Versinken der grossenMasse des Volkes in Armuth und grössere oder geringere Unfreiheit allmählig immermehr Boden. Zugleich aber fand sie eine sehr wesentliche Bundesgenossenschaft in einerMacht, die principiell alle Standesunterschiede — bis auf einen — ignoriren wollte.

68Lex Burg. 12, 3.69Vgl. Sohm: Process der Lex Salica, S. 178, 179, und Pasquale del Giudice, S. 56. Die Lex Salica schützt

den Schuldigen, ehe es soweit kommt, durch eine Reihe von Förmlichkeiten, welche die Heranziehungder Verwandten zur Zahlung, eventuell die Lösung durch einen beliebigen Dritten bezwecken. Daraufbezieht sich der berühmte Titel Lex Sal. 58: „De chrene cruda”.

70Dahn: Westgothische Studien, S. 156.71Waitz III. S. 265.72Auch im Strafprocesse begegnen wir der Entwicklung, dass Rechtssätze, welche früher nur zu Unguns-

ten benachteiligter Volksklassen gelten, später auf die privilegirten Anwendung finden. So konntennach dem Bamberger Rechte früher nur Nichtbürger gefönglich eingezogen und gehalten werden;im Laufe des XV. Jahrhunderts verschwand dieser Unterschied. Brunnenmeister: Die Quellen derBambergensis, 1879, S. 44.

73Das Strafrecht der Westgothen enthält in gewissem Umfange vorbildlich das Strafrecht des späterenMittelalters, allerdings mit einigen despotischen Zusätzen. Die anderwärts nur Knechte treffendenStrafen, ins- besondere selbst Geisselung, werden, obwohl die Standesunterschiede vielfach noch be-stimmend sind, in grossem Umfange auch gegen Freie angewendet; das westgothische Recht versuchtdie subjective Seite des Verbrechens besser zu erfassen, verfällt dabei aber oft in falsche moralisirendeoder theologisirende Bestimmungen, wie andererseits in eine wilde Abschrecknngs- und Bestrafungs-wuth und römisches und deutsches Recht treten in eigenthümlicher Verbindung neben einander auf.Vgl. auch Dahn a. a. 0. 141 ff.

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D. Das älteste deutsche Strafrecht

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E. C. Das Strafrecht der christlichenKirche.

Seite 71Eichhorn: Grundsätze des Kirchenrechts, 2 Bde., 1831. — (Vgl. auch Eichhorn: DeutscheStaats- und Rechtsgeschichte I. (5. Aufl.) §§. 105, 106, 180 ff.). — Du Boys: Histoire dudroit criminel des peuples anciens, 1845. — Du Boys: Histoire du droit criminel despeuples modernes. — Faustin Helie: Traité de l’instnuction criminelle, I., 1866 (2. edit).— Dove: Untersuchungen über die Sendgerichte, in der Zeitschrift für deutsches RechtBd. 19, S. 321 ff. — (Vgl. auch Dove in der Zeitschrift für Kirchenrecht, IV. S. 1 ff.,S. 157 ff., V. [1865] S. 1 ff.) - Eck: De natura poenarum secundum jus canonicum,1860. — Nic. München: Das kanonische Gerichtsverfahren und Strafrecht, 2 Bde., 1865,1866. — Waitz: Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Aufl., Bd. III. u. IV. — Solim inder Zeitschrift für Kirchenrecht, 1870, S. 248ff. — Richter: Lehrbuch des katholischenund evangelischen Kirchenrechts, 7. Aufl., bearbeitet von Dove, 1874. — Edgar Löning:Geschichte d. deutschen Kirchenrechts, Bd. 1 und 2, 1878. — Edw. Katz: Ein Grundrissdes kanonischen Strafrechts, 1881. — v. Holtzendorff in seinem Handb. des deutschenStrafrechts, L, S. 40—50. — Sohm in der Zeitschrift fiir Kirchenrecht, 1870 (IX.), S. 248ff.§. 27. Jede Gesellschaft hat das natürliche Recht, Diejenigen, welche ihren Satzungen

sich nicht fügen wollen, von der Gemeinschaft auszu- schliessen. Will man ihr dies Rechtbestreiten, so muss man sie ent- weder zur Duldung jeglicher Unordnung zwingen, oderaber ihr directe Zwangsrechte einräumen oder doch die Gewalt des Staates zur zwangs-weisen Durchführung ihrer Ordnung ihr zu Gebote stellen. Eine Ge- meinschaft, welchewie die christliche Kirche in ihrer ersten Zeit sich gegen den Staat durchaus abwehrendverhielt, ihn gleichsam wie ein notwendiges Uebel ertrug, ja ihren Mitgliedern, um dieKirche nicht der Verfolgung noch mehr auszusetzen, den Streit vor der weltlichen Ob-rigkeit untersagte,1besass selbstverständlich2als Wehr und

Seite 72Waffe gegen widerspenstige Mitglieder nur jenen Ausschluss von der Gemeinschaft, unddarauf lässt in der That das kirchliche Strafrecht in seinen wesentlichen Bestandthei-len sich zurückführen.3Die älteste Kirchenstrafe ist allein die Excommunication, welchegegen Geistliche angewendet, zugleich den Charakter der Absetzung annehmen musste:denn der Ausschluss von der Gemeinschaft führt nothwendig das Auf- hören des in derGemeinschaft bekleideten Amtes mit sich.Je wichtiger aber die in Frage stehende Gemeinschaft für das Wohl und Wehe des

1I. Chorinth. 6, 1 u. 2 ff. Vgl. Du Boys, Histoire du dr. crim. des peuples anciens. S. 610 ff.2Ev. Matthäi 18. 15-173Vgl. auch Edg. Löning I. 8. 252 ff.

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E. C. Das Strafrecht der christlichen Kirche.

Einzelnen ist oder erscheint, um so mehr wird der Ein- zelne, statt es auf eine Aus-schliessung von der Gemeinschaft ankommen zu lassen, vorziehen, freiwillig gewissenNachtheilen oder Opfern sich zu unterwerfen, wenn er mit diesen seine Unbotmässigkeitwieder gut machen kann, und andererseits wird auch die Gemeinschaft, je mehr sie Werthauf ihre Verbreitung legt, nur in äussersten Fällen von der Ausschliessung, wenigstenssofern sie eine vollständige oder dauernde sein soll, Gebrauch machen. So bestehen dennauch die ältesten Kirchenstrafen in einem gänzlichen oder theilweisen Ausschluss von derGemeinschaft — in der milderen Form nur von den Sacramenten — oder vom Amte, undandere Strafen, die sog. Pönitenzen, das Tasten, Sichgeissein oder Sichgeisselnlassen, dasAnlegen eines Bussgewandes, das Wallfahren u. s. w., aber auch später vorkommendeGaben von Geld und Geldes- werth zu guten Werken und zu den Zwecken der Kirchesind ursprüng- lich zurückzuführen auf den freien Willen der Betheiligten, welche da-durch ihre Wiederaufnahme in die Gemeinschaft bewirkten oder der Aus- schliessungzuvorkamen.Die kirchlichen Pflichten des Einzelnen umfassen aber, ideal betrachtet, das gesammte

Leben. Nicht nur der Glaube, auch die Moral ist Angelegenheit der Kirche, und einegenauere Betrachtung lässt jeder Handlung oder Unterlassung eine moralische Seite ab-gewinnen. So ist das kirchliche Strafrecht seinem Gegenstande nach unbegrenzt, und inder That erscheint es so in den im Mittelalter gebräuchlichen Buss- ordnungen,4welche z.B. Unmässigkeiten aller Art, Regungen der Leidenschaft, z. B. der Habsucht, des Stolzes,des Neides, ja Unreinlichkeit ebenso wie wirkliche Rechtsverletzungen ihren Satzungenunterwerfen.In dieser Ausdehnung jedoch liess sich ein moralisches, die Aussöhnung des Schuldi-

gen mit Gott und der Gemeinde bezweckendes Strafsystem nur handhaben einerseits beifreiwilligem Bekenntniss des Schul-

Seite 73digen, mochte dasselbe auch immerhin durch die Beichte veranlasst sein, und anderer-seits bei offenkundiger grober Sünde. Dies ist denn auch der Charakter des sog. Rechtsder Pönitenzen, der Kirchenstrafen, welche die Reue, die Besserung des Schuldigen be-siegeln sollen: auf der einen Seite Unbestimmtheit der Fälle, welche zur Busse Anlassgeben, höchstens Bestimmtheit dadurch, dass die Praxis sich an die wichtigsten, häu-tigsten Zeit- und Ortssünden hält, und auf der anderen Seite Be- schränkung durch denMangel eines wirklichen Strafverfahrens.5 Dieser Theil des kirchlichen Strafrechts hat,weil er eben direct auf der Moral basirt, für das staatliche Strafrecht nur insofern Bedeu-tung, als einerseits die verschiedenen Busssätze, welche eine auch nach dem weltlichenRechte verbotene Handlung treffen, die verschiedene moralische Würdigung der Thatnach Ansieht der Kirche ausdrücken, und als andererseits da, wo die Kirche nicht ein-

4Vgl. Wasserschieben: Die Bussordnungen der abendländischen Kirche, nebst rechtsgeschichtlicher Ein-leitung, 1851. Poenitentiale Remense bei Katz S. 161—202 (aus dem 8. Jahrhundert)

5Allerdings ging die Kirche in den sog. Sendgerichten in der karolingischen Zeit und später noch that-sächlich über das Princip hinaus, nur offenkundige oder freiwillig bekannte Sünden mit Pönitenzen zubelegen, indem sie eine Anzahl von Gemeindegenossen eidlich verpflichtete, die ihnen etwa bekanntenSünden oder Delicte Anderer anzuzeigen, und indem sie die also Beschuldigten zwang, entweder einenReinigungseid zu leisten oder die Pönitenz oder Strafe über sich zu nehmen. Vgl. Dove S. 356.

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mal eine Busse verhängt, die That nach Ansicht der Kirche überhaupt nicht verwerflicherscheint, eine moralische Würdigung, die dann nach beiden Richtungen und besondersnach letzterer Richtung das staatliche Recht beeinflussen kann. Aber seinem Wesen nachist dieser Theil des kirchlichen Strafrechts von dem staatlichen Strafrechte vollkommengetrennt. Die Kirche verhängt die Pönitenz ohne Rücksicht darauf, ob den Schuldigenauch weltliche Strafen treffen, und die Pönitenz rindet ihren Zweck wesentlich in derBesserung des Schuldigen.§. 28. Freilich aber konnte eine so umfassende Gemeinschaft wie die christliche Kirche

mit einem solchen lediglich auf das freie Bekenntniss der Schuld und die etwaige Offen-kundigkeit des Delictes angewiesenen Strafrechte nicht ausreichen, insbesondere insofernnicht ausreichen, als es um Beobachtung der kirchlichen Pflichten seitens der Diener derKirche6sich handelte. Neben jenem unbestimmten Systeme der als

Seite 74Pönitenzen bildet sich daher ein kirchliches Strafrecht, das auf be- stimmten Delicts-begriffen ruhend auch nicht freiwillig bekannte und nicht offenkundige Handlungen ineinem besonderen Strafverfahren verfolgen lässt. Und bei diesen Delicten nimmt die Stra-fe denn auch einen anderen Charakter an. Sie soll nicht nur auf den Schuldigen wirken,diesen zur Reue, Umkehr und Unterwerfung unter die Gebote der Kirche führen, siesoll auch auf Andere wirken; äussersten Falles auch durch Abschreckung.7Hier nähertsich das Strafrecht daher dem Strafrechte, welches von der bürgerlichen Gemeinschaftgehandhabt wird. Die strafbare Handlung wird nicht nur moralisch, sondern auch nachgewissen äusseren Merkmalen und Wirkungen beurtheilt, und wenn es der Kirche fac-tisch nicht an Mitteln8fehlt, ihren Willen und ihre

6Dabei hat freilich das Gerichtsstandsprivileg der Geistlichen (vgl. unten) wesentlich mitgewirkt. DieDisciplinarstrafen der Geistlichen sollten, wenn auch äussersten Falles die Kirche sich entscbloss, denSchuldigen aus dem Klerus auszustossen (zu degradiren) und ihn der weltlichen Gewalt zur Bestrafungzu überliefern, doch die öffentliche Strafe ersetzen. Vgl. Innocenz III. im Cap. 17 X. de judiciis 2, 1:„Praecipiatis ex parte nostra Praelatis, ut laicis de clericis conquerentibus plenam faciant justitiamexhiberi . . ne pro defectu justitiae clerici trahantur a laicis ad judicium seculare .."Die weltlicheGewalt durfte durch die allzugrosse Milde der Strafen gegen Geistliche nicht gereizt werden. Vgl.Eichhorn I. S. 153. — Das C. 3 X. de crim. falsi 5, 20 (von Urbaii III., 1186) ordnet sogar in einemFalle gegen Kleriker die Strafe des Brandmarkens an.

7Vgl. z.B. c. 1 X. 5, 26: „ .. ut poena illius aliis terrorem injiciat, ne de cetero contra Romanam Ecclesiamin talia verba prorumpat". — Deutlich tritt auch der Abschreckungszweck hervor in der bekanntenBestimmung, dass rückfällige Ketzer, wenn sie auch ihrem Irrthume wieder entsagen, unwiderruflichder weltlichen Gewalt zur Bestrafung übergeben werden sollen, obwohl „si postmodum poeniteant, utpoenitentiae signa in eis apparuerint manifestaïhnen die Kirche das Sacrament des Abendmahls nichtweigerte. Allerdings exequirte nun die Kirche das Urtheil gegen die Ketzer nicht. Aber das Urtheildes weltlichen Gerichts gegen die von der Kirche verurtheilten Ketzer war eine blosse Formalität.Die Kirche verlangte und erlangte unbedingte Execution oder doch Verhängung der ein für alle Malfeststehenden Strafe, ohne eine Nachprüfung des Schuldspruches zu gestatten. Vgl. c. 2, 4, 18 in VIto de haereticis 5, 2; Aegidius Bossius pract. crim. tit. de haereticis n. 35 und Du Boys histoire d.dr. er. des peuples modernes V. S. 95, 96. — Der Ansicht, dass die vindicativen Strafen nur gegenGeistliche Anwendung finden durften und Anwendung gefunden haben (Katz, S. 33 ff.), dürfte nichtbeizutreten sein.

8Das hauptsächlichste Zwangsmittel der Kirche war bekanntlich die Excommunication. Die Kirche un-tersagte auch den bürgerlichen Verkehr mit dem Excommunicirten, früher sogar bei Strafe der exeom-municatio major (vgl. Richter-Dove §. 214 Anm. 13). Die Excommunication hatte Zurückweisung bei

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E. C. Das Strafrecht der christlichen Kirche.

Seite 75Ordnung durchzusetzen, so vermag sie sogar die etwa mangelhafte staat- liche Straf-rechtspflege in gewissem Umfange zu vertreten. Denn da das weltliche Strafgesetz auchdie Moral zur letzten Grundlage hat, so kann die Kirche von ihrem Standpunkte auserklären, dass, wenn der Staat in der Bestrafung gewisser Handlungen lässig sei, die dieKirche besonders interessiren, obschon sie keineswegs ausschliesslich Verletzungen kirch-licher Gebote enthalten, sie, die Kirche, die Bestrafung dieser Hand- lungen übernehmenwerde. Der Einfluss aber einer mächtigen und fast das ganze Volk umfassenden religi-ösen Gemeinschaft kann es zugleich dann dahin bringen, dass Handlungen, welche diestaatliche Gemeinschaft früher nicht strafte, nachher auch von dieser gestraft werden.Die Kirche überlässt dann manche früher von ihr gestrafte Fälle der weltlichen Ge- walt,weil diese sie nunmehr genügend straft.9§. 29. Kann hiernach das Strafrecht der Kirche noch immer als ein Sittengericht be-

zeichnet werden, so ist die Kirche im Mittelalter doch weit über diese einer religiösenGemeinschaft äussersten Falles noch angemessenen Grenze hinausgegangen, und dabeikommen vorzüglich folgende äussere Umstände in Betracht.Erstens beginnen wohl schon im römischen Reiche, nachdem die christliche Religion

bestimmt die Herrschaft erlangt hatte, die Bestrebungen der Kirche, den Klerus durchGerichtsstandsprivilegien von der weltlichen Obrigkeit unabhängig zu machen. Der fest-geordneten und ausgebildeten Justizgewalt des römischen Staates gegenüber gelang diesjedoch nicht. Eine Verordnung von Valens, Gratian und Valentinian von 376 (L. 23 C.Theodos. 16, 2) bestimmt ausdrücklich, dass jede actio criminalis wegen eines weltlichenVerbrechens nicht von der Synode, sondern vom Staatsrichter erledigt werden solle, unddabei ist es auch im justinianischen Rechte,10wenngleich einzelne kaiserliche Verord-

Seite 76nungen in der Zwischenzeit anscheinend11den Ansprüchen der Kirche grössere Nachgie-

der Rechtsverfolgung, Zurückweisung zum Zeugniss, Unfähigkeit zur Ausübung des Richteramtesauch im weltlichen Gerichte zur Folge. Cap. 5 X. 2, 25. — c. 7 X. 2, 1; c. 38 X. 2, 20. Nach derVerordnung Kaiser Friedrichs II. von 1220 c. 7 (Pertz Monum. IV. S. 236) sollte den ein Jahr langin der grösseren Excommunication Bleibenden auch die weltliche Acht treffen: „non revocanda, nisiprius exeommunicatio revocetur". — Ein französisches Urtheil aus dem XIV. Jahrhundert verord-net, dass Jeder, der den Excommunicirten sehen würde: „crachat contre lui"(Faustin Helie, Traité del’instruction criminelle I. N. 199)

9Daraus erklärt es sich, dass die Fälle, in denen von einem Delictum mixti fori zu reden ist, sich nichtbestimmt abgrenzen lassen, und dass auch zuweilen, wenn die kirchliche Strafe mehr den Charak-ter einer blossen Pönitenz trug und deshalb der weltlichen Strafgewalt nicht genügend erschien, dieletztere auf die bereits kirchlicherseits verhängte Strafe keine Rücksicht nahm (vgl. Richter-Dove §.222). Wo übrigens ausnahmsweise im Falle eines Delictum mixtum der Kirche die Strafe ungenü-gend schien, wendete die Kirche sich selbst an die weltliche Gewalt behufs schärferer Bestrafung tlesSchuldigen. Vgl. c. 8 X. de foro comp. 2, 2.

10Nov. 83 pr. §. 1 u. 2. Der vom weltlichen Criminalrichter verurtheilte Geistliche soll nur vor Vollstre-ckung der Strafe vom Bischof der geistlichen Würde entkleidet werden, das kirchliche Gericht abernur über crimina ecclesiastica erkennen. Auch hinsichtlich der Bischöfe verordnet Nov. 123 c. 8 nur,dass der weltliche Richter nicht ohne besonderen kaiserlichen Befehl einschreiten soll.

11Vgl. L. 12, L. 41, L. 47; C. Theodos. 16,2. Vielleicht sind diese Stellen mit Gothofredus u. Eck p. 5Anm. 4 nur auf geringfügigere Delicte zu beziehen, bei denen eine disciplinare Ahndung ausreichenderscheinen konnte. — Die L. 23 eod. läset (vgl. Löning I. S. 305) die kirchliche Gerichtsbarkeit sich

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bigkeit gezeigt haben, geblieben. Unter der fränkischen Monarchie erlangte die Kirchedagegen ein vollständiges Gerichtsstands- privileg für alle wirklichen Strafsachen.

Schon im VI. Jahrhundert sind die Häupter der Kirche von der weltlichen Gerichts-barkeit so gut wie eximirt 12; in Hochverrathsfällen, in denen sonst Todesstrafe erkanntwird, kommen gegen Bischöfe nur kirchliche Strafen (Amtsentsetzung, Excomnmnica-tion, Verbannung ins Kloster) zur Anwendung,13und auf den Concilien14erscheinen dieKönige als Ankläger gegen die Bischöfe. Clotar n. eximirte durch eine Ver- ordnung von614 (Pertz Legg. I. S. 14) c. 4. auch die gesammte niedere Geistlichkeit von der weltlichenStrafgewalt15: die Disciplinargewalt

Seite 77der Kirche vertritt letztere in Ansehung der Kleriker, und so heisst es denn auch imEdictum Pistense a. 864 c. 20 (Pertz S. 497) „Et de tali causa unde seculares homines

nur auf Disciplinarvergehen beziehen.12Vgl. Du Boys I. S. 404ff. und besonders Sohm in Dove’s Zeitschrift für Kirchenrecht IX. S. 248 ff.13Allerdings hat das königliche Willkür an anderen Gewaltmassregeln zuweilen nicht gehindert. — Löning

II. S. 516ff. führt aus, dass die Kirche ein wirkliches Gerichtsstandsprivileg nicht besessen habe, esvielmehr nur Gebrauch — und zwar ein nicht immer beobachteter — gewesen sei, die Bischöfe, eheman sie dem Urtheile des weltlichen Gerichts unterwarf, vor dem Concil anzuklagen und verurtheilenzu lassen. Thatsächlich wäre damit doch das Urtheil des Concils das massgebende geworden. Die Fälleaber, in denen die königliche Gewalt unmittelbar eingeschritten ist, sind wohl ziemlich ausnahmslosMajestätsfälle, und in diesen haben oft exceptionelle Massregeln Anwendung gefunden.

14Vgl. L. Bajuv. 1.10 „ .. episcopus si convictus crimine negare non possit, tunc secundum canones eijudicetur, si talia culpa sit, ut deponatur aut exilietur . . I. 12 . . De ceteris causis, diaconus velclericus ab episcopis secundum illorum canones judicentur".

15„Ut nullus judicum de quolibet ordine clericos de civilibus causis praeter criminalia, per se distringereaut damnare praeaumat, nisi eo convincitur manifestus, excepto presbytero et diacono. Qui vero con-victi fuerint de crimine capitali, juxta canones distringantur et cum pontificibus examinentur.ßohmerklärt diese Bestimmung wohl richtig dahin: alle Geistlichen werden nach dem Disciplinarstrafrechteder Kirche bestraft — secundum canones; denn das bürgerliche Recht der Kirche waren die Constitu-tionen der römischen Kaiser — von ihren Oberen (cum pontificibus = a pontificibus); nur bezüglichder niederen Geistlichkeit vom Diaeon abwärts hat der weltliche Richter noch das Recht des erstenAngriffs, der Districtio. (Löning, II. S. 527, erklärt die Stelle nur von der Disciplinarstrafe mit Vor-behalt der weltlichen Strafe.) — Die bekannte Constitution Kaiser Friedrichs II. (Auth. StatuimusCod. 1, 3 De episcopie et clericis) schärft also nur das längst geltende Recht von Neuem ein. —Uebrigens leugnete, allerdings im Wesentlichen ohne praktischen Erfolg, die römisch- canonistischeTheorie nicht selten, dass die Geistlichen subditi des weltlichen Landesherrn seien, und daher Maje-stätsverbrechen gegen die letzteren begehen könnten. Damit wäre die Geistlichkeit in der That Staatim Staate geworden. Vgl. später Jul. Clarus §. Laesae inajestatis crimen n. 7.

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E. C. Das Strafrecht der christlichen Kirche.

vitam perdunt, inde clerici ecclesiasticum gradum amittunt.1617

Zweitens aber beginnt bekanntlich alsbald unter den fränkischen Königen eine weit-gehende Verbindung — man kann auch sagen — Vermischung der weltlichen und derkirchlichen Gewalt. Wie die Kirche

Seite 78schon wegen ihrer Pflicht für das Seelenheil der Menschen zu sorgen, suppletorisch,18wennder Staat seine Pflicht nicht erfüllte, auch für eine gewisse Ordnung sorgen, z. B. dafürsorgen musste, dass ungerechter Gewinn herausgegeben, Entschädigung für widerrecht-liche Verletzung ge- leistet werde, so sahen die Könige andererseits ein, wie nützlich derBe- festigung ihrer Herrschaft eine Religion werden müsse, welche den Gehorsam gegendie Obrigkeit und insbesondere gegen den König als ihre Vorschrift predigte,19und wiegut die fertige, in sich geschlossene, bereits von historischen Traditionen getragene, durchBildung ausgezeichnete Organi- sation des Klerus im Dienste des Staates sich verwendenlasse. Die Grossen des Reichs, die im Besitze eigener bedeutender Machtmittel, der Ju-risdiction des Königs sich oft entziehen konnten, und andererseits auch Fehde und Strafemeist nicht zu fürchten brauchten, rnussten hier wenigstens principiell — denn factischHess die Kirche aus Rücksichten der Klugheit mit sich handeln — eine oft demüthigendeöffentliche Strafe anerkennen.20Die Könige sagen daher der kirchlichen Strafgewalt die

16Die milde Bestrafung der Kleriker (vgl. die sog. const. pacis Dei Heinr.1V. a. 1085 [Pertz Legg. II. 8.58]: „Unde laici decollentur, inde clerici degradentur; unde laici detruncantur, inde clericei ab officiosuspeudantur et consensu laicorum crebris ieiuniis et verberibus usque ad satis- factionem affligantur")und die Strafbestimmung gegen Anwendung der weltlichen Strafgerichtsbarkeit auf Geistliche (in derSententia Heinrici regis a. 1234 [Pertz Legg. II. 8. 302]), der Umstand, dass die Tonsur oft ohneWeiteres als Beweis des geistlichen Standes angenommen wurde (vgl. darüber und über den Anspruchder Kirche, dabei über ihre Competenz selbst zu entscheiden c. 12 in VI to de sent. excomm. 5, 11),auch häufig gerade des Gerichtsstandsprivilegs wegen ertheilt wurde — und die Bischöfe ertheiltensie zu letzterem Zweck, weil dadurch ihre Macht erhöht wurde, sehr gern — alles Jenes veranlasstezahlreiche Missbräuche, insbesondere den Missbrauch, dass Manche, um vor der weltlichen Strafesicher zu sein, sich einmal die Tonsur ertheilen Hessen, dann aber durchaus weltlich lebten. Dagegenmussten selbst die Päbste die weltliche Jurisdiction aufrecht erhalten. Vgl. c. 27 (Honorius III.) X. 5,33. Vgl. auch Schwabensp. (L.) 225. R. v. Freising. Landrechtsb. c. 168: „Pfaffenn dye nicht beschornnsein vnnd nicht pfafflich gewantt an yn tragenn, vnd fürentt sy messer oder swert oder annder waffennoder vindet man sy in dem frauenhaus oder in ainem leuthaus, dye sol man richten als ainem andernnlayenn . .Ëine etwas abweichende Bestimmung in E. v. Freising’s Stadtrechtsbuch c. 16. Ueber diespätere Consuetudo in Italien vgl. besonders Decianus, Pr. crim. IV. c. 9 n. 106: „Ut clericus possita laico detineri et puniri sex requiruntur. Primum quod non incedat in habitu et tonsura. Secnndumquod ingerat se enormibus. Tertium quod frequens fuerit in illis. Quartum quod in eis dreprehendatur.Quintum quod fuerit ter monitus. Sextum quod post monitionem fuerit incorrigibilis". (Hier geht dieToleranz gegen Missbräuche allerdings sehr weit!) Vgl. übrigens auch schon Gandinus de malef. Rubr.de poenis n. 34.

17In England hat das sog. Benefit of clergy, welches im Laufe der Zeit auch auf andere Personen (z. B.solche, die schreiben konnten) ausgedehnt wurde, allmählig zur Milderung mancher Strafen überhauptgeführt, bis es in neuerer Zeit als unangemessen und zugleich durch die mildere neuere Gesetzgebungüberflüssig gemacht, abgeschafft wurde. Vgl. Stephen (übersetzt von Mühry): Engl. Strafrecht, S. 4,532

18Ueber diese Aufgabe der Kirche und die daraus gezogenen Folgerungen, nöthigenfalls die weltlicheGerichtsbarkeit zu ersetzen, vgl. für die spätere Zeit besonders Tib. Decianus Pr. IV. c 10.

19vgl. Waitz III. S. 271.20Alle, auch die vornehmsten Personen, waren den geistlichen Sendgerichten unterworfen. Dove, S. 355.

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Unterstützung der weltlichen Gerichte21und Beamten in weitestemSeite 79

Umfange zu, behufs Erzwingung aller und jeder Pönitenzen;22ja sie benutzen die geist-liche Gewalt auch zur besseren und sichereren Bestrafung solcher Personen, die nachdem weltlichen Gesetze der Strafe unterliegen,23zur Beseitigung der Fehde und Blutra-che — während andererseits, die Bischöfe insofern auch wieder als Beamte des Königserscheinen, als der König ihren Urtheilen gegenüber, wenigstens so weit sie auf Laien sichbeziehen, eine höchste Revisionsgewalt in Anspruch nimmt und ausübt. 24Wenn so unterdem gleichzeitigen Zwange der staatlichen Beamten selbst vornehmen Personen schimpf-liche Bussen oder statt derselben oder mit denselben bedeutende Geldstrafen zu frommenZwecken auferlegt werden konnten, Unfreie aber oft ohne Weiteres an Haut und Haargestraft wurden,25so übte die Kirche ein Strafrecht ebensowohl weltlicher als kirchlicher

21Cap. Mant. a. 781 c. 6 (Pertz S. 41): „comite vel sculdaz adiutorium praeveat". Cap. Missorum a,853 c. 10 (Pertz S. 420): „Ut missi nostri omnibus reipublicae ministeriis denuntient, ut comites velreipublicae nrinistri . . quando episcopus eis notum fecerit et quos per excommunicationem episco-pus adducere non potuerit, ipsi regia auctoritate et potestate .ad poenitentiam vel rationem atquesatisfactionem adducant". — In dem Vertrage, den die Söhne Ludwigs des Frommen, Lothar, Ludwigund Karl, im J. 851 abschlossen (Conventus apud Marsnam II. c. 5 [Pertz Legg. I. S. 408]), wird denBischöfen zur Erzwingung der Pönitenzen internationale Rechtshülfe gewährt. So entstellt der be-kannte Satz des Mittelalters, dass geistliche und weltliche Gewalt sich gegenseitig unterstützen, dassder weltliche Richter den geistlichen Bann und umgekehrt der geistliche Richter, wenn die Excommu-nication nicht zum Ziele führt, die weltliche Acht zur Hülfe rufen kann, ja dass letztere schon ipso iurean eine längere Zeit dauernde Excommunication sich anknüpft Vgl. Friederici II. imp. confoederatiocum principibus ecclesiasticis a. 1220 (Pertz Leg. II. S. 23G): „Et quia gladius materialis constitutusest in subsidium gladii spiritualis, si excommunicatus in ea ultra sex septimanas perstitisse . . . nobisconstiterit, nostra proscriptio subsequatur, non revocanda nisi prius excommunicatio revocetur". DerSachsensp. III. 63 §. 2 spricht allerdings dem Banne der Kirche die unmittelbare Wirkung ab; vgl.Schwabenspiegel Vorw. In England bestand eine eigene Art des Haftbefehls, der Writ „de excommunicato capiendo": der Exconnnunicirte wurde in das Grafschaftsgefängniss gebracht, bis es ihmgelang, sich von der Excommunication zu lösen. Vgl. Folkard: The law of libel and slander, London1876, 4. edit., S. 77.

22Vgl. die Fragen bei Regino, de syn. causis libr. II. c. 2 (Anfang des X. Jahrhunderts).23Cap. Karol. M. Paderb. a. 785 de partibus Saxoniae c. 14 (Pertz Legg. I. S. 49, Merkel Lex Saxonum

S. 17): „Si vero pro his mortalibus criminibus latenter commissis aliquis sponte ad sacerdotem confu-gerit, et confessione data agere poenitentiam voluerit, testimonio sacerdotis de morte excusetur"(eshandelte sich um Hochverrath und verrätherische Tödtung). Cap. Aquisgran. a. 813 c. 1 (Pertz S.188): „Ut episcopi circumeant parochias sibi coramissas et ibi inquirendi studium habeant de incestu,de parricidiis, adulteriis, cenodoxiis et alia mala quae contraria sunt Deo . . . Et . . . emendandi cu-rani habeant". So wurden im Mittelalter nicht selten die schwersten Verbrechen nur mit kirchlichenBussen, Wallfahrten, Errichten eines Kreuzes geahndet. Vgl. über die städtische Strafjustiz im XIV.und XV. Jahrhundert in dieser Hinsicht v. Maurer: Geschichte der deutschen Städteverfassung III.S. 633.

24Karoli II. Ed. Pistense a. 869 c. 7 (Pertz S. 510) „Ut si episcopi suis laicis injuste fecerint, et ipsi laicise ad nos inde reclamaverint, nostrae regiae potestati secundum nostrum et suum ministerium ipsiarchiepiscopi et episcopi obediant, ut secundum sanctos canones et juxta leges quas ecclesia catholicaprobat et servat, et secundum capitula avi et patris nostri hoc emendare curent."Beschwerden derGeistlichen gegen ihre Oberen sollen beim Könige allerdings nicht angenommen werden. Vgl. Du BoysI. S. 418 ff.

25Von späteren Kanonisten wurde nach c. 10 Caus. 26 qu. 5 selbst gegen Laien ausnahmsweise kirchlicheFreiheits-(Gefängniss-)strafe für zulässig erachtet Eichhorn II. S. 80.

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E. C. Das Strafrecht der christlichen Kirche.

Art, und wird es leicht erklärlich, dass auch der Staat seinerseits die Gerichtsbarkeit derKirche über die sog. Delicta rnixta anerkannte, diese Delicte nicht mehr strafte, wenn

Seite 80die Kirche sie gestraft hatte.26Die Laien aber, wenigstens die der unteren und ärmerenKlassen, hatten oft genug Grund, der milderen Strafgerichtsbarkeit der Kirche sich gernzu unterwerfen.27

§. 30. Ein drittes Mittel, die Strafgerichtsbarkeit der Kirche indirect auszudehnen, botdas den Kirchen zustehende Asylrecht*28dar. Der verfolgte Verbrecher, dem es gelang,eine Kirche29zu erreichen, war

Seite 81einstweilen sicher.30Es stand "bei der geistlichen Gewalt, ihn herauszugeben, und siethat das nur nach vorgängiger Unterhandlung mit dem Verfolger und dem Verbrecher,der zufolge jener auf Tödtung und Verstümmlung Verzicht leisten, dieser, wenn ihn die

26Man liess also beiderseits im Allgemeinen die Prävention entscheiden. Vgl. c. 2 in VI to de exc.2,12. Katz, S. 40ff., will sog. delicta mixti fori nicht anerkennen. Dieses Zwischengebiet war ein fastnothwendiges Product der Verquickung von Staat und Kirche unter den Karolingern. Ausserdem istdas c. 8 X. de foro competente 2, 2 doch zu deutlich. Allerdings kann der geistliche Richter nurkirchliche Strafe verhängen; aber daraus folgt nicht, dass die kirchliche Strafe die weltliche nichtvertreten könne.

27In städtischen Statuten suchte man später wohl der allzuweit gehenden freiwilligen Unterwerfung derBürger unter die geistliche Gerichtsbarkeit entgegen zu treten. So heisst es z. B. im AugsburgerStadtrecht a. 1276 (ed. Meyer) Art. 22: „Ez sol ein burger antworten in dem capitel umbe vier dinchumbe niht anders . . ."Wer einen Andern ausser diesen Sachen vor das geistliche Gericht nöthigt, solldem Vogt Geldstrafe zahlen. Vgl. auch sächsisches Weichbild Art. 25.

28Ueber die Geschichte des (in Deutschland schon im vorigen Jahrhundert völlig, in den protestantischenLändern schon früher beseitigten) Asylrechtes vgl. Richter-Dove, Kirchenr. §. 212. Schon DecianusPr. crim. VI. 31 a. E. bemerkt: „Hoc vero cum lacrymis memorandum non silebo, quod apud Ger-manos Luther na haeresi infectos nullus habetur locus sacer . . . et ideo nullus in his (templis) tutusest, quum ecclesias, id est templa habeant loco platearum". Löning I. S. 317ff., II. S. 536ff. — DasAsylrecht bestand schon unter den christlichen römischen Kaisern; es war aber hier nur eine Hand-habe um Fürbitte einzulegen. Im fränkischen Reiche, wo die Strafverfolgung meist Privatsache war,erhielt das Asylrecht eine weit grössere Bedeutung. Die dem Asylrechte, welches ja auch im heid-nischen Alterthume und im Judenthume wichtig war, zu Grunde liegende Idee möchte ich, soweit dasAsylrecht wenigstens auch gegenüber der öffentlichen Strafverfolgung Platz greift, dahin bezeichnen,dass die sich selbst noch nicht vollkommen vertrauende öffentliche Strafgewalt — wird doch zuwei-len im Alterthume die Todesstrafe so vollstreckt, dass der Verurtheilte möglicher Weise noch durcheine besondere Fügung des Schicksals oder der Götter gerettet werden kann — eine Bestätigung derStrafen durch die Gottheit verlangte oder aber, da der Verurtheilte einmal mit dem Göttlichen inBerührung gekommen war, die Strafe ohne Weiteres milderte oder aufhob, wie im alten Rorn, wennder Verurtheilte auf dem Wege zum Richtplatz einer Virgo vestalis begegnete.

29Schwabensp. 329 (Lassberg) betrachtet Denjenigen schon als im Frieden der Kirche stehend, der denRing der Kirchthür erfasst hat und legt das Asylrecht auch den geweihten Kirchhöfen bei.

30Vgl. c. 1, 2, 3 Can. 23 qu. 5 und Lex Bajuv. I. 7 (ed. Merkel, T. 1): Si quis culpabilis . . confugium adecclesiam fecerit, nullus eum vim abstraliere ausus sit, postquam januam ecclesiae intraverit, donecinterpellat presbyterum ecclesiae vel episcopum. Si presbyter repraesentare ausus fuerit et si talisculpa est, ut dignus sit disciplina cum consilio sacerdotis hoc faciat, quare ad ecclesiam confugiumfecit. — Nulla sit culpa tarn gravis ut vita non concedatur propter timorem Dei et reverentiamsanctorum, quia Dominus dixit: Qui dimiserit, dimittetur ei; qui non dimiserit, nec ei dimittetur".— Vgl. über die spätere Handhabung des Asylrechtes die freilich sehr kanonistische Darstellung desTiberius Decianus, Practica cr. VI. c. 25 ff.

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kirchliche Gewalt schuldig erachtete, zur Genugthuung und zur Busse sich verpflich-ten musste3132: Ecclesia abhorret a sanguine. So handhabte die Kirche gewissermassendas Amt eines Schiedsrichters zwischen der Privatrache und der öffentlichen Strafgewalteiner- und dem Verbrecher andrerseits. Die Privatrache wurde dadurch nicht unwesent-lich beschränkt, die Öffentliche Strafgewalt zur Milde bestimmt, aber freilich nicht seltenauch abgeschwächt und zum Nachtheile der öffentlichen Sicherheit gehindert.33 Dane-ben kommt noch ein anderer unmittelbarer Einfluss der Kirche auf das Strafrecht inBetracht. Eine grosse Anzahl weltlicher Gerichte kamen im Mittelalter in den Besitz derKirche.34Sie liess nun freilich

Seite 82die (weltliche) Justiz durch weltliche Beamte und nach weltlichen Normen handhaben.Doch war es natürlich, dass weltliche Beamte im Dienste der Kirche leichter den Princi-pien der Kirche und ihres Strafrechts hier nachgaben, um so mehr, als die Kirche geradezu der Zeit, als das staatliche Strafrecht besonders unsicher und schwankend war, schonein umfassendes, durch gelehrte Bearbeitung machtvolles System des eigenen Rechts gel-tend machen konnte, als sie im ausschliesslichen Besitze höherer Bildung sich befand, alssie, principiell wenigstens, ohne An- sehen der Person richtete und von Anfang an dieSache der Armen und Hülflosen als ihre eigene Sache betrachtete, und als endlich, umes mit einem Worte zu sagen, ihre Jurisdiction gegenüber der nicht selten im niedrigenfiscalischen Interesse gehandhabten, häufig gegen Arme und Niedere gemissbrauchtenweltlichen Jurisdiction, oft äusserst populär sein musste.§. 31. Nach alle Dem aber ist auch leicht erklärlich, dass der Umfang der kirchli-

chen Jurisdiction zu verschiedenen Zeiten ein sehr verschiedener war. Es entscheidet jadas Interesse der Kirche an der Bestrafung des Delictes, und da alle wirklichen Verbre-chen auch die Moral verletzen, oder das Seelenheil des Verbrechers gefährden, so wares nicht schwer, bei einer grossen Anzahl von Delicten, auch wenn sie der Staat strafte,

31Gerade das Asylrecht der Kirche trug sehr viel dazu bei, die Compositio an Stelle der Privatrache zusetzen. Die Könige hatten daher von diesem Gesichtspunkte aus Grund genug, dasselbe zu sanctio-niren, in ihren Schutz zu nehmen. Pardessus, Loi Salique S. 656.

32Die Verletzung des Asylrechts hatte den Kirchenbann zur Folge. Doch fehlt es nicht an häufigenVerletzungen des Asylrechts in jener gewaltthätigen Zeit, und auch des Eides, den der Verfolgerschwören musste, sich an der von der Kirche bestimmten Busse genügen zu lassen.

33Dem Missbrauche des Asylrechts bei schweren Verbrechen musste man indess schon bald entgegentre-ten. Vgl. Cap. a. 779 (Francicum) c. 8 (Pertz Legg. I. S. 36). Dem Verbrecher sollen („homicidas autceteros qui legibus mori debentßagt die Stelle) Lebensmittel nicht gereicht, er also durch Hunger ge-zwungen werden, die Stätte des Asyls zu verlassen. Vgl. auch Lex Sax. XXVIII. (ed. Merkel) „Capitisdamnatus nusquam habeat pacem. Si in ecclesiam confugerit, reddatur". Ueber solche Ausnahmen(Mörder und nicht ehrbare Missethäter) auch an anderen Freistätten in späterer Zeit vgl. v. Maurer:Geschichte der Fronhöfe, IV. S. 250.

34Grundsätze und Gewohnheiten z. B., welche die Kirche entschieden verwarf, konnten in solchen Gerich-ten nicht leicht aufrecht erhalten wer- den. Vgl. über einen derartigen Fall c. 2 X. de delictis puerorum5, 23. Ein Abt fordert als Gerichtsherr von einem nicht für zurechnungsfähig zu erachtenden Knabenein Strafgeld „secundum consuctudinem illius terrae". Der Pabst verbietet die Einforderung „pro tem-porali poena". — Aug Aretinus De malef. Rubr. Compruerunt dicti inquisiti n. 14 macht aufmerksamauf die verschiedene Behandlung des Zeugnisses der Frauen in terris ecelesiae subjectis und in terrisimperii. In terris imperii hatte allerdings de jure das jus canonicum nicht den Vorzug vor dem juscivile. Vgl. Bajardi Addit. in Jul. Clarum §. Raptus n. 38.

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E. C. Das Strafrecht der christlichen Kirche.

zugleich die kirchliche Beziehung zu entdecken, die kirchliche Strafgewalt zu begründen.So werden als Delicta mixta oder mixti fori die Sittlichkeitsverbrechen im engeren Sin-ne, insbesondere der Ehebruch, das Sacrilegium, die Zauberei, der Zinswucher, insofernChristen sich desselben schuldig machen, die Gotteslästerung, die Verfälschung päbstli-cher Urkunden, der Meineid, der Contractsbruch bezeichnet, 35und leicht erklärlich istauch, dass es eben hierüber oft zu Streitigkeiten 36

Seite 83mit der weltlichen Gewalt, zu Streitigkeiten unter den gelehrten Juristen und zu subtilenUnterscheidungen kommen musste.37

Die Grundidee der kirchlichen Strafe ist die Zurückführung des Schuldigen zur Kircheund zum Gehorsam gegen Gott. Die kirchlichen Strafen sind daher hauptsächlich Poenaemedicinales, auf Heilung des Schuldigen von seinem Fehler berechnet, und dazu dient ins-besondere38 die Excommunication in ihren beiden Abstufungen (Excommunicatio majorund minor), das Interdict39und bei Geistlichen auch die Suspension. Allein auch ande-re Wirkungen der Strafe sind von der Kirche nicht ausgeschlossen, und die kirchlicheDoctrin spricht daher auch von Poenae vindicativae, welche die Kirche verhängt.Dieser ganze Unterschied ist aber für die Einwirkung des kirchlichen Strafrechts wenig

bedeutend; denn einerseits hat die Kirche selbst diejenigen Strafen, welche sie als medi-cinales bezeichnete, auch als Poenae vindicativae eintreten lassen40 und andererseits kamdie Wirkung mancher Poenae medicinales der Wirkung der weltlichen Strafe völlig gleich,insofern in älterer Zeit öffentlich beschämende Pönitenzen, später empfindliche Geld-oder Gefängnissstrafen auferlegt wurden, und die Strafe des lebenslänglichen Gefängnis-ses, obschon theoretisch gerechtfertigt durch das, wie die Kirche sagt, lebenslängliche,der Grösse des Fehltrittes entsprechende Bedürfniss der Busse, doch thatsächlich auchden Charakter fast der Vernichtung des Schuldigen trägt. Und diese Unklarheit ist nichtdie einzige, an welcher das kirchliche Strafrecht leidet, sofern es sich nicht beschränktauf Disciplinarvergehen der Geistlichkeit und freiwillige Busse und eventuelle Aussch-35„Ratione pacti et voti fracti, item ratione juramenti vel fidei dationisßagten würzburgische Synodal-

statuten (1407 und 1446), sei die Kirche competent. Vgl. die interessanten Nachweisungen bei Sickel:Die Bestrafung des Vertragsbruches tu analoger Rechtsverletzungen in Deutschland, Halle 187G, S.46 ff., besonders S. 49—51.

36In einigen Territorien (geistlicher Fürsten) hat die Kirche auch Klagen und Anklagen von Geistlichengegen Laien vor ihr Forum gezogen. Privileg Carl IV. für Würzburg, Monum. Boica XLI. S. 307, 308.Es heisst daselbst, super publicis ac privatis injuriis sollen Geistliche und geistliche Richter Laien„coram judice ecclesiastico"verklagen dürfen „quemadmodu etiam in plerisque partibus Germaniaeac praecipue in provincia Moguntina",

37Vgl. Tib. Decianus, Tract. crim. IV. 27, 6.38Cap. 20 X. de V. S. 5, 40 (Innocenz III.).39Das Interdict ist nichts Anderes als eine modificirte Anwendung der Excommunication auf ganze Orte

und Gegenden.40Eck, a. a. 0. S. 31. — Begrifflich sind beide Strafen freilich streng zu scheiden. Die Poena med. sieht

allein auf den Willen; dieser steht einerseits der äusseren That gleich — in maleficiis voluntas proopere reputatur, sagt die Ueberschrift zum C. 25 D. I. de poenitentia und in C. 29 das. heisst es: „Sipropterea non facis furtum quia times, ne videaris, intus fecisti... furti teneris, et (si) nihil tulisti —und andererseits vermag die Reue hier einen Theil der Strafbarkeit wenigstens zu tilgen. Die Poenaevindicativae haben den Zweck den Schuldigen, gleichsam als faul gewordenes Glied vom Körper derKirche zu trennen, c. 18 C. XXIV. qu. 3, oder Andere abzuschrecken, c. 1 X. 5, 26.

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liessung von der Gemeinschaft. Es musste nothwendig hin- und herschwanken zwischender Bestrafung äusserer Handlungen und der Bestrafung der blossen Immoralität oderauch nur der den Anschauungen der Kirche nicht entsprechenden Gesinnung, zwischender

Seite 84Berücksichtigung der inneren Busse und dem Befriedigtsein mit den äusseren Zeichenderselben. Dieser Gefahr ist das Strafrecht der Kirche zum Theil schon in den alten Buss-ordnungen, welche analog den alten Volksrechten für die einzelnen Sünden und Vergehengenau fixirte Busstarife enthalten, und mehr noch in dem späteren Ablasswesen erlegen,welches geradezu die Vergebung der Sünden durch Geldzahlung erkaufen liess.So bietet die Geschichte des kirchlichen Strafrechts den Beleg dafür, dass eine ste-

tige Fortbildung des Strafrechts nur von dem objectiven Standpunkte ausgehen kann;es ist möglich, von diesem aus allmählig gerechter Würdigung der inneren Schuld sichimmermehr zu nähern. Will man aber die innere Schuld unmittelbar mit menschlichenZwangsmitteln erforschen, so muss man nothgedrungen, weil kein Mittel hier sicher zumZiele, eine rein moralische Betrachtung aber ins Unendliche führt, schliesslich zu ganzäusserlichen Zeichen seine Zuflucht nehmen — abgesehen auch davon, dass Willkür undmenschliche Leidenschaft, Herrschsucht und Habgier bei einem solchen zu ideal gefasstenStrafrechte sehr leicht ihre Rechnung finden.§. 32. Auf dem Messen der Schuld nach jenem idealen, abstracten Massstabe beruht

auch die Idee des Verbrechens der Ketzerei.Immer wird es ein ungelöstes Problem bleiben, zu bestimmen, der Irrthum auf der

eigenen Schuld des Irrenden beruhe. Die Kirche glaubt, auch dies Problem lösen zu kön-nen, indem sie den ihrer Ansicht nach Irrenden, von ihrem Glauben Abfallenden, wenner sich nicht belehren lässt, für schuldig erklärt,41und dazu ist die Kirche bereits sehrfrühe gekommen. Sie verlangt und erlangt vom Staate, schon zur römischen Zeit,42dassdieser die Schuldigen auf das strengste und grausamste bestrafe,43und wenn sie einmal41Tib. Decianus PR. V. 8 n. 2: „Vere dicitur haereticus qui errat circa fidem Christianam per intellectum

et pertinaciter haeret errori per voluntatem".42L. 1 C. J. 1, 5 de haereticis: „ . . . Haereticos non sulum his privilegiis alienos esse volumus, sed adversis

muneribus constringi et subjici"(Constantin 326). L. 4 §. 1 C. eod. (Theodosius, 407): „Ac primumquidem volumus esse publicum crimen quia quod in religionem divinam committitur, in omniumfertur injuriam". Die in der letzteren Constitution bereits bezüglich einiger Ketzersecten angeordneteVermögensconfiscation machte die Bestrafung des Verbrechens durch die weltliche Gewalt besondersgefährlich. — Vgl. die späteren Ketzerconstitutionen der deutschen Kaiser Const. Friederici II. a.1220 § 6 (Statuimus), Pertz Legg. II. S. 244. Henrici reg. const. a. 1232, das. S. 287.

43Der Ketzer wurde zwar nicht formell durch die geistliche Gewalt zum Tode verurtheilt. Allein der Toddes von den „phaffen"für schuldig Erklärten verstand sich von selbst (vgl. c. 18 in VI. de haeret. 5-, 2).Ein Nachprüfung des geistlichen Spruches durch den weltlichen Richter wurde zwar theoretisch vonden Legisten behauptet (vgl. z. B. Bartolus in Leg. Div. Hadrianus [7] n. 3, D. de custodia reorum 48,3) aber praktisch nicht gehandhabt oder ausdrücklich in Statuten zurückgewiesen (vgl. AugsburgerStadtr. v. 1276 [cd. Meyer S. 106] Art. 32, Schwabensp. [Lassberg] 313, Bambergensis 130: „Itemwer durch den ordentlichen geystlichen richter für einen Ketzer erkant und dafur dem weltlichenRichter geantwort wurde, der soll mit dem fewer vom leben zum todt gestrafft weiden"). Vgl. auchOsenbrüggen: Alamannisches Straft. S. 375. Auch Clarus §. fin. qu. 96 n. 7 bestreitet dem weltlichenRichter das Recht der Nachprüfung; wenn-gleich die Richter sich in einigen Fällen das Recht beigelegthätten, so habe doch neuerdings Philipp II. dem Senat von Mailand unbedingte Execution zur Pflicht

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E. C. Das Strafrecht der christlichen Kirche.

in ihrem Interesse denSeite 85

Staat zu solchem Vorgehen bestimmte, so konnte sie, obwohl sie anfangs den Abscheuvor Lebens- und Mutigen Strafen proclamirte und factisch auch, wie bemerkt, mittelstdes Asylrechtes in diesem Sinne wirkte, später doch, sobald das Interesse der Kirchees zu fordern schien, auch in anderen Fällen mit grausamen Strafen einverstanden sicherklären, und dadurch hat sie diese entschieden gefestigt. Es entstand so der Glaube,dass alle diese Strafen, weil von der Kirche nicht verworfen oder gar von ihr gebilligt,im Dienste der göttlichen Gerechtigkeit verhängt würden, und hier war es besonders vonBedeutung, dass man infolge des Einflusses der Kirche auch das mosaische, die Talionso häufig aus- sprechende Strafrecht als unmittelbares göttliches Gebot zu betrachtenanfing, welches zwar nicht für die Kirche selbst, wohl aber für die weltliche Obrigkeit zugelten habe. So verlor die weltliche Strafjustiz auch ihrerseits den letzten Zweifel an ihrereigenen Unfehlbarkeit. So erklärt sich die fanatische Zähigkeit, mit der selbst nach demEintritte der Reformation die Straf justiz in Blut und Grausamkeit zu fast allgemeiner

Seite 86Befriedigung schwelgen tonnte und bis tief in das vorige Jahrhundert, in Mitten vorge-schrittener Bildung und Verfeinerung gleichsam eine Zwingburg der Grausamkeit undBarbarei, übrig blieb. Ebenso aber erklärt sich aus dem Einflusse der Kirche die oftübermässig moralisirende Tendenz der späteren Praxis und Gesetzgebung, die Ueber-schreitung der Grenzen, welche der Staat inne halten muss, in der späteren Polizeige-setzgebung: man war einmal daran gewöhnt worden, dass eine äussere Macht — denn daswar die Kirche auch — sich in das moralische Leben der Einzelnen beaufsichtigend, be-vormundend, strafend einmischte, und was früher die Kirche gethan hatte, wurde späterin gewissem Umfange Sache der städtischen oder staatlichen Polizei.44So hat die Kircheder späteren Omnipotenz des Staates entschieden vorgearbeitet.Langer Zeit und schwerer Arbeit hat es bedurft, bis das Strafrecht diese nachtheiligen

Einwirkungen der Kirche zu überwinden vermochte. Aber die Schwäche des mittelalter-lichen Staates — die wiederum im Anfange bedingt war durch die rohe Naturkraft dergermanischen Stämme, durch ihren fast masslosen Freiheitsdrang und Freiheitsbegriff,welcher letztere dem Einzelnen die Freiheit gab, seine Freiheit in Unfreiheit zu verwan-deln, dem Könige aber die Freiheit, die Staatsgewalt zu zerstückeln und stückweise zu

gemacht. — Directer Zwang in der Kirche zu bleiben: der zum Christenthum bekehrte Jude darf nichtwieder Jude werden, er erleidet sogar den Feuertod. Schwabensp. (ed. Lassb.) 262. — Wie sehr dieKirche der wirklichen oder auch nur vermutheten Ketzerei gegenüber alles Gefühl der Gerechtigkeitverlor, zeigt z. B. die Blumenlese exorbitanter Verfolgungssätze — denn von Rechtssätzen kannhier wohl nicht mehr die Rede sein — bei Tib. Decianus V. c. 20 (Haeresis specialia): der Ketzerverliert z. B. ipso jure das Eigenthum aller seiner Güter, die Nachkommen sollen bis zum 2. Graderechtlos, infam sein; die Söhne ipso jure ihre feuda verlieren, die blosse cogitatio soll bestraft werden.Dazu kommen dann noch processuale Abnormitäten. — Auch abgesehen von dem Falle der KetzereiHessen die Päbste sich zuweilen zu offenbar ungerechten Bestimmungen hinreissen. Man vgl. z. B. dasc. 5 in VI to de poenis 5, 9, welches gerichtet ist gegen Diejenigen, welche einen Cardinal verletzenund, analog den Gesetzen der römischen Despoten, auch die Söhne und Enkel der Schuldigen mitNachtheilen belegt. — Die verhängnissvolle Analogie der Ketzerei mit dem Crimen majestatis findetsich schon in der L. 4 §. 4 C. 1, 5 (v. Theodosius).

44o wurden ja später manche Kirchenbussen zu Polizeistrafen, z. B. die Unzuchtsbrüche.

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verschenken, die mit anderen Worten bestand in dem Zurücktreten der allgemeinen öf-fentlichen Ordnung gegenüber dem subjectiven Rechte45— machte jene Einwirkungenlange Zeit geradezu unausweichlich. Darin aber, dass die Kirche die Idee einer abso-lut über allen einzelnen Rechten erhabenen objectiven Ordnung repräsentirte und nach-drücklich einschärfte, eine Idee, die nach einer Seite hin wiederum die Gleichheit vor demGesetze, der allgemeinen Ordnung in sich schliesst, liegt ihr bleibendes Verdienst für diegermanischen Völker. Dem gegenüber erscheinen die bessere Würdigung der subjectivenSeite der Verbrechens, der inviduellen Schuld, die Idee der Besserung im Strafrechte, nachwelcher die Strafe eine Wohlthat für den Bestraften sein soll,46 welche wir der Kirchewesentlich verdanken, doch nur als secundäre, wenn auch sehr wichtige Momente.

45In dem zuweilen, z. B. zur Zeit Karls des Grossen, so mächtig dastehenden germanischen Königthumewaltet doch immer das persönliche (subjective) Moment sehr stark vor (vgl. Waitz: Verfassungege-schichte, IV. S. 427.

46c. 63, 84 D. 1 de poenitentia

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E. C. Das Strafrecht der christlichen Kirche.

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F. D.Das Strafrecht des späten MittelaltersSeite 87

Henke: Grundriss, Bd. 1, S. 109ff. — Jarcke: Handbuch, I., S. 21 ff. — Grimm: DeutscheRechtsalterthümer. — Donandt; Geschichte des Bremer Stadtrechts, 2 Thle., 1830. —Warnkönig: Flandrische Staats- und Rechtsgeschichte. — Rosshirt: Geschichte und Sys-tem des deutschen Strafrechts, 3 Bde., 1838—1839. — Warnkönig und L. Stein: Fran-zösische Staats- und Rechtsseschichte, Bd. 3, S. 168 ff., 272 ff., 489 ff. — v. Wächter:Abhandlungen. — Walter: Deutsche Rechtsgeschichte, II., §§. 701 ff, — Waitz: Deut-sche Verfassungsgeschichte, Bd. III.—VI. — Hälschner: Geschichte des Brandenburgisch-Preussischen Strafrechts, 1855. — Köstlin: Geschichte, S. 114—207. — Kluckhohn: Ge-schichte des Gottesfriedens, 1857. — John: Das Strafrecht in Norddeutschland zur Zeitder Rechtsbücher, L, 1858. — Du Boys: Histoire du droit criminel des peuples modernes.— Osenbrüggen: Das Alamannische Strafrecht. — Osenbrüggen: Das Langobard. Straf-recht. — Geib: Lehrbuch, I., S. 198—240. — Stobbe: Geschichte der deutschen Rechts-quellen, 2 Abtheil., 1860,1864. — Osenbrüggen: Studien zur deutschen und schweizeri-schen Rechtsgeschichte, 1868. — G. L. v. Maurer: Ge- schichte der Fronhöfe in Deutsch-land, 4 Bde., 1862, 1863. — v. Maurer: Geschichte der Städteverfassung in Deutschland,4 Bde., 1869—1871. — v. Holtzendorff in s. Handb. I. S. 57—65. — Frensdorff, Ein-leitung zu O. Francke: Verfestungsbuch der Stadt Stralsund, 1875. — R. Löning: DerVertragsbruch. — Allfeld: Die Entwicklung des Begriffs von Mord bis zur Carolina, 1877.— v. Wächter: Beilagen, S. 84—100. — Frauenstädt: Blutrache und Todtschlagsühneim deutschen Mittelalter, 1881.§. 33. Auch in der unruhvollen und stürmischen Periode, welche mit der Regierung der

letzten Karolinger eingeleitet und nicht selten mit dem Namen des Faustrechtes bezeich-net wird, sind in Deutschland die früher gelegten und von den ersten Karolingern mitKraft und Geschick geschirmten Grundlagen eines öffentlichen Strafrechts nicht verlorengegangen. Aber sie treten gleichsam in den Schatten.

Seite 88Und hierbei kommt zwar auch in Betracht die Herabdrückung eines grossen Theils desVolkes in den Stand der Hörigen und Dienstleute, jedoch nicht in der Art und in demMaasse, welche man nicht selten als Aenderung der Standesverhältnisse sich denkt.1Mandarf sich wenigstens nicht vorstellen, dass das Strafrecht in den unter einem Grundherrnstehenden Verbänden der Hörigen und Halbfreien principiell ein anderes geworden wäre,als es in den Volksrechten und den königlichen Gesetzen, die ja auch mit den Verbre-chen der Unfreien sieh befassen, hervortritt; und nichts ist falscher als die Meinung,das Strafrecht sei in Deutschland oder in Frankreich oder überhaupt bei den Germa-nen, abgesehen yon den ältesten Zeiten, in denen ein Theil der Unfreien rechtlich noch

1Eine solche Ueberschätzung der rechtlichen Wirkungen der Standesverhältnisse findet sich z. B. beiKöstlin, S. 156ff.

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F. D.Das Strafrecht des späten Mittelalters

als Sache behandelt wird, principiell ein nach Ständen verschiedenes gewesen.2Vielmehrherrschen, wie dieselben Formen des Verfahrens, so auch materiell dieselben Strafrechts-sätze, und nur factisch ist der Unterschied, dass der Unfreie, weil er nichts besitzt oderdoch die Busse nicht zahlen kann, ohne Weiteres der Strafe an Leib und Leben verfällt,welcher der vermögende Freie entgeht, und selbst da, wo wir in den Weisthümern derDorfgenossenschaften später autonomen Strafnonnen begegnen, ist der Unterschied derfreien und der unfreien Genossenschaft nicht von erheblicher Bedeutung.3Nur factischhat oft bei der grossen Abhängigkeit, in welcher die Hörigen sich befanden, "Willkürdos Herrn oder seiner Beamten den Schöffen, die ebenso wie bei den Landgerichten desGrafen die entscheidenden Personen waren, das Urtheil dictirt, und nur factisch hat manoft einen Machtspruch, eine Gewalthandlung des Herrn gelten lassen. Nur ein factischerUnterschied ist es endlich, genau betrachtet, auch, dass Fürsten und Herren meist nurwegen Landfriedensbruchs eine Geldstrafe zu zahlen haben, wenn andere Personen eineCriminalstrafe trifft; denn einem Herrn, der sich im

Seite 89Besitze der obrigkeitlichen Rechte befand und das Oberhaupt eines kleineren Staates indem grösseren des Reiches war, konnte es factisch nicht schwer fallen, ein Verbrechen, daser begehen wollte, in den Formen der Fehde oder selbst der Anwendung obrigkeitlicherGewalt zu begehen. Es ist daher unrichtig, wenn z. B. Köstlin auszuführen unternimmt,es sei rechtlich das Strafrecht gegen die vornehmen Stände seines Charakters entkleidetund in ein blosses Lehnsstrafrecht verwandelt worden: Verurtheilungen selbst zum Todevon Personen fürstlichen oder gräflichen Standes begegnen uns doch oft genug in derdeutschen Geschichte, wenngleich solche Urtheile in der nachkarolingischen Zeit kaumnoch vollstreckt werden. Geschadet hat freilich unzweifelhaft diese Zersplitterung derNation in eine Unzahl kleiner Herrschaftskreise. Aber in gewissem Sinne war sie dochauch wieder der Idee der öffentlichen Strafe förderlich: die Verletzung und Tödtung ei-ner demselben Herrenverbande angehörigen Person konnte auch aufgefasst werden alsVerletzung, Schädigung des Herrn, also als Verletzung einer höheren Gewalt, und zumTheil daraus auch erklären sich die in dieser Periode so oft vorkommenden Vermögens-confiscationen zum Vortheile des Herrn, die wir auch in Stadtprivilegien noch finden.Das wesentlichste Hinderniss für die Fortbildung, wie auch für die Handhabung des

Strafrechts bildete die Schwierigkeit, das Verbrechen zu unterscheiden von erlaubterAbwehr und Selbsthülfe. Es war uraltes Recht, dass, wenn die Gerichte nicht helfenkonnten oder nicht helfen wollten, der Freie sich selbst mit Gewalt Recht verschaffendurfte,4 und dies Recht ward nunmehr das Recht aller Derer, welche dem Ritterstande

2Vgl. auch Du Boys, II. S. 230. So richtet sich z. B. die Constitutio Friederici I. contra incendiari-os ausdrücklich gegen Personen aller Stände (Pertz Legg. II. S. 183). In Frankreich waren späterdie Geldbussen, die der Edelmann zahlen musste, sogar bedeutend höher, als diejenigen, welche ingleichen Fällen ein Roturier zahlen musste: Noblesse oblige.

3Eine gewisse factische Nachwirkung der alten Idee, dass der vollkommen Freie nur bei Verbrechen, diesich unmittelbar gegen das Gemeinwesen richten, Leib und Leben verlieren könne, soll freilich nichtgeleugnet werden. In den Rechten derjenigen Städte, deren Burgenses sich in der Dienstbarkeit einesGrundherrn befinden, kommen Leibes- und Lebensstrafen in ausgedehnterem Umfange vor, als da,wo die Bewohner in erheblichem Maasse aus eingewanderten Freien bestehen.

4Hier stimme ich den Ausführungen v. Wächter’s (Abhandlungen S. 251) bei. Wer die Fehde erhebt,

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angehörten. In den Zeiten der Schwäche der obrigkeitlichen Gewalt konnte nur schwerfestgestellt werden, dass es an jener Voraussetzung fehle, und so war es denn leicht, unterdem Vorwande der Selbsthülfe oder der Vertheidigung dagegen — denn Vertheidigunggegen Selbsthülfe konnte nicht wohl der Strafe unterworfen sein5— gewaltsame

Seite 90Verbrechen zu begehen, und umsomehr, als es bei den Deutschen eine vielfach befolgteSitte war, die Gerichte zu umgehen und Demjenigen, gegen den man einen Anspruchzu haben glaubte, einfach die Fehde anzukündigen, in deren Ausführung dann Raub,Wegelagerung, Gefangennahme, Tödtung und Brand erlaubt erschienen.§. 34. Die Landfrieden,67welche von den Königen und Kaisern für das Reich, von den

Fürsten für die Provinzen unter Zustimmung der Reichsunmittelbaren, beziehungsweiseder vornehmsten Personen der Provinz sanctionirt wurden, hatten daher zunächst denZweck, das Verbrechen gegenüber der erlaubten Fehde unzweifelhaft erkennbar zu ma-chen.8Die Fehde wurde an gewisse Formen gebunden (vorherige feierliche Absage9und andie Voraussetzung, dass man zuvor die Klage bei dem Richter vergeblich durchgeführthabe. Daneben

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setzt Alles auf die Spitze des Schwertes, und wenn es soweit gekommen ist, hat auch der andereTheil das Recht, zum Schwerte zu greifen. Sich mit gebundenen Händen der Rache -wehrlos preis-zugeben, das legt wohl keine Quelle dem Befehdeten als Pflicht auf. Eine derartige Verpflichtungwäre auch praktisch undurchführbar. Jedes Zuvielfordern des Ansprechenden einer- und bona fidesdes Angesprochenen andererseits musste doch die Annahme eines strafbaren Unrechts auf Seiten desAngesprochenen ausschliessen, und nun entscheide man über die mala fides des letzteren!

5Vgl. Warnmkönig: Flandrische Staats- und Rechtsgeschichte III. 1, S. 160 ff.6Ueber andere Strafgesetze des XI. und XII. Jahrhunderts vgl. Stobbe, Geschichte d. D. RechtsquellenI. S. 475. Heinrich II. erliess 1019 ein Gesetz über Parricidium und Mord, Heinrich III. 1054 für dieLombardei ein Gesetz über Giftmord, Friedrich II. und seine Nachfolger zahlreiche Gesetze gegen dieKetzerei, Heinrich VII. in Italien ein Gesetz über Majestätsverbrechen.

7Die Landfrieden enthalten übrigens nicht nur Bestimmungen über den Friedensbruch, sondern crimi-nelle Satzungen jeder Art, sowie processuale Anordnungen über den Beweis, besonders über Eid,Zweikampf und polizeiliche Vorschriften. Sie beziehen sich auf das ganze Reich oder einen grossenTheil davon und gelten für alle Einwohner und alle Stände, insofern nicht ausdrücklich Höhe und Artder Strafe nach dem Stande des Schuldigen besonders bestimmt wird (vgl. Stobbe, I. S. 475). DieLandfrieden des Reiches dienen dann den Provinciallandfrieden und in gewissem Umfange auch denstädtischen Statuten wieder zum Muster, und es stand den Fürsten frei, den Landfrieden zu vervoll-ständigen (vgl. Landfrieden v. 1287 §. 44, Pertz Mon. Legg. II. S. 452). — Ueber die Bedeutung derLandfrieden vgl. namentlich Waitz VI. S. 419 ff., über die einzelnen Landfrieden v. Schulte: Lehrb. derD. Reichs- u. Rechtsgeschichte, 3. Aufl., §. 73. Vgl. auch Gierke: Das deutsche Genossenschaftsrecht,I. (1868) S. 501 ff.

8Von den Landfrieden ist zu unterscheiden der durch die Bemühungen der Geistlichkeit (zunächst inFrankreich, dann auch in Deutschland) eingeführte Gottesfrieden (Treuga Dei), nach welchem anbestimmten Tagen der Woche und zu bestimmten Zeiten des Jahres die Fehde ruhen sollte, auchbestimmte Personenklassen für immer Frieden haben (d. h. nicht mit Fehdehandlungen vergewaltigtwerden) sollten. Vgl. die sog. Constitutio pacis Henrici IV. Imp. a. 1085. Pertz Mon. Legg. II. S. 55 ff.,Sachsensp. II. 66. Die Verletzung des Gottesfriedens hatte nur kirchliche Strafe (Excommunication)zur Folge.

9Const. Friedend I. de incendiariis a. 1187 (Pertz Legg. II. S. 185): „Statuimus etiam ... ut quicumquealii dampnum facere aut ipsum ledere intendat, tribus at minus ante diebus per certum nuntiumsuum diffiduciet eum . ."Vgl. Const. Henrici regis a 1234 (Pertz Legg. II. S. 314).

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F. D.Das Strafrecht des späten Mittelalters

wurden auch gewisse Personen und Orte10allgemein als befriedet bezeichnet, so die Geist-lichen, die Wanderer und Kaufleute, die Landleute auf dem Felde, die Kirchen, die Land-strassen, die Dörfer innerhalb des Dorfgrabens.11Man sieht, es war eigentlich nur eineneue Feststellung und Erweiterung des alten Rechtes, und der Umstand, dass diese Land-frieden nur auf bestimmte Zeit beschlossen und beschworen werden, findet darin seineErklärung, dass man für die bestimmte Zeit gleichsam eine Präsumtion eines geordnetenRechtszustandes aufstellte, so dass Wer sich auf vorgeblich rechtmässige Fehde berief,den förmlichen Beweis der Voraussetzungen der letzteren zu führen hatte, die Gewaltthatohne diesen Beweis als Verbrechen zu gelten hatte. Da nun das Verbrechen zugleich alsVerletzung des Landfriedens erscheint, so entsteht jetzt allerdings die Auffassung (vgl.oben S. 56 ff.), als sei das Verbrechen wesentlich Friedensbruch., als komme dabei in ers-ter Linie nicht die Verletzung eines subjectiven Rechtes, sondern die Auflehnung gegendie allgemeine Rechtsordnung in Betracht. So entsteht aber auch der besondere Begriffdes Landfriedensbruchs, als der nicht rechtsförmlichen, unerlaubten Ausübung der Feh-de, die allerdings nicht nothwendig ein anderes Verbrechen zu enthalten brauchte, wiewenn Jemand mit einer bewaffneten Schaar ein fremdes Gebiet nur erst betrat, festePunkte besetzte.12So entsteht ferner der später wieder verschwundene, in der Bamber-gensis und in der Carolina nicht erwähnte Begriff des Bruchs des Handfriedens oder desgelobten Friedens, welcher zwar nicht ein besonderes Delict bildet, aber ein begangenesqualificiren kann oder den Bruch des Landfriedens offenbar macht. Wenn nämlich unterzwei streitenden Parteien ein besonderer Frieden gelobt war — und sehr häufig geschahdas unter Vermittlung oder auch zwangsweiser

Seite 92Einwirkung der Obrigkeit — so erschien das gegen diese besondere Friedensverpflichtungbegangene Delict als besonders strafbar, als Bruch des gelobten Friedens. Man darf aberendlich auch behaupten, dass die Landfrieden auch insofern die Idee einer öffentlichenStrafe förderten, als sie beschworen wurden, und daher die gegen den Landfrieden be-gangenen Handlungen als Verletzungen des Eides und der Treue erschienen. So wird dieTödtung unter Verletzung eines besonders gelobten Friedens in der Const. Henrici II. a.1019 c. 3 (Pertz Mon. Legg. II. S. 38) geradezu als Eidbruch mit dem Verluste der Handbestraft.13

10Sachs. Landr. II. 66 §. 1.11Uebrigens wird auch wohl ein Unterschied gemacht zwischen der Fehde gegen die Person und gegen

Res (vgl. Henrici I. treuga vermuthlich vom J. 1224, Pertz Legg. II. S. 266 ff.). Man soll (principaliter)die Gewalt gegen die Person und nicht gegen Sachen richten. Damit sollte wohl der Regel nach dieBrandstiftung als unerlaubt bezeichnet werden. Vgl. Kluckhohn, S. 144.

12Vgl. die allgemein und unbestimmt lautende Vorschrift in Rudolph’s I. Landfrieden von 1287 (PertzLegg. II. S. 449) n. 10: „An sweme der lantfriede gebrochen wirt, beziuget er daz . . . daz der ienenzu ahte tun der den lantfrieden gebrochen hat". Ewiger Landfrieden von 1495 §. 1 (Neue Samml. derReichsabschiede II. S. 4): „Also dass von Zeyt dieser Verkündung niemand . . , , den andern bevehden. . . . überziehen .... noch auch eynich Schloss, Stett, Märckt, Bevestigung, Dörfler, Hoff oder Weylerabsteygen, oder on des andern Willen mit gewaltiger That freventlich einnemen . . . solle".

13Henrici regis Constitutio generalis a. 1234 (Pertz Legg. II. S. 301): „Si quis treugas datas violaverit;si cum ipso in cujus manum treuge fuerant compromisse ... violator manum perdat". — Vgl. auchMainzer Landfr. v 1235 c. 3 (Pertz Legg. II. S. 314). Rudolfi I. Const. pacis gener, a. 1281 n.30 (PertzII. S. 428) „Hantfrid": „Swer zwischen zwein veinden einen hantfriede machet". Nach Sachs. Landr.

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In den engeren Kreisen der einem Herrn untergebenen unfreien, nicht rittermässi-gen oder der in einer Stadt vereinigten Personen war Frieden in dem Sinne, dass mangegen den Genossen sich nicht selbst mit Gewalt Recht verschaffen durfte, selbstver-ständlich;14der kleine

Seite 93nach Aussen sich abschliessende Kreis vertrug im Innern keinen Privatkrieg. „Qui infraterminos et pacem vobis aliquem occiderit"heisst es z. B. in der Berner Handfeste von1218 15ßine omni contradictione decollari debet."Daher erscheint die Strafe als beruhendauf dem Dorf- oder Stadtfrieden, und da der Zuzug in die Städte oder doch das Ver-bleiben in denselben auf dem freien Willen der Bürger beruht, so macht in Folge dessenin den Städten auch der Gesichtspunkt einer freieren Gründen der Zweckmässigkeit,insbesondere der Abschreckung zugänglichen Fortbildung des Strafrechts mit grösseremNachdrucke sich geltend, wenngleich selbstverständlich derartige Bestrebungen auch denLandfrieden und den einzelne Verbrechen betreffenden königlichen Verordnungen (Ge-setzen) nicht völlig fremd sind.

III. 9 §. 2 geht der Bruch des gelobten Friedens dorn Manne an den Hals. — Unter Karl d. Grossenwird dieser Fall auf den Titel des Meineids bestraft. Vgl. Cap. a. 805 (in villa Theod. promulgatum) c.5 (Pertz I. S. 133): „manum quam perjuravit perdat". Löning, Vertragebr. I. S. 133, führt sehr richtigaus, dass der Handfriede nicht eine höhere Art des allgemeinen Friedens — wie z. B. Wilda, Straft.S. 229 ff., Geib, I. S. 171, wollen —, sondern nichts Anderes bedeutet, als dass der frühere Zwistabgethan sein solle. Dagegen kann ich Löning, S. 488 ff., darin nicht beistimmen, dass jedes Handeln,auch wenn es sonst nicht widerrechtlich war, sobald es nur den gelobten Frieden gefährdete oderihm sonst entgegen erschien, als Bruch desselben gegolten habe. Die von Löning dafür angeführtenStellen beweisen das doch m. E. nicht und man kommt mit dieser Ansicht theilweise zurück auf denvon Löning mit Recht bekämpften Begriff eines höheren Friedens. Die Erhebung einer unbegründetenKlage ist jedenfalls dann, wenn man von dem Ungrunde derselben überzeugt ist, nach altdeutscherRechtsansicht an sich schon Unrecht, und wenn Jemand nach einem besonders gelobten Frieden wegender abgethanen Sache nochmals Klage erhebt, so begeht er deshalb immer ein Unrecht. — Vgl. überden Handfrieden in der Schweiz besonders Osenbrüggen: Studien, S. 382ff. und besonders Schierlinger:Die Friedensbürgschaft, 1877, bes. S. 11 ff.; Frauenstädt: Blutrache, S. 39ff., vgl. daselbst auch überden in österreichischen Weisthümern vorkommenden Frieden bei Feuersgefahr.

14Gaupp: Deutsche Stadtrechte des Mittelalters II. S. 50. Vgl. auch Rechtsbrief für Medebach (West-phalen) v. 1165 §. 5. Wer infra fossam Jemanden tödtet, büsst mit dem Leben; Wer extra fossamJemanden tödtet, der im Schütze des Landesherrn steht, zahlt nur. — Aelteres Stat. v. Soest §. 15(Gengier S. 441).

15Wie sehr übrigens die Idee einer berechtigten Fehde noch nachwirkte selbst da, wo dieselbe durch dasöffentliche Strafrecht im Wesentlichen bereits beseitigt war, zeigt z. B. die Erörterung des Bonifaciusde Vitalinis de malef. Rubr, de incendiariis n. 2. Er prüft eingehend und bejaht schliesslich die Frage,ob, wenn Jemand das Haus des A inimicitiarum causa angezündet habe und bei diesem Anlassedas Haus des B mitabgebrannt sei, A deshalb dem B zum Schadensersatze verpflichtet sei. DieErörterung hat nur Sinn, wenn man noch von der Voraussetzung ausgeht, dass Jemand zu einerInimicitia gegründeten Anlass geben könne, und so kommt es ja auch nach städtischen Statuten vor,dass, wenn Jemand der Stadt eine Fehde zuzieht, er dafür die Nachtheile zu erleiden hat. Es mag hiergestattet sein, eine merkwürdige Bestimmung der Statuten der Stadt Casale in Italien heranzuziehen(Monumenta Patriae jussn Regis Caroli Alberti ed. Legg. Municipales col. 1031, 1032): Diejenigen,welche mit einem Bürger von Casale eine Inimicitia haben, haben es sich selbst zuzuschreiben, wennsie in das Gebiet von Casala kommen und nun beschädigt werden; der Beschädiger wird nicht bestraft.Aber der Bürger von Casale muss die Inimicitia auch in ein öffentliches dazu bestimmtes Bucheintragen lassen, sonst wird die Inimicitia nicht beachtet. — Vgl. übrigens auch Statut von Dinkelsbühl(Gengier, S. 85). Hier wird das Stattfinden eines Hasses dem Bürgermeister gemeldet.

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F. D.Das Strafrecht des späten Mittelalters

§. 35. Die Verbrechensbegriffe16 erfahren in dieser Zeit bis zur Reception des römischenRechts im Wesentlichen folgende Veränderungen und Vervollständigungen.Der Verrath, ursprünglich doch nur Verbrechen gegen das Gemeinwesen oder das Heer,

dem der Schuldige angehörte, wird (nach einigen Rechtsquellen wenigstens; denn in ande-ren finden wir nur den allgemeinen Begriff ohne Definition oder Anwendung auf specielleFälle) auch auf Privatverhältnisse bezogen: Privat- und öffentliches Recht sind in dieserPeriode ja oft kaum zu unterscheiden, und die stete Abwehr, auf welche die kleinerenGemeinwesen bedacht sein mussten, machte die Beobachtung

Seite 94besonderer Treue der einzelnen Mitglieder dieser Genossenschaften und gegen den Herrnnothwendig; Verletzung der Treue auch durch blosses Zutragen an feindlich Gesinntekonnte leicht Tödtungen und andere schwere Schädigungen zur Folge haben.17Rechtsverletzungenwerden als Traditio oder cum tradicione geschehen bezeichnet, wenn sie unter Verhält-nissen erfolgten, die ein sorgloses Handeln des Verletzten, namentlich des Getödtetenzu rechtfertigen schienen oder diesen schutzlos und wehrlos der Gewalt des Verbrechersgegenüberstellten. So z. B. wird Tödtung eines Schlafenden, Ehebruch, Entführung einerEhefrau, auch als Verrath bezeichnet. Mord und Todtschlag werden nicht mehr in deralten Weise unterschieden. Mord ist nicht mehr Tödtung mit nachheriger Verbergungdes Leichnams, sondern nunmehr Tödtung unter Verletzung eines besonderen Vertrau-ensverhältnisses,18 eines besonderen (z. B. gelobten) Friedens oder aus einem niedrigen(namentlich gewinnsüchtigen) Motiv,19Todtschlag jede andere absichtliche Verletzung,sofern sie an sich lebensgefährlich ist und den Tod wirklich herbeiführt, namentlichTödtung, zu welcher der Getödtete, z. B. durch Beleidigung, selbst eine irgend entschul-digende Veranlassung gegeben hatte. Die Körperverletzung erfährt in den Particular-rechten eine feinere Ausbildung, insofern oft unterschieden wird nach der Beschaffenheitdes Instruments, mit welchem die Wunden zugefügt wurden, nach dem Umstande, obmit Vorbedacht gehandelt ist (in den norddeutschen Quellen Vorsate) und ebensowohlals Versuch wie als Bruch und Gefährdung des allgemeinen Friedens wird bestraft dasMesser- und Schwertzücken. In den städtischen Statuten wird besonders gedacht des De-lictes des Bruches des Hausfriedens,20wie auch, abgesehen von mannigfachen den Markt-und überhaupt den Handelsverkehr betreffenden polizeilichen21Bestimmungen, einzelnerArten des Betruges, der Waaren-,

Seite 95Maass- und Gewichtsfälschung. Als ein nunmehr auch weltlicher Strafe unterliegendes

16Die Nachweisungen über die Einzelheiten werden bei den betreffenden Lehren gegeben werden.17Verrath = Perfidia enormis (Recht von Winterthur §. 12, Gaupp I. S. 137).18Mort = Perfidia (Recht von Winterthur a. a. 0.).19Ph. Allfeld: Die Entwicklung des Begriffs v. Mord, S. 62ff. Vgl. Frensdorff S. LXI.20Vgl. übrigens auch schon Lex Sax. XXVII. Tödtung eines Faidosus in dessen eigenem Hause soll mit

dem Tode bestraft werden. — Vgl. auch Lex Rib. LXIV.21Ueber die Nürnbergischen Polizeigesetze vgl. Siebenkeefs: Materialien zur Nürnberger Geschichte, S.

676ff. —Vgl. Brünner Schöffenbuch N. 221. Man nannte das auch „gemachte wandel". — Besondersausführliche Polizeistatuten, nicht selten auch mit der Tendenz den Verkauf gesundheitsgefährlicheroder gefälschter, verdorbener Lebensmittel zu hindern, finden wir auch in Italien, vgl. z. B. StatutsTaurini, Monumenta Patriae, Legg. Munic. col. 678 ff.

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Delict erscheint jetzt die Bigamie22und süddeutsche Quellen erwähnen auch der na-turwidrigen Unzucht. Dagegen wird sich für den Ehebruch eine Aenderung des altenBegriffes, wonach er nur als Verletzung des Rechtes des Ehemannes erscheint, erst gegendas Ende des Mittelalters nachweisen lassen.§. 36. Was die allgemeinen Grundsätze des Strafrechts betrifft, so wird in der späte-

ren Zeit des Mittelalters das Lehen der Unfreien, selbst der untersten Klassen, rechtlichebenso geschützt, wie das der Freien und die Tödtung durch den eigenen Herrn ist einöffentlich strafbarer Todt- schlag;23es wird also, wenngleich z. B. in den italienischenStatuten strengere Bestrafung der Forenses im Gegensatze zu den Cives zuweilen ver-ordnet24und dem angesehenen Bürger in den Städten oft ohne Weiteres eine gewisseZüchtigung niederer Personen und des Gesindes erlaubt wird,25und de facto gar oft nachAnsehen der Person das Recht gewendet wurde, principiell doch die Rechtsgleichheitaller Personen in strafrechtlicher Einsicht anerkannt.Die Anstiftung zum Verbrechen, von der intellectuellen Beihülfe freilich nicht geschie-

den und so häufig als Rathen zum Verbrechen bezeichnet,26wurde wohl allgemein ebensowie die physische Ausführung des Verbrechens bestraft, aber in vielen Fällen auch sons-tige Hülfeleistung-, freilich nicht überall gleichmässig. Zu einem allgemeinen Begriffe desVersuchs kam es noch nicht.27Handlungen, die wir heut zu Tage als Versuch bestrafenwürden, werden freilich bestraft als besonders gefährliche Handlungen und selbst alsHandlungen, die auf eine Rechtsverletzung ab- zielen; auch werden culpose und doloseHandlungen in manchen328Quellen

Seite 96(vgl. z. B. Sachsensp. II.38) im Ganzen richtig unterschieden29: nur letztere ziehen kör-perliche Strafen nach sich; oft finden wir auch einen besonderen Strafzusatz für mit„vorsate"30d. h. wohl mit besonderer Ueberlegung und besonderem Vorbedachte began-gene Delicte, namentlich bei Körperverletzungen u. s. w.Aber das Streben der inneren Schuld, der subjectiven Seite des Verbrechens gerechter

zu werden, führte auch auf Abwege; hier die rechte Mitte zu halten setzt eine tieferejuristische Bildung voraus. Die Zahl der in falscher Weise moralisirenden Schöffensprüche

22Vgl. z. B. über das ältere Recht in den Hansischen Recessen Frensdorff in den Hansischen Geschichts-blättern I. S. 17, 36. Hamburger Recht von 1270 X. 6.

23Schwabensp. 73 (ed. Lassberg).24Die Juristen erörterten, ob solche Statute zulässig seien. Vgl. Angelus Arct Rubr. De Bononia homi-

cidium n. 2.25Zuweilen wurden freilich überhaupt das Gesinde, öffentliche Diener und sog. schlechte Leute vom

Stadtfrieden ausgenommen. Dann waren Misshandlungen solcher Personen busslos, sofern der Rathder Stadt nicht nach seinem Ermessen einschritt. Vgl. v. Maurer: Gesch, d. D. Städteverfassung, III.S. 161.

26Vgl. John S. 215ff., 231 ff.27Vgl. darüber die Lehre vom Versuche und einstweilen John 8. 141 ff.28Im Schwabensp. 182—184 (Lassberg) finden sich dagegen traurige Verkehrtheiten. Auch culpose Töd-

tung wird hier aus Missverständniss des römisch-canonischen Rechts und in verkehrter Anwendungder Talionatheorie (vgl. darüber unten) als todeswürdiges Verbrechen behandelt.

29Nach dem Sachsensp. wird bei culposer Tödtung nur Wergeld gezahlt; körperliche Strafe ist ausge-schlossen.

30Die Bedeutung von „vorsate"hat nachgewiesen John: Strafr. in Norddeutschland, S. 64ff.

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F. D.Das Strafrecht des späten Mittelalters

des späteren Mittelalters ist nicht unerheblich. Die Brünner Schöffen verurtheilten unterUmständen „ob malam voluntatemßum Tode und sie verwiesen Jemanden aus der Stadt,der in der Verzweiflung über einen beim Würfelspiel erlittenen Verlust sich seihst denDaumen abgeschnitten hatte.31 Namentlich in der Behandlung des Selbstmords,32der oftals bürgerlich strafbar betrachtet wurde, tritt solche Tendenz hervor.Ohne Zweifel wirkte hier der Einfluss der Kirche ein, und man be- trachtete auch wohl

das mosaische Recht ohne Weiteres als göttliches, daher auch jetzt noch gültiges Recht.33

§. 37. Eine ganz eigenthümliche Wirkung hatte die Veränderung des altgermanischenBeweisrechts. Das letztere liess, abgesehen von dem Falle der handhaften That und deretwa vorhandenen Rechtsunvollkommenheit des Angeklagten, diesen frei, falls er seineUnschuld beschwor. Es stellte der Wirkung nach, wenn auch die Rechtssätze ihrer Entste-hung nach auf andere Momente zurückzufahren sind,34in dem einen Falle die Präsumtionder Unschuld, in dem anderen, dem Falle der handhaften That, der Rechtsunvollkom-menheit die Präsumtion der Schuld auf. Diese Präsumtion der Schuld wird nun erweitertoder gar

Seite 97zu einer Praesumtio juris et de jure, d. i. einer unwiderleglichen An- nahme der Schuldgesteigert. So wird ohne weiteren Beweis der be- scholtene Mann wegen Falschmünzereiverurtheilt, wenn eine bestimmte Menge falschen Geldes bei ihm gefunden wird,35oderwegen Diebstahls gehängt, wenn die von einem Anderen vermisste Sache bei ihm ge-funden wird, und er nicht selbdritt den Ankauf auf offenem Markte beweisen kann.36Sowird namentlich das Recht der Nothwehr in Süddeutsch- land durch solche zu Rechts-sätzen erhobene Präsumtionen veranstaltet. Vom Standpunkte des Beweises aus ist esnicht unrichtig, auch danach zu fragen, ob Wer sich auf Nothwehr beruft, selbst Wundendavon ge- tragen habe,37 oder ob er dem Angreifer auszuweichen versucht habe,38 wennman Nothwehr und improvisirten Zweikampf unterscheiden will. Aber als Sätze des ma-

31Brünner Schöffenbuch N. 539, 270. In dem ersten Falle hatte der Schuldige zwar einer moralisch höchstverwerflichen Körperverletzung sich schuldig gemacht, aber von einem Tödtungsdolus konnte keineRede sein.

32Vgl. Osenbrüggen, Studien S. 337, über die Behandlung des Selbstmordes in Süddeutschland. Denalten Germanen erschien der Selbstmord z.B. lebensmüder Greise ehrenvoll. Später betrachtet manihn auch als Rückfall in das Heidenthum, in das Reich des Teufels.

33Vgl. z. B. Schwabensp. 201.34Das Beweisrecht im Falle der handhaften That ist ursprünglich wohl nichts Anderes, als Rechtferti-

gung der Privatrache an dem Verbrecher, den man in der Gewalt hat. Vgl. Dahn: Fehdegang undRechtsgang der Germanen, 1877, und namentlich R. Löning: Der Reinigungseid bei Ungerichtsklagenim deutschen Mittelalter, 1880, S. 97, 98.

35Sachs. Landr. II. 26 §.2; Stadtrechtsbuch Ruprechts v. Freysing c. 57.36Brünner Schöffenb. N. 545. — Vgl. Stadtrechtsb. R’s von Freysing c. 21. Wenn die Stadtknechte

Jemanden, der Nachts ohne Licht geht, erschlagen, falls er sich nicht fahen lassen will, so können siesich freischwören wegen des Todtschlags, indem sie schwören, das um „frid willen"gethan zu haben.Haben sie aber einen alten Hass auf den Getödteten gehabt, so müssen sie es ohne Weiteres entgelten,und doch ist es sehr wohl möglich, dass Jemand aus gerechter Ursache Denjenigen erschlägt, auf dener einen alten Hass hatte. — Vgl. daselbst auch c. 38: Werden Zwei mit gestohlenem Gute vonbestimmtem Werthe gefangen, so werden Beide gehangen — ob auch Einer leugnet.

37Bamberger Recht (ed. Zöpfl) §. 158.38Schwabensp. (Lassberg) c. 79.

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teriellen Rechtes sind solche Bestimmungen ungerecht: sehr wohl kann sich doch auch inNothwehr befunden haben Jemand, der keine "Wunden empfangen hat oder nicht dreiSchritt zurückgewichen ist.39So lange bei Tödtungen es nur um Zahlung des Wer- geldessich handelte, waren solche Präsumtionen eher erträglich und eher zu vertheidigen. An-ders aber, wenn die falsche Präsumtion Enthauptung zur Folge hatte,40 und schlimmer,wenn die Verfolgung der Delicte nach und nach von Amtswegen eintrat, denn der Privat-ankläger musste doch wenigstens feierlich die Behauptung der Schuld des Angeklagtenaufstellen und nicht selten auch beschwören.Aber auch polizeiliche Erwägungen roherer Art führten zur Aufstellung solcher Prä-

sumtionen41und crimineller Bestrafung mit LeibesstrafenSeite 98

nur eben gefährlicher Handlungen, so z. B. des Tragens verbotener Messer.42 Die Unzu-länglichkeit des Processrechts suchte man auszu- gleichen durch Härte des materiellenRechts. Und gerade dadurch auch, dass bei der Schwäche der allgemeinen, das ganzeReich umfassenden Rechtsordnung das Strafrecht, zwar nicht geschaffen, wohl aber peri-odisch als gültig eingeschärft und für kleinere Kreise und Gemeinschaften als reell wirk-sam bezeichnet werden musste, kam ein gewisses Element der Willkür in das Strafrecht.Es schien, als komme es hier nur auf Vereinbarung43oder den Willen der Gewalthaberan, wie ja auch freiwillige Unterwerfungen unter öffentliche Strafen im Falle eines blossenCon- tractbruches im Mittelalter vorkommen. So scheut man sich zuweilen nicht, selbstganz geringfügige Delicte, sofern sie dem Rechte der Gnindeigenthümer entgegen sindoder das Ansehen der Stadt schmälern können, mit grausamen Strafen zu belegen. Be-kannt und viel besprochen ist z. B. das Weisthum eines Dorfgerichts über das Abschälenvon Bäumen ;44 es steht aber nicht allein; grausamer Tod vermittelst eines Pfluges sollnach einem anderen Weisthum den Beschädiger eines Marksteins,45 Ver- brennen derFusssohlen nach einem dritten Weisthume46 den Beschädiger von Waldbäumen treffen.Wer die Schöffen wegen eines angeblich ungerechten Urtheils schimpft, soll nach demBrünner Schöffenbuch (N. 536) mit der Zunge so lange an einen Pfahl genagelt werden,bis er sich die Zunge selbst abschneidet. In dem Freiburger Stadtrechte (1520, Fol. 95,97)

39Vgl. Osenbrüggen: Alamann. Straft. S. 151 ff.; Bar: Das Beweisurtheil des germanischen Processes, S.86, 87.

40Im Jahre 1443 wurde zu Constanz Jemand enthauptet, der gerade nicht beweisen konnte, dass er dreiSchritt zurückgewichen sei. Osenbrüggen a. a. 0. 8. 153.

41Strassburger Statut von 1322 §. 175: Wenn Jemand einen Anderen verwundet oder erschlägt, so solles Allen, die ihm mit blossen Schwertern,

42Schon das Tragen verborgener (langer) Messer soll den Verlust der Hand nach sich ziehen. WienerStadtr. von 1221 §. 39. Rudolpli’s I. Landfrieden von 1281 §. 55 (Pertz Legg. II. S. 430). — UnbefugtesAnfertigen von Nachschlüsseln für einen Anderen soll den Verlust der Hand zur Folge haben. BrünnerSchöffenb. N. 548. Vgl. auch Prager Stadtrechsb. N. 57.

43Auch die Landfrieden mussten von den Einzelnen beschworen werden. Const. Henrici IV. a. 1103 (PertzLegg. II. 61), Rudolph’s I. const. pacis a. 1287 c. 39 (Pertz Legg. II. S. 451).

44Weisthum von Oberursel von 1401 (Grimm, Weisthümer III. S. 489). Die Gedärme sollen dem Schul-digen aus dem Leibe gezogen und um den Baum gewickelt werden. Vgl. über Forst- und Jagdfrevelin dieser Zeit insbes. Roth: Geschichte des Forst- u. Jagdwesens in Deutschland, S. 131 ff.

45Grimm III. S. 590.46Grimm I. S. 490.

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F. D.Das Strafrecht des späten Mittelalters

steht Todesstrafe auf Verunreinigung städtischer Brunnen wie auf thätlichem Vergreifenan den städtischen Nachtwächtern. Mögen auch immerhin die erstgenannten raffinirtenund barbarischen Strafen nicht mit Spiessen oder Hellebarden gefolgt sind, an die Handoder an den Hals gehen, wie Dem, der die Wunde beigebracht oder den Todtschlag ver-übt hat. Osenbrüggen: Alain. Strafrecht, S. 169.

Seite 99zur Ausführung gekommen sein. Blosser Scherz47 waren sie doch nicht; sie zeigen an,dass man zu solchen Strafen aus solchen Gründen sich berechtigt hielt.Auch das Wort Frieden erwies sich, wie es oft bei Worten der Fall ist, folgenreich.

Wenn man die schweren Verbrechen von Altersher als Friedbrüche bezeichnete und nun-mehr ihre Bestrafung zurückführte auf den besonders vereinbarten oder gelobten Frieden,so konnte man auch leicht dazu gelangen, geringere Delicte, sofern die Handlung ebendurch den Land- oder Stadtfrieden verboten war, als Friedbrüche in diesem Sinne jenenschweren Delicten in Ansehung der Bestrafung gleichzustellen.48So ist selbst nach demSächsischen Landrechte III. 20 §. 3, welches im Ganzen doch von Extravaganzen frei ist,Todesstrafe für Denjenigen Rechtens, dem ein Landstück vom Richter abge- sprochenist und der dasselbe nun doch ungeachtet des vom Richter darüber gewirkten Friedenswieder in Bearbeitung nimmt. Mag man immerhin Gewicht darauf legen, dass in dama-liger Zeit der Ungehorsam gegen den Richter und Mangel an Respect vor richterlichenUrtheilen nicht leicht genommen werden durfte, so erklärt sich jene ganz abnorme Härtedoch wohl nur aus der Zusammenstellung dieses Friedbruches mit dem Friedbruche imalten Sinne. So ist auch in den Goslar’schen Statuten49 der Begriff des Friedbruchs weitausgedehnt über den Kreis der schweren Verbrechen, und davon ist die Folge, dass auchwegen dieser geringeren, aber als Friedbruch bezeichneten Handlungen die Verfestungeintreten kann, und dem in der Verfestung Ergriffenen geht es dann, wie gering auch derFriedbruch sein möge, dessen er schuldig ist, an den Hals.50

Seite 100§. 38. Dio Vorstellung, dass man den Rechtsschutz nur einer besonderen Vereinigungverdanke, in Verbindung mit dem Umstande, dass der factische Schutz für Leben undEigenthum bei den steten Fehden und dem in Anschluss an diese sich immer mehr aus-bildenden professionellen Gaunerthum51 ausserhalb der Mauern der Städte, oft auch47Im Mittelalter hielt man sich doch oft strenge an Worte. Vgl. den in Anm 307 citirten Constanzer Fall.48So wird in Rudolfs I. Landfrieden von 1281 §. 8 (Pertz Legg. II. S. 427) z. B. das unbefugte Feilhalten

von Getränken als Friedbruch bezeichnet. Hiermit hängt es zusammen, dass bei dem Bruche einesbesonders gelobten (oder von der Stadt-Obrigkeit gebotenen) Friedens nach manchen Quellen dasDelict, durch welches der Frieden gebrochen wird, mehr zurücktritt hinter dem formellen Begriffe desverletzten Wortes, bezw. des verletzten obrigkeitlichen Gebotes. Vgl. Schierlinger: die Friedensbürg-schaft, S. 12 ff., S. 59, und z. B. Sachs. Landr. III. 9 §. 2: „Briet en man den vrede, den he vor sieselven luvet, it gat imc an den hals".

49Göschen: Goslar’sche Statuten, S. 291.50„Vestinge nimt den manne sin lif, of he begrepen wirt dar binnen", Sächs. Landr. III. 63 §. 3. Göschen

S. 477. Vgl. S. 56 Z. 55; S. 57 Z. 12—14; S. 59 Z. 10: „Wert en in der veste begripen, de vestinghe nimtime dat lif! Vgl. jetzt namentlich Planck: Das deutsche Gerichtsverfahren im Mittelalter, II. 1879, S.300.

51Vgl in dieser Beziehung schon Cap. a. 789 c. 78 (Pertz Legg. I. S. 65) und namentlich Avé Lallemant:Das deutsche Gaunerthum, 1.(1858) 8. 43 ff.

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innerhalb derselben nur ein geringer war, führte dann weiter und zurück zu einer Wie-dererweckung der ältesten und rohesten Auffassung des Strafrecht!?. Der Verbrecher,sofern er der engeren Genossenschaft nicht angehörte, erschien wieder als Feind, gegenwelchen Alles erlaubt war. So heisst es z. B. im Augsburger Stadtrecht (Zusatz zu Art.XXXV, Ausgabe von Meyer S. 105) — während der eingesessene begüterte Bürger inAnsehung der. Verhaftung und Ueberführung mit grosser Rücksicht behandelt wird —dass, wenn ein Fremder einen Augsburger Bürger höhne, Alle dazu laufen sollen, unddass dann jede Verwundung, ja der Todtschlag des Fremden ohne Weiteres erlaubt seinsolle, und umgekehrt begegnet uns in Stadtrechten auch die Vorschrift, dass dem Aus-wärtigen, der ausserhalb der Stadt von einem Bürger misshandelt oder verwundet sei,in der Stadt vor den dortigen Gerichten keine Genugthuung zukomme.52

So wird allmählig die Strafjustiz besonders in den süddeutschen Städten eine überausharte und grausame. Schon die Augsburger Statuten von 1276 sind mit Blut geschrieben.Das hartherzige, geldstolze Bürgerthum,53dem der Besitz Alles, die Noth und das Lebendes armen Mannes wenig galt, konnte den Verlust der Hand auf das blosse Eindringenin diebischer Absicht in einen Baumgarten oder Anger und den Lustdirnen, die im Mit-telalter bekanntlich doch auch in den ehrbaren Städten nicht fehlen, für das einfacheUebertreten eines polizeilichen Gebotes die Strafe des’ Nasenabschneidens androhen.54

Dazu kommt dann die Anwendung des mosaischen Strafrechts und die theologischeTalionsidee, wiederum vorzugsweise in Suddeutschland herrschend. Freilich stellt beigenauerer Betrachtung55 das mosaische

Seite 101Strafrecht sich keineswegs als ein so strenges heraus, wie eine blosse Wortinterpretationeinzelner Stellen annehmen lässt, und das Ausrotten z. B., von dem häufig die Rede ist,bezeichnet wohl nur eine Hinweisung auf den göttlichen Zorn, nicht aber eine wirklieheStrafe; die Talion aber ist oft nur Grundlage oder Zwang der Entschädigung. Allein imMittelalter nahm man eben die Aussprüche des mosaischen Rechts einzeln und wörtlich,und was Religions- und Sittlichkeitsdelicte betrifft, ist es in Wahrheit auch in mancherBeziehung streng und grausam. Die Idee der Talion, welche dem germanischen Kochteursprünglich fremd ist,56 erscheint oft genau in der bekannten mosaischen Fassung insüddeutschen Statuten57und trägt dann nicht wenig dazu bei, das Strafrecht hart und52Ganpp: Deutsche Stadtrechte, II. S. XV.53Allerdings fehlt es auch in Norddeutschland ausserhalb der Städte nicht an Todesstrafen gegen gewisse

Diebstähle, z. B. gegen grosso Diebstähle zur Nachtzeit (Sachs. Landr. II. 28), Diebstahl an Pflügenauf dem Felde (Sächs. Landr. II. 13 §. 4). Vgl. auch Osenbrüggen: „Der Nachtschachïn O.’s Studien8. 241 ff.

54Das Gebot, in den heiligen 40 Tagen die Stadt zu verlassen. Stadtrecht 113 (ed. Meyer S. 190).55Vgl. Saalschutz: Das mosaische Recht, II. (1858) S. 437ff., und Saalschütz: Archäologie der Hebräer,

II. (1856) 8. 271 ff.56Grimm, Rechtsalterthümer, S. 647, 0senbrüggen, Studien, S. 151 ff. Nur bei falscher Anklage und in

einigen verwandten Fällen kommt nach älterem deutschem Rechte das Talionsprincip zur Anwendung.Hier erscheint es aber auch besonders natürlich. Der unberechtigte Angriff prallt zurück auf denAngreifer. Vgl. Osenbrüggen S. 180.

57Davon die Parömien „Lip wider Lip"(Augsburger Stadtr. 1276 Art. 28 §. 1 ed. Meyer), „Par gegenPar"(Bahre gegen Bahre). Vgl. Osenbrüggen S. 153. — Ueber das Talionsprincip bei Körperverlet-zungen vgl, z. B. Stadtr. von Wien von 1221 (Gaupp, D. Stadtr. II. S. 241): hier gilt die Talion aber

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F. D.Das Strafrecht des späten Mittelalters

grausam zu machen, um so mehr, da der angebliche göttliche Ursprung jedes Abdingenund jede Milderung hier auszuschliessen schien.58

Durch alles Dies steigert sich gegen Ende dos Mittelalers Härte59 und grausames Raf-finement60 der Strafen — glaubte man doch meist damit ein Gott wohlgefälliges Werk zuthun — auf das Aeusserste. Schon das in wenigen Strichen skizzirte System der Haupt-strafen des Sachsenspiegels (II. 13), in welchem der Diebstahl von drei Schillinge Werthschon den Strang nach sich zieht, dann aber gesagt wird: „Alle inordere, unde die denplug rovet oder molen oder kerken oder kerchof, unde vorredere unde mortbernere, oderdie ire bodescap wervet to irme vromen, die sal man alle radebreken. Die den mau slatoder vat oder rovet, oder bernet sunder mortbrand, oder wif oder maget nodeget, undedon vrede breket, unde die in ovorhure bogrepen werdet: den sal man dat

Seite 102hovet afslan. Die düve hudet oder rof oder emanne mit helpe dar to sterket, werdet siedes verwunnen man sal over sie richten als over jene,"hat Todesstrafen genug und zwarviele Fälle des Räderns. Aber der Katalog der in Süddeutschland selbst für geringereDelicte üblichen verstümmelnden Strafen ist entsetzlich (Brandmarken, Handabhauen,Abschneiden der Ohren, der Zunge, Ausstechen der Augen), und die Hinrichtungen ge-hen über das Bädern hinaus zum Viertheilen in der grausamsten Weise, Kneifen mitglühenden Zangen, Lebendigbegraben und Verbrennen, so dass sich wohl die Henkerselbst über die Grausamkeit der von ihnen zu vollziehenden Strafen beschwerten.61DerGalgen besetzt und umgeben von faulenden, von Raubvögeln zerfressenen Leichnamen,war das Merkzeichen eines jeden bedeutenden, namentlich eines städtischen Gerichts.62

Diese Grausamkeit der Strafen63war jedoch keineswegs geeignet, die Verbrechen zumindern. „Nec his tormentis et cruciatibus arceri potest quin semper scelus sceleri accu-mulent", sagt Celtes. Das gewerbmässige Gaunerthum, von dem schon die Capitularienwissen, erlangte durch die vielfachen Fehden eine immer grössere Ausbildung und festere

nur für den Fall, dass der Verletzer die Compositionssumme nicht zahlen kann. Im Stadtr. für dieWiener Neustadt heisst es bereits „secundum legem institutam a Domino.

58Ueber die bis tief in das vorige Jahrhundert dauernden und bis in die Jetztzeit verklingenden Nach-wirkungen dieser Anschauung:Vgl. unten.

59In Nürnberg Hess man eine Zeit lang Frauen wegen einfachen Diebstahls lebendig begraben. Siebenkees:Materialien zur Nürnberger Geschichte, II. S. 539.

60Den Juden wurde z. B., wenn sie gehängt wurden, ein Judenhut mit glühendem Pech auf den Kopfgesetzt.

61In Nürnberg beschwerten sich 1513 die Henker über die Grausamkeit des Lebendigbegrabens. Sieben-kees S. 599.

62„Qui delicta committunt levi etiam aliquando causa diversis poenis et genevibus tormentorum exquisi-tis afficiunt", sagte ein Zeitgenosse, Conrad Celtes (De origine, situ, moribus Germaniae, Norimbergae,indem er ein schaudererregendes Gemälde der Strafjustiz aus der letzten Zeit des XV. Jahrhundertsentwirft (die betr. Stelle der jetzt seltneren Schrift ist abgedruckt bei Malblank, S. 37ff., und HenkeI. S. 290—292).

63Das Gefängniss (Cippus) wird zwar häufig in den mittelalterliches Rechtsquellen erwähnt, allein fastimmer nur als Untersuchungsgefängniss — meist von entsetzlicher Beschaffenheit. Vgl. auch Streng:Das Zellengefängniss, Nürnberg 1879; nur zuweilen kommt Strafhaft bei polizeilichen Geldstrafen imFalle der Zahlungsunfähigkeit des Schuldigen in geringerer Dauer vor. Vgl. z. B. Präger StatutarrechtN. 20, 21.

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Organisation.64Während die Kleinheit der Gerichtsbezirke, die Competenzbeschränkun-gen65 vieler Gerichte, die mangelhafte Rechtshülfe

Seite 103die Kraft der Justiz lähmten und das Entkommen der Verbrecher begünstigten, hattedie wüthende, mitleidlose Feindschaft, welche das von der besitzenden Klasse dictir-te und gehandhabte Strafrecht besonders gegen Eigenthumsverbrechen charakterisirt,eine ebensolche Feindschaft bei den Bestraften und deren Anhange zur Folge, um somehr, als durch die oft für geringe Delicte, namentlich erste Diebstähle, angewende-te entehrende Strafe der Ausstellung am Halseisen, der öffentlichen Auspeitschung dasEhrgefühl66unheilbar getödtet wurde und die jetzt besonders scharf ausgebildete Strafeder Ehrlosigkeit die meisten redlichen Erwerbsarten verschloss, die häufigen Stadt- undLandesverweisungen67 den Verurtheilten heimath- und erwerbslos machten. Und dane-ben spielen die häufigen, nicht nur bei Verrath am Gemeinwesen, sondern sehr oft auchbei Todtschlägen, selbst bei erheblicheren Verwundungen und sodann bei dem Verbro-chen der Ketzerei gültigen gänzlichen oder theilweisen Vermögensconfiscationen68eine64Vgl. über Sebastian Brant’s Narrenschiff und den warnenden von Luther mit einer Vorrede herausge-

gebenen Liber Vagatorum: Ave-Lallemant I. S. 137 ff.65Die grundherrlichen Gerichte, welche des Blutbannes entbehrten, hatten bei schweren Verbrechen nur

den ersten Angriff und mussten dann den Verbrecher an die öffentlichen Gerichte des Landesherrnausliefern. Wenn dann an der herkömmlich zur Ablieferung bestimmten Stelle der Landrichter sichzur Empfangnahme des Verbrechers nicht einfand, so fesselte man letzteren symbolisch (!), z.B. miteinem Strohhalm, d. h. man Hess ihn laufen, nachdem man ihn vorher bis auf den Gürtel entkleidethatte. Vgl. Grimm, Weisthümer, III. S. 640 N. 6; S. 685, und Maurer: Geschichte der Fronhöfe inDeutschland, IV. S. 406.

66Das Mittelalter hat eine erhebliche Zahl beschämender oder verhöhnender Strafen ausgebildet, die zumTheil einen humoristischen Anflug; haben, aber, selbst wenn sie nicht ((lauernd) ehrlos machten, dochgleichwohl sehr nachtheilig wirken konnten. Daliin gehören die Strafen des Schandkorbes, der Schnelle,des Badekorbes, des Wippens (Herablassen ins Wasser, des Verhöhnens durch Kinder, des Reitens aufeinem Esel, des Tragens von Hunden, von Sätteln, eines Pflugrades u. s. w. Vgl. Grimm, Rechtsalterth.S. 725, 726; v. Maurer, Gesch. der Fronhöfe IV. S. 269 ff-, S. 378, 379). Wo die schimpfliche Strafein dem Tragen eines Gegenstandes bestand — eine übrigens milde derartige Strafe —, wählte maneinen Gegenstand, der Beruf und Stand des Schuldigen bezeichnete. So musste z. B. ein Bischof eineHandschrift tragen (vgl. Waitz VI. S. 489). Die Schnelle oder Schuppe, ein Korb, aus welchem dieVerurtheilten in eine Pfütze oder Pferdetränke springen mussten, war besonders üblich für Bäcker,welche das Brot nicht im richtigen Gewichte ausgebacken hatten. Vgl. Osenbrüggen, Studien, S.364; Gierke: Der Humor im deutschen Rechte, 1871, S. 48 ff. Ueber den Schuppestuhl — eine sehrverbreitete Strafe — vgl. namentlich auch Frensdorff in den hansischen Geschichtsblättern, 1874, S.30 ff.

67Vgl. darüber z. B. Walchner: Geschichte von Radolphzell, S. 70, Ave-Lalleinant I. S. 87; BrünnerSchöffenbuch N. 540. „Ab antiquo consuetum est, quod quicumque pro maleficio flagelletur meinbrismutiletur vel aliter secundum justitiam corpore vitiatur, illi civitas est interdicta". — Ueber Landes-verweisungen in Flandern vgl. Warnkönig: Flandrische Rechtsgeschichte, III. 1 S. 173 ff. In Flandernwurden regelmässige Umritte gehalten, um die Verbannten aufzufinden.

68Vgl. z. B. Stadtr. von Hagenan von 1164 §§. 12—15 (Gaupp, D. Stadtr. I. S. 98), Stadtr. von Insbruckvon 1239 §. 7 (Gaupp II. S. 254). Woher diese ausgedehnten Vermögensconfiscationen kommen, istnoch nicht genügend aufgeklärt. Wir finden sie schon unter den Karolingern verbunden mit Exil undTodesstrafe (Waitz IV. S. 439), allgemein bei Bruch der Treue (Waitz III. S. 265), dann aber auchbei besonders schweren Verbrechen, Elternmord, Incest; theihweise Vermögensconfiscation droht z.B. auch an als Nebenstrafe die Const. Henrici III. Langobardica über den Giftmord (Pertz Legg. II.S. 42). (Ueber die allmähligen Milderungenin dieser Hinsicht vgl. Osenbrüggen, Studien, S. 185ff.)

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F. D.Das Strafrecht des späten Mittelalters

verhängnisvolle Rolle. SoSeite 104

sehr auch spätere Rechtsquellen dieselben einschränkten, und die Paromie, dass man mitdem Halse Alles bezahle, dagegen angerufen werden mochte, so musste doch noch dieCarolina Art. 218 sich veranlasst finden, ganz besonders gegen die vielfachen oft ganzwiderrechtlichen Vermögensconfiscationen, wodurch „Weib und Kinder am Bettelstabewerdenëinzuschreiten.§. 39. Die demoralisirende Wirkung einer so rohen Strafjustiz aber wurde noch durch

eine Reihe von Nebenumständen gesteigert.Zunächst kam es bei vielen Vorbrechen und ganz besonders beim Todtschlage darauf

an, ob Jemand auf handhafter That gerichtet, oder was dem im Erfolge gleichstand, inder Verfestung ergriffen wurde, oder aber ob es ihm gelang, sich vorläufig in Sicherheitzu bringen und eine Sühne in Geld anzubieten. Die für Todtschlag angedrohte Todess-trafe gilt wohl immer nur für den ersten Fall, und zuweilen ist das auch ausdrücklichgesagt.69Bei der mangelhaften Rechtshülfe der verschiedenen Gerichtsbezirke und Terri-torien, den zahlreichen Freistätten,70

Seite 105welche den Verfolgten einstweilen schützten, musste aber für begüterte Personen, diezahlreiche Verwandte und Freunde hatten, der zweite Fall sehr oft eintreten. Umgekehrt

Meiner Ansicht nach hängen die mittelalterlichen Vermögensconfiscationen einerseits mit der Un-freiheit zusammen — denn ursprünglich erfolgen sie zum Vortheile des Herrn der Stadt und nachfranzösischem Lehnrechte verlor der Lehnsmann wegen gewisser Verbrechen auch die Mobilien anden Lehnsherrn (vgl. Du Boys II. S. 221 ff.) —, andererseits mit dem Umstände, dass der Friedbruchdie Rechtlosigkeit, d. h. auch den Verlust alles Dessen nach sich zog, was der Schuldige innerhalb derGemeinschaft besass, wie denn die Confiscation in der Zeit vom X.—XII. Jahrhundert besonders oftvorkommt.

69Vgl. z. B. Rechtsbr. von Passau v. 1225 §. 24; Eisenacher Statut v. 1283 §. 22; Rechtsbuch des HerzogsAlbrecht für Klagenfurt v. 1338 §. 8 (Gengler: Deutsche Stadtrechte S. 291). Auch von Bremen berich-tet Donandt: Versuch einer Geschichte des Bremer Stadtr. II. S. 289, dass der ergriffene Todtschlägerenthauptet wurde, während dem Entflohenen das Abkaufen der Friedlosigkeit nicht unmöglich war.— Auch die Constitutiom Friderici I. de incendiariis v. 1187 bestimmt die Strafe der Enthauptungnur für den ergriffenen Incendiarius. Wer dagegen sich freiwillig stellt oder aus der Acht sieht, sollmit kirchlicher Pönitenz (Wallfahrt), Leistung des Schadensersatz und Verbannung von Jahr und Tagdavon kommen.

70Jeder Herrenhof, später auch die Wohnung eines herrschaftlichen Beamten war eine Freistätte, vonwelcher ans man um gütliche Beilegung der Sache unterhandeln konnte (Freihöfe). Gewöhnlich hatteder Verfolgte 6 Wochen und 3 Tage Zeit dazu, und selbst nach Ablauf dieser Frist brauchte er nichtausgeliefert zu werden, sondern konnte an einen Ort (z. B. in den Wald) gebracht werden, von welchemaus weitere Flucht leicht möglich war. Auf der Verletzung dieses Asylrechts, das ursprünglich ein Rechtdes Hofes eines Vollfreien war, standen erhebliche Strafen. Vgl. v. Maurer: Gesch. d. Fronhöfe, IV.S. 246 ff, und neuerdings Frauenstädt: Die Blutrache, S. 56 ff. Häufig gründete sich dies Recht derFreistätte auf ein kaiserliches oder fürstliches Privileg. Später wurden solche Privilegien wegen derUebelstände, die sie hervorriefen, nur noch mit Beschränkungen ertheilt. — Auch die Bestimmungender städtischen Statuten über den Hausfrieden kommen hier in Betracht, insofern der in ein fremdesHaus Fliehende, falls nicht der Richter selbst ihn herausforderte, vorläufig vor der Festnahme gesichertwar, und insofern Derjenige, dem es gelang, sein eigenes Haus zu erreichen, dort eine bestimmte ZeitFrieden hatte, innerhalb deren es ihm oft gelingen musste, zu entfliehen. Vgl. Osenbrüggen: DerHausfrieden, 1851, S. 26 ff., S. 40ff.

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aber zog jedes Delict. wegen dessen Verfestung gegen den Abwesenden ausgesprochenwar, falls der Verfestete ergriffen wurde, meistens Todesstrafe nach sich,71und die Ver

Seite 106festung verwandelte sich, falls der Verfestete sich nicht binnen Jahr und Tag darausdurch Unterhandlung oder Gestellung zog, in eine vollständige Rechtslosigkeit innerhalbdes Bezirkes, dessen Richter die Verfestung ausgesprochen hatte.72

Ungeachtet der oft kategorisch ausgesprochenen Lebens- und Leibesstrafen galt aberdann auch wiederum factisch die Taidigung, d. h. der Vergleich mit dem Beschädigten,bezw. dessen Angehörigen nicht nur bei Todtschlag73und Verwundungen, sondern nicht

71Sachs. Landr. III. 63 §. 3 „Vestinge nimt dem manne sin lif, ot he begrepen wert dar binnen.ÄugsburgerStadtr. v. 1276 Art. XXXVIII. „Swer in der aht ist, wert über den gerichtet, den sol man ouch dashaupt absiahen . . "Vgl. Goschen, Goslar’sche Statuten, S. 477. Allerdings konnte mau diese Strengenicht immer festhalten, als man in den Städten anfing, die Verfestung auch auf geringfügigere Ankla-gen auszudehnen, wie es z. B. im lübischen Rechte geschah. Häufig wurde dann, obwohl Verfestungund Stadtverweisung ursprünglich ihrem Begriffe nach durchaus verschieden sind — die Stadtver-weisung ist eine Strafe gegen den Anwesenden, die Verfestung ist Contumacialurtheil gegen den Ab-wesenden (vgl. Frensdorff S. XXIV) — zur Stadtverweisung zuweilen mit gänzlicher oder theilweiserVermögensconfiscation geschritten. Vgl. Frensdorff S. LII. (Ueberhaupt aber kommen manche Ver-schiedenheiten im Einzelnen vor (Frensdorff S. XX, XXI). — Die Acht (ahta — ahtunga = persecutio)oder Verfestung (Proscriptio) ist keine Strafe des Verbrechens, wie allerdings von Vielen angenommenwird (so von Hälschner S. 31, Waitz VI. S. 492, Hugo Meyer: Das Strafverfahren gegen Abwesende,S. 68ff.), sondern, wie R. Löning, Vertragsbr. I. S. 219, es richtig bezeichnet, eine processuale Folgeder Weigerung, in einer wichtigen Sache vor Gericht zu stehen. Erst als diese Weigerung in gewissenKreisen und Ständen (insbesondere in den Ständen, deren Mitglieder sich der Fehde bedienen konn-ten), zur Regel wurde, nahm factisch die Acht den Charakter der Strafe an. Die praktische Wirkungder Verfestung ist, dass die dem Verbrechen angedrohte Strafe um des Ungehorsams willen allemalzur Lebengstrafe gesteigert wird (so Frensdorff S. XVIII).— Die Verfestung oder Acht (so heisst dieMassregel namentlich, wenn sie vom Könige ausgesprochen wird) ist nichts Anderes als eine gemil-derte Friedlosigkeit. Niemand darf den Verfesteten, Geächteten herbergen oder speisen; aber rechtlosist dieser dennoch nicht. Aber der Kläger erlangte das Vorrecht des Beweises und nach lübischemRechte brauchte er nur die Verfestung, nicht auch die Anklage, wegen deren jene ausgesprochen war,zu beweisen (Frensdorff 8. XXIX). — Eigentümlich ist, dass die Bannitio der italienischen Statuten,mit der die italienischen Juristen sich viel beschäftigen, noch die Wirkung hat, dass der Bannitus vonJedem ungestraft angegriffen werden kann. (Noch Clarus §. homicidium n. 71 erörtert die Frage, obder Bannitus gegen einen Privaten, der ihn auf Grund solcher Erlaubniss der Statuten angreife, derNothwehr sich bedienen könne). Die vielen Parteikämpfe in den italienischen Städten wirkten hierwohl ein.

72Um die Verfestung in einem grösseren Bczirke wirksam zu machen, konnte man sie an einen höherenRichter bringen, eventuell an das Gericht des Königs, wodurch sie in die für das ganze Reich gültigeReichsacht verwandelt wurde. Die in gewissen Gerichten ausgesprochene Verfestung galt ohne Weite-res für das ganze Territorium, und Städte schlossen häufig Verträge über gegenseitige Anerkennungder von ihnen ausgesprochenen Proscriptiones. Vgl. darüber H. Meyer a. a. 0. S. 84 ff. und Frensdorff8. XXIV ff. Nach dem Brünner Schöffenb. N. 482 wird der wegen Diebstahls Proscribirte auf einfachesErsuchungschreiben, worin bezeugt wird, dass er mit Recht proscribirt sei, in solchem Falle gehängt.Nach der Schleswig-Holstein’schen Landtheihung von 1490 sollte die Landesverweisung für das ganzeLand gelten. Vgl. v. Warnstedt: Zur Lehre von den Gemeinde-Verbänden, kritische Beleuchtung desRechtsstreits, betr. die Glückstädter Strafanstalten, 1878, S. 34. Auch finden wir in den Städten, aberauch bei dem Gerichte des Königs (vgl. Alberti I. Const. pacis a. 1303 §. 37, Pertz Legg. II. S. 483)eigene Verzeichnisse der Verfesteten, bezw. in die Acht Erklärten (Liber proscriptorum).

73Uebrigens war an manchen Orten die vorsätzliche, aber ohne Verrath erfolgende Tödtung bis zur Wirk-samkeit der Carolina überhaupt nicht mit Todesstrafe bedroht. Noch nach dem Braunschweigischen

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F. D.Das Strafrecht des späten Mittelalters

selten selbst bei Diebstahl und Raub.74Hatten doch die Stadtobrigkeiten oft Mühe, denSeite 107

Frieden zwischen zwei mächtigen Stadtfamilien aufrecht zu erhalten,75 und noch lan-ge Zeit betrachtete man in Fällen des Todtschlags strafrichterliches Einschreiten alsäusserstes Auskunftsmittel, wenn kein Vergleich unter den betheiligten Familien erfolg-te.76Zwang man doch oft, um nicht die Rache aufkommen zu lassen, die Verwandten desErschlagenen zur Annahme der Busse.Allerdings konnte ein Vergleich, sobald einmal Klage erhoben war, nur noch mit Geneh-

migung des Gerichts erfolgen,77uud wurde der Kläger ohne solche Genehmigung, wenn erseine Klage nicht durchführte, selbst bussfällig.78Indess diese Genehmigung des Richters,der dann das Gewette bezahlt erhielt (das alte Fredum), oft vielleicht auch mehr, warwohl unschwer zu erlangen, und von jeher hatte die Gerichtsbarkeit, die ohnehin wie einVermögensstück, wie eine Rente zu Lehen gegeben wurde, als Erwerbsquelle gegolten.79

Echteding von 1532 N. XXIX. (Hänselmann: Urkundenbuch der Stadt Braunschweig, S. 342) stehtdarauf eine 60jährige Verbannung aus der Stadt, Geldstrafe von 30 Gulden an den Rath und Vertragmit den Blutsverwandten des Getödteten. — Ueber das Loskaufen in Flandern selbst bei Mord vgl.Warnkönig: Flandrische Rechtsgegch. III. 1 S. 160.

74Vgl. Klagspiegel zum Titel de poenis (Fol. 31b der Ausgabe, Strassburg, 1533) „Item Du solt mercken,das vmb ein yegklich, darumb dann über das blutgericht möcht werden, getaidingt vnd übereinkom-men mag werden on pen". — Bis 1527 nahm z. B. noch der Adel in der Mark Brandenburg es alsunbedingtes Recht in Anspruch, auch freventliche Tödtungen mit Wergeld und Gewette zu bliesen.— Vgl. Hälschner, Gesch. S. 117, und über merkwürdige Fälle der Art im XVII. Jahrhundert ausdem Hannoverschen (Vogtei Celle) Bülow und Hagemann: Practische Erörterungen, II. S. 260.

75Ueber den von der Obrigkeit angesagten Frieden, den dann auch die Familien, wie die Famuli undServi halten mussten, vgl. z. B. Brünner Schoffenb. N. 530, 534 und noch Wormser Reformation VI.2. tit. 23 a. E. (vgl. auch Osenbrüggen, Studien, S. 383). — Häufig wurde der gelobte Frieden vonden Betheiligten wieder ausser Kraft gesetzt. Das wurde dann wieder von den Statuten beschränkt.

76In Italien war es lange Zeit bestritten, ob der mit dem Vorletzten geschlossene Fax die Strafverfolgungausschliesse. Vgl. darüber Bonifacius de Vitalinis Rubr. de poenis n. 4 ff. Dieser Schriftsteller erörtertauch manche dabei mögliche Zweifel, z. B. die Befugniss des Vergleichs im Falle, dass mehrere Erbenda sind, mit Feinheit und Schärfe. Ueber die ausserordentliche Begünstigung der Todtschlagssühneim nördlichen Deutschland noch im späten Mittelalter vgl. jetzt namentlich Frauenstädt S. 136 ff.Häufig unterHessen die Verwandten des Erschlagenen die Klage, weil sie sich fürchteten, das. S. 1G9.

77Die Pax oder Remissio bedurfte auch in Italien der Approbatio des Gerichts (vgl. die besonders guteDarstellung des Clarus §. fin, qu. 58). Noch in der Mitte des XVI. Jahrhunderts spielt hier die Pax einebedeutende Rolle, selbst nach allgemein anerkannter Zulässigkeit des rein inquisitorischen Verfahrens,welches im Volke doch beim Mangel genügender Polizei noch nicht voll anerkannt wurde.

78Sächs. Landr. I. 53 §.1, II. 8, Stadtr. von Ens von 1212 §.21 (Gaupp II. S. 222), Wiener Stadtr. von1221 §. 31, Brunner Schoffenb. N. 52, Klagspiegel Tit de poenis Fol. 131 b.

79Vgl. über solche Taidigungen namentlich Zöpfl: Das alte Bamberger Recht, als Quelle der Carolina, S.114. — Mit den durch solche Taidigung übernommenen Pflichten nahm man es dann aber sehr genau.Im Jahre 1328 hatte Jemand in Bamberg einen Todtschlag begangen und zur Sühne versprochen, mitseiner Verwandtschaft Kirchenbusse zu thun. Diese Verpflichtung erfüllte er nicht; er wurde sofortohne Gnade hingerichtet, wie er denn auch für den Fall der Nichterfüllung seines Versprechens —und wahrscheinlich weigerte sich die Verwandtschaft, mit ihm Kirchenbusse zu thun — sich eidlichder Hinrichtung unterworfen hatte. Vgl. Anhang V. N CIV. zum Bamberger Rechte, bei Zöpfl S.164 des Urkundenbuchs und Zöpfl a. a. 0. S. 115. — Wie bedeutend überhaupt noch das Momentder freiwilligen Unterwerfung war, zeigt noch der von Cantzow, Pommerania II. S. 448, vgl. Jarcke,Handbuch I. S. 32, mitgetheilte Fall aus den siebziger Jahren des XV. Jahrhunderts. Ein jungerMann aus angesehenem Geschlechte hatte durch unvorsichtigen Scherz seinen Freund getödtet. Die

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Seite 108Und dabei griff auch die alte Vorstellung ein, dass, da der König, die Obrigkeit denFrieden zu schützen habe, die Verletzung des Friedens auch gewissermassen Verletzungdes Königs oder Herrn sei, über deren Sühne dieser ebenso nach Willkür und Gefallenverfugen könne, wie der verletzte Private über Fehde und Composition. Finden wir dochsowohl in königlichen Verordnungen80wie in landesherrlichen Stadtrechtsbüchern81 oftdie unbestimmte Drohung, dass der Uebertreter des Verbotes oder Gebotes die Gna-de des Königs, des Herrn verloren haben solle. Diese Gnade82musste dann durch Zah-lung einer meist vom Ermessen des Königs oder Herrn abhängigen, zuweilen auch festbestimmten Summe wieder erkauft werden, und oft hatte der Schuldige auch eine be-stimmte Zeit Frieden, damit eben er diese Summe zusammenbringen könne. Es lag nahe,diese Gnade auch da eintreten zu lassen, wo eine bestimmte Strafe angedroht war, unddies Recht nicht nur dem Herrn selbst, sondern auch den Beamten zu gewähren; im-mer jedoch, sofern das Delict zugleich in der Verletzung einer Privatperson bestand —und darin zeigt sich deutlich, wje tief die alte Vorstellung wurzelte, dass das Verbrechenzunächst Verletzung eines besonderen Rechtes und erst folgeweise Verletzung der allge-meinen Rechtsordnung sei — nur mit

Seite 109Zustimmung des Verletzten83oder doch nur dann, wenn dieser oder die Verwandtschaftdes Getödteten nicht auf strenges Recht drang. Wo nicht etwa verwerfliche Motive ein-wirkten, waren es häufig Bitten der Geistlichkeit, der Verwandten (der Freundschaft)des Schuldigen,84 welche den Richter veranlassten, statt der sonst verwirkten Leibes-und Lebensstrafe eine Geldstrafe, eine Wallfahrt oder Ausführung eines anderen gutenWerkes zu bestimmen. Es ist aber augenscheinlich, dass, wenn man auch zwischen demArmen und Geringen und dem Reichen und Vornehmen rechtlich keinen Unterschiedmachte, dies doch factisch sich ganz anders verhielt. Jenem fehlten meist die mächtigenFürsprecher, die dieser beibringen konnte, und so erklärt es sich denn auch, dass zuweilendie Richter nicht wagten, gegen eine vornehme Person ein wohlverdientes Todesurtheilauszusprechen, ja dies wohl dem Herkommen entsprechend erachteten.

Freundschaft des Letzteren Hess den Thäter zum Tode verurtheilen; nachher wollte sie ihn aberwieder freigegeben wissen, um sich damit zu rühmen, dem Schuldigen das Leben geschenkt zu haben.Der Verurtheilte nahm das aus Stolz nicht an und liess sich, indem er sich jede Berührung seitensdes Henkers verbat, auf dem Kirchhofe hinrichten.

80Vgl. Waitz VI. S. 450ff.81Vgl. z. B. Freiburger Stiftungsbrief von 1120 §. 14 (Gaupp II. S. 21): „gratiam Domini ducis amisit",

Stadtr. von Dattenried von 1358 §. 26 (Gaupp II. S. 180). — Wo Todesstrafe vorkommt, heisst esauch sehr oft: „sit in potestate (oder in gratia) oder in misericordia domini". Vgl. Warnkönig: Flandr.Staats- u. Rechtsgesch. III. S. 162.

82Vgl. ältestes Statut von Soest §.6 (Gengier S. 441): „Causa quae . . . mota fuerit et terminata vel perjustitiam vel per misericordiam . . ."Kaiser Sigmund verlieh 1433 der Stadt Luzern ein besonderesPrivileg - iiber das Richten nach Gnade.

83Hälschner S. 45.84Koch nach der peinl. Halsgerichtsordnung von Davos in der Schweiz von 1650 sollte überhaupt am

endlichen Rechtstage Umfrage ergehen, „ob jemandt geistlich oder weltlich, Mann oder Weibspersonum Gnad oder Milderung für die arme Person bitten wollte". Hiernach wurde gewissermassen dassittliche Volksbewusstsein zur Prüfung der Strenge des Urtheils aufgefordert

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F. D.Das Strafrecht des späten Mittelalters

Nicht selten wurde auch nach altem (noch am Ende des XVII. Jahrhunderts geübten)Brauche dem Verurteilten das Leben geschenkt, wenn eine Frau (ursprünglich wohl eineJungfrau) ihn zur Ehe begehrte, und auch wohl auf den umgekehrten Fall, dass eineVerurtheilte von einem Manne zur Ehe begehrt wurde, fand später jenes eigenthümlicheRecht Anwendung. 85

Aber auch andere zufällige Umstände hatten Einfluss, So war es das Recht des Scharf-richters je den zehnten Mann, den er hinzurichten hatte, gegen Geld zu lösen,86und wiein uralter Zeit der Verbrecher zuweilen nicht geradezu getödtet, sondern den Elementen,dem Zufalle preisgegeben wurde,87so Hess man auch später oft den Zufall als Zeicheneiner von Gott erfolgenden Verzeihung, z. B. bei der Strafe

Seite 110des Ertränkens, gelten und verzichtete auf weitere Vollstreckung des Urtheils.88

Am Wesentlichsten aber kommt in Betracht die Unsicherheit des gerichtlichen Ver-fahrens, insbesondere des Beweisrechtes im späteren Mittelalter, dessen genauere Schil-derung freilich der Geschichte des Strafprocesses überlassen bleiben muss. Wir findenhier die seltsamsten Mischungen germanischer und römischer Beweisgrundsätze, Reini-gungseid, Eidhelfer- und Zeugenbeweis, einseitigen und zweiseitigen Beweis, daneben oftTortur und nicht selten den alten Anklageprocess, wie 2, B. die Nürnberger Halsgerichts-ordnung zeigt, derartig von einer auf Tortur basirten Voruntersuchung überwuchert, dassjener nur noch als leeres Nachspiel erscheint, endlich eine Mehrheit tumultuarischer Ver-fahrensarten bei handhafter That und gegen übelbeleumundete Personen (Leumunds-verfahren). Nicht mit Unrecht schrieb doch wohl der Verfasser des Klagspiegels89vonden „närrischen Heckenrichtern in den Dörfern,"die „allein über schelmige Hühneründ„andere schelmige Vieh", nicht aber über Criminaldelicte urtheilen sollten, und im Jahre1496,90 also fast unmittelbar nach seiner Errichtung, wandte sich auf die fast täglich undaus allen Theilen Deutschlands einlaufenden Klagen über Ungerechtigkeit und Willkürder deutschen Strafgerichte das kaiserliche und Reichskammergericht an die in Lindautagende Reichsversammlung mit den denkwürdigen Worten:„Item so teglich wider Fürsten, Reichsstet vnd ander oberkeit in klagweis in einem

gericht anbracht wird, das sy leute unverschuldet an Recht vnd redlich Ursach zum tode

85Vgl. Osenbrüggen a. a. 0. S. 377 ff.86Sachsensp. III. 56 §. 3. Schwabensp. 126 (Lassberg). Landrechtsbuch Ruprecht» von Freysing Cap.

88. — Vgl. darüber besonders Abegg: Zeitschrift für Deutsches Recht, Bd. 15 S. 76. — Andererseitsbestimmte auch nicht selten der Nachrichter die Art der Todesstrafe, Abegg S. 58 ff.

87Das Einsetzen in ein Steuer- und ruderloses Schiff wird in der Sage erwähnt. Grimm S. 721. — Vgl.auch Weisthum des Klosters Frauen- Chiemsee (Grimm, Weisthümer IIL S. 671), wo ein derartigesVerfahren angeordnet wird für den Fall, dass der Richter, an welchen der Uebelthäter ausgeantwortetwerden soll, nicht zur Stelle ist. Vgl. dazu Osenbrüggen S. 341.

88Z. B. wenn der Strick riss, mit welchem der Verurtheilte gehängt wurde, Abegg: Zeitschr. f. deutschesRecht, Bd. 16, S. 317ff. — In Zürich richtete man im XVI. und XVII. Jahrhundert die Strafe desErtränkens bei Kindesmörderinnen so ein, dass Bettung nicht unwahrscheinlich war und die Strafedie Gestalt eines Gottesurtheils annahm. Osenbrüggen S. 348. — Zuweilen mochte freilich auch dieVorstellung mitwirken, dass die Execution als gerichtlicher Act ein formelles Ende erreicht habe. Vgl.den von Osenbrüggen S. 353 besprochenen Baseler Fall.

89Rubr. Quando judex per se inquirere potest. Fol. 113a der Ausgabe v. 1533, Strassburg.90Müller: Reichstheatrum, II. 78,446. Vgl. Brunnenmeister: Die Quellen der Banibergensis, S. 1.

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verurtheilen vnd richten lassen haben sollen vnd durch die Fründt rechts wider dieselbenbegert . . . ist bescheids not, wie es . . . am Cammergericht gehalten werden sol."Der Reichstag von Freiburg in Breisgau von 1498 fasste hierauf den Beschluss:„Auf den artickel, dass viele zu dem tode one recht vnd unverschuldt verurteylt werden

. . . wirdet not seyn, deshalb ein gemein Re-Seite 111

formation und Ordenung in dem Reich fürzunemen, wie man in criminnlibus procedirensoll."91

Die Reception des römischen Rechtes oder richtiger die Verbindung römischer undgermanischer Rechtsprincipien, welche gegen Ende des Mittelalters auf anderen Gebietendes Rechts sich vollzog, konnte auch für das Gebiet des Strafrechts nicht ausbleiben, undhier erfolgte sie sogar in einer weit richtigeren Weise, ohne diejenigen Missstände undMissverhältnisse mit sich zu führen, welchen wir in anderen Gebieten des Rechts so oftbegegnen, und welche zum Theil bis auf die neueste Zeit herab unser Rechtsleben somannigfach geschädigt haben.Zu einem grossen Theil ist das Strafrecht nichts Anderes als eine Anwendung allge-

mein gültiger philosophischer Wahrheiten und moralischer Grundsätze; der Schatz vonKenntnissen, den ein Volk hierin sich erworben hat, lässt sich daher, die erforderlichenprocessualen Einrichtungen zur Ermittelung der concreten Thatbestände vorausgesetzt,in gewissem Umfange, ohne dass dadurch Missstände hervorgerufen werden, auf dasRecht eines anderen Volkes übertragen, wie ja auch heut zu Tage die Strafgesetzbücherder Hauptculturvölker, was den sogenannten allgemeinen Theil betrifft mit Ausnahmedes Strafensystems oft auf minder civilisirtc Nationen übertragen werden. Und bei an-nähernd gleicher Cultur wird sich das Bedürfniss ziemlich dieselben Handlungen mitStrafe zu belegen in den verschiedenen Staaten geltend machen. Das Strafrecht enthältweit weniger willkürliche oder auf Erwägung der blossen Zweckmässigkeit oder endlichauf blosser Ueberlieferung beruhende Sätze, als das Privatrecht; es dient zum Schüt-ze der Rechtsinstitutionen. Man kann die letzteren recht verschieden sich denken, unddoch wird der Wall, der dieselben zu schützen bestimmt ist, im Wesentlichen dieselbeConstrution erhalten können, unter Umständen erhalten müssen. Die Reception des rö-mischen Rechts auf dem Gebiete des Strafrechts geschah aber nicht nur ohne Schaden:der Contact römischer und deutscher Rechtsgrundsätze führte zu einer Vertiefung derPrincipien, wie sie im römischen Recht vermuthlich nie, im germanischen Rechte, wäredies seiner ursprünglichen Entwickelung allein überlassen worden, jedenfalls nur nachlanger Zeit zu erreichen gewesen wäre.92

91Neue Sammlung der Reichsabschiede, II. S. 46. Reichsabschied zu Freiburg §. 34.92Dafür liefert den Beweis das mehr, wenn auch nicht völlig-, dem Einflüsse des römischen Rechts

entzogen gebliebene englische Strafrecht.

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F. D.Das Strafrecht des späten Mittelalters

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception desrömischen Rechts

Seite 112Malblank: Geschichte der peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V., 1783. Henke:Grundriss, Bd. 2. — Zöpfl: Das alte Bambergcr Recht als Quelle der Carolina, 1839.— Herrmann: Freiherr Johann v. Schwarzenberg. Ein Beitrag zur Geschichte des Cri-minalrechts, 1841. – v. Wächter: Gemeines Recht Deutschlands, insbesondere gemeinesdeutsches Strafrecht, 1844. — Warnkönig u. L. Stein: Französische .Staats- und Rechts-geschichte, III. S. 611 ff. — Schäffner: Geschichte der Rechtsverfassung Frankreichs, III.S. 427 ff., S. 601 ff.; IV. S. 322 ff. — Köstlin: Geschichte, S. 200ff. — Geib: Lehrbuch,I. S. 240ff. — v. Stintzing: Geschichte per populären Literatur des römisch-kanonischenRechts in Deutschland, 1867. — Berner: Die Strafgesetzgebung in Deutschland vom Jah-re 1751 bis zur Gegenwart, 1867. — Allard: Histoire du droit criminel au XVème siècle.Paris, Leipzig, 1868. — v. Holtzendorff: Handbuch, I. S. 67—143. (Geschichte der ausser-deutschen Strafrechte, das. S. 144—238). — Güterbock: Die Entstehungsgeschichte derCarolina auf Grund archivalischcr Forschungen, 1876. — v.Wächter: Beilagen, S. 100 ff.— Brunnenmeistcr: Die Quellen der Bambergensis, ein Beitrag zur Geschichte des deut-schen Strafrechts, 187!). — v. Stintzing: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft,I. 1880.Literaturangaben besonders in:G. W. Böhmer: Handbuch der Literatur des Criminalrechts, 1816; v. Wätchter: Lehrb.

d. rönmisch-teutschen Strafrechts, 2 Bde., 1825,1826; Kappler: Handbuch der Literaturdes Criminalrechts, 1838; Geib: Lehrbuch, I.; Nypels: Le droit penal francais progressif etcomparé, Bruxelles, 1864; Binding: Grundriss zu Vorlesungen über gemeines deutschesStrafrecht, 2. Aufl., 1877.§. 40. Das germanische Recht beachtet zunächst die äussere Rechtsverletzung. Das

Schuldmoment wird zwar nicht völlig vernachlässigt, aber das grob behauene Beweisrechtmuss die innere Schuld in äusseren Thatumständen verkörpert finden, die je länger jemehr der inneren Verschuldung inadäquat erscheinen. Wir bemerken hier das vergebliche

Seite 113Ringen der Rechtsbücher des späteren Mittelalters, besonders z. B. in den Fällen derCulpa, der Nothwehr. Theologie, Moral, kanonisches und mosaisches Recht werden da,wie wir sahen, nicht selten recht verkehrte Führer.Alles aber, was man in dieser Beziehung vermisste, fand man in einfachen und deutli-

chen Sätzen, in sicherer Anwendung auf einzelne Fälle im römischen Rechte. Das neuesterömische Recht konnte in mannigfacher Beziehung als feinere Durchbildung des einhei-mischen Rechtes betrachtet werden. Man griff nach ihm, wenn letzteres dem einzelnenFalle nicht mehr schien gerecht werden zu können. Dies war aber im späteren Mittel-

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

alter sehr oft der Fall. Auch konnte im späteren Mittelalter die alte trotzige germani-sche Freiheit sich nicht mehr behaupten, Polizei und staatliches Regiment wurden inganz anderer Weise als früher nothwendig, namentlich in den Städten. Obrigkeiten undFürsten erhielten eine andere Stellung, Handel und Gewerbe verlangten einen anderenSchutz. Mancher tief greifenden Verschiedenheiten, ungeachtet war doch das Leben, inden Städten besonders, dem Leben im früheren römischen Reiche ähnlicher als dem Le-ben, welches die alten Germanen auf einsamen Gehöften und Dörfern geführt hatten. Fürden jetzt nothwendigen strafrechtlichen Schutz passten römische Delictsbegriffe in man-cher Beziehung besser als die Sätze des älteren deutschen Rechts. Statt den weitläufigenund schwierigen Weg eines besonderen Statuts zu wählen, war es einfacher, das römi-sche Recht als eine feinere Ausgestaltung des einheimischen Rechts zu behandeln, um somehr als man gewohnt war, Recht und Rechtsprechung von einer Stadt nach einer ande-ren herüberzunehmen und zu verpflanzen. Indess das römische Recht ist nicht nur mitmanchen willkürlichen und hässlichen Auswüchsen behaftet, ist nicht nur in mancherBeziehung Gelegenheitsgesetzgebung; es leidet auch an dem Grundfehler, dass es denErfolg der Handlung zu wenig beachtend ebendeshalb an einer nur oberflächlichen Wür-digung des Willens sich genügen lässt, dass es die Delictsbegriffe nicht genug sondertund im Grunde doch mit dem Individuum schrankenlos schaltet. In diesen Beziehun-gen musste die germanische Rechtsauffassung gewahrt bleiben; man durfte die blossenAuswüchse, die Inconsequenzen und Willkürlichkeiten, sowie Dasjenige, was mit voüber-gehenden historischen Zuständen zusammenhing, nicht mitübertragen, man durfte dieim Allgemeinen festeren germanischen Delictsbegriffe nicht aufgeben, und man mussteden germanischen Freiheitsbegriff zum Grunde legend, die Unterwerfung des Einzelnenunter das Strafgesetz doch insofern auf dessen eigenen Willen zurückführen, als jedeRückanwendnng neuer Strafgesetze zum Nachtheile des Einzelnen ausgeschlossen undeine Bestrafung nur nach einem Gesetze zugelassen wurde, das der Einzelne

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kannte oder doch vermuthlich kennen musste, als in dem Wortlaute des Gesetzes, demder Einzelne bei seinem Verhalten vertrauen durfte, eine Garantie für die Freiheit desEinzelnen, nicht aber, wie im römischen Hechte ein Mittel gefunden wurde, den Einzelnendesto sicherer zu treffen.Diese Arbeit war in richtiger Weise begonnen und zu einem grossen Theile, wenn auch

nicht ohne alle Missgriffe, durchgeführt von der italienischen Jurisprudenz. DeutschesRecht trat hier früher als in Frankreich und Deutschland mit römischem in Berührung.Bildung und Cultur waren hier grösser. Wenn man absieht von dem oft ungelenken Aus-druck, den nicht selten befremdenden dialektischen Unterscheidungen, wird man nichtverkennen, dass hier doch das Strafrecht, verglichen mit dem römischen, eine wesentlicheVertiefung erhalten hat,1 dass man insbesondere beginnt, die einzelnen Entscheidungender römischen Quellen auf möglichst umfassende allgemeine Principien zurückzuführen.Man braucht hier nur zu gedenken der Art und Weise, in welcher die Entscheidungendes Pandektentitels ad legem Aquiliam in Verbindung gesetzt werden mit dem Titel de

1Vgl. besonders die Abhandlung von Seeger im Gerichtssaal 1872 S. 204 ff.

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lege Cornelia de sicaiiis und den statutarischen Strafgesetzen über Tödtung und Ver-wundung, der Art und Weise, in welcher eine allgemeine Theorie der Anwendung neuerGesetze,2 der Nothwehr, des Versuchs, der Bestrafung der verschiedenen Theilnehmeran einem Delicte, der Concurrenz in Angriff genommen wurde. Mit sicherem Tacte wis-sen die italienischen Juristen die Punkte zu finden, in denen das römische Recht, wennseine Anwendung auch de facto möglich gewesen wäre, doch dem allgemeinen Rechts-bewusstsein zuwider gelaufen wäre. Die Bestrafung mancher Versuchs- und sogar, ummit heutigen Begriffen zu reden, mancher Vorbereitungshandlungen mit der gleichenStrafe, welche auf das vollendete Verbrechen gesetzt ist, eine Bestrafung, die sich ausdem Charakter der Lex Cornelia als eines Gelegenheitsgesetzes erklärt, wird so von denItalienern auf Grund der generalis Consuetudo verworfen, und derselben Consuetudogeneralis werden die Strafen des Diebstahls, des gewerbmässigen Raubes entnommen.Auch findet man bei genauerem Studium das Statutarrecht so mannigfach berücksich-tigt, dass von einer Nichtbeachtung des ger-

Seite 115manischen Rechts wahrlich nicht gesprochen werden kann, und wenn, wie es doch no-torischermassen der Fall war, diese gelehrten Juristen die Praxis beherrschten, so istein anderes Verhältniss auch schwer denkbar. Eine offene Nichtbeachtung der Statutenwäre so wenig von dem selbstbewussten Bürgerthum der italienischen Städte, wie vonder autokratischen Macht der Fürsten Italiens ertragen worden. Freilich war man imMittelalter weit entfernt von der heutigen Theorie der Staatsund Gesetzes-Omnipotenz.Dass Dasjenige, was aus der Naturalis ratio nothwendig sich ergibt, durch ein Gebot desGesetzgebers nicht ausser Kraft gesetzt werden könne, stand überhaupt und nicht nurfür das Gebiet des Strafrechts fest, und so dürfen wir uns nicht wundern, auch Untersu-chungen über die Gültigkeit harter und insbesondere Unschuldige mittreffender Statutenzu finden3 oder Aussprüchen zu begegnen, nach denen Einzelnes als mala consuetudo4

oder als Statut contra bonos mores keine Beachtung verdienen soll.5

Die hier wesentlich in Betracht kommenden Schriftsteller6 sind aber, wenn wir absehenvon Denjenigen, welche wie Azo und die Glosse nur das römische Recht commentirten,erklärten, nicht aber römisches Recht nach Massgabe der Generaiis consuetudo, derStatuten und der wirklichen Praxis darstellten, und wenn wir auch absehen von denje-nigen Schriftstellern,7 welche wie Roffredus (t 1250), Guilielmus Durantis und Jacobus

2Hier gründet eich die Theorie der Juristen auf ein merkwürdiges Gutachten des Richardus Malumbraaus dem Anfange des XIV. Jahrhunderts. Es wird bereits der heut zu Tage allgemein anerkannteSatz über die Rückanwendung neuer milderer Strafgesetze aufgestellt. Vgl. Albericus de liosciateComment. super Codicem ad leg. 7 C. de legg. und dazu Seeger: Abhandlungen aus dem Strafrecht,1862, II. 1 S. 52ff.

3Vgl. z. B. Hippolytus de Marsiliis (gest. 1529) ad leg. Corn. de sicariis L. Infamia n. 16, n. 13.4Bonifacius de Vitalinis Rubr. quid sit accusatio n. 113.5Hippolytus de Marsiliis Practica §. Restat n. 92.6Bolandinus de Romanciis (+ 1284) hatte die erste besondere Schrift über Criminalrecht geschrieben.Vgl. v. Savigny: Geschichte, V. S. 557.

7Vgl. über diese Schriftsteller überhaupt v. Savigny, V. und VI.; Allard: Histoire de la justice crim., S.397 ff.; Biener: Beiträge zur Geschichte des Inquisitionsprocesses, S. 93ff.; Bosshirt: Geschichte, undSystem des deutschen Strafrechts, I. S. 208 ff.

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

de Belvisio (geb. 1270, + 1335) wesentlich nur den Strafprocess behandelten: Albertusde Gandino (Gandinus)8, Ende des XIII. Jahrhunderts, Bartolus de Saxoferrato9 in sei-nem Commentar zu den Justinianeischen Rechtsquellen, Baldus de Ubaldis (geb. 1328, +1400), Bartolomeus de Saliceto (+ 1412) und endlich Angelus Aretinus de Gambilionibus(+ 1450),10 unter denen Gandinus, Bartolus und Aretinus die erste Stelle einnehmen.Den Höhepunkt erreicht die Wissenschaft des Criminalrechts in Italien allerdings erstim XVI. Jahrhundert mit Julius

Seite 116Clarus;11 bis zu dem Zeitpunkte aber, wo die Reception des römischen Hechts durch dieBambergensis und die Carolina besiegelt wird, bezeichnet ihn Angelus Aretinus, obschondie meisten für das materielle Strafrecht bedeutsamen und zugleich originellen Gedankenvielleicht dem Bartolus zugeschrieben werden müssen; wir werden darauf bei den ein-zelnen Lehren zurückzukommen Gelegenheit haben. Indess ist es leicht begreiflich, dassman in Deutschland Aushülfe für die unsichere und mangelhafte Strafjustiz zunächstbei denjenigen Schriftstellern suchte, welche das Strafrecht ex professo zu ihrem Themagenommen hatten und welche auch leichter verständlich waren als die Commentare zuden Pandekten und zum Codex, also namentlich zu Gandinus und Angelus Aretinus.12

§. 41. Dies geschah nun sowohl seitens der particularen Gesetzgebung, wie seitens derpopulären Literatur, welche das römische Recht den Richtern und Schöffen ebenso wiedem gebildetem Publicum verständlich zu machen unternahm. Der etwa um die Mittedes XV. Jahrhunderts verfasste, nachher von Sebastian Braut herausgegebene Klagspie-gel13 schöpfte besonders aus Azo, Roffredus und Gandinus, und aus dem Klagspiegelwiederum, zugleich aber auch direct aus Gandinus schöpfte die Wormser Eeformationvon 1498.14 Ebenso begegnet uns dieser Einfluss der Italiener, wenn auch in mehr ver-schwommener und unbestimmter Weise in den zum Theil wörtlich übereinstimmendenMaximilianischen Halsgerichtsordnungen für Tyrol (1499) und die Stadt Radolphzell(1506).15 Die Momente, nach denen im deutschen Mittelalter die Schuld gemessen wur-de, sind hier bereits aufgegeben, das vom Richter nach Massgabe des einzelnen Fallesfestzustellende Willensmoment wird in Uebereinstimmung mit dem römisch-kanonischenRechte als Massstab verwendet, und die Bedeutung der Criminalstrafe, als einer öffent-lichen, nicht vom Belieben des Verletzten abhängigen Strafe durchgeführt.

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8Libellus de maleficiis.9Geb. 1314, + 1357.

10Tractatus de maleficiis.11Geb. 1525, + 1575. Practica criminalis s. Sententiarum receptarum L. V., 1560 und oft gedruckt.12Nachweisungen bei Brunnenmeister S. 148.13Der Klagspiegel ist nichts Anderes, als eine keineswegs gleichmassig gelungene Zusammenstellung aus

den Schriften einer beschränkten Anzahl italienischer Juristen. So urtheilt mit Recht BrunnenmeisterS. 151 Anm.

14Brunnenmeister S. 120ff.15Vgl. Wahlberg: Die Maximilianischen Halsgerichtsordnungen, ein Beitrag zur Geschichte des Straf-

rechts in Oesterreich (in Haimerl’s Vierteljahrsschrift 1859 [IV.] S. 131 ff.). Eine andere Halsgerichts-ordnung ward 1514 für Laibach erlassen, und die Niederösterreichische Landesgerichtsordnung von1514 enthält gleichfalls strafrechtliche Bestimmungen.

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Alle diese Arbeiten sind zunächst Processordnungen; materielles Recht wird nur mehrgelegentlich mehr oder weniger dürftig in ihnen abgehandelt, am besten und vollstän-digsten noch in der Wormser Reformation. Ein vollständiges Gesetzbuch will auch dieletztere, welche Stobbe (II. S. 335 ff.) sehr richtig als ein zum Gesetz erhobenes Lehr-buch bezeichnet, nicht sein und in der Halsgerichtsordnung für Radolphzell heisst es (§.XXXI)16 ausdrücklich:„Vnd nachdem hierynn nit all vbeltaten so beschehen möchten, beschrieben vnd aus-

gedruckt sind, so sollen doch nit desto minder der Vogt mit Bat oder Vrtheil der Rät. . .auch in denselben so nit hyrinnen ausgedruckt sind, zu vrtheilen vnd zu straffen habennach Irem pesten versteen vnd gestalt einer yeden vbeltat."Und so ist auch diejenige particularrechtliche Arbeit, welche die Grundlage des neuen

umfassenden Reichsgesetzes, der Carolina und somit des deutschen Strafrechts für un-gefähr dritthalb Jahrhunderte wurde, die Bambergensis, zunächst Gesetz für den Straf-process, wie denn in der That die Sicherheit des Pocessganges und des Beweisrechtes dasdringendste Bedürfniss war.17

Und auch in anderer Beziehung steht diese im Jahre 1507 publicirte Halsgerichts-ordnung des Fürstenthums Bamberg (erlassen von Bischof Georg), verfasst von demFreiherrn Johann v. Schwarzenberg18, auf

Seite 118einem gleichen Plane, wie die vorangegangenen Arbeiten, so zwar, dass man sie ebenso wohl als ein Gesetzbuch, wie als ein von der Obrigkeit gutgeheissenes und empfoh-lenes populäres Lehrbuch oder richtiger als beides zugleich betrachten kann.19 Daran,16Walchner: Geschichte der Stadt Radolphzell, 1825, S. 285.17Das materielle Recht wird in der Mitte der Bambergensis behandelt bei Gelegenheit der Urtheilsfällung

Art. 125—206. Aber auch hier werden mancherlei processuale Vorschriften eingemischt.18Vgl. namentlich die interessante kleine Schrift Herrmann’s: Johann Freiherr v. Schwarzenberg. —

Schwarzenberg, geb. 25. December 1463, einem alten fränkischen Rittergeschlechte angehörend,warursprünglich dem Kriegshandwerke zugethan. Als „vir clarus armorum, belli arte primusërntete erRuhm und Ehre und begleitete den Kaiser Maximilian auf vielen Kriegszügen. Dann — jedenfallsschon 1501 — war er fürstlich bambergischer Hofmeister und als solcher Präsident des bambergischenHotgerichts, das gegen Ende des XV. Jahrhunderts die bedeutsame Stellung eines Appellhofes fürdas ganze Fürstenthuni erlangt hatte (vgl. Brunnenmeister S. 35), und später war er bekannt alsviel erfahrener, einsichtiger, gewandter und gewissenhafter Geschäftsmann. Daneben gehörte er, ob-schon einer eigentlich gelehrten Bildung und der lateinischen Sprache nicht mächtig, der damaligenhumanistischen, dem classischen Alterthume zugewandten Richtung an Um sich mit der italienischenJurisprudenz bekannt zu machen, musste er sich der Beihülfe Anderer bedienen, deren Namen wirindess nicht kennen. Um so mehr Bewunderung verdient seine im Ganzen verständnissvolle Verwer-thung dieser gelehrten Jurisprudenz. Von dem sittlichen Ernste des merkwürdigen Mannes gebenverschiedene didaktische Poesien Zeugniss, so das "Büchle wider das Zutrinken", „wider das Mord-laster des Raubens"„Kummertrost". In einer ausserordentlich kräftigen, zu Herzen gehenden Spracheabgefasst, gehören sie zu den hervorragenden Erscheinungen der damaligen Literatur. Die letztenLebensjahre widmete Schwarzenberg der alsbald auch der Reformation aufrichtig zugethan war, aus-schliesslich dem fränkischen Fürstenthum des brandenburgischen Hauses. In der zweiten Hälfte desJahres 1522 finden wir ihn als Mitglied des damaligen Reichsregiments, welches der Zeit an Stelle desabwesenden Kaiser Carls V. waltete. Für die Aufrechterhaltung des Landfriedens im Bambergischenhatte er 1512 Leib und Leben eingesetzt. Am 21. October 1528 starb Schwarzenberg. Vgl. Stintzing:Geschichte, I. S. 612ff.

19Vgl. die Vorrede „ . . . haben des mere bedencken müssen, wie wir derselben leut vnbegreifflikeit zu hilff

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

ein Gesetzbuch im modernen Sinne zu erlassen, in welchem in bewusster Weise auchVeränderungen des Rechts hätten vorgenommen werden sollen oder in welchem gar dasRecht vollständig hätte dargestellt werden sollen, konnte nicht gedacht werden, und si-cherlich nicht in einem kleinen Territorium. Derartig reflectirende, souverain schaltendeGesetzgebung lag nicht im Geiste der Zeit. Freilich hatte die Gesetzgebung auch schonfrüher vielfach neues Recht erzeugt, aber man dachte sich die eigene Thätigkeit hier-bei nicht sowohl als Erzeugen neuen Rechts, denn als Zeugniss für bereits vorhandenesRecht. Höchstens in den von der Landeshoheit emancipirten Städten einer- und in derReichsgesetzgebung andererseits findet sich der Gedanke jener frei schaltenden Gesetz-gebungsmacht; in den Territorien kann freilich der Herr mit seinen Untergebenen privat-rechtlich in gewissem Umfange schalten und walten oder mit ihnen Verträge schliessen;eigentliche Gesetze gibt es noch nicht.Bei allen Gebildeten aber galt auch das römische Recht, d. h. das römische Recht, wie

es von den berühmten, die Universitäten und allmählig die höchsten Gerichtshöfe unddie Höfe der Fürsten beherrschenden, in Italien gebildeten Juristen dargestellt wurde, imAllgemeinen als das vollkommenste Recht, wenigstens insofern, als ihm gegenüber jedesandere Recht nach localem Bedürfniss seine Berechtigung erst besonders zu erweisenhatte. Wir werden das auch als Ansicht des Verfassers der Bambergensis bezeichnendürfen, um so mehr als Schwarzenberg von tiefem Respecte vor der römischen Literaturdurchdrungen war und im

Seite 119Geiste der damaligen humanistischen Bildung auch Cicero ’s philosophische Schriften zupopularisiren unternahm.Es konnte indess nicht daran gedacht werden, die gesammte italienische Criminal-

rechtswissenschaft in ein Gesetzbuch zusammenzufassen. Dazu war dieselbe in vielfacherBeziehung zu controvers und zu reich an detaillirten und subtilen Unterscheidungen, undhauptsächlich musste ja darauf gerade gesehen werden, dem schwerfälligen Verstande dernicht mit rechtsgelehrten Richtern besetzten Untergerichte zu Hülfe zu kommen.So ergab sich folgendes Verhalten des Gesetzgebers als das praktisch richtigste.Sätze, die in der italienischen "Wissenschaft unzweifelhaft feststanden und eines klaren

und einfachen Ausdrucks fähig schienen, mussten als gesetzliche Gebote gefasst, Miss-bräuche durch kategorische Verbote abgeschafft werden — der Landesherr trat ja hierauch seiner Idee nach nicht als Gesetzgeber, sondern als Hüter und "Wahrer des be-stehenden Rechts auf. "Wo dagegen die italienische Wissenschaft controvers war oderes zu klarem einfachem Ausdrucke nicht gebracht hatte, da war es praktisch, nicht,wie die Radolphzeller Halsgerichtsordnnng es gethan hatte, zu verweisen auf das „bes-te Verstehen"der Schöffen, sondern auf die Wissenschaft, aus welcher der Gesetzgeberselbst schöpfte, und diese Verweisung wurde erst wirksam dadurch, dass den Schöffender Untergerichte die Urtheilsfällung in solchen Fällen genommen und derselben das

komen". Bekanntlich ist die Ausgabe von 1507 auch mit Holzschnitten und Reimversen zu grössererVerdeutlichung versehen: „Wir haben auch in dieser vnser Ordnung vmb eigentlicher merekung vndbeheltnuss willen des gemeinen maus, figur vnd reumen . . . orden vnd drucken lassen"(Vorrede amEnde).

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einzuholende Urtheil eines Collegiums von Rechtsgelehrten substituirt wurde.20

Auch heut zu Tage nun erhebt der Gesetzgeber nicht den Anspruch, alle schwierigenFragen unmittelbar selbst zu entscheiden. Aber zwischen dem Verhalten der Bambergen-sis und dem Verhalten des modernen Gesetzgebers besteht gleichwohl ein sehr erheblicherUnterschied. Der Gesetzgeber geht jetzt von der Ansicht aus, das Gesetz sei zunächst aussich selbst zu interpretiren und zu ergänzen. Die von ihm ausdrücklich gegebenen Ent-scheidungen bilden das Netz, in welches alles nicht Entschiedene eingezeichnet werdenmuss, und aus den speciellen Entscheidungen sollen die allgemeinen Grundsätze abstra-hirt werden. So

Seite 120dachte sich Schwarzenberg die Sache nicht. Die Wissenschaft stand ihm in Wahrheitüber der Halsgerichtsordnung. Was er nicht selbst entschieden hat, das soll nicht sowohlnach der Analogie der von ihm angenommenen Principien, als vielmehr direct nach derWissenschaft des Rechts, wie sie in den Schriften der italienischen Juristen niedergelegtwar, entschieden werden, und auch da, wo er die Ansicht der Wissenschaft für ratio-nell nicht erachtet, glaubt er sich nicht berechtigt davon abzuweichen. Man sieht dasbesonders deutlich in dem bekannten Ausspruche über die Doppelehe. Schwarzenberg(146) erklärt sie für eine „fast schwere strefliche missthat", weil aber die „KeyserlichenRecht (d. h. die italienische Jurisprudenz) desshalb kein todstraff setzen, so wil vns nitgeziemen darauf ein todstraff zu ordnen."21 Es ist wichtig, hieran sich zu erinnern, wennman die späteren eigenthümlichen Schicksale der Carolina verstehen will.§. 42. Indess die Wissenschaft der Italiener hatte, was die Strafen betrifft, vielfache

Abweichungen vom römischen Rechte als gültige anerkennen müssen. Das römische Stra-fensystem galt also nur, insofern es Strafen enthielt, die dem germanischen Rechte nichtfremd waren. An Stelle der römischen Freiheitsstrafen galten meistens die verstümmeln-den Strafen des späteren Mittelalters. Diesem Princip folgte auch Sehwarzenberg, indemer die Strafen dem ihm bekannten Bamberger Rechte entnahm oder die Auswahl dereinen oder anderen Strafart dem richterlichen Ermessen, die Auswahl der einen oderanderen Art der Todesstrafe nicht selten der Gewohnheit überliess.22

Die italienische Jurisprudenz stellte ferner keineswegs das Statutarrecht vollständigdar, obwohl sie Beispiele in grossem Umfange demselben entlehnte. Das Gebiet derjeni-gen Handlungen, welche wir unter dem Namen der Polizeidelicte oder jetzt der Ueber-tretungen begreifen, wurde nur mehr gelegentlich berührt. Mit weitgreifenden materiell

20Diese in allen schwierigen Fällen vorgeschriebene Einholung des Raths der Rechtsverständigen schlosssich übrigens bestehenden Rechtseinrichtungen an. Bekanntlich holte man bereits früh oft Rath einbei anderen Gerichten, die man als besonders rechtskundige betrachtete, bei den sog. Oberhöfen,und in den Territorien galt seit dem XII. Jahrhundert mehr und mehr die Regel, dass die schwerenStrafen dem Landesherrn und seinem Gerichte vorbehalten blieben. v. Schulte: Deutsche Reichsu.Rechtsgeschichte §. 119 a. E.

21Vgl. Brunnenmeister S. 265. Wie weit der Respect der Bambergensis vor dem römischen Rechte geht,sieht man auch aus der dem römischen Rechte entnommenen, der deutschen Rechtsauffassung fremdenund widersprechenden Unterscheidung des Furtum manifestum und nec manifestum und in den daraufgesetzten Privatstrafen (Art. 183, 184). Hier ist die Bambergensis römischer als die Italiener selbst.Vgl. Brunnenmeister S. 280.

22In manchen Fällen ist freilich die Art der Todesstrafe genau bestimmt, z. B. Verbrennen angeordnet.

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

reformatorischeii und neuen Gedanken trug sich Schwarzenberg nun nicht.23 Er wollteeinfach Das, was die Italiener festgestellt hatten, in Deutschland und zunächst in Bam-berg nutzbar machen. 24

Seite 121Man darf sich daher auch nicht wundern, dass er das Strafensystem des damaligen Rech-tes mit einem guten Theile seiner unmenschliehen, man kann sagen scheusslichen Seitenübernahm, mit den quälenden Todesstrafen, Verbrennen, Rädern, Zwicken mit glühen-den Zangen, Viertheilen, zuweilen auch Lebendig begraben und Viertheilen. Die Vor-würfe, die man namentlich im vorigen Jahrhundert deshalb gegen Schwarzenberg erhob,sind indess ungerecht. Eine wesentliche Aenderung in dem damaligen Strafensystem zubeschaffen, wäre auch einem mächtigen Gesetzgeber, geschweige dem Landesherrn eineskleinen Territoriums schwer möglich gewesen. Ohne strenge und harte Strafen glaubtedie damalige gesellschaftliche und staatliche Ordnung sich ihrer Feinde nicht erwehren zukönnen. Und in Wahrheit hat Schwarzenberg doch überall, so weit es ihm möglich schi-en, Menschlichkeit walten lassen. Man ersieht das schon aus seinem Bestreben, feinereUnterscheidungen zu treffen und die damals auf leichtere wie auf schwerere Fälle rück-sichtslos angewendeten furchtbaren Strafen auf erstere zu beschränken.25 Es hat auchSchwarzenberg keineswegs alle in den verschiedenen Particularrechten Süddeutschlandsenthaltenen Strafarten in einen Generalcodex zusammengestellt; vielmehr zeigt die Ver-gleichung auch nur der Nürnbergischen Praxis,26 dass die Bambergensis die besondersharten und grausamen Strafen jener nicht einfach adoptirt hat. Aber die Zusammen-fassung der hauptsächlichsten Resultate der italienischen Wissenschaft27 ist dem scharf-blickenden und klardenkenden, wenn auch nicht gerade genialen Manne in einer Weisegelungen, welche sein Werk hoch emporart.

Seite 122hebt über den von ihm benutzten Klagspiegel, über die Wormser Reformation28 und dieMaximilianischen Halsgerichtsordnungen.29 30

23Brunnenmeister S. 59.24Es ist z. B. auch die Annahme unrichtig, dass Bambergensis art. 146 das besondere Delict des Kin-

desmordes im modernen Sinne definirt habe (so noch Hälschner: System des preuss. Strafrechts II. S.103 ff.).Höchstens kann gesagt werden, dass Schwarzenberg ein unbestimmtes Gefühl einer hier unterUmständen gerechtfertigten Milderung der Strafe gehabt habe. Die Strafen waren gerade bei diesemVerbrechen in dem benachbarten Nürnberg entsetzlich (vgl. oben S. 102), und deshalb kommen inder Bambergensis die Worte vor „darynnen verzweyfflung zu verhüten". Wird doch auch zu Endedes Artikels gesagt, dass die That eine unmenschliche und unchristliche That sei, und doch selbstdas Lebendigbegraben und Pfählen da zugelassen, wo die öftere Uebung des Verbrechens besondereStrenge zu erfordern schien.

25Vgl. z. B. Art. 162 „Item ein yeder mörder oder todtschleger hat (wo er desshalb nit rechtmessigentschuldigung aussfürn kann) das lebenverwirkt. Aber nach gewohnheyt etlicher gegent werden diefürsetzlichen mörder vnd todtschleger einander gleych mit dem Rade gericht, darinnen soll vnterse-heyde gehalten werden . . . "Vgl. Art. 156 über den Kindesmord.

26Brunnenmeister S. 72ff.27Geschöpft hat Schwarzenberg, wie Brunnenmeister genau nachweist, namentlich aus Gandinus und

Aretiuus.28Beide sind benutzt, vgl. Brunnenmeister S. 172 ff.29Diese sind von Schwarzenberg nicht benutzt, vgl. Brunnenmeister S. 102.30Aus dem Bamberger Stadtrecht, welches Zöpfl als eine Hauptquelle der Bambergensis nachzuweisen

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Abgesehen von der besseren Unterscheidung des Dolus und der Culpa,31 der Her-übernahme der Versuchstheorie und der richtigen Theorie der Nothwehr der Italiener,32

Lehren, die im Wesentlichen richtig schon im Klagspiegel wiedergegeben sind, findenwir in der Bambergensis eine ganze Reihe trefflicher Delictsdefinitionen, meistens zwarentnommen aus der italienischen Jurisprudenz; aber doch zeigt sich, da Schwarzenbergauch mit dem einheimischen Rechte wohl bekannt war, eine gewisse freiere, der Berück-sichtigung des einheimischen Rechts nicht selten günstige Behandlung.33

Ebenso wie die italienische Jurisprudenz locale Strafsatzungen nur selten berührt,über welche eine allgemeine Theorie nicht möglich erschien, so befasst sich die Bamber-gensis auch nicht mit den „bürgerlichöder wie man auch wohl sagte „im freundlichenRechtßu behandelnden Strafsachen, also nicht mit Handlungen, die nur mit Geldstrafeoder einfachem kurzdauernden Gefängniss geahndet werden können, und wegen derenkeinenfalls Tortur anzuwenden ist. Sie sagt da höchstens, dass gewisse Handlungen nichtpeinlich, sondern nur bürgerlich zu strafen seien (nach Gewohnheit eines jeden Orts).34

Dagegen musste sie, wenn überhaupt der durch sie beabsichtigte Rechtsschutz im Gebie-te des Criminalrechts ein wirksamer sein sollte, alle und jede criminelle Bestrafung einerHandlung auf Grund des (möglicher Weise gar verkehrt von den Schöffen verstandenen)Herkommens verbieten und insoweit die italienische Jurisprudenz als ausschliesslich gül-tige Norm behandeln. Dies ist der Sinn des oft citirten Art. 125. a. E. „ . . Aber sunderlichist zumercken in was Sachen oder derselben gleychen die Kayserlichen recht keinerleypeinlicher straff am leben, eren

Seite 123leyb oder glidern setzen oder verhengen, das unsere Richter und vrtheyler dawider auchniemant zum tode, oder sunst peinlich straffen . . . "Ein allgemeines Verbot, eine Handlung nach Analogie eines Strafgesetzes als strafbar

zu behandeln, lag darin nicht, wie Einige,35 gegen die gemeine Meinung angenommenhaben. Daran dachte die damalige italienische Jurisprudenz nicht und hat auch die spä-tere deutsche Jurisprudenz noch lange nicht gedacht. Nur den Unterrichtern wurde einederartige Anwendung der Analogie verboten.In der Grundauffassung des Strafrechts bemerkt man in der Bambergensis gegenüber

den Ende des Mittelalters herrschenden Ansichten keinen Fortschritt. Dieselbe Identifi-cation göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit, welche das spätere Mittelalter kenn-zeichnet und so lange noch in der neueren Zeit fortdauert, kommt in der Bambergensisdeutlich zum Ausdruck. Wir sehen das in den Strafen, welche die Gotteslästerung, dieKetzerei, die Zauberei und die Unkeuschheit wider die Natur treffen, und in einem geist-lichen Territorium war auch ein Anderes nicht zu erwarten. Wir stossen aber auch, ob-

suchte, hat letztere nur einige Formalien des Strafprocesses entlehnt, die znm Theil als bedeutungslosevon der Carolina wieder aufgegeben sind. Vgl. Brunnenmeister S. 1 ff., bes. S. 32.

31Art. 172.32In Betreff der Theilnahme ist im Art. 203 einfach auf die Italiener verwiesen.33Vgl z. B. Art. 194 Von holtz stelen oder hawen.34Vgl. Henke, II. S. 79; Hofacker im N. Archiv des Criminalrechts V. S. 446 ff.; Brunnenmeister S. 242.35Vgl. z. B. Feuerbach: Revision d. Grundsätze des peinl. Rechts, II. S. 26ff., Birnbaum: Neues Archiv

des Criminalr., 1833 (XIII.) S. 591.

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

schon die Bambergensis zum Theil doctrinär gehalten ist, nie auf eine Andeutung einesZweifels darüber, ob die damalige grausame Straf justiz innerlich berechtigt sei. Indessauf dieser religiös-theologischen Grundlage tritt uns die strengste Gerechtigkeitsliebe,der tiefsittliche Ernst, mit welcher jeder Missbrauch aufgesucht und verfolgt wird,36 dieScheu, auch dem Armen und Niedrigen irgend ein Unrecht zu thun, in ergreifender Weiseentgegen: „wann zu grossen Sachen (als zwischen dem gemeinen nutz vnd des menschenplut zu richten) grosser ernsthafftiger fleiss gehört vnd ankert sol werden."37 Und erwä-gen wir nun zugleich die treffende markige Sprache,38 so können wir, obschon, um mitSohm’s39 treffendem Ausdruck zu reden, Bambergensis und Carolina auch Lehrbücherdes italienischen Strafrechts sind, doch die Art und Weise, in welcher diese gesetzlicheSanction, beziehungsweise Empfehlung des ursprünglich fremden Rechts vor sich ging,als ein würdiges Denkmal deutschen Fleisses, deutscher Gewissenhaftigkeit und Gründ-lichkeit bezeichnen, auf welches wir mit Grund stolz sein können,

Seite 124wie denn die Carolina alsbald von den Koryphäen der italienischen Jurisprudenz mitgrösster Achtung citirt wurde.§. 43. Die Bambergensis bewährte sich; auch ausserhalb des Fürstenthums Bamberg

fingen die Untergerichte an, die Aussprüche der Bambergensis als massgebend zu be-trachten.40 Sie konnten dies um so eher, als die Bambergensis ja in Punkten, welcheihr in der Wissenschaft nicht genügend festzustehen schienen, sich eine vorsichtige Be-schränkung auferlegt und in gewissem Umfange die locale Gewohnheit geschont hatte.Die kurze und populär gehaltene Realencyclopädie41 des damaligen weltlichen Rechts,der Layenspiegel des Nördlinger Rathschreibers Ulrich Tengler (zuerst gedruckt im Jah-re 1509) reproducirte in seinem dritten, vom peinlichen Verfahren handelnden Theile infreilich mehr theoretischer Form und in kurzen allgemein gehaltenen Sätzen wesentlichden Inhalt der Bambergensis und bürgerte dadurch die Bambergensis und die italienischeJurisprudenz noch mehr bei den Gerichten ein. Mit nur wenigen Veränderungen wurdedie Bambergensis als Brandenburgische Halsgerichtsordnung in den fränkischen Landender Markgrafen von Brandenburg 1516 eingeführt.So bot sich die Bambergensis von selbst als Grundlage einer allgemeinen für das ge-

sammte Reich gültigen peinlichen Gerichtsordnung dar, als endlich — trotz der wie-

36So ist z. B. die Vermögensconfiscation als Strafe des Selbstmordes reprobirt. Freilich geht die Bam-bergensis von der Anerkennung des in Süddeutschland sehr verbreiteten Grundsatzes aus, dass beitodeswürdigen Verbrechen stillschweigende Vermögensconfiscation eintrete. Vgl. oben S. 100 ff. undBrunnenmeister, S. 21, 22, S. 193ff.

37Art. 175 a. E.38Vgl. v. Savigny: Vom Berufe unserer Zeit für Gesetzgebung, S.52.39In Grünhut’s Zeitschr. für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart 1. (1874) S. 263.40Die Vorreden der Drucker zu den verschiedenen Ausgaben bezeichnen sie als Städten, Communen,

Regimentern, Amptleuten u. s. w. dienlich. Vgl. Stobbe II. S. 241. — Ueber die einzelnen Ausgabenvgl. Rosshirt: Neues Archiv d. Criminalrechts, IX. S. 245ff.; Stobbe a. a. 0. Die erste Ausgabe erschien1507 in Bamberg bei „Hannsen Pfeyll"; die bis 1543 folgenden fünf Ausgaben sind in Mainz bei Schöffergedruckt. Eine veränderte Ausgabe erschien 1580 wieder in Bamberg (davon 1738 2. Aufl.). Ueberdie neueren Ausgaben vgl. unten.

41Vgl. Stintzing: Geschichte der pop. Lit. S. 446; Geschichte der Rechtswissenschaft S. 85 ff.

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derholt zur Kenntniss des Reichstags gebrachten Klagen42 über Mängel der Strafjustizverzögerte sich diese Angelegenheit so lange — auf dem Reichtstage zu Worms 1521 dieReform der Strafjustiz wiederum und dieses Mal ernstlich in Angriff genommen wurde.Der zu diesem Zwecke niedergesetzte Ausschuss konnte bereits am 21. April 1521 einenEntwurf den Ständen zur weiteren Veranlassung überreichen,43, der im Wesentlichen dieBambergensis re-

Seite 125producirte, aber auch das sog. Correctorium Bambergensis benutzt hatte, eine Sammlungbambergischer Entscheidungen und Verordnungen aus den Jahren 1507 bis 1515, durchwelche die Bambergensis in einzelnen Punkten erläutert, ergänzt, abgeändert war.44

Dieser Entwurf,45 zunächst dem Reichsregiment überwiesen, wurde jedoch nicht Ge-setz, ebenso nicht ein zweites vom Reichsregiment 1524 zu Nürnberg vorgelegtes Pro-ject.46 Erst ein viertes Project — der dritte Entwurf wurde 1529 dem Reichstage zuSpeier vorgelegt —, 1530 dem Reichstage zu Augsburg vorgelegt, wurde (Juli) 1532auf dem Reichstage zu Regensburg als „Kaiser Karls des fünfften und des heyligen rö-mischen Reichs peinlich gerichtsordnung"47 zum Gesetze erhoben. Die Schwierigkeiten,welche bei Einführung einer solchen allgemeinen Criminalordnung zu überwinden waren,bestanden sehr wesentlich in der verlangten weitgehenden Schonung particularer Rechts-normen. Viele Städte opponirten, weil sie die Halsgerichtsordnung als einen Eingriff indie schwer errungene Autonomie und zugleich als Beeinträchtigung der von ihnen geüb-ten, äusserst summarischen Strafjustiz betrachteten: von Seiten Ulms gab man auf demStädtetage zu Esslingen 1523 dio Erklärung ab:„Die Halsgerichtsordnung sei niemandem mehr als den Reichsstädten zum Nachtheil

erdacht und zu nichts fürständiger, als alle Uebelthäter zu harzen und zu pflanzen".48

Und Kursachsen, dem sich dann auch andere Reichsstände, z. B. Churbrandenburg,anschlossen, opponirto, weil die Bestimmungen der Halsgerichtsordnung mit dem Sach-senrechte, dem danach noch gültigen Taidigungsrechte (Wergeid und Busse) unverträg-lich schienen. 49 Das

Seite 126

42Vgl. z. B. die Mainzer Denkschrift der Reichsständc an den Kaiser von 1517; Harpprecht: Staatsar-chiv, III. S. 365; Güterbock S. 25. Ein 1500 dem damaligen Reichsregimente ertheilter Auftrag, mitHülfe des Reichskammergeriehts die in Freiburg in Aussicht genommene Reformation und Ordnungauszuarbeiten, hatte keinen Erfolg gehabt. Vgl. Güterbock S. 20, 21.

43Güterbock S 45.44Vgl. über das sog. Correctorium Hohbach im Neuen Archiv des Criminalrechts, 1844 S. 233 ff., 1845

S. 105ff., 173ff.; Güterbock S. 61 ff.; Stintzing: Geschichte, I. S. 614.45Schwarzenberg, obwohl Mitglied des damaligen Reichsregiments, hat vermuthlich keinen Antheil an

der Abfassung des ersten Projecta gehabt.46Dies Project ist erst neuerlich von Guterbock im Königsberger Provincialarchiv aufgefunden (vgl.

Güterbock S. 85ff.). Die Handschrift kam durch Schwarzenberg, der in den Jahren 1526 u. 1527 inKönigsberg bei dem Herzog Albrecht von Preussen sich aufhielt, nach Königsberg. An der Abfassungdes Nürnberger Entwurfs ist Schwarzenberg’s Theilnahme zu behaupten. Vgl. Güterbock S. 93.

47Citirt P. G. 0. = peinliche Gerichtsordnung oder C. C. C. = Caroli constitutio criminalis. Carl V.hatte freilich zu diesem Gesetzgebungswerke äusserst wenig gethan.

48Vgl. Abegg im Archiv des Criminalr. N. F. 1854 S. 441 ff.49Vgl. die bei Güterbock S. 136, 185 mitgetheilte Erklärung des sächsischen Kanzlers Christian Baier.

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

Ergebniss dieser Verhandlungen enthält die sogenannte salvatorische Clausel50 der Vor-rede der P.G. 0.:„Doch wollen wir durch dise gnedige erinnerung Churfürsten, Fürsten vnnd Stenden,

an jren alten wolhergebrachten rechtmessigen vnd billichen gebreuchen, nichts benom-men haben".Damit war nun freilich nicht, wie nicht selten irriger Weise angenommen ist,51 die P.

G. 0. zu einem den Ständen zur Annahme nur empfohlenen Rechtsbuche herabgesetzt.52

Aber die Bestimmungen der P. G. 0. erscheinen danach der Regel nach doch gegenüberden wohlhergebrachten und rechtmässigen Gebräuchen nur von subsidiärer Gültigkeit,53 obschon es nicht an Vorschriften fehlt, welchen ausnahmsweise die Kraft absolut ver-bindlicher Normen beigelegt ist,54 und die in den Worten der Clausel liegende Schranke,dass neues Recht nicht gegen den Inhalt der P. G. 0. eingeführt werden dürfe, ist spätervon den Reichsständen auch nicht mehr beachtet worden. Die eigenthümlichen Schicksa-le der P. G. 0. aber erklären sich nicht lediglich aus der salvatorischen Clausel und demWiderstreben des Particularismus.§. 44. Die P. G. 0. schliesst sich, sowohl was den allgemeinen Plan als was die über-

wiegende Mehrzahl der einzelnen Bestimmungen betrifft, eng an die Bambergensis an,die Zahl der Artikel ist freilich verschieden.55 Ebenso wie die Bambergensis ist sie inerster Linie Processordnung; ebenso wie jene behandelt sie das materielle Strafrecht beiGelegenheit der Urtheilsfällung (Art. 104—180) und die allgemeinen Lehren theilwei-se bei den einzelnen Verbrechen, bei denen sie besonders wichtig erschienen, 2. B. dieNothwehr gelegentlich der Lehre von der Tödtung u. s. w. Dennoch ist sie keine blosseWiederholung der Bambergensis, etwa nur mit Veränderung der nur für Bamberg pas-senden Bezeichnungen von Personen und Sachen. Als wesentliche Verbesserung ist z.B., abgesehen von processualen Bestimmungen, der Art. 145 zu betrachten, welcher dieVermögensconfiscation sehr erheblich einschränkt, wie auch der von verschiedenen Miss-bräuchen handelnde Art. 218. Noch mehr als die Bambergensis entspricht die P. G. 0.,da sie eben wesentlich das allgemein gültige Recht darstellt, der Theorie der italienischenJurisprudenz; man

Seite 127merkt hier doch verschiedentlich die Nachhülfe kundiger Juristen, und particulares Recht,wie es die Bambergensis enthielt, ist weggelassen worden. Die inzwischen begonnene Be-wegung der Kirchenieformation hat nur an einigen Stellen Aenderungen herbeigeführt,so die Weglassung der Erwähnung der Heiligen an einigen Stellen.56 Die Weglassung dervon der Ketzerei handelnden Art. 130 der Bambergensis beruht nicht sowohl auf der An-sicht, dass die Ketzerei kein Verbrechen sei, als vielmehr darauf, dass man die geistliche50Einer ähnlichen Clausel begegnen wir auch in Reichspolizeiordnungen, vgl. Stobbe II. S. 186.51So noch Geib, Lehrb. I. S. 276.52Diese Annahme ist gründlich widerlegt von v. Wächter: Gemeines Recht, S. 31 ff. Vgl. auch Güterbock

S. 194.53Vgl. Stintzing: Geschichte d. deutschen Rechtswissensch., S. 627.54Vgl. Art. 61, 104, 105, 135, 140, 204 und den speciell von Missbräuchen handelnden Art. 218.55Die Bambergensis enthält 278, die C. C. C. 219 Artikel56Vgl. Stintzing, Gesch. I. S. 628, 629. Im Art. 118 wurde auch die Entführung von Klosterfrauen

weggelassen. (Vgl. Bamb. 143.)

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Gerichtsbarkeit in der Art, wie es der Art. 130 der Bambergensis gethan hatte, nichtmehr anerkennen wollte.57

Eigenthümlich sorglos verfuhr man bei der Publication des neuen wichtigen Reichsge-setzes. Es sollte unmittelbar nicht nur die Reichsstände, sondern alle Reichsangehörigen,namentlich aber alle Obrigkeiten verpflichten. So erfolgte die Publication durch denDruck (auf Anordnung) durch den dazu privilegirten Mainzer Buchdrucker Ivo Schöffer.In dem Privileg heisst es: „es soll auch keynem andern gedruckten Abschiedt an eyni-chen ort inn oder ausserhalb gerichts oder rechts geglaubt werden".58 Und nun wurdenicht eine einzige Handschrift des Originals seitens der Reichsbehörde zurückbehalten;vermuthlich hatte man nur den einen dem Drucker überlieferten Originaltext. Die Edi-tio princeps vom Monat Hornung 1533 (es wird über die Existenz einer noch früherengestritten) ist nicht frei von Druckfehlern, und an Schreib- und Redactionsfehlern ist inden vorangehenden Entwürfen schon kein Mangel und zwar sind es nicht selten solche,die den Sinn zweifelhaft machen.59 Eine allen kritischen Anforderungen entsprechendeAusgabe ist dieser Schwierigkeiten wegen noch nicht vorhanden, auch wohl erst möglichauf Grundlage der archivalischen Forschungen Güterbocks.60

Die salvatorische Clausel der P. G. 0. ermöglichte nun ein sehr ver-Seite 128

schiedenes Verhalten der einzelnen Reichsstände. Man konnte, wenn die von der P. G.0. durchgreifend reprobirten Missstände nicht existirten, selbst der Ansicht sein, dassdas ganze bisherige Recht zu den hergebrachten guten Gewohnheiten gehöre und daherdurch die P. G. 0. an demselben einfach nichts geändert sei; man konnte so die P. G.0. zunächst einfach ignoriren. Aber man konnte die P. G. 0. auch mit Zusätzen undModificationen noch besonders publiciren, um Das, was neben der P. G. 0. und als guteGewohnheit in Abweichung von der P. G. 0. gültig war, zweifellos für die Landesgerichtefestzustellen, und man konnte endlich die P. G. 0. ohne Weiteres anwenden oder sie ohneZusatz nochmals für das Territorium publiciren, weil man der Ansicht war, dass beson-dere Gewohnheiten neben der P. G. 0. nicht existirten oder ohne Weiteres den Gerichtenklar sein würden. Alles Das ist denn auch geschehen. Das Rechtsbuch von Rottweil von1546, die Statuten der Stadt Frankenhausen von 1558 reproducirten ohne Rücksicht aufdie P. G. 0. lediglich das frühere Recht. Die neue Brandenburgica von 1582 reproducirtdie Brandenburgica von 1516 mit einigen die P. G. 0. berücksichtigenden Zusätzen. DieLandesordnung von Henneberg von 1539 machte aus einzelnen Bestimmungen der P.G. 0. und Reproduction einer Tyroler Landesordnung von 1532 (welcher letzteren dieMalefizordnung von 1499 und das Freiburger Stadtrecht zum Grunde gelegt ist) ein.57Güterbock S. 260 ff.58Güterbock S. 207.59Vgl. Güterbock S. 217 ff.60Neuere Ausgaben sind besorgt von Koch, Reinhold Schmid und Zöpfl. Die Ausgabe von R. Schmid (2.

Aufl. 1835) gibt auch den Text der Bambergensis, die Ausgabe von Zöpfl (1842) die Bambergensis undBrandenburgica und die Projecte von 1521 (Worms) und 1529 (Speier), hier als erstes und zweitesProject bezeichnet. Eine Ausgabe von Zöpfl von 1876 giebt synoptisch neben der C. C. C. die Bamb.,die Brandenb. und die genannten beiden Projecte. Eine kleine Textausgabe nur der C. C. C. von Zöpflerschien 1870. Vgl. auch G.W.Böhmer: Ueber die authentischen Ausgaben der Carolina, Göttingen1837.

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

neues Elaborat. Einfach publicirt wurde die P. G. 0. z. B. in Churköln 1538 in derCölner Reformation der weltlichen Gerichte und von dem Herzoge von Pommern 1566,ebenso 1564 von Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel. Einfache Anweisun-gen an die Gerichte, die P. G. 0. zu befolgen, wurden gegeben von Churbrandenburg(an den brandenburger Schöffenstuhl) 1540,61 in der Celler Hofgerichtsordnung 1564.62

Modificationen nur einzelner Bestimmungen der P. G. 0. enthält z. B. die Frankfurter Re-formation von 1578, in umfassender Weise die Malefizprocessordnung für Bayern, welcheden letzten Theil des bayerischen Landrechts von 1616 bildet.Und in Wahrheit stellte sich schliesslich das Verhältniss der P. G. 0. zum particularen

Rechte günstiger für erstere, als man nach dem Wortlaute der salvatorischen Clauselglauben möchte. Sie galt thatsächlich überall, soweit nicht durch Berufung auf Gesetzoder besonderes Herkommen Abweichungen gerechtfertigt werden konnten. Die innereTüchtigkeit der Arbeit sicherte hier dem gemeinen Rechte trotz der immer mehr über-handnehmenden particularen Tendenzen noch für längere Zeit überwiegend die Herr-schaft.

Seite 129Der Nutzen, welchen die P. G. 0. dem damaligen Rechtszustande brachte, war ganz be-sonders in Süddeutschland fühlbar. Schon die grössere Genauigkeit und Bestimmtheit derBegriffsbestimmungen, welche die P. G. 0. gegenüber den früheren legislativen Arbeitenauszeichnen, waren bedeutende Vorzüge, ebenso das Aufräumen mit "Missbräuchen, dieBeseitigung von dem Rechtsbewusstsein nicht mehr entsprechenden oder völlig verdroh-ten halbbeweisrechtlichen Vorschriften, und die Strafen der P. G. 0. waren, wie früherbemerkt, im Vergleich zu den in Süddeutschland der Zeit üblichen im Ganzen milde zunennen. Dass Taidigung nnd Richten nach Gnade durch die P. G. 0. mehr und mehrausgeschlossen wurde, war im Ganzen auch ein Fortschritt, wenngleich einzelne Fälledadurch einer billig-menschlichen Beurtheilung entzogen wurden. Für Norddeutschlandstellt sieh die Sache allerdings etwas anders. Hier hat die P. G. 0. wohl eine Verschär-fung der Strafen bewirkt; verstümmelnde Strafen waren hier früher weniger im Gebrauchgewesen, und die P. G. 0. hat, indem sie das rein inquisitorische Verfahren sanctionir-te, hier vielleicht die mögliche Entstehung eines mehr dem früheren deutschen Rechteentsprechenden Verfahrens vernichtet.§. 45. Wie man aber die P. G. 0. als ein Werk des Geistes der Kirchenreformation be-

zeichnen kann,63 ist nicht wohl erklärlich; man müsste denn etwa die Gewissenhaftigkeit,mit welcher die P. G. 0. zu Werke geht, nicht als Merkmal überhaupt des deutschen, son-dern speciell nur des Geistes der Reformation bezeichnen wollen. Die besonders hervor-ragenden Männer waren damals freilich sämmtlich der Reformation geneigt, und darauseinfach erklärt sich auch der besondere Antheil solcher Männer an der Herstellung derP. G. 0., wie z. B. Schwarzenbergs und Baiers.In der That war aber der Standpunkt, welchen die Kirchenreformatoren einnahmen,

einem Fortschritte in der allgemeinen Auffassung des Strafrechts eher ungünstig, als

61Hälschner S. 113.62Vgl. v. Wächter: Gemeines Recht, S. 38 ff.63So Güterbock S. 207.

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günstig.Zwar konnte, seitdem die Bekenner der Augsburger Confession und die Reformirten

im Reiche Anerkennung gefunden hatten, von einer gemeinrechtlichen Bestrafung derBekenner dieser Confessionen nicht mehr die Rede sein, und musste die Unzulässigkeitstrafrechtlichen Einschreitens gegen diese als Ketzer auch in den katholischen Territorienallmählig Rechtens werden, wie es denn überhaupt in der Consequenz der Reformationlag, da sie eine freie Prüfung der Religionssätze forderte, die Bestrafung der Ketzereifür unzulässig zu erklären. Aber Consequenz ist nicht immer von den Religionsstifternbeobachtet worden

Seite 130und schliesslich die NichtVerfolgung Andersdenkender bei der grossen Menge regelmässigeine Machtfrage gewesen.Luther hat freilich anfangs bestimmt geleugnet, dass mau Jemanden zum Glauben

zwingen dürfe64 Es sei ein fein Ding um den Glauben, und Gedanken seien zollfrei. Aberebenso wie Augustinus änderte or zu grösserer Macht gelangt seine Ansichten,65 undallerdings mahnten die Excesse der Wiedertäufer und des Bauernkrieges zur Vorsicht.66

Er schrieb da bekanntlich gegen den Meister Omnes und die falschen Propheten undwollte Reformen nur durch die Autorität. Wenn dann selbst der milde Melanchthon67 eineBestrafung gewisser Ketzer auf den Titel der Blasphemie gerechtfertigt fand, eine Lehre,die nachher lange Zeit in den protestantischen Ländern eine strafrechtliche Verfolgungder Secten gestattete,68 so darf mau sich nicht wundern,69 Calvin und seine Anhänger diealte Ketzerverfolgung in der wildesten und widerlichsten Form predigen und ausüben zusehend70: in Wahrheit ist das Princip der Glaubensfreiheit nicht durch die Reformatoren,sondern erst durch die Philosophie des XVIII. Jahrhunderts festgestellt worden.Die Reformation hatte zunächst einen Rückschritt in der allgemeinen Auffassung des

Rechts zur Folge.71 Während der mittelalterlicheSeite 131

64Vgl. Luther’a Werke, herausgeg. von Jenischer, Bd. 22 S. 85: Von weltlicher Obrigkeit, wie weit manGehorsam schuldig sei. „Ketzerei kann man nimmermehr mit Gewalt wehren"(S. 90 das.).

65Vgl. die Schrift: „An den christlichen Adel deutscher Nation".66Vgl. auch Janet: Histoire de la philosophie inorale et politique, II. S. 38 ff.67Opp. XII. S. 696 ff.68Noch Brunnemann, Tr. IX. n, 2, bezeichnet es als strafbar, wenn Jemand die Wahrheit der ökumeni-

schen Concile leugne. Bei den Evangelischen wurde hier auf verschiedene Strafen (Exilium, Deporta-tion), bei den Katholischen auf Todesstrafe erkannt. Bei Ersteren milderte man freilich auch unterBerufung auf Nov. 129 („Haeretici quiete viventes asperius traetandi non sunt"). Wie weit der Begriffder Blasphemie gieng, sieht man aus Damhouder, Pr. c. 60 n. 11. Z. B. gehört nach Damhouder dahinauch: „negare Dei fllium non esse veruin hominem".

69Vgl. auch unten die Geschichte der Strafrechtstheorien.70Vgl. namentlich die bekannte widerliche Geschichte der Verurtheilung und Verbrennung des Micha-

el Servetus auf Calvins Betrieb 1553 (Gaberei: Histoire de l’eglise de Geneve, 1855, II. S. 226 ff.).Auch über Valentin Gcntilis hielt man in Genf ein Ketzergericht ab; er wurde 156G in Bern enthaup-tet. Die berüchtigte Schrift des Genfer Theologen Theodor Beza „De haereticis a civili magistratupuniendisënthält vollständig die Lehre der Papisten über die Ketzerverfolgung.

71Vgl. Janet a. a. 0. und besonders die genauen Nachweisungen bei Gierke: Johannes Althusius und dieEntwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, Breslau 1880, S. 64 ff., S. 273, 275. Gierke: Dasdeutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 3 (1881) S. 625 ff.

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

Antagonismus zwischen Kirche und Staat zu einer oft sehr weitgehenden kritischen Prü-fung des Rechtes und des Staates führte, und die Machtbefugnisse oft seihst des Pabs-tes durch die Berufung auf die Lex naturae stark beschränkt wurden, identificirten dieReformatoren nach dem Paulinischen Satze: „Alle Obrigkeit ist von Gott"leicht gött-liches und weltliches Gebot, und so ist denn ihre Strafrechtstheorie nichts weiter alsdie vollkommenste Identification weltlicher und göttlicher Gerechtigkeit, eine einfacheRechtfertigung des Status quo, gegründet einerseits auf die Bibel, andererseits auf dienächstliegenden Zweckmässigkeitserwägungen ohne Versuch einer Vermittlung zwischenchristlicher liebe und grausamer Strafe.7273 Im Ganzen stehen hier die Erörterungen desThomas von Aquino, von manchen Späteren zu geschweigen, doch etwas höher.§. 46. Die theologischen Streitigkeiten absorbirten aber zunächst die Kräfte. Es ist da-

her schon begreiflich, dass, ungeachtet die P. G. 0. praktisch den Rechtszustand besserte,von einer wissenschaftlichen Pflege des Strafrechts im XVI. Jahrhundert in Deutschlandnicht zu reden ist. Die Arbeit, welche man damals leistete, bestand einfach darin, dassman über diejenigen Fragen, über welche die P. G. 0. sich nicht ausgesprochen hatte,die Italiener ausschrieb und so die P. G. 0. ergänzte.74 Die Literatur interpretirte die P.G. 0. nicht als Gesetzbuch: sie entwickelte nicht Principien der P. G. 0. und zog darausConsequenzen, erklärte nicht das Gesetz zunächst aus dem Gesetze selbst, sie über-nahm vielmehr die Rolle ergänzender Codification durch Heranziehung des römischenRechts und der italienischen Literatur. Ersteres geschah bei dem Mangel rechtshistori-scher Kenntnisse in kritikloser, oft seltsamer Weise; und am besten war es noch, wennman einfach die italienische

Seite 132Jurisprudenz abschrieb, die in Aegidius Bossius75 und vor Allem in der lichtvollen undzugleich gelehrten Darstellung des Julius Clarus76 ihre Höhepunkte erreichte.77 Noch

72Vgl. Luther’s Kirchenpostille, Predigten über die Evangelien, 4. n. Trinitatis (Werke, Ausg. von Plochmann, 13 S. 41): „Der Richter dienet Gott". Meister Hans, der Scharfrichter, soll sagen: Es ist nichtnöthig, dass ich Dir vergebe (Hochzeitspredigt über Hebr. 13, 4 [Werke 18 S. 27]). Wenn der Fürstoder Richter Jemanden strafe, soll das Gottes Gebot sein. Vgl. daselbst auch die Ausführungen überden Nutzen des Meister Hans. — Luther’s Schreiben an den Bremer Rath über die Todesstrafe (Werke55 S. 24) ist im Allgemeinen mit der Todesstrafe einverstanden; nur wird einigermassen zur Mildegerathen, weil es doch hart sei Jemanden „vmb einen Gulden zu hencken".

73Vgl. Calvini, Institutiones Relig. Christ. Lib. IV. c. 20 n. 1: „ . . . Deo jubente ab auctoritate omniafieri.. Divinis mandatis ulcisci".

74So sagt Perneder (t 1540) in seiner nach seinem Tode oft herausgegebenen sog. Halsgerichtsordnung(„Von Straf und Peen aller und ieder Malefizhandlungen in kurzen Bericht genommen . . "), dasssie in einer Erklärung und Erweiterung der P. G. 0. aus dem gemeinen subsidiären Rechte bestehe(Wächter S. 77).

75Mailändischer Senator, geb. 1486, + 1546. Tractatus varii qui omnem fere criminum materiam com-plectuntur. Venet. 1512.

76Geb. 1525 zu Alessandria, + 1575 zu Saragossa als Rath Philipps II. Sententiaruin receptaruin libriV. s. practica criminalis, zuerst 1560, mehrfach commentirt (wichtig auch die Noten des Bajardus).

77Neben diesen besonders zu nennen Hippolitus de Marsiliis(+ 1529), Richter in mehreren Städten derLombardei, Professor in Bologna (Practica causarum criminalium); Bonifacius de Vitalinis, Tracta-tus super maleficiis (die von Allard, S. 401, 402, gegebene Charakteristik dieses Schriftstellers ist zuungünstig; es mangelt ihm nicht so vollständig-,wie Allard meint, der originale Gedanke); TiberiusDecianus (+ 1581), Tractatus criminalis. Der letztere Schriftsteller dürfte aber das ihm von Wächter,

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weniger mühsam war es, wenn man, wie es auch wohl geschah, sich an die flache undbanausische Praxis rerum criminalium des Holländers Damhouder78 hielt, die auch vielunmittelbar in der Praxis benutzt wurde und in Deutschland zu hohem Ansehen ge-langte. Mehr oder weniger gilt von allen Werken dieser Art, was Wächter (S. 90) inseiner meisterhaften Darstellung der Literatur dieser Periode von einem allerdings ganzbesonders geistlosen und jämmerlichen Producte, dem Buche des Ludw. Gilhausen: Ar-bor judiciaria criminalis (Francof. 1603), sagt: die Artikel der P. G. 0. erscheinen, sozu sagen, wie grosse unvermittelte Klösse, die in einer aus dem römischen Rechte unditalienischen Autoritäten gebrauten Brühe schwimmen.79

Seite 133Ganz so wunderbar, wie es scheinen mag, ist diese Behandlungsweise der P. 6. 0. in-dess nicht. Die P. G. 0. wollte ja eben zunächst nicht aus sich selbst, sondern aus dem„kaiserlichen beschriebenen Rechte", d. h. nach der Auffassung der P. 6. 0. selbst, ausder italienischen Jurisprudenz und dem particularen Rechte ergänzt werden. Genauerbetrachtet hatte daher nicht diese erste auf die P. G. 0. folgende Literatur Unrecht,sondern vielmehr die spätere, welche die P, G. 0. wie ein Gesetzbuch behandelte, daszunächst aus seinen eigenen Principien ergänzt werden sollte.Daher ist es denn auch begreiflich, dass die eigentliche gelehrte Jurisprudenz, die in

damaliger Zeit nicht sowohl durch jene Lehr- und Handbücher, als vielmehr durch dieConsilien80 repräsentirt wird, in erster Linie stets auf die italienische Jurisprudenz Rück-

S. 68, ertheilte Lob nicht verdienen; er bezeichnet vielmehr schon ziemlich deutlich den beginnendenNiedergang der italienischen Jurisprudenz. Bemerkenswertli ist freilich, dass bei Decianus sich schonmehr ein Anlauf zur Aufstellung eines sog. allgemeinen Theiles findet; aber seine Deductionen sindoft willkürlich (vgl. z. B. seine Erörterungen über die Poena extraordinaria IX. 36 n. 3) und wider-spruchsvoll, und als eifriger Papist steht Decianus zu sehr unter dem Einflusse des kanonischen Rechtsund huldigt z. B. den exorbitantesten Ansichten über die Verfolgung der Ketzerei. Der Berühmtesteunter den späteren italienischen Juristen ist Prosper Farinacius (+ 1618), der in seinen höchst um-fangreichen Schriften alles bis dahin Geschriebene zusammenzufassen versucht. Ausgezeichnet durchGelehrsamkeit, aber überladen mit einem Wuste von Citaten, lassen F.’s Schriften unter der Massevon Limitationen und Restrictionen nur schwer und häufig gar nicht das Princip erkennen, von demF. bei Entscheidung der einzelnen Streitfragen ausgeht, und bilden eine höchst mühsame und uner-quickliche Leetüre (Opp. omnia 9 Vol. Fol., Francofurt. 1616, davon enthalten Vol. II. den Tractatusde testibus, T. IV. und IX. Decisiones Rotae).

78Ueber Damhouder vgl. insbes. Stintzing, Geschichte I. S. 604ff.; die erste bekannte Ausgabe ist von1554.

79Das erste Werk nach dem Erscheinen der P. G. 0. war eine lateinische Uebersetzung derselben vonGobler, 1543. Eine spätere, bessere lateinische Paraphrase ist von Remus (Nemesis Carolinae), 1594erschienen. Beide sind 1837 von Abegg neu herausgegeben. Andere, das System der P. G. 0. vervoll-ständigende Schriften sind: Gobler: Der Rechten Spiegel, Frankf. 1550; Heinrich Rauchdorn: Practicaund Process peinlicher Halsgerichtsordnung, 1564; Jon. Arn. v..Dorneck: Practic und Process peinli-cher Gerichtshandlung, 1576; Abrali. Sawr: Straffbuch, zuerst 1577; Vigel: Constitutiones Carolinaepublicorum judicioruin, 1583 (ungeachtet des von Wächter ertheilten Lobes nicht viel besser, alsdie anderen hier genannten Arbeiten); Harppreeht: Tractatuscriminalis, zuerst 1603. Kilian König’s:Practica und Process der Gerichtsleuffte nach Sechsischem gebrauch u. s. w., zuerst 1541, enthält nurWeniges über Strafrecht (Vgl. auch Hälschner, S. 121 Anm.; Geib, I. S. 287 ff.; Stintzing: Geschichte,I. S. 630ff.)

80Anfangs wollte man auch mit den weniger lucrativen Criminalsachen nicht viel zu thun haben, zumaldie Juristen häufig auch Geistliche waren und deshalb sich des Blutgerichte weigern konnten. Vgl.

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

sicht nimmt und in der ersten Zeit nach der Publication der P. G. 0. die letztere allenfallsnur zur mehreren Bestätigung einer anderweit schon begründeten Ansieht anführt. Sogeschieht es z. B. von Jon. Fichard81 (geh. 1512, + 1581 als Stadtschreiber zu Frankfurta. M.), wohl dem berühmtesten Consulenten seinerzeit,82 und Mynsinger.83 Für die ei-gentlich gelehrte Juristenwelt war überhaupt die P. G. 0. nicht berechnet, und so erklärtes sich,

Seite 134dass selbst da, wo die P. G. 0. vom Landesherrn zur Nachachtung besonders publicirtwar, die gelehrten Juristen von anerkanntem Rufe fortwährend aus den römischen Quel-len und den Italienern, nicht aber aus der P. G. 0. deduciren. Die P. G. 0. wird von ihnenmeist wohl nur da angerufen, wo es darauf ankommt, ein untergerichtliches Verfahrenzu beurtheilen, festzustellen, ob ein Untergericht einen Fehler begangen habe.84 Unddeshalb ist auch die wissenschaftlich-praktische Thätigkeit und Tüchtigkeit der höherenGerichte, insbesondere aber der allmählig immer mehr die Praxis beherrschenden Facul-täten nicht nach jener Literatur zu beurtheilen. Die praktische Thätigkeit der Ertheilungvon Consilien, Abgabe von Urtheilen war eine ausserordentlich lohnende, angesehene undnahm die Zeit der Juristen von Ruf derart in Anspruch, dass sie zu literarischer Beschäf-tigung nicht gelangten und dieselbe zunächst mehr untergeordneten oder mittelmässigenKräften überliessen.85 Fichard’s und die Tübinger Consilien geben Zeugniss von einerweit höheren Stufe der Jurisprudenz, als man nach der wissenschaftlich werthlosen Lite-ratur vermuthen möchte, und zugleich Zeugniss von sittlichem Ernste und Muthe, derUnterdrückte auch gegen fürstliche Willkür vertheidigt86 und allmählig die Facultätenjene hohe Stellung erreichen lässt, die sie fast drei Jahrhunderte lang behauptet haben,87

§. 47. Die Jurisprudenz hatte sich zu wehren gegen zwei Feinde, gegen die bigotteTheologie und gegen die fürstliche Willkür. Es war eigentümlich, dass sie mit Hülfe derfürstlichen Macht die Theologie später überwand.Die Herrschaft der Theologie äusserte sich aber in mehrfacher Hinsicht. Erstens kom-

men in Betracht die Greuel der Hexenprocesse, welche im XVI. und XVII. Jahrhundertzeitweise ärger als Krieg und Seuchen die Bevölkerung mancher Gegenden decimirten.88

Stintzing: Gesch. I. S. 608.81Vgl. über Fichard: Stintzing, Geschichte, I. S. 586ff.82Vgl. Consilia (1590 Fol.) cons. 61. Hier werden in Betreff eines 1549 vorgekommenen Falles die Vor-

schriften der P. G. 0. über Tödtung im Raufhandel gar nicht beachtet.83Mynsinger, Obs. III. 9, erwähnt, indem er die Bestrafung des Versuchs erörtert, der P. G. 0. garnicht.

(Ueber M., geb. 1514, + 1588, vgl. Stintzing I. S. 485 ff.)84Vgl. Seegcr: Die strafrechtlichen Consilia Tubingensia von der Gründling der Universität bis zum Jahre

1600. Tübingen 1877, S. 33.85Vgl. Seeger, S. 28, 31 ff.86Vgl. das von Seeger a. a. 0. citirte Consilium der Sichardt’schen Sammlung.87Uebrigens wird erst seit der Mitte des XVI. Jahrhunderts die Thätigkeit der gelehrten Juristen in

Strafsachen eine umfassendere (vgl. Stölzel: Die Entwicklung des gelehrten Richterthums in deutschenTerritorien, I. [1872] S. 349 ff. und Stintzing: Geschichte, I. S. 635). Das Strafrecht -wird nach derMitte des XVI. Jahrhunderts als selbständiges Fach (gewöhnlich mit der Vertretung des Lehnrechtsverbunden) behandelt, so in Tübingen, Jena, Rostock, Ingolstadt (vgl. Stintzing I. S. 635).

88Vgl. namentlich Soldan: Geschichte der Hexenprocesse, neu bearbeitet von Heppe, 2 Bde., 1880 undv. Wächter: Beiträge zur deutschen Geschichte, S. 81 ff., 277 ff., Stintzing: Geschichte, I S. 641 ff.

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Seite 135Anfangs hatte die Kirche den Glauben an die Möglichkeit eines Bündnisses mit demTeufel stark gemissbilligt.89 Später erkannte man ihn officiell an; es gab kein besseresMittel, das Volk gegen die Ketzer zu fanatisiren, als ihm klar zu machen, dass die Ketzerzugleich im Bündnisse mit dem Teufel ständen.90 So war 1459 in Arras eine grosse An-zahl Waldenser wegen angeblichen Teufelsbündnisses verbrannt worden, und InnocenzVIII. beauftragte 1484 die für Deutschland bestellten Ketzerrichter Heinrich Institor(Krämer) und Jacob Sprenger (beide Professoren der Theologie), mit allem Eifer auchdie Zauberer zu verfolgen. Unter Approbation der Kölner theologischen Facultät ver-fassten diese beiden Ketzerrichter auch den sog. Malleus maleficarum (Hexenhammer),ein förmliches Lehrbuch des Hexenglaubens und der Hexeninquisition, und nun erlang-te letztere, wie Wächter insbesondere dargelegt hat, besonders mit Hülfe der Tortur,durch welche den Inquisiten die wahnsinnigsten Geständnisse abgepresst wurden, jenewahrhaft entsetzliche Bedeutung.Zwar verhielt sich die Bambergensis (131) wie die P. G. 0. (109) insofern noch massvoll,

als sie nur eine Anderen schädliche Zauberei mit der Strafe des Feuertodes bedrohten,im Uebrigen aber nur arbiträre Strafe wollten, und aufgeklärte Männer wie Fichard91

erklärten wohl die nächtlichen Tänze und geschlechtlichen Vermischungen mit dem Teu-fel für Ausgeburten der Einbildung. Indess die von der Theologie inspirirte und diesezugleich fürchtende92 Jurisprudenz fing bald an, jene Schranke der P. G. 0. niederzu-werfen,93 und zwar in der auch sonst geübten Weise, dass man das mosaische Gesetzfür ein die Obrigkeit unbedingt bindendes und ohne Weiteres gültiges Gebot erklärte.94

Nununtersuchte die Jurisprudenz alles Ernstes die Arten des BündnissesSeite 136

mit dem Teufel,95 und im Ganzen schürte die immer bigotter werdende protestantischeTheologie96 die Hexenverfolgung ebenso wie es von Seiten der katholischen Theologie ge-schah. In unseren Bibliotheken sind noch jetzt in denselben Bänden diese Ausgeburtendes wahnsinnigsten Aberglaubens protestantischer und katholischer sich sonst wüthendbefehdender Theologen oft friedlich zusammengebunden.Zweitens wurde auf Gund der bereits erwähnten Ansicht von der unmittelbaren Gül-

— Im Bisthum Bamberg wurden z. B. in den Jahren 1627—1630 bei einer Bevölkerung von 100000Seelen 285 Personen hingerichtet; ein Hexenrichter von Fulda brachte es in 18 Jahren auf 700.

89Carl d. Grosse bestätigte 785 den von der Synode zu Paderborn gefassten Beschluss, nach welchemAeusserungen des Hexenglaubens verboten wurden. Vgl. Soldan-Heppe I. S. 128.

90v. Wächter S. 89.91Teutsche Rathschläge S. 112.92Noch Leyser wollte es bekanntlich mit den Theologen nicht gern verderben. Er änderte seine Meinung

in Betreif des Incestes zwei Mal, jedes Mal, um mit den Theologen des Landes in Uebereinstimmungsich zu befinden, in welchem er docirte (vgl. Sp. 586 n. 1).

93Nach den Constitutiones Saxonicae von 1572, IV. 2, fand die Strafe des Feuertodes auch dann statt,wenn nicht Schaden gestiftet war. Auch Wahrsagen und Teufelskunst zieht Todesstrafe (Schwertstra-fe) nach sich.

94Vgl. 2. Mose 22,18: „Die Zauberinnen sollst Du nicht leben lassen".95Vgl. z. B. Carpzov’s Practica qu. 49 n. 23ff.96In einzelnen protestantischen Ländern (Mecklenburg, Würtemberg) hatten freilich die Landesherren

ein vernünftiges Einsehen.

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

tigkeit mancher Aussprüche der Bibel97 das Recht der Obrigkeit und der Landesherren,Todesstrafen zu erlassen, mit Erfolg bestritten,98 der Lex divina gegenüber schien auchdie Gewalt des Princeps, auf welche die Italiener so oft recurrirt hatten, nicht ausrei-chend. In zweifelhaften Fällen dieser Art wird denn auch von dem Landesherrn selbstdas Gutachten der Geistlichkeit eingeholt, und zwar erhielt sich dies bis in das XVIII.Jahrhundert hinein.99

Drittens beruht auf dem Eifer der bigotten Geistlichkeit die strenge Bestrafung derGotteslästerung100 101 und der Unzuchtsdelicte in manchen protestantischen Ländern,102

besonders aber in Kursachsen, wo die Macht der Orthodoxie wohl überhaupt am bedeu-tendsten war.

Seite 137Hier finden wir z. B. die Schwertstrafe für den Ehebruch noch besonders angedroht103

und wenn nicht besondere Milderungsgründe (mit denen freilich die Jurisprudenz ziem-lich freigebig war) geltend gemacht werden konnten, auch lange Zeit hindurch unnach-sichtlich vollzogen.104

Und die Grenzen des weltlichen und des geistlichen Richteramtes verwischten sichendlich insofern, als die Gerichte in protestantischen Ländern, wo die Geistlichen dochmehr oder weniger de facto als Staatsbeamte betrachtet wurden, auf Kirchenstrafenerkannten.105

§. 48. Gleichzeitig diente aber auch die Theologie der Protestanten dazu, die Lehre vonder Allmacht des Princeps, welche durch die Italiener unter Anwendung des römischen

97So wird in einem Responsum der Tübinger Facultät von 1695 (Harpprecht, Cons. 53 n. 17, 18) dieAnsicht gebilligt, dass die Obrigkeit ohne Weiteres auf die nach mosaischem Rechte gültigen Strafenerkennen könne.

98Vgl. über Einholung theologischer Gutachten bezüglich der Strafmilderung Leyser, Sp. 597 n. 28,30. Leyser führt aus, dass keine Verjährung, keine Strafmilderung (z. B. wegen jugendlichen Alters)beim Homicidium gelte, weil das göttliche Gebot unbedingt laute, und noch 7271 holte man ineinem brandenburgischen Falle ein Gutachten der Theologen darüber ein, ob einem anscheinendzurechnungsunfähigen Menschen die Todesstrafe erlassen werden könne.

99Die Geistlichkeit entscheidet nach Frölich v. Frölichburg’s Commentar zur P. G. 0. (1710) II. 211, obdas Kind ein Mensch oder eine Fehlgeburt gewesen, nach der Rücksicht, ob es hätte getauft werdenkönnen.

100In Sachsen wurden auch schwerere Fälle des Sacrilegium mit Rädern von unten auf bestraft. CarpzovII. qu. 89 n. 18ff.

101Die sonst milde Tübinger Facultät (Harpprecht Cons. 81) erkannte 1680 in einem nicht sehr schwerenFalle auf Todesstrafe, in einem schwereren 1706 auf geschärfte Todesstrafe. Der bigotte Brunnemann(Tr. 9 n. 1) referirt über einen Fall, in welchem die Frankfurter Facultät auf Zungenabschneidenerkannt hatte und bemerkt dazu: „nec ejus me poenitet".

102Die Tübinger Facultät verurtheilte 1681 einen erst 17jährigen anscheinend körperlich und geistig zu-rückgebliebenen Menschen wegen Sodomiterei mit Thieren zur Schwertstrafe.

103Die kursächsische Constitution von 1543 verordnete Schwertstrafe gegen den Ehebruch des Manneswie der Frau, und gegen den dritten Adulter sollte diese Strafe selbst bei Verzeihung des beleidigtenEhegatten eintreten. Carpzov II. qu. 54 n. 32ff.

104Der Einfluss der Geistlichkeit führte auch wohl direct zu falsch moralisirenden Urtheilen. In Zofingen(Schweiz) wurde 1613 Jemand nach eingeholtem Rathe der Geistlichkeit deshalb enthauptet, weil erseine Ehefrau bei einem Unglücksfalle nicht gerettet hatte. Osenbrüggen, Studien S. 2, 3.

105So verurtheilt ein von Carpzov II. qu. 92 n. 37 mitgetheiltes Urtheil von 1545 einen Wucherer dahin,dass er nicht nur nicht ehrlich begraben, sondern auch die Sacramente nicht empfangen solle.

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Satzes „Princeps legibus solutus"106 bereits eine recht bedenkliche Ausdehnung erhal-ten hatte, noch mit dem Schimmer göttlicher Autorität zu bestärken. Die Reformatorenbenutzten gerade die Obrigkeiten, d. h. insbesondere die Reichsstände zur Ausbreitungihrer Lehre: so predigten sie nicht selten bedingungslose Unterwerfung unter die Obrig-keit,107 auch gegenüber einem schlechten Fürsten. Die Obrigkeit ist ihnen unmittelbareStellvertreterin Gottes. In dem Satze Theodor Beza’s108: „Bei puhlicae quidera interest,non modo ne quis re sua . . . sed etiam se ipso . . . male utatur"liegt die Begründungunbeschränktester Polizei-Allmacht des Staates.Eben wegen dieser Allmacht erachtet man es dann selbst für eine genügende Begrün-

dung sonst ungerechtfertigt hoher Strafdrohungen, dass der Schuldige sich ja vergehegegen ein hohes landesherrliches Gebot, gegen die Autorität des Landesherrn,109 glaubtman es z. B. rechtfertigen

Seite 138zu können, wenn man entgegen dem gemeinen Rechte den Wilddiebstahl.110 weil er dieAusübung der edlen Passion des Waidwerks dem Fürsten beeinträchtigt, mit harten Cri-minalstrafen belegt, hält man sich berechtigt, da, wo Vermögen oder irgend ein speciellesInteresse des Landesherrn gefährdet schien, über alles sonstige Maass in der Bestrafunghinauszugehen. 111

§. 49. Auch das Majestätsverbrechen, unter welches man nach und nach immer mehrAngriffe gegen die Territorien und die Territorialherren subsumirte erhielt ebenso wiezur Zeit der römischen Cäsaren nicht selten eine erschreckende Bedeutung. Die protes-tantischen Theologen und Eiferer benutzten es auch wohl zur Vernichtung ihrer Gegner,

106Vgl. Theod. Reinkingk: De regimine saeculari (1613 ed. 1) I. 2 c. 12 n. 8 ff., der freilich den Princepsnoch an die Leges divinae und naiurales im Anschluss an die mittelalterliche Lehre binden will.

107Vgl. Calvini Inst, Christ. IV. 22 c. 2, 3, 27.108De haereticis S. 23 (Ausgabe von 1555).109Vgl. kursächsisches Mandat von 1584 über die Bestrafung des Wilddiebstahls „von Niemand uns trotzen

lassen".110In Würtemberg stach man gegen Ende des XVI. Jahrhunderts Wilddieben die Augen aus. Dagegen

schritt Kaiser Ferdinand I. ein, vgl. Kress, Comment. in C. C. C. 159 §. 5 n. 3. Vgl. über die Bestrafungder Jagdfrevel in dieser Periode auch Roth: Geschichte des Forst- und Jagdwesens in Deutschland, S.468 ff. In Tyrol war Anfang des XVIII. Jahrh. die höchste Strafe Galeerenstrafe. Frölich v. Frölichburg,Commentnr zur P. G. 0. II. 4, 6.

111Eine fürstl. Braunschweig-Lüneburgische Constitution wegen Ehebruchs und Hurerei vom 3. Januar1593 (Kress, Comment Anhang S. 851) wollte die einfache Hurerei, begangen in Kirchen, Klösternoder „auf unseren Schlössern", mit dem Schwerte strafen: ein hannoversches Edict vom 12. Septbr.1681 drohte gegen Diebstahl an fürstlichem Silbergeschirr unbedingt den Strang an, ohne Unter-schied, ob viel oder wenig gestohlen (Kress S. 851). — Vgl. auch aus dem XVIII. Jahrhundert daskönigl. Preuas. Edict vom 4. Januar 1736 wegen der Diebstähle in hiesigen Residentzien (CorpusConstitutionum Marchicarum II. Abth. III. N. 75). — Häufig als Beispiel derartiger Gesetzgebung istcitirt ein Preussisches Edict von 1739: „Wenn ein Advocat oder Prokurator oder ander dergleichenMensch sich unterstehen sollte, Sr. K. Majestät durch Soldaten in Process- oder Gnadensachen im-mediate Memoriale einreichen zu lassen oder auch wenn ein Anderer von ihn Leute dazu aufwiegelnwird, um in abgethanen und abgedroschenen Sachen Sr. Majestät immediate Memoralia zu überrei-chen: so wollen Se. Majestät alsdann einen solchen — ohne alle Gnade aufhängen und neben ihneinen Hund hängen lassen". Vgl. auch Berner, Lehrb. §. 54 a. E., und über diese Brandenburgisch-Preussische Gesetzgebung die (freilich etwas zu milde) Darstellung Abegg’s in Hitzig’s Zeitschrift fürCriminalrechtspflege in den Preuesischen Staaten, 1836, Supplement S. 129 ff.

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

zur Ketzerverfolgung. So wurde bekanntlich der sächsische Geheime Kammerrath Cracoauf Befehl des Kurfürsten August langsam zu Tode gemartert, da man ihm eine „Con-spirationßur Einführung des Calvinismus in Kursachsen zur Last legte.112 Ebenso wurdewohl wie zur Zeit der römischen Imperatoren ein wirklich oder angeblich eingetretenerMiss-

Seite 139erfolg zur bösen Absicht angerechnet und das vorher von dem Fürsten Gebilligte an derspäteren Aenderung seiner Ansichten gemessen, auch das Privatinteresse des Fürsten vondem des Landes nicht unterschieden.113 So behandelte man bei der schändlichen Ankla-ge gegen den kursächsischen Kanzler Crell, welche diesen nach zehnjähriger Kerkerhaft1601 auf das Schaffot brachte, es als Majestätsverbrechen, dass der ehemals vielvermö-gende Rathgeber des Fürsten Gerechtsame für diesen vindicirt hatte, welche der Kurfürstnicht besass, dass er Zwietracht im kurfürstlichen Hofe, Hass des Kurfürsten gegen des-sen Gemahlin erregt haben sollte.114 In der mit dem XVIII. Jahrhundert namentlichbeginnenden Zeit allmächtiger Minister, die freilich Unheil genug gestiftet haben, waraus den angeführten Gründen das Amt dieser ein nicht ungefährliches:115 dem gestürztenGünstling wurde die hohe früher besessene Stellung als Hochverrath angerechnet, undnoch Leyser116 untersuchte alles Ernstes, ob der „Ministrissimatus"d. h. die bevorzugteStellung eines allmächtigen Ministers an sich ein Verbrechen sei.Und auch da, wo nicht gerade niedrige Interessen im Spiele sind, fängt individuelle

Laune und Willkür der Fürsten an, Delicte zu definiren und Strafen zu bestimmen. „Su-periori nihil impossibile", sagt Brunnemann (Tract. 9 n. 90), indem er anräth, möglichstVieles mit Strafe zu bedrohen. Dass die P. G. 0. gegen Einführung neuer criminellerStrafsatzungen eine Schranke errichtet hatte, beachten schon die Constitutiones Saxo-nicae (1572) nicht mehr,117 und Blumlacher in der Vorrede zu seinem Commentar derCarolina (1670) sagt in Beziehung darauf ausdrücklich : „Hodie quilibet Princeps in ter-ritorio dicitur esse Imperator".118 Nach einer kurfürstl. hannoverschen Verordnung von1710 sollen Versehen der Maurer und Zimmerer, wodurch Feuersgefahr entstehen könnte,mit lebenslänglicher Karrenstrafe, nach einer anderen kurfürstl. hannoverschen Verord-nung von 1726 leichtsinniger Bankerott mit Karrenschieben, bezüglicher Bankerott mitewiger Gefängnissstrafe geahndet

Seite 140werden.119 Die Praxis begann dann freilich gegen solche Verordnungen bald einen erfolg-

112Vgl. Kluckhohn: Der Sturz der Kryptocalvinisten in Kursachsen 1574, in v. Sybel’s Historischer Zeit-schr. Bd. 18 (1867) S. 77—127.

113Vgl. Leyser, Sp. 575 n. 22, über den Process des in Schweden hingerichteten unglücklichen BaronGörtz.

114Vgl. darüber Leyser, Sp. 571 n. 55, 56.115Leyser, Sp. 575 n. 5, erwähnt aus eigener Praxis der häufigen Befragungen der Facultäten über Be-

strafung von Ministern,116Spec. 570.117Sie stellten z. B. in Ansehung der Nothzucht das alte Sachsenrecht wieder her, bestraften den Diebstahl

anders. Vgl. IV. 31, 33.118Man gründete die unbeschränkte Gesetzgebungsgewalt auf die Bestimmungen des westphälischen Frie-

dens, vgl. J. R. A. §. 171 Verb. „Demjenigen nachgelebt werden soll, wasü. s. w.119Bemerkenswerth sind auch die Edicte gegen die Zigeuner. Dieselben waren freilich auch reichsgesetzlich

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reichen Kampf.Die landesherrliche Gewalt zeigte sich aber nicht nur in der Gesetzgebung, sie griff

auch ein in Gang und Entscheidung einzelner Untersuchungen. Schon hei den Italie-nern120 begegnen wir dem Satze, dass der Princeps ex plenitudine potestatis nicht nurStrafen erlassen, sondern auch solche verhängen und Fehler richterlicher Urtheile cor-rigiren könne, und zwar ohne hierin gebunden zu sein an die sonst geltenden Kegelndes Processes.121 Während so einerseits das Recht des Richters und der untergeordnetenGerichtsherren, Strafen zu erlassen, immer mehr beschränkt wurde, für die Landesherrnaber das moderne Begnadigungsrecht sich entwickelte, kam es in einzelnen Ländern da-hin, dass Strafschärfungen seitens der Landesherren gar nichts Seltenes mehr waren,und in Brandenburg, später im Königreich Preussen wurde der Landesherr selbst für dieschwereren Strafsachen sogar regelrechte Revisionsinstanz, an welche die betreffendenActen stets eingeschickt werden mussten.122 Dass es dabei nicht an verkehrten, wennauch wohlgemeinten Entscheidungen fehlen konnte, ist selbstverständlich,123 und allge-mein vindicirte die Jurisprudenz nach römischen Traditionen dem Princeps das Recht,gegen Feinde des Landes und also auch des Landesherrn selbst unmittelbar nach seinemErmessen einzuschreiten, wie es die Inhaber der römischen Staatsgewalt gegen Perduel-les gethan hatten,124

Seite 141§. 50. Man darf dabei denn auch darüber sich nicht wundern, dass über die Nichtaus-übung der Criminaljustiz im einzelnen Falle im Anschluss an die alte Auffassung, welchedie Gerichtsbarkeit als nutzbares Vermögensrecht betrachtete, gelegentlich ein schnöderHandel abgeschlossen wurde. So hatte der kursächsische Kammerpräsident v. Hoym 125

sich vielfacher Bestechungen, Unterschlagungen, Begünstigungen von Münztlefraudatio-nen und besonders Erpressungen gegen seine Gutsunterthanen schuldig gemacht. Der1693 gegen ihn eingeleitete Process endete nach vielen Aufzügen damit, dass Hoym dornKurfürsten 200000 Thlr. zahlte, und ungeachtet die bezeichneten Verbrechen so gut wie

für rechtlos erklärt (Polizeiordn. von 1577 tit. 28). Nach einem Edicte König Friedr. Willi. I. vonPreussen vom 5. Octbr. 1725 (Corpus Const. March. II. Abth. III. N. 54) sollten Zigeuner, so imLande betreten werden und über 18 Jahr alt sind, ohne Gnade mit dem Galgen bestraft werden.

120Vgl. z. B. Bossius, tit. de hoinicidiis n. 97 ff. Der Satz ist übrigens schon älter. Auch Kress, Gonimont.art. 99 §. 3 a. E. führt aus, dass der Richter, wenn er eine zu milde Sentenz gefällt habe, sich an denPrinceps behufs Correctur der letzteren wenden könne.

121Nicht selten sind die Facultätsurtheile im XVIII. Jahrhundert als Rathschläge an den Fürsten abge-fasst, namentlich wenn dem Collegium die gesetzliche Strafe zu hart erschien. Vgl. z. B. HarpprechtCons. 45 (1701).

122Vgl. Hälschner, Geschichte S: 141.123Vgl. schon Fichard, teutsche Rathschläge, Cons. 70 n. 11 ff.: „In consistorio principis non requiritur

ordo processus", ein Satz, der hier freilich nur auf den Kaiser bezogen wird.124Reinkingk, De regimine saec. I. 2 c. 12 n. 35; Pufendorf, De jure nat. VIII. c. 3 §. 33: „aliquando

absque ambagibus processus ab executione fieri initium queat"(!). Vgl. auch Leyser, Sp. 641 n. 12,Sp. 646 n. 7, der sich dabei auf L. 16 §. 10 D. de poenis beruft und im äussersten Fall auch Tödtungdurch Gift (!) billigt.

125Vgl. Helbig: Der kursächsische Kammerpräsident v. Hoym, Zeitschrift „Im neuen Reich", 1873, II. S.473 ff. Noch Boehmer, Med. art. 20 §. 18 erwähnt der Sentenzfomel: „würde Inquisit sich durch einenEid reinigen oder er sofort (zwanzig) Thlr. zur milden Sache erlegen, so ist gegen ihn nichts weitervorzunehmen", als einer oft gebräuchlichen.

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

erwiesen waren — es hätte nur der Anwendung der Tortur bedurft, um Hoym auch zumGeständnisse zu bringen — die armen Untherthanen um jede Satisfaction kamen, Hoymaber in alle seine Ehren wieder eingesetzt wurde. 126 Carpzov127 ergeht sich in Klagenüber die schlechten Unterrichter (und wohl auch Gerichtsherren), welche ein Gewerbedaraus machen, Geldstrafen zu dictiren und schliesslich sich des öffentlichen Ausspruchesnicht schämen: „es haben dieses Jahr über die Brüche und Geldbussen, Gott sei Lob, einEhrliches eingetragen", und noch am Ende des XVIII. Jahrhunderts bereiste in einemkleinen, jetzt glücklicher Weise längst mediatisirten Territorium ein Hofcommissar dieAemter, um durch Einleitung ganz unsinniger Ehebruchsprocesse128 hohe Geldbussen zuerpressen, so dass dann Haus und Hof einer Menge Leute dem Hofjuden zugeschlagenwurde. Schliesslich machte allerdings das Reichskammergericht diesem unglaublichenScandale energisch ein Ende.129

§. 51. Neben solcher mala fide begangenen Willkür 130 machten sich aber auch allmäh-lig individuelle Ansichten der Gerichte und

Seite 142Facultäten zu dem Zwecke geltend, die grausamen Strafen 131 zu mildern132 und ande-

126Andererseits schämte man sich auch ganz niedriger Kniffe, Rechtsund Vertragsverletzung nicht, umJemanden, an dessen Verfolgung dem Landesherrn oder seinen Günstlingen gerade gelegen war, in dieGewalt zu bekommen. Noch Leyser, Sp. 572 n. 6, der über ein derartiges, in der Nähe von Hamburg1664 ausgeführtes Stück berichtet, nennt das einen „Dolus bonusünd bemerkt: „Nec improbe actom".

127Practica III. qu. 116 n. 13 ff.128So wurde z. B. ein 72jähriger Greis wegen zweier angeblich vor langen Jahren geübter Ehebrüche um

1200 Gulden gestraft.129Bibliothek für peinl. Rechtswissenschaft 1797 (Bd. 1) S. 2, S. 278 ff. Das Rescript des Reichskammer-

gerichts datirt vom 17. Mai 1793.130Gerichtsherren liessen wohl auch Personen deshalb hängen, um zu zeigen, dass sie den Blutbann

besässen. Vgl. Oldekop, Observ, crim. V. 19: „Vac tibi qui hoc modo jura jurisdictionemque tuamtueri desideres et actum meri imperii"; noch Gmelin (Grundsätze über Verbrechen u. Strafen [1785],S. 292) erzählt, es sei ihm berichtet worden, ein Edelmann habe gegen das Urtheil einer Facultäteinen Inquisiten hängen lassen, um solcher gestalt einmal den Besitz des Blutbannes zu bethätigen!

131Barbarische Strenge wechselte besonders im XVII. Jahrhundert, je nach den Zeitverhältnissen, mitfast unbegreiflicher Milde und ruhigem Gewährenlassen notorischer Verbrecher, sobald diese sich nurspäter ruhig verhielten. Vgl. darüber z. B. die aus den Acten des Hannov. Amtes Meinersen geschöpf-ten Mittheilungen von Niemeyer: Ueber Criminalverbrechen, peinl. Strafe und deren Vollziehung bes.aus alter Zeit, Lüneburg 1824, S. 61, 62, 104. Am Ende des XVI. Jahrhunderts richtete man in Mei-nersen und Umgegend streng nach der C. C. C; in den Jahren 1G18 bis 1660 dagegen wurden schwereVerbrechen, Diebstähle, selbst Mordthaten nur mit Landesverweisung, Kirchenbussen und Geldstra-fen geahndet. — Andererseits machte man auch oft wenig Federlesens mit Todesurtheilen und derenVollziehung. So fanden die Beamten in Meinersen es einmal auffallend, dass ein Bote, der drei To-desurtheile von der Helmstädter Facultät zurückbringen sollte, darauf zwei Tage warten musste undnur zwei Todesurtheile zurückbrachte. Oft wurde der Bote an demselben Tage, an welchem er dieActen brachte, mit dem Todesurtheil wieder abgefertigt! (Niemeyer S. 116). Ueber entsetzliche Grau-samkeiten (die gelegentlich im Hannoverschen vorkamen) — Zernagenlassen durch Fliegen, Wespen,Ameisen — berichtet Freudentheil: Beilageheft zum N.Archiv des Criminalrechts, 1838. Andererseitsfehlt es auch nicht an humoristischen Zügen. Gelegentlich wurden zur besseren Erziehung und Er-mahnung bei Strafexecutionen auch gewisse Zuschauer — unter allgemeiner Billigung des Publicums— mitdurchgeprügelt. So liess der Beamte in Meinersen, als ein Sohn seinen Vater ermordet hatte,eine Anzahl erwachsener Bauernsöhne nach geschehener Hinrichtung des Verbrechers durchprügeln.Niemeyer S. 121.

132Bei der Strafmilderung erhielten sich noch lange Zeit Nachwirkungen der alten Rechtsanschauungen.

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rerseits die Strafjustiz dem Wohle des GemeinwesensSeite 143

dienstbar zu machen. Die Praxis war dazu in Wahrheit durch den Stillstand der Gesetz-gebung gezwungen. Während die Landesgesetzgebung nur vereinzelte Entscheidungenmeist von äusserst problematischem Werthe lieferte, versiegte die Reichsgesetzgebungauf dem Gebiete des Strafrechts seit dem Erscheinen der Carolina fast völlig. Wir be-gegnen nur noch einigen Bestimmungen über Gotteslästerung, freventliches Schwören,Fluchen133 und mancherlei polizeilichen Verboten, den Betrieb von Gewerben, den Luxusu. s. w. betreffend.134 Gegen das überhandnehmende Duellunwesen wurde ein Reichs-gesetz, welches in unrichtiger Weise die Duellanten als gemeine Todtschläger und dieSecundanten als Gehülfen derselben behandelte, zwar vorbereitet,135 aber als Reichsge-setz nicht publicirt; es erlangte jedoch als Particulargesetz in verschiedenen TerritorienGeltung oder gab doch den Anlass zu sog. Duell

Seite 144mandaten, die auf der gleichen fehlerhaften das Rechtsbewusstsein des Volkes nicht be-

Noch im XVII. Jahrhundert wird z. B. das Erbieten einer Puella, den Schuldigen zu ehelichen, alsGrund anerkannt, die Todesstrafe nicht zu vollziehen und den Schuldigen der landesherrlichen Gnadezu überweisen, Dadurch wurde namentlich in Ehebruchsfällen die Todesstrafe oft umgangen. Vgl.Carpzov III. qu. 148 n. 29 ff. Viele beschränkten das später — in Verkennung des ursprünglichenSinnes — auf das Erbieten einer Meretrix (!), weil diese dadurch zu einem ehrlichen Leben gebrachtwerde. Vgl. dagegen Carpzov II. qu. 88 n. 25. Ebenso wird noch Rücksicht genommen auf besondereKunstfertigkeit des Schuldigen (vgl. Carpzov 1. c. n. 62); noch der Codex Max. Bavaricus I. 34 siehtsich veranlasst, diesen Milderungsgrund besonders zurückzuweisen. Auch die Fürbitte Anderer wirdals Grund für landesherrliche Gnade angesehen (Fichard, teutsche Rathschläge cons. 121, verwan-delte mit Rücksicht auf die Fürbitte der ganzen Gemeinde, und da der Schuldige ein „Ansehnlichervon Adel", die sonst verdiente Schwertstrafe in Relegation und Schadensersatz). Zugleich wurdenwohl die Bestimmungen des späteren römischen Rechts benutzt, um in einzelnen Fällen Personender höheren Stände mit Leibes- und Lebensstrafen zu verschonen. So stellte 1611 ein akademischesConcil den Satz auf, dass ein Studiosus, der gestohlen hatte, als „angesehener Leute Kind", mit dersonst wegen Diebstahls verwirkten Todesstrafe zu verschonen sei (vgl. Leyser, Sp. 532 n. 15). DieUniversität Leipzig machte noch im XVII. Jahrhundert ein pabstliches Privileg geltend, wonach Leip-ziger Studenten wegen homicidium nur lebenslängliches Gefängniss, wegen Diebstahls nur Relegationerleiden sollten. Die kursächsische Gesetzgebung sah sich 1657 bezw. 1658 veranlasst, dies besondersaufzuheben, und zwar bezüglich der Todtschläger, weil es wider Gottes Gebot sei. Vgl. Ziegler: Dejuribus majestatis, Lib. I. c. 5 n. 26, 27. Vermuthlich hingen solche Prätensionen der Universitätenmit den alten Privilegien der Kleriker zusammen. Carpzov, II. qu. 62 n. 20ff., meint, dass die Privile-gien der Geistlichkeit in protestantischen Ländern in Folge des Ueberganges der Gerichtsbarkeit aufden Landesherrn (nach dem Passauer Vertrage) nicht mehr anzuerkennen seien. Ebenso wurde aufdie Transactio mit dem Beschädigten noch lange Zeit Rücksicht genommen; noch Carpzov, II. qu. 80n. 11 ff., ist der Ansicht, dass die Transactio zwar das Einschreiten der Obrigkeit nicht hindere, wohlaber von der Poena ordinaria befreie. Später sah man in der Transactio nur einen Grund der Straf-milderung im Gnadenwege. Die Ansicht, dass die Transactio die öffentliche Strafe nicht ausschliesse,findet sich bereits bei Oldekop, II. qu. 1, vgl. das. n. 23ff., auch über die bei der Transactio vielfachüblichen Missbräuche.

133R. P. 0. von 1577 Tit. 1 §. 2, Tit. 2 und 3.134Darüber enthalten die Reichspolizeiordnungen ziemlich umfangreiche Bestimmungen. Vgl. darüber und

über die particularen hier einschlagenden Bestimmungen Elben: Zur Lehre von der Waarenfälschung,1881, S. 52 ff.

135Reichsgutachten vom 30/20. Juli 1668, bestätigt durch kaiserliches Decret vom 30/20. Juli 1668.

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

rücksichtigenden Grundlage ruhten.136

Gar nichts geschah aber seitens der Reichsgesetzgebung und seitens der Particular-gesetzgebung äusserst wenig, um an Stelle der in der P. G. 0. so vielfach gebrauchten,allmählig von der allgemeinen Meinung immer mehr gemissbilligten verstümmelndenStrafen andere Strafen zu setzen oder auch die von der P. G. 0. so vielfach gedrohteneinfachen und geschärften Todesstrafen zu mindern. Die Praxis sah sich daher veranlasst,das Gesetz zu umgehen. Und zwar griff die das Ansehen des Gesetzes untergrabende undschliesslich zu fast völliger Willkür führende Tendenz gerade seit der Zeit besonders umsich, als man angefangen hatte, die P. G. 0. nicht mehr als einen mehr gemeinfasslichenAuszug aus dem römisch - italienischen Rechte, sondern als ein Gesetzbuch zu behan-deln, dessen Principien und Consequenzen denen der römischitalienischen Jurisprudenzim Falle eines Widerstreites vorzugehen hätten.

Diese letztere Behandlung der P. G. 0. tritt schon entschieden hervor in den Schrif-ten der sächsischen Juristen Matthias Berlich137 und Benedict Carpzov, 138 welche derdeutschen Criminaljurisprudenz durch

Seite 145Berücksichtigung des vaterländischen Rechtes und besonders zahlreicher Präjudicien dersächsischen Gerichte und namentlich des leipziger Schöffenstuhles zuerst eine selbstän-digere Stelluug verschafften, und von denen der letztere trotz der Angriffe seines Zeitge-

136"Vgl. namentlich Heffter: Lehrb. des gemeinen deutschen Strafrechts §.370. z.B. Braunschweig-Lüneb.Duell-Edict von 1687.

137Berlich Concl. I. qu. 20 n. 32: „Et certe in delictis atque poenis dictandis magis ad Ordinationem Carolicrimin. quam ad definitionem juvis civilis respiciendum est. Praedicta enim ordinatio juri communiderogat". — Berlich’s Conclusiones practicabiles erschienen zuerst 1615-1619. Berlich starb 1638. Vgl.überBerlich: Stintzing, Gesch. I. S. 736.

138Es kann nicht behauptet werden, dass Carpzov, was die allgemeine Theorie des Strafrechts betrifft,im Vergleich zu der italienischen Jurisprudenz einen Portschritt bezeichne. Vielmehr steht er unterBossius und Clarus. Nur die Begründung einer gewissen Selbständigkeit der deutschen Jurisprudenzist sein und seines Vorgängers Berlichs (Nisi Berlich berlichizasset, Carpzov non carpzoviasset!) Ver-dienst. Carpzov’s redliches Streben, seine Gerechtigkeitsliebe (man vgl. z. B. III. qu. 116 n. 11 ff. übergeldgierige, arbiträre und grausame Justiz, III. qu. 123 n. 20 ff. über [Unabhängigkeit des Richtersgegenüber fürstlichen Machtgeboten) blickt überall durch, und es ist ungerecht, ihn übermässigerStrenge zu beschuldigen. Aber mit seiner allgemeinen Bildung ist es nicht ganz besonders bestellt.Ein bigotter Anhänger theologisch-juristischer Tradition betrachtet er das mosaische Recht als einselbst dem Landesgesetze vorgehendes Jus divinum (vgl. III. qu. 111 n. 59), erkennt er das Verbre-chen der Ketzerei in weitem Umfange an, liefert die albernsten Erörterungen über Zauberei. Danebenverwechselt er nicht selten Beweis und materielles Recht, rechtliche und moralische Würdigung einerTliat, und besonders bedenklich ist seine Theorie (die freilich von Vielen getheilt wurde) der Criminaexcepta, d. h. gewisser besonders schwerer Verbrechen, bei denen die im Uebrigen über Beweis undVertheidigung geltenden Grundsätze zum Zwecke der leichteren Bestrafung nicht gelten sollten (vgl.über Carpzov namentlich J. S. F. Boehmer: Praefatio ad. Bened. Carpzovii practicam). Carpzov, geb.1595, + 1666, als Prof. u. Ordinarius der Leipziger Juristenfacultät und des dortigen Schöffenstuhls.Man sagte, dass er 20000 Todesurtheile mitgefällt habe. Seine berühmte Practica nova ImperialisSaxonica rerum criminalium erschien zuerst 1638. J. S. F. Boehmer hat sie 1759 commentirt, aberauch ihr Ansehen zu Grabe getragen.

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nossen Oldekop139 fast ein Jahrhundert lang die deutsche Praxis beherrschte.140

§. 52. Die Umgehung des Gesetzes aber erfolgte zunächst mittelst Aufstellung man-nigfacher Milderungsgründe. Schon die spätere italienische Jurisprudenz141 gestattetedem Richter die Frage zu berücksichtigen, ob der Gesetzgeber, wenngleich der concreteFall unter die allgemeine Bestimmung des Gesetzes zu subsumiren sei, gerade an einensolchen Fall gedacht habe. Je mehr nun die von der P. G. 0. angenommenen grausamenStrafen und die auf blosse Eigenthumsdelicte gesetzten Todesstrafen anfingen das Ge-fühl zu verletzen, um so mehr wurden solche uns oft sonderbar genug erscheinende, oftfreilich an das alte Richten nach Gnade erinnernde Milderungsgründe aufgestellt.142 Beisolcher Abweichung

Seite 146von der gesetzlichen Strafe hatte der Richter freie Hand, und so kam es auf Grunddes immer mehr (namentlich seit Pufendorf) angewendeten Satzes „Salus reipublicaesuprema lex estoßur Verurtheilung zur Detention in Zuchthäusern143 (Werk- und Ar-beitshäusern), die seit dem Anfange des XVII. Jahrhunderts zunächst für polizeilicheZwecke, zur Aufnahme namentlich arbeitsloser Vagabonden nach dem von niederländi-schen Städten gegebenen Beispiele zuerst 1613 in Lübeck, 1615 in Hamburg eingerichtet

139Oldekop, geb. 1597 zu Hildesheim, war entschieden ein feinerer Kopf als Carpzov. Freisinniger auch alsdieser zweifelt er stark an der Richtigkeit der Hexenprocesse und giebt für die sonderbaren in densel-ben abgelegten Bekenntnisse bereits die richtige Erklärung. Er kennt auch das römische Recht besser,hält sich strenger an das Gesetz und bekämpft mit Recht die bei Carpzov mannigfach vorkommendenwillkürlichen und schlecht begründeten Entscheidungen. Aber Oldekop kannte und berücksichtigtedas einheimische Recht weniger und hat darum nicht Carpzov’s historische Bedeutung. (Observatio-nes crim.u. Contra Carpzovium Tractatus.)

140Im östlichen Deutschland stand auch Brunnemann’s Tractatus de inquisitionis processu (zuerst 1648gedr.) in hohem, in der That unverdientem Ansehen. Man findet bei diesem bigotten protestantischenJuristen — er war Professor in Frankfurt a. 0. und starb 1672 — nichts Neues und seine juristischenArgumente — er verwechselt nebenbei fortwährend in der crassesten Weise den Standpunkt desRichters und des Gesetzgebers — sind geradezu oft jämmerlich zu nennen.

141Vgl. z.B. Decianus, Pr. VIII. c. 14. — Auch Mynsinger, Observ. II. 30 führt aus, der Richter habeallgemein das Recht, die Strafe zu ändern und zwar selbst dann, wenn das Statut eine Poena certaausspreche.

142In einem Urtheile der Tübinger Facultät (Harpprecht I. cons. 10) wird es als Milderungsgrund be-trachtet, dass der Vater des Delinquenten,der schon Plünderung erlitten hatte, durch die Bestrafungseines Sohnes „in gross Kreutz gestürzt werden würde". Bei Carpzov II. qu. 80 n. 100 erscheint alsMilderungsgrund die Rücksicht auf die Ehefrau des Schuldigen, die „kleinen unerzogenen Kinderünddas Versprechen der Schadloshaltung.

143In Bern wurde 1615, in Basel 1667, in Celle 1710—1731 ein Zuchthaus errichtet. Vgl. Wagnitz: His-torische Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zuchthäuser in Deutschland, 1792,II. S. 143, 229. — In den Niederlanden hatte man „Ergastula nautica", welche sehr, wie Damhoudersagt, oft weit mehr als Tortur und Todesstrafe gefürchtet waren, und von denen Damhouder, Pra-xis rer. crim. c. 151, eine anschauliche Schilderung liefert. Ausser überwiesenen Verbrechern kamendahin fahrende Leute, zudringliche Bettler, aber auch wohl ungerathene Söhne auf Ansuchen derEltern. Freilich wurden die Leute darin meist noch schlechter, wie Damhouder bemerkt (das. n. 34).Grosse Härte der Behandlung wechselte da auch wohl mit vergnüglichem Leben (Kartenspielen) inder Popina. Andererseits berichtet Damhouder, Pr. 110 n. 59, über in Brügge bestehende höchstnützliche Schulen für Bettler und andere verdächtige Personen. Ueber die Errichtung von Zucht- undWerkhäusern im Herzogthum Holstein in der Zeit von 1730—1740 vgl. v. Warnstedt: Zur Lehre vonden Gemeinde-Verbänden, kritische Beleuchtung eines Rechtsstreits, 1878, S. 30 ff.

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

wurden und nach und nach immer mehr Beifall und Nachahmung fanden,144 aber auchzur Verurtheilung zum Opus publicum145 (wobei man sich ja noch auf das römischeRecht berufen konnte), zum Bau von Wegen, Festungen und landesherrlichen Schlössernund Gebäuden, zum Kriegsdienste gegen die Türken,146 selbst zur Verurtheilung zumvenetianischen Galeerendienste. Die Behandlung der Gefangenen in jenen Anstalten warallerdings eine sehr verschiedene,

Seite 147und der Richter verurtheilte gewissennassen dabei ins Unbestimmte. Das Haspeln vonüberseeischen Farbehölzern war anfangs die meist übliche Beschäftigung der Gefange-nen.147 Andererseits konnte individuelle Ansicht des Richters jeder Zeit die alten ver-stümmelnden Strafen wieder in Anwendung setzen;148 erst seit dem Anfange des XVIII.Jahrhunderts verschwinden sie völlig; nur die Strafe des Handabhauens kommt im ers-ten Drittel des XVIII. Jahrhunderts in vereinzelten Fällen noch vor.149 Auch die Strafeder Landesverweisung gegen eigene Landesunterthanen wurde seit dem Ende des XVII.Jahrhunderts mehr und mehr als verwerflich betrachtet,150 und die öffentliche Stäu-pung (Auspeitschung) wurde allmählig immer mehr ersetzt durch Gefängnissstrafe151

und nicht öffentliche körperliche Züchtigung. Weniger Anstoss erregten zunächst nochdie vielen Todesstrafen.152 Aber gegen die an Leichnamen früher nicht selten vollstreck-ten Strafen erhoben angesehene Juristen153 doch ihre Stimme, und Carpzov berichtet

144Theod. Reinkingk: De regimine saeculari et ecclesiastico, II. 1 c. 7 n. 6, empfiehlt die Errichtung vonZuchthäusern in jeder Provinz für Bettler. Vagabonden, Müssiggänger. Vgl. auch Pufendorf: De jurenaturae et gentium, VIII. c. 3 §. 4.

145Verurtheilung zum Opus publicum zu Anfang des XVII. Jahrhunderts. Vgl. Sande, Decis. Fris. 5, 9dec. 3.

146Vgl. z.B. Reinkingk, De reg. II. 1 c. 8, der dies als den optimus relegandi modus bezeichnet. Responsumder Tübinger Juristenfacultät von 1697 bei Harpprecht, Consil. I. 1 n. 139; aber auch Verurtheilungzu 12jährigem Dienste gegen die Franzosen, das. 53 n. 64

147Vgl. über die Zuchthäuser im XVII. Jahrhundert namentlich auch Krausold: Miracula S. Raspini,Merseburgi 1698, der nach Tabor eine traurige Schilderung von den Wirkungen der „Triga", desGalgens, der öffentlichen Stäupung und der Landesverweisung entwirft, („indurati homines his . . .poenis non emendantur, sed efferuntur potius et excandescunt"), und trotz der grausamen Strafenüber Räuberbanden und Unsicherheit klagt und deshalb eben die Raspelhäuser empfiehlt. DaselbstS. 52 ff. auch die Ordnung des Hamburger Hauses von 1686. Für gewisse heut zu Tage obwaltendeTendenzen sind solche Schilderungen doch lehrreich.

148Lauterbach: Collegium theoretico-practicum 48,19 n. 10(Tübingen 1690ff.), erklärt sich entschiedengegen körperliche und verstümmelnde Strafen. Kress, Comment. art. 159 §. 5 n. 3, bezeichnet dasAugenausstechen als entschieden nicht mehr praktisch; Boehmer, Med. in C. C. C. 112 §. 1, bemerkt(allerdings erheblich später), dass Ohrenabschneiden nur noch wohl gegen Deserteurs zur Anwendungkomme.

149Vgl. über eine in Oldenburg 1714 erkannte Strafe des Handabhauens Leyser, Sp. 604 n. 3, über einenderartigen Mecklenburger Fall von 1731 das. n. 22.

150Vgl. über die bei der Landesverweisung hervortretenden Missstände schon Reinkingk 1. c. II. 1 c. 7.151Schon aus Berlich, Concl. V. 57 n. 5, sieht man die häufigere Anwendung der Carceratio bei minder

schweren Delicten, und schon 1617 setzte eine würtembergische Verordnung an Stelle der körperlichenZüchtigung die Strafe des Opus publicum. In Hannover wurde das öffentliche Auspeitschen zugleichmit dem Schandpfahle 1727 beseitigt. Kress, art. 198 §. 4 n. 1.

152Philosophisch wurde die Todesstrafe bereits zu Carpzov’s Zeit angegriffen. Vgl. Carpzov, Pr. III. qu.101 n. 26 ff.

153Vgl. die allerdings schwankenden Erörterungen bei Carpzov, Pr. III. qu. 131 n. 32 ff.

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schon, dass in manchen Fällen Todesstrafe durch lebenslängliches Gefängniss ersetztwerde.

Seite 148Eine andere Quelle richterlicher Willkür war das Beweisrecht. Die P. G. O. 154 hattebestimmt, dass auf blosse Indicien eine Verurtheilung nicht sollte erfolgen dürfen. Aberschon in der italienischen Jurisprudenz findet sich die Ansicht vertreten, dass, wie in derExtraordinaria cognitio der Richter nicht gebunden sei an die Kegeln der Judicia publi-ca, und wie er in jener Cognitio eine Poena extraordinaria verhängen dürfe, so es auchgestattet sei, bei nicht vollständigem Beweise eine Poena extraordinaria zu verhängen,welche freilich weder die Poena ordinaria erreichen noch auch in Todesstrafe bestehendürfe.155 Mit dem Verbote der P. G. 0., auf Indicien peinliche Strafen zu verhängen, fandman sich hierbei so ab, dass man dasselbe nur auf schwerere Delicte bezog, in denen dieTortur Anwendung finden und Gewissheit liefern konnte.156 Die letztere Beschränkungwurde dann auch bald nicht mehr beachtet, und überall, wo der Richter moralisch vonder Schuld überzeugt war, die legalen Beweismittel, Geständniss oder Zeugenbeweis, aberfehlten, erkannte man auf ausserordentliche, oder wie es später hiess, Verdachtstrafe, 157

und machte davon auch dann Gebrauch, wenn nicht etwa die Thäterschaft überhaupt,158

sondern ein einzelnes Moment des gesetzlichen Thatbestandes, z. B. das Leben des vonder Mutter vielleicht getödteten neugeborenen Kindes nicht legal oder auch gar nichtbewiesen war.159

§. 53. Wie man nun im letzteren Falle einfach eine That bestrafte, welche das Gesetzgar nicht mit Strafe bedrohte, so kam man consequent auch dahin, eine That zu strafen,nicht weil sie unter einen bestimmten

Seite 149Delictsbegriff subsumirt werden konnte, sondern weil das Gericht sie nach individuellerAnsicht für strafwürdig hielt, und in der Anwendung der Analogie wurde in der That hierfür unsere Begriffe Unglaubliches geleistet. Kress160 z. B., der vielleicht mehr als irgendeiner der Criminalisten bis zu Feuerbach an das Gesetz sich zu halten bemüht ist, unter-scheidet Verbrechen nach Naturrecht und Delicte, welche dies nur nach positivem Rechteseien; bei den ersteren, bemerkt er, komme es mehr auf die sana ratio, als auf die varian-

154P. G. 0. 69, 22.155Vgl. Jul. Clarus §. fin. qu. 20 n. 4ff.— Eine andere Anwendung machte man bekanntlich von der Unter-

scheidung der Poena ordinaria und extraordinaria, als das inquisitorische Verfahren zuerst eingeführtwurde; das letztere sollte anfangs nur zu einer Poena extraordinaria führen können. Dies hatte aucheinen gewissen Sinn, insofern die Accusatio eine Ahndung auch des verletzten subjectiven Rechtsmitzuenthalten schien. Vgl. Biener: Beiträge zur Geschichte des Inquisitionsprocesses, S. 51.

156Vgl. Berlich IV. 15 n. 8, IV. 16 n. 11, V. 46; Carpzov III. qu. 116.157Vgl. Codex Maxim. Bavaric. crim. I. c. 12 §. 11. In Kursachsen hatte die Verdachtstrafe schon früh

gesetzliche Anerkennung gefunden. Const. El. Saxon. 33 p. 4. Vgl. Carpzov II. qu. 81 n. 13. Freilichwurden auch schon von Manchen triftige Einwendungen gegen die Zulässigkeit der Verdachtstrafenerhoben. Aber das praktische Bedürfniss siegte, ungeachtet der unrichtigen theoretischen Basis. Vgl.Carpzov III. qu. 142 n. 3 ff. — Man berief sich übrigens auch wohl auf L. 6 D. de accus. 48, 2. Vgl.Carpzov III. qu. 116 n. 51; Leyser Sp. 630 n. 11 a. E.

158Sande, Decis. Fris. 5, 9 defin. 3.159Vgl. Boehmer, Med. in C. C. C. 131 §. 55, der hier einfach wegen Saevitia in cadaver commissa straft.160Kress, Comment. 112, 113 n. 2.

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

tes formulae juris civilis an; und wenn Leyser161 stellenweise über die Limitationen unddie Willkür der Juristen klagt, welche statt nach dem Gesetze, nach individueller Ansichtüber die Zweckmässigkeit des Gesetzes für den einzelnen Fall entscheiden, so verfährt erdoch in anderen Fällen, wo es ihm passt, gerade so wie die von ihm Getadelten,162 oderer beugt sich doch der Autorität des Usus, welcher die Gesetze zu corrigiren gestatte.Boehmer aber, ohne Zweifel der bedeutendste deutsche Criminalist bis zu Feuerbach, istder Ansicht, dass man, da die Salus reipublicae als oberste Richtschnur den einzelnenGesetzen vorgeht, unter Umständen auch, wenn das allgemeine Interesse es so fordere,strenger als das Gesetz sein, ein Exempel statuiren dürfe.163 Keine Strafe gilt ihm alsunbedingt vom Gesetze angedroht „Augent, secant, temperant JCti": sie können sogarauf Todesstrafe erkennen, wenn das Gesetz auch nur von Poena arbitraria164 spricht. Dadarf man sich denn freilich nicht wundern, wenn die Helmstädter Facultät mit Leyser’s(Sp. 600 n. 40) Beifall z. B. 1721 einen Menschen, über dessen Schuld oder Unschuld— es handelte sich um Todtschlag und behauptete Nothwehr — man deshalb nicht klarwerden konnte, weil die Acten aus einem anderen Territorium nicht zu erlangen waren„um dem gemeinen Wesen vor diesem gefährlichen Menschen Sicherheit zu verschaffenïneinem Zuchthause oder an einem anderen wohlverwahrten Orte bei massiger Arbeit fürseine übrige Lebenszeit (!) einsperren lassen will, oder wenn Böhmer (1. c.) selbst beivölliger Freisprechung des Inquisiten (nach überstandener Tortur oder nach geleistetemReinigungseide) Einsperrnng in ein Ergastulum probat

Seite 150findet, oder wenn nach unserer Ansicht völlig unmögliche Analogien benutzt werden, umeine Handlung, die nur moralisch verwerflich oder auch gefährlich erschien, zu bestra-fen.165

Bei so weitgehender richterlicher Machtvollkommenheit konnte denn auch das Eichtennach Gunst zuweilen nicht fehlen, kamen nicht selten Personen der höheren Stände seihstbei brutalen Verbrechen unter irgend einem Vorwande mit leichter Strafe davon. Zuweilenschien da den Richtern das Gefühl für die Schwere des Verbrechens ganz abbandengekommen zu sein.166

161Spec. 537 n. 22.162Vgl. Hälschner S. 163.163Med. in C. C. C. art. 105 §. 3. — Vgl. über Strafschärfung auch schon Ziegler: De juribus majestatis

(1681) I. c. 6 n. 13.164Berlich, IV. 15 n. 6, war freilich noch, was die Poena arbitraria betrifft, anderer Ansicht; er will darunter

nach gemeinem Rechte nur Poena pecuniaria und Landesverweisung verstehen. Nach Clarus, §. fin.qu. 83 n. 11, sollte eine Poena arbitraria sich wenigstens niemals bis zur Todesstrafe versteigen dürfen.

165Solche Urtheile siehe schon bei Berlich IV. 36 n. 30. Der Gefangenenwächter, der die gefangene Dirnegeschwängert hat und mit ihr entläuft, wird, nachdem jene ihr Kind umgebracht hat, ohne Weiteresauch mit Schwertstrafe, wie die Dirne selbst, belegt. Das Apponere scalas ad fenestras soll unterUmständen mit dem Tode bestraft werden, IV. 36 n. 20. So werden Unanständigkeiten gestraft aufden Titel des Stellionatus (Carpzov III. qu. 133 n. 2ff.); so bestraft die Tübinger Facultät 1695 unbe-denklich Jemanden wegen blossen Nichthaltens eines Versprechens, Harpprecht, Cons. 47. —Leyser,Sp. 581 n. 8, hält noch die Todesstrafe gerechtfertigt gegen Den, der die Tochter seines Dienstherrnverführt.

166Vgl. z. B. Harpprecht, Cons. I. n. 139 und daselbst Urtheil vom 19. Aug. 1681: ein frecher Strassenraubwird mit wenigen Monaten Zwangsarbeit geahndet. In einem anderen Falle tröstet sich die Facultät

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§. 54. Während so auf der einen Seite schon zu Ende des XVII. Jahrhunderts dierichterliche Gewalt immer mehr sich an Stelle der gesetzgebenden setzte und die Praxiswillkürlich wurde, ist auf der anderen Seite zu dieser Zeit und im Anfange des XVIII.Jahrhunderts ein bedeutsamer Fortschritt zu verzeichnen. Zunächst fing die Aufklärungan — und zwar der Jesuit Friedrich v. Spee,167 dann mit besonders scharfen Waffen derunermüdliche Thomasius168 — die Hexenprocesse anzugreifen und leistete damit, wennman die vorangegangenen Scheusslichkeiten bedenkt, der Menschheit einen nicht hochgenug anzuschlagenden Dienst. Schon Kress äussert sich, wenn auch noch vorsichtig da-hin, dass schwerlich die Möglichkeit einer Hexerei anzunehmen sei,169 und

Seite 151Boehmer behandelt um die Mitte des XVIII. Jahrhunderts die ganze Sache als Einbil-dung170 und überhaupt wurde allmählig der unheilvolle Einfluss der Theologie immermehr beseitigt: auch hier sehen wir den tapferen Thomasius, dessen praktische Ver-dienste heut zu Tage viel zu wenig gewürdigt werden, mit zahlreichen kleinen Schriftenschliesslich erfolgreich zu Felde ziehen.Die von den Rechtsphilosophen gemachte Theilung der mosaischen Gebote in allge-

mein verbindliche und solche, welche nur für das jüdische Volk speciell gelten sollten,fand auch hei den Criminalisten in der Art Eingang, dass man immer mehr Strafdro-hungen der letzteren, also für die Gegenwart nicht mehr gültigen Kasse zuwies, bis dennendlich die Theorie auf die Bibel überhaupt keine Rücksicht mehr nimmt und das Straf-recht einfach auf den Nutzen und die Notwendigkeit einer Ahndung der Rechtsverletzunggegründet wird, Sätze, welche durch Beccaria’s berühmte und später noch besonders zubesprechende Schrift populär und auch den praktischen Criminalisten allmählig mund-gerecht gemacht wurden.171

Daraus ergab sich die Unzulässigkeit einer strafrechtlichen Verfolgung Andersgläubi-ger,172 die mildere Behandlung der auf die Religion bezüglichen, ferner der Unzuchts-

damit, dass den Inquisiten, falls er das Leben verwirkt haben sollte, doch die göttliche Gerechtigkeitzu ereilen wissen werde. Dann wieder hält sie deshalb Schwertstrafe für nicht unangebracht, weil mannicht einsehe, „wie der junge Mensch, der weder Vater noch Mutter habe, vor gänzlichem Verderbenan Leib und Seele gerettet werden könne". Harpprecht, Cons. I. 100.

167Cautio criminalis s. de processu contra sagas, zuerst 1631.168Vgl. namentlich „Vom Verbrechen der Zauberei", 1701, 1702.169„Casus si dabitur, respondebitur". Comment. art. 44. Die Jurisprudenz schlug den Weg ein, es zunächst

mit dem Beweise, besonders des Schadens strenger zu nehmen, vgl. Wächter, Beiträge S. 301. Dervorsichtige Leyser wollte freilich die Möglichkeit einer Magie nicht ganz ausschliessen (Sp. 608).

170Med. in C. C. C. 109.171Vgl. z. B. Reinkingk, De reg. saec. II. 2 c. 2, bes. §. 5; Sande, Decis. Fris. 5, 9 a. E.; Leyser Sp. 577 n.

20, und als Bezeichnung des Abschlusses der Entwicklung z. B. Engau: Elements juris crim. (5. edit.1760) §. 3, der dem mosaischen Rechte überhaupt die juristische Verbindlichkeit abspricht.

172Gegen die Bestrafung der Ketzerei vgl. namentlich schon Ziegler: De juribus majestatis (1681), 1.16.Freilich wird von ihm bei Verbreitung gefährlicher Meinungen „propter scandalum"die Ausweisungfür zulässig erklärt, das. n. 10. Vgl. auch Frölich v. Frölichsburg II. 1 tit. 4 §. 4, der das nachAugsburg. Reichsabschied, §. 24, den der Augsburgischen Confession Zugethanen zustehende flebileBeneficium emigrationis nach dem westphälischen Frieden auch für die Reformirten folgert. Leyser,Sp. 566, beschränkt das Recht der Obrigkeit gleichfalls auf Ausweisung, gestattet aber das zwangs-weise Zudictiren von Religionsunterricht, damit der Betreffende, wenn möglich, von seinem Irrthumezurückkomme. Vgl. daselbst auch ein Urtheil des Wittenberger Consistoriums, welches von Leyser

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

Delicte, soweit letztere nicht zugleich eine Verletzung der Rechte Anderer enthielten. Esergab sieh daraus dann auch, dass man Immoralität und Rechtsverletzung im strafrecht-lichen Sinne zu trennen suchte und lediglich letztere dem Strafrichter zuwies, freilich,wie es bei solchem Umschwünge der Ansichten erklärlich

Seite 152ist, nicht selten vergessend, dass das Recht auch in dem Boden der Moral wurzelt, unddass nicht immer die Verletzung eines subjeetiven Rechts zur Annahme einer Verletzungder Rechtsordnung im objectiven Sinne erforderlich ist.Auch der menschlichen Natur will man jetzt, wie es eben die Consequenz der natur-

rechtlichen Schule mit sich bringt, Rechnung tragen. Eine Handlung, welche nur einemmächtigen Naturtriebe173 folgt, scheint, wenn sie nicht das Recht eines Anderen directverletzt, als Verbrechen nicht betrachtet werden zu dürfen, und die allmählig beginnendepsychologische Analyse des Verbrechens, welche die Grundlage liefert zu einer allgemei-nen Lehre der Zurechnung, findet, dass der Verbrecher doch nicht immer so frei gehandelthabe, wie eine mit der ewigen Verdammniss operirende Jurisprudenz angenommen hatte.So kommt die Ansicht auf, der Verbrecher müsse mit moralischer Freiheit174 gehandelthaben, um die volle Strafe des Gesetzes zu erleiden, und nun verwickelt man sich in diemannigfachsten, nachher von Feuerbach aufgedeckten Widerspruche und schafft somitein neues Element willkürlicher Entscheidung.Neben diesen Elementen der Auflösung, zugleich des Fortschritts175 kommt aber in

Betracht, dass die Rechtswissenschaft in Deutschland mit ausreichenderen Mitteln undApparaten zu arbeiten anfing. Der Holländer Antonius Matthaeus hatte in erfolgreicherWeise in seinem Commentare zum 47. und 48, Buche der Pandecten (De criminibus,zuerst 1644 erschienen) das römische Strafrecht ohne fremdartigen Zusatz in seinemeigenen Geisto und unter Heranziehung der römischen Literatur zu interpretiren unter-nommen, und die seit Conring allmählig gewachsene Kenntniss deutscher Rechtsquellenfing andererseits auch an, auf die Behandlung des Strafrechts Einfluss zu üben. Mansieht das deutlich in den beiden trefflichen Commentaren von Kress176 und Joh. Sam.Friedr. v. Boehmer,177 von denen letzterer wohl bis zu Feuerbach den Höhepunkt derdeutschen Strafrechtswissenschaft bezeichnet. Der Unterschied zwischen diesen Arbeitenund Carpzov und

Seite 153den Italienern springt in die Augen. Die Autorität Carpzov’s aber war durch Boehmer’sObservationen178 zu Carpzov’s Practica bereits völlig gebrochen.

gebilligt wird.173Vgl. z. B. Kress, Comment. art 180 §. 3 n. 2; Hommel: Rhapsodia quaestionum, 441: Lenocinium,

incestus, sodomia, stuprum sind letzterem nicht Verbrechen, sondern nur Unanständigkeiten, turpi-tudines.

174Vgl. über diese später namentlich von Kleinschrod und Klein vertheidigte, übrigens gegen Ende desXVIII. Jahrhunderts unzweifelhaft herrschende Theorie Feuerbach: Revision der Grundsätze des pein-lichen Rechts, 1. S. 274 ff., S. 278, 279.

175Letzterer wird heut zu Tage häufig übersehen.176Commentatio succineta in Constitutionem Criminalem Caroli V., Hannoverae, zuerst 1721.177Meditationes in Constitutionem Criminalem Carolinam, zuerst 1770178Bened. Carpzovii Practica . . . variis observationibus aucta a J. Sam. Frid. Boehmer, Francof. 1753.

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§. 55. Allmählig wird nun auch die Form des Commentars in der Wissenschaft verlas-sen, und beginnen systematische Bearbeitungen des Strafrechts zu erscheinen, zunächstwohl veranlasst durch den akademischen Unterricht. Während im XVII. Jahrhundert aufden Universitäten eigene Vorlesungen über Criminalrecht noch nicht gehalten wurden,das Criminalrecht vielmehr nur in den Vorlesungen über römisches Recht bei Gelegenheitder Erläuterung der sog. Libri terribiles der Justinianischen Rechtsquellen mitabgehan-delt wurde,179 fing man in der ersten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts an, das Strafrechtselbständig, allerdings noch zusammen mit dem Strafproeesse zu behandeln.180 Einenbesonderen wissenschaftlichen Werth besitzen jene ersten Compendien des Strafrechts,von denen das von Engau (Elementa juris criminalis Germanico- Carolini), zuerst 1738erschienen,181 vielleicht das am meisten verbreitete war, freilich nicht. Aber der Wegeigener selbständiger Systematik muss früher oder später immer zum Versuche der Auf-stellung allgemeinerer Grundsätze, denen das Einzelne sich unterzuordnen hat, also auchzur tieferen Erforschung des Rechtsstoffes führen. Die Aufstellung eines sog. allgemeinenTheils in den ersten Compendien, freilich noch eines ziemlich dürftigen, musste im Cri-minalrechte vielleicht mehr noch als in anderen Rechtsdisciplinen ein wichtiges Hülfs-und Anregungsmittel werden.Weniger aber war es das positive Recht, welches das Interesse erregte, als die Frage,

was Recht sein sollte. Das Gesetzbuch, das man als Grundlage des gemeinen Rechtsbetrachtete, die P. Gr. 0., war, was das Strafensystem betrifft, von der fortschreiten-den Bildung überwunden, und die theologische Grundlage, auf der die P. G. 0 ruht, inVerbindung mit ihrer der Zeit nicht mehr entsprechenden Ausdrucksweise forderte denSpott heraus. Leyser (Sp. 633) erklärte die C. C. C. für ein Monumentum inscientiae undBoehmer sagt in der Vorrede seiner Meditationes von der Bambergensis und der C. C.C: „magnam Spirant simplicitatem et ipsa compilatio parum salis in autore arguit,"182

Seite 154So erklärt sich die eigenthümliche Beschaffenheit der damaligen Lehrbücher. Das ge-setzliche Recht wird zwar in ihnen dargestellt, aber dann kurz bemerkt, es werde nichtmehr beachtet, und so meist nach. irgend einer Autorität und zwar den damaligen Hu-manitätstendenzen entsprechend namentlich im Sinne möglichster Abschwächung derStrafgewalt183 entschieden, zur Aushülfe etwa verwiesen auf die schrankenlose Polizeige-walt.184

179v. Wächter: Gemeines Recht, S. 96.180Vgl. Henke II. S. 166, 306.181Ueber andere Compendien von Gärtner (1729), Kemmerich, Böhmer vgl. Henke II. S. 306. Meister,

Princ. juris crim., zuerst 1756.182Um solche Bemerkungen gerecht zu beurtheilen, muss man sich vergegenwärtigen, dass es ein Anderes

ist, wie wir es thun, die C. C. C. rein theoretisch-historisch zu behandeln, und nach ihr Recht zusprechen.

183Bekannt ist Malblank’s (S. 249) naive Bemerkung über den (älteren) Criminalisten Meister: „Derverstorbene Meister . . zeigt in seinen peinlichen Erkenntnissen überall dag menschenfreundlichsteHerz und besass in hohem Grade die Stärke, seine überaus gelinden Gesinnungen mit den Gesetzenso schicklich zu vereinigen, dass man niemals eine gewaltsame Abweichung davon bemerkt und erdoch überall seinen Endzweck erreicht".

184Vgl. Hälschner S. 161.

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

Instinctiv fühlte indess die Jurisprudenz, dass sie durch solche Emancipation vom po-sitiven Rechte sich selbst vernichten müsse. Daher die bei den hervorragenden Juristenwie Leyser, Kress, Boehmer häufig wiederkehrenden Klagen über Umgehung der Geset-ze, die von ihnen, wie bemerkt, bei anderen Gelegenheiten freilich darum nicht wenigergeübt wird, daher damals der Anreiz zur Aufstellung einer richtigen Strafrechtstheorie,die dann als Grundlage für ein neues umfassendes und zeitgemässes Gesetzbuch dienensollte. So trafen die Anregungen, welche nunmehr auch von Italien durch Beccaria undFilangieri,185 von Frankreich durch Voltaire186 ausgiengen, in Deutschland einen wohlvorbereiteten und fruchtbaren Boden. So beginnt zu Ende des XVIII. Jahrhunderts derbis heute fortgesetzte Streit der Strafrechtstheorien, eingeleitet namentlich durch die aufVeranlassung der ökonomischen Gesellschaft zu Bern verfasste Preisschrift von Globigund Huster (Abhandlung von der Criminalgesetzgebung) 1783. Vorangestellt wird hierdie Forderung eines durchaus klaren Gesetzes, freilich auch mit einer zuweilen in derGeschichte wiederkehrenden Verirrung wissenschaftliche Interpretation und Behandlungdes Gesetzes für überflüssig und schädlich erklärt.

Seite 155§. 56. Inzwischen war die Gesetzgebung übrigens in drei der bedeutendsten Staatenbereits thätig gewesen. Bayern und Oesterreich hatten umfassende Gesetzbücher erhal-ten, Bayern 1751 in dem Codex Juris Bavarici criminalis, Oesterreich in der Constitutiocriminalis Theresiana vom 31. December 1769.187

Beide Gesetze bekunden in juristisch-technischer Beziehung einen entschiedenen Fort-schritt. Der Codex Bavaricus enthält manche Definitionen, 188 die gegenüber der frühe-ren rohen Art, Gesetze zu machen, als das Werk eines tüchtigen Juristen (Kreitmayr)sich vortheilhaft abheben, und die Anfangs- und Schlussbestimmungen des ersten Theilsgeben einen, wenn auch lückenhaften, allgemeinen Theil im Sinne der heutigen Gesetzbü-cher; auch sind die verstümmelnden Strafen abgeschafft (I. 1 §. 8).189 Aber ausführlichwird noch von der Hexerei gehandelt, und offenbar notorische Ketzer, welche „denenchristlich-catholischen Glaubensartikeln widrige Meinungen wissentlieh sagen, verfech-ten und halsstarrig behaupten", sind entweder des Landes auf ewig zu verweisen odereinzusperren und mit geringer Kost so lange in Verwahr zu halten, bis sie ihren Feh-ler erkannt, abgelegt und widerrufen haben, und werden ketzerische Lehren mit Fleissausgesprengt, Andere dadurch verführt oder wohl gar gegen die Obrigkeit dadurch auf-gebracht, so sollen dergleichen Verführer mit dem Schwerte hingerichtet und deren Ca-daver auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Sehr hart sind auch die Bestimmungenüber den Wilddiebstahl (I. c. 10), und in anderen Vorschriften erkennt man den Cul-

185Anregend — besonders für die Beseitigung der im Uebermass angewendeten Todesstrafe — wirkteauch der Oesterreicher v. Sonnenfels (vgl. dessen Grundsätze der Polizei-, Finanz- und Handlungs-Wissenschaft, 3. Aufl., 1777 [3 Thle.]).

186Voltaire legte besonders die Schäden des damaligen Inquisitionsprocesses dar, bekämpfte aber auchnachdrücklich die theologische Auffassung von Recht und Staat. Vgl. namentlich: Le mepris d’Arras,1771, und Prix de la justice et de l’humanité (Oeuvres par Beuchot, Paris 1832, Vol. 40 S. 540 ff.,Vol. 50 S. 254 ff.

187Beide Gesetze behandeln auch den Strafprocess. — Vgl. namentlich Berner: Strafgesetzgebung, S. 8 ff.188Vgl. die Bestimmungen über Versuch I. 12 §. 3; Anstiftung das. §. 5; Begünstigung das. §. 5.189Brandmarkung, Pranger und Stäupung sind beibehalten.

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tus des vollendeten Fürstenabsolutismus des XVIII. Jahrhunderts, dem wirkliche oderangebliche Verachtung eines landesherrlichen Gebotes ohne Weiteres als todeswürdigesVerbrechen erscheinen konnte.190

Die Theresiana ist ein noch specieller ausgearbeitetes Gesetz mit einem ziemlich um-fassenden allgemeinen Theile. Sie bekundet überall das Bestreben, Niemandem Unrechtzu thun und Schuld und Strafe gewissenhaft abzuwägen. Daher wird besonders genau dieLehre von den Milderungsund Erschwerungsgründen behandelt, auch bei den einzelnenVerbrechen,

Seite 156und wenngleich auch in der Vorrede gesagt wird, es sei auch der Zweck des Gesetzes, dieaus der Ungleichheit der Strafgesetze für die einzelnen Erbländer, für die Beamten undGerichte entspringenden Schwierigkeiten zu beseitigen, so ist das doch nicht (wie freilichBerner 191 annimmt) der einzige Zweck des Gesetzes; vielmehr wird in der Vorrede aus-drücklich auch die Lückenhaftigkeit der bisherigen Gesetze hervorgehoben. Als Zweckder Strafe bezeichnet das Gesetz, welches sich damit (freilich nur principiell, noch nichtin den Consequenzen) von der theologischen Basis lossagt (I. 4 §. 2): Besserung des Thä-ters, Genugthuung für den Staat und Abschreckung des Volkes („Erspiegelung"), und inder Behandlung der Ehrenfolgen zeigt sich schon der Anfang einer geläuterten Auffas-sung, welche dem zu gewissen Strafen Veruttheilten zwar den Weg zu besondern Ehren,nicht aber den gemeinen Erwerb verschliessen will192 und zugleich bemüht ist, dem We-sen der einzelnen Verbrechen, nicht selten auch der Individualitat des einzelnen Fallesgerecht zu werden. Auch die Hexerei (II. art. 58) wird im Wesentlichen als Täuschungund Betrug behandelt (allenfalls darüber landesfürstlicher Beschluss im einzelnen Fallevorbehalten).193 Die Strafe des Prangers ist beschränkt, und die Landesverweisung sollgegen erbländische Unterthanen nur mit besonderer höchster Genehmigung stattfinden.Aber die Schätzung der einzelnen Delicte ist noch in einem durchaus bigotten Geistevorgenommen. Die Gotteslästerung wird als das „erste und ärgste"Delict behandelt (I.59), der Meineid als eine Art der Gotteslästerung angesehen, der Abfall vom christlichenGlauben als Verbrechen, und der Umstand, dass der Schuldige ein Jude ist. gilt dem Ge-setzgeber nicht selten als Erschwerungsgrund, wie denn auch Unzucht zwischen Juden

190c. 11 §. 1. Einmal des Landes verwiesene Personen sollen mit dem Tode für den Fall’ der Rückkehr be-droht werden. Sie sollen gehenkt werden als „Verächter des Chur- und Landesfürstlichen Gebotes". —Ausdrückliches Aufsagen des Gehorsams gegenüber dem Landesfürsten soll mit Viertheilung gestraftwerden. II. 8 §. 1.

191Berner S. 11 ff. beurtheilt das Gesetz zu ungünstig und hält sich ausschliesslich an die sogleich zuerwähnenden, freilich auch stark hervortretenden Schattenseiten.

192Vgl. über Ehrlosigkeit und Ehrlichmachen 1, 10. — Ebenso wird bemerkt, dass der Kriegsdienst kei-neswegs als Strafe zu betrachten sei, wohl aber unter Umständen als Schule des Gehorsams.

193Vgl. Fr. v. Maasburg: Zur Entstehungsgeschichte der Theresianischen Halsgerichtsordnung mit beson-derer Rücksicht auf das im Art. 58 derselben behandelte Crimen magiae vel sacrilegii, Wien 1880.— Daselbst S. 59, 60 ein merkwürdiges Gutachten des Reichskanzlers Fürsten Kaunitz- Rietberg.Fürst Kaunitz spricht sich in starken Ausdrücken aus gegen das Arbitrium judicis bei den Lebens-und schweren Leibesstrafen, gegen die (bei anderen gesitteten Völkern aufgehobene) Tortur, gegenRelegation und Brandmarkung, gegen das Crimen magiae, das zum Gelächter diene. Vgl. auch Wahl-berg: Forschungen zur Geschichte der alt-österreichischen Strafgesetzgebung in Grünhut’s Zeitschr.für das Privat- und öffentliche Recht (VIII.) 1881, S. 254 ff.

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

und Christen (II. 82 §. 2) noch als wirkliches Verbrechen mit Aus-Seite 157

peitschen bestraft wird. Auch der Selbstmord erscheint in der Theresiana in Gemäss-heit der festgehaltenen theologisch-moralischen Richtung noch als Verbrechen, und derVersuch des Selbstmordes wird, wie dies allerdings auch der damaligen gemeinrechtli-chen Praxis entspricht, mit willkürlicher Strafe geahndet, der Leichnam des vorsätzlichenSelbstmörders wie der eines Stückes Vieh vertilgt (II. 93 §. 7), und der Gesetzgeber, derdie Tortur noch in den scheusslichsten Formen (Anbrennen u. s. w.) ausführlich be-handelt, häuft gleichsam im wohlgemeinten heiligen Eifer und im Sinne der rohestenAbschreckung, mehr noch, als die P. G. 0. es gethan hatte, die Todesstrafen, zum Theilmit wahrhaft barbarischen Verschärfungen,194 ja er erachtet es nöthig „zur Erspiegelungdes Volkesßuweilen noch an Leichnamen Executionen vornehmen zu lassen.Ein vollständiges Gesetzbuch im heutigen Sinne ist die Theresiana nicht, der Gesetz-

geber (vgl. z. B. II. 73 a. E.) verweist zuweilen auf frühere Gesetze, und ebenso wie derCodex Bavaricus (I. 11 §. 10) lässt er (II. 104) die Analogie als Grund der Bestrafunggelten, freilich nur nach dem Ermessen des Obergerichts.In anderer Weise trugen die Einzelgesetze Friedrichs II. von Preussen den Reformbe-

strebungen Rechnung.Abgesehen davon, dass es eine der ersten Regierungshandlungen des grossen Königs

war, die Tortur fast gänzlich abzuschaffen,195 wurde die Landesverweisung (auch gegenAusländer?) 1744 durch Festungs- und Zuchthausstrafe ersetzt, dio Strafe der Infamie1756, „weil derjenige Delinquent, welcher mit der Infamie belegt worden, ein unnüt-zes Mitglied der Societät wird, und wenn er dereinsten von der Vestung oder aus demArbeitshause seine Entlassung erhält, sich ausser Stande befindet, sein Brod auf eineehrliche Weise zu verdienen"wesentlich beschränkt, die Todesstrafe bei mehreren Dieb-stählen (ohne Gewalt begangenen) beseitigt (1743). Die Strafen der einfachen Unzuchtaufhebend, beschäftigt sich der König mehrfach mit der Verhütung des Kindesmordes(einem im XVIII. Jahrhundert oft erörterten Problem), hier freilich im Geiste der Zeit,d. h. des absoluten Polizeistaates, bei schwerer Strafe Handlungen gebietend, welche demallgemein menschlichen Gefühle widerstreiten, oder welche sieh überhaupt durch Stra-fe nicht erzwingen lassen, und dabei sich verlierend in ein uns sonderbar erscheinendesDetail.196 Auch die Selbst-

Seite 158mörder sollten nach einem Rescripte vom 6. December 1751 nicht mehr durch den Schin-der weggeschafft, sondern heimlich, jedoch auf ehrliche Art begraben werden. In die spä-tere Regierungszeit Friedrichs des Grossen fallen freilich einige Verordnungen, in denen

194Z. B. mit vorherigem Ausreissen der Brüste. Auch Verbrennen und vorheriges Riemenschneiden ausdem Körper der Verurtheilten kommt oft vor.

195Vgl. Hälschner S. 174, 181.196Circulare — wegen Besichtigung der Schwangerschaft halben, solches aber leugnenden Weibspersonen,

vom 1. Aug. 1756, Nov. Corpus Constitutionum Marchic. II. N. 74 (S. 158). Verordnung vom 8. Feb.1765 wider den Mord ungebohrener unehelicher Kinder, Verheimlichung der Schwangerschaft undNiederkunft (N. C. C. March. III. S. 585 ff.). Im §. 2 daselbst wird Offenbarung der Schwangerschaftvorgeschrieben bei Strafe von 6 Jahr Zuchthaus, auch wenn das Kind am Leben bleibt. Auch wirddas. a. E. vorgeschrieben, dass die Mutter bei der Geburt um Hülfe schreien solle.

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der König gegen zu grosse Milde der Gerichte auftrat; so wird bezüglich der Tödtungim Kaufhandel das Princip der Talion von dem alternden Könige, der vielleicht jetztvom Zeitgeiste sich überholt sah, wieder aufgenommen, und so ergeht eine strenge ver-schärfende Verordnung bezüglich Derjenigen, welche die öffentliche Sicherheit auf denHeerstrassen beeinträchtigen.§. 57. In einer zunächst im Ganzen wenig glücklichen und consequenten Weise versuch-

ten sodann die Reformideen das Zeitalter zu verwirklichen — nachdem die Tortur durchkaiserliche Entschliessung vom 3. Jan. 1776 in den deutsch-österreichischen Erblanden,in Galizien und im Banat aufgehoben war — das österreichische von Joseph II. erlasseneallgemeine Gesetz über Verbrechen und derselben Bestrafung vom 13. Januar 1787. DerGesetzgeber stellt sich freilich hier seine Aufgabe hoch genug. Er will bei Verwaltung derstrafenden Gerechtigkeit alle Willkür entfernen, Criminal- und politische Verbrechen (d.h. Polizeidelicte) durch eine richtige Grenzlinie scheiden und zwischen Verbrechen undStrafen das richtige Ebenmaass treffen, die letzteren aber nach einem Verhältniss be-stimmen, damit ihr Eindruck nicht bloss vorübergehend sei. Diese Aufgabe versucht dasGesetz in kurzer und knapper, gegen die bis dahin üblichen weitschweifigen Erklärungenvortheilhaft abstechender Sprache zu lösen. Alle älteren Strafgesetze über Verbrechenwerden ausser Kraft gesetzt; es soll das Gesetz in dieser Beziehung ein vollständigessein, und jede Bestrafung nach Analogie wird hier zuerst durchaus verboten (Theil I. §.1, Theil II. §. 3) und damit in der That einer der wichtigsten Grundsätze des moder-nen Strafrechts zum ersten Male sanctionirt. Zugleich wird das richterliche Ermessen inAnsehung der Strafen und Strafmaasse in der Art beschränkt, wie wir jetzt197 dies alsselbstverständlich betrachten: jede Abweichung von einer gesetzlich bestimmten Strafeohne besondere Autorisation des Gesetzes wird ausgeschlossen.198 Ebenso entspricht esder Zeitrichtung,

Seite 159dass der Gesetzgeber mit einem freilich allzukühnen Schritte alle Todesstrafen, 199 mitAusnahme der standrechtlichen, beseitigt,200 und in der Behandlung der Ehrenstrafenund Ehrenfolgen,201 in der Abschaffung der Verjährung erkennt man einen hochstreben-den Idealismus, der freilich an den realen Verhältnissen des Lebens Schiffbruch leidenmusste und um so seltsamer erscheint, je empörender und zum Theil raffinirter202 im Sin-

197Die gemeinrechtliche Doctrin hatte sich berechtigt gehalten, auch die gesetzlich bestimmte Strafe zuändern. Auch in Frankreich galt bis zur Gesetzgebung der Revolutionszeit der Satz: Lea peines sontarbitraires.

198I. 2 §. 13.199Freilich wurden die Todesstrafen von Joseph II., der selbst dem schroffsten Abschreckungsprincipe

huldigte (vgl. darüber Wahlberg in Grünhut’s Zeitschr. VIII. S. 274 ff.), nur im Sinne dieses, nicht,wie in Toscana, im Sinne des Besserungsprincips aufgehoben.

200I. 2 §. 20. — Ein Zeichen der hochherzigen Gesinnung Josephs II. ist es, dass Majestätsbeleidigungenmilde bestraft werden sollten, bei Hochverrath gegen die Person des Souverains keine Todesstrafestattfinden sollte. Vgl. Wahlberg in Grünhut’s Zeitschr. VII. S. 573; VIII. S. 280. Der Kaiser betrach-tete die Majestätsbeleidiger als Unsinnige, die zu bessern seien.

201Nach I.184 soll nach geschehener Strafverbüssung oder Begnadigung der ehemalige Uebelthäter alsvollkommen gereinigt angesehen und ihm darüber kein Vorwurf mehr gemacht werden.

202Ueber die Strafe des Schiffziehens in Ungarn bei Verurtheilung zu hartem Gefängniss und zu öffentlicherArbeit vgl. Österreich. Criminalgerichtsordn. v. 1787 §. 188. Darüber berichtet v. Hess: Durchflüge

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

ne möglichster Abschreckung die schwereren Strafen gestaltet sind. Allerdings nehmenin dem Josephinischen Gesetzbuche, ungeachtet von Stock-, Karbatsch- und Ruthen-streichen, von der Brandmarkung (zum Theil in recht widerlicher Form)203 noch einausgiebiger Gebrauch gemacht wird, die Freiheitsstrafen den Mittelpunkt des Strafen-systems ein; es sind aber zum Theil Freiheitsstrafen, welche von dem verständigen Sinneder Römer z. B. nie angenommen worden wären. 204 Die Strafe der Anschmiedung (!)besteht z.B. darin, dass man den Verbrecher dermassen im Kerker enge ankettet, dassihm nur zur unentbehrlichsten Bewegung des Körpers Raum gelassen wird, und jähr-liche körperliche Züchtigung zum öffentlichen Beispiel ist alle Mal mit der Strafe derAnschmiedung verbunden. Bei dem schwersten Gefängniss wird der Ver-

Seite 160brecher mit einem um die Mitte des Körpers gezogenen eisernen Ringe Tag und Nachtan dem ihm angewiesenen Orte befestigt: auch können ihm, wenn die auferlegte Arbeites zulässt, schwere Eisen angelegt werden.Die Einteilung in Criminal- und Polizeidelicte,205 deren Wichtigkeit zu erkennen frei-

lich einen Fortschritt enthielt, war in der Art, in welcher sie ausgeführt wurde, gleichfallsverkehrt, da einerseits alle culposen Delicte, andererseits eine Menge nach dem allge-meinen Rechtsbewusstsein die Ehre angreifender Delicte, so Diebstähle bis 25 GuldenWerth, falsches Spiel, selbst unter erschwerenden Umständen, manche nicht unerheb-liche andere Betrugsfälle, als Polizeidelicte behandelt und der Cognition der Gerichteentzogen werden, andererseits aber die Polizeistrafen bestehen können in Züchtigungmit Schlägen.206 Der bigott-religiöse Standpunkt ist aufgegeben, aber nur, um durcheinen ängstlich-polizeilichen ersetzt zu werden. Die Gotteslästerung wird nicht bestraft,der Lästernde nur als Wahnwitziger behandelt, bis man seiner Besserung vergewissertist (II. 61); aber Freiheit des Glaubens besteht in Wahrheit doch nicht.207 Der Gesetzge-ber bestraft die Irrlehren nicht als solche; aber er fürchtet sie, insofern sie Aenderungenin dem bisherigen Zustande herbeiführen können.208 Dabei sind die gemeinrechtlichenDelictsbegriffe oft bis zur Unkenntlichkeit verzogen und unbestimmt gemacht, und dieDelicte in den heterogensten und sonderbarsten Zusammenstellungen behandelt. Abge-sehen von schwierigeren Fragen (z. B. das Verhältniss von Betrug und Fälschung be-treffend), sind z. B. Realinjurien, Sachbeschädigung und Zuziehen von Ungemächlich-

durch Deutschland, die Niederlande u. s. w., Hamburg 1800, Bd. 7 S. 117: „Ein von Menschengezogenes Donauschiff ist ein so scheussliches Schauspiel, dass selbst ein mit dem Rädern so eben fertiggewordener Henkersknecht davor die Augen zudrücken würde". Henrici: Ueber die Unzulänglichkeiteines einfachen Strafrechtsprincips, S. 94, 95.

203Oeffentliehe Brandmarkung, auf beiden Wangen das (unverlöschliche) Zeichen eines Galgens einge-schröpft (I. 24).

204Eine verkehrte, doch hauptsächlich nur die Familie des Verurtheilten treffende Künstelei war es auch,dass während der Strafzeit bei Criminalstrafen die Einkünfte des Vermögens des Verurtheilten con-fiscirt wurden. I. 3.

205I. 2 §. 25.206I. 2 §. 27.207Vgl. darüber namentlich Wahlberg in Grünhut’s Zeitschr. VIII. S. 281 ff.208II. 64, 65. Nach dem ersteren Paragraphen wird mit Schandbühne und strengerem Gefängniss bestraft

Wer sich anmasst, einen christlichen Religionsverwandten zum Abfall vom christlichen Glauben, zurVerleugnung aller Religion oder zur Annahme einer Religion zu verleiten, die das Evangelium leugnet.

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keiten auf der öffentlichen Strasse zusammengefasst, Kuppelei, widernatürliche Unzucht,selbst Ehebruch als sog. politische Delicte neben Feuerverwahrlosung und verbotenemMaskentragen behandelt,209 und der Gesetzgeber hält sich dabei mehr an die äusserenZufälligkeiten der Art und Weise der Begehung, als an die Beziehungen des Rechts unddes Lebens, welche durch das Delict verletzt oder gefährdet werden.210 In Folge davontreten die in den Delictsbegriffen des gemeinen und besonders des ger-

Seite 161manischen Rechts vorhandenen tiefsittlichen Unterscheidungen völlig zurück, währendzugleich eine fragwürdige "böse Absicht"(Bosheit) in den Definitionen des Gesetzes einebedenkliche Rolle spielt.§. 58. Das Strafrecht des allgemeinen preussischen Landrechts (Titel 20 des 2. Theils),

welches (hauptsächlich ein Werk des späteren Obertribunalsraths Klein) nach langenund gründlichen Vorbereitungen211 am 5. Februar 1794 publicirt wurde, kann wohl mitRecht als Gesetzbuch des ängstlichen wohlmeinenden Polizeistaats bezeichnet werden,der überzeugt ist, in allen und jeden Beziehungen durch Belehrung und wenn nöthigBestrafung nicht nur Verbrechen verhüten, sondern auch das Wohlbefinden der Bevöl-kerung heben zu können. Mit Geboten und Verboten drängt der Staat sich hier in diekleinen Details des häuslichen Lebens überall Vorsicht predigend, um selbst Veranlas-sungen zu Verbrechen zu verhüten, unbekümmert auch darum, dass der Thatbestandder nicht selten von ihm mit nicht ganz geringer Strafe bedrohten Handlungen zu unbe-stimmt ist oder von selbst der Cognition der Gerichte sieh entziehen muss,212 und nichtselten nach unserer heutigen Ansicht damit der Lächerlichkeit verfallend213 — im Gan-zen mit verhältnissmässig milden Freiheitstrafen,214 aber doch wieder von der Ansicht

209II. 46, 57, 59.210Hausfriedensbruch und Bettelei sind in II. 59 neben einander behandelt.211Vgl. über die Vorarbeiten und Vorbereitungen namentlich Hälschner S. 191 ff. Die früher erwähnte

Preisschrift von Globig und Huster hat auf die Abfassung des Gesetzbuchs einen bedeutenden Einflussgeübt.

212Man vergleiche besonders die §§. 888—932. Besonders bezeichnend sind z. B. §. 906: „Jede Person, dereine ausser der Ehe Geschwängerte ihr Geheimnis» anvertrauet hat, muss selbiges, bey willkührli-cher, doch nachdrücklicher Strafe (§§. 34, 35) so lange verschweigen, als keine Gefahr eines wirklichenVerbrechens von Seiten der Geschwächten zu besorgen ist."— 929: „Auch solchen Personen, welchemit der Geschwängerten in keiner besonderen Verbindung stehen, liegt dennoch ob, dieselbe, wennsie ihnen ihre Schwangerschaft anvertrauet, oder eingestehet, zur Beobachtung der gesetzlichen Vor-schriften (§. 901 seqq.) anzumahnen". 931.

213Vgl. z. B. §§. 1308,1309: „Wer aus eigennützigen Absichten durch Verläumdung Uneinigkeiten unternahen Verwandten oder Ehegatten stiftet, soll nach Verhältniss der zum Grunde liegenden bosshaftenAbsicht, und des daraus entstandenen Schadens mit nachdrücklicher Geld- oder Leibesstrafe belegtwerden". „Wer dergleichen Uneinigkeit in der Absicht stiftet, Erbschaften oder Vermächtnisse dennatürlichen Erben zu entziehen und selbige sich oder anderen zuzueignen, der ist als ein Betrügerzu bestrafen". — 733: „Niemand soll gegen eine Person, deren Schwangerschaft sichtbar, oder ihmbekannt ist, oder auch wissentlich in deren Gegenwart Handlungen vornehmen, wodurch heftigeGemüthsbewegungen erregt zu werden pflegen". (!)

214Das Gesetz kennt Zuchthaus- (Festungs-) und Gefängnisstrafe. Diese Freiheitsstrafen sind ohne ex-orbitante der Abschreckung huldigende Auswüchse. Freilich kommt das Prügeln bei Aufnahme undEntlassung der Sträflinge in den Strafanstalten vor (Willkommen und Abschied). Vgl. z. B. §§. 1197,1227.

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gehend, dass Ruhe und Gehorsam die ersten Bürgerpflichten sind, und daher da, wodie Angst obwaltet, dass der Staat ohne welchen ja Alles zerfallen müsste, in seinenGrundlagen angegriffen oder auch nur beunruhigt oder beeinträchtigt werden möchte,mit Masslosigkeit215 und ohne Rücksicht auf anerkannte Schranken der Justiz vorgehend,und hier insbesondere, wie man heut zu Tage sagt, die Delictsbegriffe zu Kautschukpara-graphen umbildend und ebenso mit Strenge verfahrend, wo die Auffassung vorherrscht,es komme eben nur darauf an, den Eigensinn der Bevölkerung zu brechen.216 217

Der Gesetzgeber scheint dabei seine neugeformten Gebote und Verbote für nicht vielunwichtiger zu halten, als die althergebracten Delictsbegriffe. Vorschriften über Redou-ten und Maskeraden schliessen sich Bestimmungen über Aufruhr an, Vorschriften wie diedes §. 738 218 oder des §. 741 219 gehen denjenigen über Körperverletzung und Tödtungvorher.

Seite 163Es versteht sich fast von selbst, dass ein derartig polizeilich gehaltenes Gesetzbuch eineallgemeine Hinderungspflicht gegenüber fast allen Verbrechen einführt, wodurch Jederdem Anderen gegenüber gleichsam zum Polizei-Agenten gemacht wird, dass es der Ent-deckung der Mitschuldigen, dem Geständnisse die Bedeutung eines Milderungsgrundesbeilegt:220 der Gehorsam ist da, die Gefährlichkeit des Schuldigen beseitigt. Das Gesetz-buch sollte aber auch ein allgemein belehrendes und dadurch eben Verbrechen mitver-hütendes Volksbuch sein, welches die dem grossen Friedrich so verhasste (und damalsnicht so ganz mit Unrecht verhasste) Rechtswissenschaft thunlichst entbehrlich machen

215Nach §. 93 soll der Hochverräther nach Verhältniss seiner Bosheit und des angerichteten Schadens, mitder härtesten und schreckhaftesten Leibes- und Lebensstrafe hingerichtet werden und §. 95 besagt:„Dergleichen Hochverräther werden nicht nur ihres sämmtlichen Vermögens und aller bürgerlichenEhre verlustig, sondern tragen auch die Schuld des Unglücks ihrer Kinder (!), wenn der Staat, zurAbwendung künftiger Gefahren, dieselben in beständiger Gefangenschaft zu halten (!!) oder zu ver-bannen nöthig finden sollte". In §. 109 ist für einen Fall des Landesverraths noch Feuertod angedroht.

216§. 151: „Wer durch frechen, unehrerbietigen Tadel, oder Verspottung der Landesgesetze und Anord-nungen im Staate Missvergnügen und Unzufriedenheit der Bürger gegen die Regierung veranlasst,der hat Gefängniss- oder Festungsstrafe auf sechs Monate bis zwei Jahre veranlasst". — Vgl. auchden verkehrten §. 157 über die Bestrafung der Selbsthülfe und §. 119: „Wer sich wissentlich in Ver-bindungen einlässt, wodurch der Staat auf irgend eine Art in äussere Unsicherheit oder gefährlicheVerwicklungen gerathen könnte (könnte!), soll, wenn er auch einer bösen Absicht nicht überführt,und dem Staate kein Schaden geschehen ist, mit Gefängniss- oder Festungsstrafe auf sechs Monatebis zwei Jahre belegt werden".

217Auch darf dem Staate nichts Nützliches oder nützliche Bürger nicht entzogen werden. Vgl. §. 148: „WerFabrikenvorsteher, Bediente und Arbeiter zum Auswandern verleitet, und ihnen dabei behülflich ist,oder sonst Fabriken- und Handlungsgeheimnisse Fremden verräth; ingleichen wer seinem Vaterlandeandere Vortheile dieser Art, zu Gunsten fremder Staaten, vorsätzlich entzieht, der hat vier- bisachtjährige Festung- oder Zuchthausstrafe verwirkt".

218„Mütter und Ammen sollen Kinder unter zwey Jahren nicht in ihre Betten nehmen, und bey sich oderandern schlafen lassen."

219„Auch Reisende oder Jäger, welche geladenes Gewehr bey sich fahren, müssen, wenn sie in ein Haustreten, oder irgendwo unter Leuten sich aufhalten, dasselbe in ihrer unmittelbaren Obhut haben,oder es des Schusses entledigen".

220§§. 58 ff.

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und beseitigen sollte.221

Diesen Cardinalfehlern des Gesetzbuchs stehen indess Vorzüge gegenüber. Abgesehendavon, dass die Lehre von der Zurechnung systematisch richtiger als in den vorhin er-wähnten Gesetzbüchern behandelt wird,222 ist anzuerkennen, dass die Religionsdelicteeine principiell weit richtigere Behandlung als in sämmtlichen früheren Gesetzgebun-gen erfahren haben,223 dass die im Josephinischen Gesetzbuche oft so stark verzogenengemeinrechtlichen Delictsbegriffe im Ganzen weit correcter224 wiedergegeben sind, einPunkt, in welchem die tüchtige, von Feuerbach seiner Zeit mit Unrecht verkannte tech-nische Vorbildung Klein’s hervortritt, und so hat denn der preussische Staat, da dieDelictsbegriffe, welche meistens in der Praxis wichtig sind, nicht geändert, Nebenbe-stimmungen aber übersehen oder doch nicht in ihre Consequenzen verfolgt wurden,225

Seite 164mit dem Strafgesetze des allgemeinen Landrechts ziemlich auskommen können, freilichmit den Nachtheilen, die eine casuistische Gesetzgebung stets mit sich bringt, und fürPreussen noch mit dem besonderen Nachtheile, dass durch diese Gesetzgebung eine ge-wisse Trennung von der gemeinrechtlichen Jurisprudenz eben durch die Gewöhnung derpreussisehen Praktiker entstand, ihr Recht als etwas ganz Besonderes anzusehen. 226

§. 59. Die furchtbaren Härten des österreichischen Josephinischen Gesetzbuchs veran-lassten schon unter Leopold II. eine Reihe von Strafmilderungen. So wurden die Strafender Anschmiedung und des Schiffziehens, die öffentliche Züchtigung uud Brandmarkung,die Beschränkung der Nahrung auf Wasser und Brod, das Lagern auf Brettern für al-le Grade des Gefängnisses aufgehoben, und unter Franz II. kamen die Arbeiten227 zurAbfassung eines neuen Gesetzbuchs in dem Strafgesetze über Verbrechen und schwere

221Daher beschränkt sich der Gesetzgeber auch nicht auf Strafbestimmungen; es laufen eine Menge vonBestimmungen über Schadensersatz und Disciplinarvorschriften mit unter.

222Die Culpa wird nicht mehr als mildernder Umstand der dolos begangenen Delicte behandelt, vgl.Hälschner, S. 210ff. So bedeutend, wie Hälschner annimmt, ist freilich das Verdienst des Gesetzes hiernicht, da die Unterscheidung von Dolus und Culpa unklar ist und durch Aufstellung von Präsumtionenbeeinträchtigt wird.

223Sie stehen (vgl. §§. 214—228) unter dem Gesichtspunkte der Beleidigung von Religionsgesellschaften,Erregung öffentlichen Aergernisses, Aufreizung zum Ungehorsam gegen die Gesetze, zum Laster u.s. w., sowie der Gefährdung des öffentlichen Friedens. Allenfalls erinnert an die frühere Auffassungnoch das Verbot der Stiftung einer Secte, deren Lehrsätze die Ehrfurcht gegen die Gottheit offenbarangreifen (§. 223).

224Verkehrte Abweichungen vom gemeinen Rechte fehlen freilich auch in dieser Beziehung nicht; manvgl. z. B. §§. 1110, 1366 über Furtum usus, über Wilddiebstahl (§. 1145), der als (zuweilen selbstschwerer) Diebstahl behandelt wird, über Fälschung §§. 1378, 1380.

225Ein Beispiel verkehrter Delictsdefinitionen siehe auch in §. 1495: „Gegen Landesbeschädiger, welchemehrere Bürger oder gar das Publicum überhaupt in Schaden oder Gefahr setzen, soll allemal mehr-jährige Festungsstrafe stattfinden".

226Die Literatur des preussischen Strafrechts nahm überwiegend den Charakter blosser Zusammenstel-lung der Gesetze an. Klein, Vorrede zu dem Lehrbuche: „Grundsätze des gemeinen deutschen undpreussischen peinlichen Rechts", 1796, 2. Aufl. 1799, wollte die allgemeinen Grundsätze des gemeinenRechts auch für das preussische Recht verwendet wissen, und das ist allerdings oft von den tüchtigstenpreussischen Juristen hervorgehoben worden.

227Vgl. Herbst: Handbuch des allgemeinen österr. Strafrechtes 1.(6. Aufl. 1878) S. 9, 10, und Wahlbergin Grünhut’s Zcitschr. VIII. S. 283ff., insbesondere über den Widerstand, den hier Sonnenfels undFroidevo den reactionären Ideen leisteten.

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

Polizeiübertretungen vom 3. September 180:3 zum Abschluss.228 Das Gesetzbuch hatzwar die Todesstrafe für einige Verbrechen, auch abgesehen vom Hochverrathe, wiederaufgenommen (für Mord,229 räuberischen Todtschlag, Fälschung von Creditpapieren undeinige Fälle der Brandstiftung), aber es ist bemüht, die Freiheitsstrafen rationell zu ge-stalten. Allerdings laufen dabei im Geiste der damaligen Zeit einige Verirrungen mitunter. Bei den Verbrechensstrafen herrscht offenbar die abschreckende Tendenz,230 undselbst bei den Ver-

Seite 165gehensstrafen (Strafen der schweren Polizeiübertretungen) fehlt es nicht, wenngleich dieUnterscheidung der Freiheitsstrafen ohne und mit Arbeitszwang (Arrest ersten und zwei-ten Grades) principiell richtig erscheint, an nutzlosen und solchen Zusätzen, welche dasEhrgefühl des Verurtheilten schädigen und so den Wiedereintritt des Verurtheilten in diebürgerliche Gesellschaft erschweren. Auch kommt körperliche Züchtigung gegen Perso-nen der unteren Stände in ziemlich weitem Umfange vor.231 Indess giebt das Gesetzbuchdem Richter ein weitgehendes Milderungsrecht, und so ist denn, wie Herbst bemerkt, dasösterreichische Gesetzbuch in der Praxis zu einem der mildesten neueren Gesetzbüchergeworden.Der allgemeine Theil des Gesetzbuchs ist, wie Berner (S. 49) richtig hervorhebt, im

Gegensatze zu den meisten der späteren deutschen Gesetzbücher mit weiser Zurückhal-tung und so elastisch gefasst, dass der Doctrin und Praxis genügender Kaum gebliebenist. Die Begriffsbestimmungen des besonderen Theiles sind allerdings ebenso wie die dosJosephinischen Gesetzbuchs, als dessen Fortbildung das Gesetzbuch von 1803 erscheint,in manchen Beziehungen mangelhaft, und gegen die Klassificirung mancher Handlungenals Verbrechen, Vergehen und bezw. Uebertretung lassen sich Einwendungen erheben.§. 60. In Folge der französischen Invasion und der französischen Zwischenherrschaft ist

denn auch die französische Strafgesetzgebung in der Gestalt, welche sie durch Napoleon I.im Code pénal von 1810 erhalten hat, zu einem sehr wesentlichen Entwickelungsmomen-te in der Geschichte des deutschen Strafrechts geworden. Das französisches Strafrecht

228Der Entwurf des Gesetzbuchs hatte schon 1797 als Strafgesetzbuch für Westgalizien particulare Gel-tung erlangt. Das Gesetzbuch erhielt Wirksamkeit für die sämmtlichen österreichischen Kronländermit Ausnahme von Ungarn, des Hermanstädter Bezirks und der Militairgrenze.

229Mord umfasste nach dem Gesetzbuche (vgl. I. §. 107) auch den Todtschlag des deutschen Strafgesetz-buchs. Todtschlag ist nach §. 123 lebensgefährliche dolose Handlung mit tödtlichem Erfolge.

230I. §. 14. „Die schwerste oder die Kerkerstrafe des dritten Grades besteht darin, dass der Sträfling ineinem von aller Gemeinschaft abgesonderten Kerker, worin er jedoch so viel Licht und Raum, als zurErhaltung der Gesundheit nothwendig ist, geniesst, stets mit schweren Eisen an Händen und Füssen,und um den Leib mit einem eisernen Ringe, an welchen er ausser der Zeit der Arbeit mit einer Kettegeschlossen wird, verwahrt, nur alle zwei Tage mit einer warmen, doch keiner Fleischspeise genährt,die übrigen Tage aber bei Wasser und Brod gehalten, sein Lager auf blosse Bretter eingeschränkt,und ihm mit Niemanden eine Zusammenkunft oder Unterredung gestattet wird."

231II. §. 17: „Der Arrest insbesondere wird verschärft: a) durch körperliche Züchtigung, b) durch Fasten,c) durch öffentliche Ausstellung, d) durch schwerere, oder c) öffentliche Gemeindearbeit.ÏI. §. 15:„Die Strafe der körperlichen Züchtigung wird nur bei dem Dienstgesinde, den Handwerksgesellen unddenjenigen Volksklassen angewendet, die ihren Unterhalt von Tag zu Tag erwerben, denen also einArrest auch von wenigen Tagen an ihrer Erwerbung und dem Unterhalte der Ihrigen Schaden bringenwürde".

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hatte eine ähnliche Entwicklung erfahren, welche das deutsche Recht durchmachte. Aberwährend das gemeine deutsche Recht, wenn auch nicht den Charakter der Milde, so dochden Charakter der Gerechtigkeit im Geiste der Carolina sich principiell gewahrt hatte,griff Willkür und Härte der

Seite 166absoluten königlichen Gewalt in die französische Strafrechtspflege in ganz anderer Weiseein, nahm die Strafjustiz vielfache Rücksicht auf den Stand des Verbrechers oder desVerletzten, und mehr noch als in Deutschland hing die Bestrafung von dem Ermessender Richter ab,232 denen die Literatur, an ihrer Spitze Voltaire, zahlreiche JustizmordeSchuld gab und nachwies.233

Es war natürlich, dass die constituirende Versammlung alsbald mit der Reform derStrafjustiz sich befasste. Ein Decret vom 21. Jan. 1790234 stellte eine Anzahl allgemei-ner Grundsätze auf. Jedes Verbrechen sollte von nun an ohne Rücksicht auf Rang undStand mit derselben Strafe an jedem Verbrecher geahndet werden; die Strafe sollte nurden Verbrecher treffen und für seine Familie keine nachtheilige Wirkung mehr nach sichziehen, weshalb denn auch die Vermögensconfiscation für unzulässig erklärt wurde;235

der Körper eines Hingerichteten sollte der Familie ¸berwiesen und ordentlich begrabenwerden, und ein ferneres Decret vom 16. August 1790 verhiess eine baldige Reform desStrafrechts nach Massgabe des in der Erklärung der Menschenrechte ausgesprochenen,der alten bigotten Vergeltungstheorie entgegengesetzten Grundsatzes, dass Strafen nurüberhaupt soweit zu verhängen seien, als man sie für unumgänglich nothwendig erachtenmüsse. Das Decret vom 19. Juli 1791, indem es die Gerichte der Police municipale und derPolice correctionelle organisirte, setzte zugleich auf die diesen Gerichten überwiesenenDelicte, zu welchen nach der früheren theologisch-moralischen Auffassung manche derfrüher als schwere und schwerste Verbrechen bestraften Handlungen gehörten, bestimm-te Strafen (Geldstrafen, Gefängniss, Confiscation einzelner Gegenstände) und lieferte,obwohl es die Spuren der grössten Eile an sich trägt,236 die Grundlage für die Behand-lung der Contraventions

Seite 167und Delits in dem späteren Code pénal Napoleons I. Dazu kam dann der von den Verbre-chen (Crimes) handelnde Code pénal vom 25. September 1791, welcher einen nur kurzgefassten allgemeinen Theil und wenige eigentliche Verbrechensdefinitionen enthält. Un-

232v. Stein, Französ. Rechtsgesch. III. S. 611, sagt: bestraft werden konnte, was der Richter für straffälligerachtete. Im XVI. Jahrhundert war man hierin allerdings am weitesten gegangen. Man hatte da z.B. auch bestraft: "Chemin faussement monstre", das Suchen nach ÑDots et douaires excessifs".

233Vgl. über die Einzelheiten des früheren französischen Strafrechts Schaffner: Geschichte der Rechtsver-fassung Frankreichs, III. S. 454ff.

234Vgl. Schaffner IV. S. 323.235Les fautes sont personnelles", daher ebenso die Ñexpiation". Vgl. Laferriére: Histoire des principes de

la revolution francaise, S. 125.236Decret sur la police municipale et correctionnelle v. 19. juillet 1791 Titre II: Police correctionnelle.

Art. 1. Les peines correctionnelles seront 1 Tarnende, 2 la confiscation en certains cas de la matiérede delit, 3 l’emprisonnement. - Uebrigens kommt auch Deportation als Freiheitsstrafe vor. - Vgl. überdiese festere Bestimmung des Polizeistrafrechtes gegenüber dem ursprünglich sehr weiten Gutdünkender Inhaber der Polizeigewalt auch L. v. Stein: Verwaltungslehre IV. (1867) S. 37 ff.

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

geachtet einer gewissen antiken Strenge — es galt die junge Freiheit zu schützen gegenGewalt von oben und unten, aber auch das Privateigentum gegen wilde Excesse Einzel-ner und zusammengerotteter Mengen — einer Strenge, die sich namentlich in der vielfachangewendeten Todesstrafe (besonders bei politischen Verbrechen), in den absoluten, demrichterlichen Ermessen keinen Raum lassenden Strafsanctionen für Verbrechen zeigt, istdas Gesetz gleichwohl als ein Epoche machendes "Werk zu betrachten und ausgezeich-net durch Präcision und Gerechtigkeitssinn und beseelt von edler und echter, wenngleichnicht immer mit Rücksicht auf die realen Verhältnisse richtig durchgeführter Humanität.Jede Verschärfung der Todesstrafe ist verbannt, nur Enthauptung noch zugelassen (nurgewisse symbolische Feierlichkeiten kommen noch vor in einigen Fällen bei Giftmordund Vatermord); ebenso ist nicht mehr die Rede von körperlicher Züchtigung, und kei-nem zur Freiheitsstrafe Verurtheilten soll die Hoffnung auf endliche Befreiung, endlichenWiedereintritt in die menschliche Gesellschaft völlig genommen werden: es existirt keineVerurtheilung zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe;237 ja es weiden dem in hohem Alter ste-henden Verurtheilten Freiheitsstrafen aus jenem Grunde gekürzt. Der Gesetzgeber suchtbei Aufstellung eines durchdachten Systems der Freiheitsstrafen den rohen Verbrecherzu scheiden von Demjenigen, der mehr nur eine, wenngleich wichtige, staatsbürgerlichePflicht verletzt hat. So sind für ersteren Zwangsarbeit und Fesseln bestimmt; für denletzteren gilt Einzelhaft (gene), bei welcher der Verurtheilte (allerdings unter grossenBeschränkungen) selbst die Art seiner Arbeit bestimmt238, und dasselbe Wahlrecht mitder Erweiterung, dass der Detinirte auch in Gemeinschaft mit Anderen arbeiten kann,besteht für die mildeste Art der Freiheitsstrafe, für die Détention. Dem Verurtheiltensoll dabei der Wiedereintritt in die bürgerliche Gesellschaft möglichst erleichtert werden;ein Drittheil des Arbeitsverdienstes des Verurtheilten soll ihm als Capital aufgesammeltund bei der Entlassung ausgezahlt werden. Der Staat gesteht auch einen Rechtsanspruchauf Rehabilitation, auf Wiedereinsetzung in die durch die Verurtheilung verloren gegan-genen Ehrenrechte zu, wenn der Verurtheilte die Strafe erlitten und sich lange Zeit

Seite 168(10 Jahre) gut geführt hat, und weit entfernt von blinder Vergeltungstheorie erkennt erdie Macht der Zeit durch (freilich zum Theil wohl zu kurz bemessene) Verjährungsfris-ten und zum ersten Male auch durch Aufstellung einer Verjährung für bereits erkannteStrafen an (I. tit. 6). Um andererseits jede Willkür auszuschliessen, soll der Verbre-cher in keiner Weise durch Begnadigung der Strafe entzogen werden können, eine Härte,die sich aus dem früheren Missbrauche des Begnadigungsrechtes leicht erklärt, und derGesetzgeber liebt neben solcher Strenge auch ein gewisses feierliches theatralisches Ge-pränge. Daraus ergibt sich die vielfach in dem Gesetzbuche vorkommende öffentlicheAusstellung der Verurtheilten, daraus auch die völlig verkehrten Förmlichkeiten der Re-habilitation. Mit besonderer Ausführlichkeit sind behandelt die Verbrechen gegen dieneuen staatsbürgerlichen Rechte und deren Ausübung, z. B. gegen Wahlversammlun-gen, die Straf-Bestimmungen gegen gesetzwidrige Befehle der Minister, der Obrigkeit

237Für die Delicte der Police correctionnelle sind meistens nur Strafmaixima festgesetzt, allerdings un-ter Bestimmung der Strafart. Es findet sich hier auch nicht selten der Grundsatz angewendet, dieGeldstrafe nach dem Vermögen des Schuldigen (seinen Staatsabgaben) proportional zu bestimmen.

238Code penal II. tit. 1 sect. 3. art. 23.

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u. s. w. Hier begegnet uns auch zum ersten Male ein Strafgesetz gegen Verletzung desPostgeheimnisses.Bemerkenswerth sind noch einzelne allgemeine Bestimmungen, die in gewissem Umfan-

ge für die moderne Gesetzgebung überhaupt typisch geworden sind, so die Bestimmungüber die Feststellung der Zurechnungsfähigkeit jugendlicher Personen (I. tit. 5. art. 1),die Bestimmung über Theilnahme am Verbrechen (II. 2).Unter den Stürmen der späteren Revolutionszeit, welche letztere in einer Reihe von

Einzelgesetzen freilich auch manche Verbesserungen brachte,239 wurden die Züge edlerMenschlichkeit, durch welche die Gesetzgebung der ersten Revolutionszeit sich ausge-zeichnet hatte, entstellt, namentlich durch die in falscher Nachahmung der römischenCapitis deminutio eingeführte, zunächst auf die Emigranten, dann auf die Deportirtenangewandte240 juristische Monstrosität des bürgerlichen Todes, welche man aus der Rüst-kammer der alten französischen Jurisprudenz241 wieder hervorholte, und nach welcherder Thatsache zum Trotz und unter Verletzung der Sittlichkeit, der Familienbeziehun-gen242 ein lebender Mensch gesetzlich wie ein gestorbener behandelt wurde.

Seite 169Die Menge der erlassenen Einzelgesetze veranlasste, da der Code des délits et des peinesvom 3. Brumaire des Jahres IV in seinem dritten Buche nur einige allgemeine Grundsät-ze über Strafen und einige sporadische Bestimmungen über Polizeidilicte und politischeVerbrechen brachte, den Plan einer umfassenden Codification des Strafrechts, welche imJahre XII in Angriff genommen und in dem unter lebhafter persönlicher TheilnahmeNapoleons I. zu Stande gebrachten Code peénal vom Februar 1810,243 in Kraft seit dem1. Jan. 1811, ihren Abschluss fand.244

Mit dem praktischen Sinne, welcher dies Gesetzgebungswerk überhaupt auszeichnet,erkannte man indess an, dass ein absolut vollständiges Strafgesetzbuch, da Strafsanc-tionen zum Schutze mancher vielfach wandelbarer Rechtsnormen nothwendig sind, eineUnmöglichkeit sein würde. Man begnügte sich daher, für die Strafen, wie es schon diefrühere Gesetzgebung der Revolutionszeit, namentlich der Code des delits et des peinesgethan hatte, allgemeine, durchgreifende Grundsätze aufzustellen und ausserdem gewisseGrundsätze des allgemeinen Theiles des Gesetzes auf alle und jede strafbare Handlun-gen245 für anwendbar zu erklären. Von den Polizeicontraventionen ist nur eine Anzahlbesonders wichtiger abgehandelt, und selbst, was die Vergehen (délits) betrifft, ist der

239Vgl. Schaffner S. 327 ff. Besonders wichtig ist das Gesetz vom 22. Prairial IV. über den Versuch: „Toutetentative de crime, manifestée par des actes exterieurs et suivie d’un commencement d’execution,sera punie comme le crime meme, si elle n’a pas été suspendue que par des circonstances fortuites,indépendantes de la volonté du prévenu."

240Gesetze vom 28. März u. 17. Sept. 1793. „Les émigres sont bannis ä perpetuite du territoire francais;ils seront inorts civilement, leurs biens sont acquis à la république".

241Vgl. Ordonnance von 1670 tit. 7.242Vgl. darüber v. Savigny: System des heutigen röm. Rechts, II.243Der Code pénal igt in sieben Einzelgesetzen publicirt.244Vgl. über die Entstehungsgeschichte des Gesetzes: Nypels, Le droit pénal francais progressif et comparé,

Paris 1864, S. 1 ff.245Vgl. z. B. art. 4: „Nulle contravention, nul delit, nul crime ne peuvent etre punis de peines qui n’etaient

pas prononcees par la loi avant qu’ils fussent commis".

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

Code nicht exclusiv. In dem Schlussartikel (484), welcher jetzt auch für das Einführungs-gesetz zum Deutschen Strafgesetzbuche vorbildlich geworden ist, heisst es: „Dans toutesles matières qui n’ont pas été réglées par le présent Code et qui sont régies par des loiset règlements particuliers, les cours et les tribunaux continueront de les observer."Als einen Fortschritt muss man es bezeichnen, dass das Gesetzbuch die absoluten

Strafsätze der Revolutionszeit bei Verbrechen aufgegeben und dem Richter in den beiweitem meisten Fällen die Ausmessung der Strafe innerhalb eines Minimums und Ma-ximums überlassen hat, dass es in Verbindung hiermit eine grosse Anzahl der speciellenErschwerungsund Milderungsstufen, welche besonders die Handhabung des Gesetzes imGeschworenenverfahren erschwerten, streichen konnte.246 Aber die S. 151 ff., und Para-quin: Die französische Gesetzgebung, Th. II. d. bürgerliche Recht, München 1861, S. 15ff.

Seite 170philanthropischen Ideen, welche die Gesetzgebung der ersten Revolutionszeit beherr-schen, hatten ihre Macht verloren. Die Zeit wahrer Achtung der bürgerlichen Freiheitwar vorüber, und an republicanische Sittenstrenge dachte Niemand mehr. So verfiel dieGesetzgebung, indem sie zugleich von einer abstracten Gerechtigkeit oder Vergeltungnichts wissen wollte,247 einer ziemlich crassen Abschreckungstheorie, und in den Be-richten ist mit besonderer Vorliebe und mit besonderem Nachdrucke die Rede von derverachteten unteren Bevölkerungsklasse, von „hommes grossiers, dégradés par la rnisère,avilis par le mépris"! So ist das Gesetzbuch, welches zugleich die polizeiliche Aufsichtüber gewisse Klassen entlassener Sträflinge einführte, in den Abschnitten, welche vonden Staatsverbrechen handeln, gleichsam mit Blut geschrieben, die Todesstrafe aberauch bei Kindesmord, ja in gewissen Fällen der Münzfälschung und des Diebstahls ange-wendet, die lebenslängliche Zwangsarbeit wieder eingeführt, und der Gesetzgeber machtGebrauch von der Landesverweisung und theilweisen Vermögensconfiscation, in einemFalle sogar von geschärfter Todesstrafe.248

Das Gesetzbuch249 befasst sich nicht mit kleinlichen Dingen; es überschreitet im We-sentlichen nicht die Grenze Dessen, was rationell strafbar sein sollte, und die Fassung,auf welche grosse Sorgfalt verwendet wurde, erleichtert den Gerichten und besonders derJury das Urtheil; aber sie verführt auch zu einer oberflächlichen Jurisprudenz, welche

246Das Begnadigungsrecht war schon durch Senatusconsult vom 16. Thermidor X. wieder hergestellt.Vgl. Ortolan: Elements du droit pénal II. N. 1920. — Die vielfachen Abstufungen bei den einzelnenstrafbaren Handlungen waren zugleich die letzte Consequenz der abstracten Theorie der Trennungvon Factum und Recht. Vgl. den Bericht von Dumont in der Sitzung der französ. Deputirtenkammervom 11. November 1832 bei Nypels S. 362.

247„Apres le plus déetestable forfait, s’il pouvait etre sür, qu’aucun autre crime ne füt desormais àcraindre, la punition du dernier coupable serait une barbarie sans fruit". Gerade das Gegentheil hatteKant behauptet. — „La gravité des crimes se mesure non pas tant sur la perversité qu’ils annoncentque sur les dangers qu’ils entrainent". Vgl. Observations de Target sur le projet de code criminel 1érepartie bei Nypels S. 16.

248Dem Vatermörder wird vor der Enthauptung die rechte Hand abgehauen, Art. 13.249Ein besonders wichtiges Werk für die Kenntniss des französischen Strafrechts ist Chauveau Adolphe et

Faustin Helie: Theorie du code pénal, 5 édit. 6 Vols., Paris 1872. Eine kürzere mehr auf die Principiengerichtete, zum Theil philosophisch gehaltene Darstellung ist von Ortolan: Elements du droit pénal,2 Vols., in mehrfachen Auflagen erschienen.

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das Gewissen des Richters auch dann beruhigt, wenn er zu einer innerlich befriedigendenEntscheidung noch keineswegs gelangt ist. Gerade hieraus erklärt sich die weite Verbrei-tung des Gesetzbuchs und seine Anpreisung als Fundgrube der Wahrheit, obwohl vontiefer blickenden französischen Juristen seine Reformbedürftigkeit im weitesten

Seite 171Umfange anerkannt wurde, und einerseits der von dem richterlichen Milderungsrechtehandelnde Artikel 463, andererseits eine Reihe von späteren Abänderungsgesetzen habendie Härten des Gesetzbuchs250 doch nur einigermassen gegen die Forderungen fortschrei-tender Civilisation ab zuschleifen vermocht.251

§. 61. Wenn das französische Gesetzbuch aus praktischen Gründen der Abschreckunghuldigte, so gelangte inzwischen ans theoretischen Gründen ebenfalls die Abschreckungin verfeinerter Form in der deutschen Wissenschaft vorwiegend zur Geltung. Freilichwar der reale treibende Grund nicht sowohl die innere Folgerichtigkeit dieser Theorie,deren Blössen ziemlich leicht aufgedeckt werden, können, als vielmehr der Umstand, dassgerade diese Theorie in der Form, welche ihr Verfechter ihr gab, am meisten geeignet war,die richterliche Willkür zu beseitigen und auf die Notwendigkeit eines festen Gesetzeshinzuweisen.Veranlasst wurde diese Theorie durch den tiefgreifenden Streit der deutschen Crimi-

nalisten über die Zurechnung, mit welcher seit Aristoteles zuerst wieder Pufendorf252

in selbständiger und wissenschaftlicher Weise sich beschäftigt hatte. Pufendorfs Theoriewar die einer moralischen Zurechnung, und es hatte nicht gelingen wollen, von dieserausgehend zu einer Lehre der juristischen Zurechnung zu kommen, und gerade die Theo-rie der moralischen Freiheit war, wie wir bemerkt haben, eines der besten Mittel, vondem Strafgesetze an die individuelle richterliche Ansicht zu appelliren, das Strafgesetzalso illusorisch zu machen. So lag der Gedanke nahe, das Strafgesetz zu begründen völligunabhängig von der Annahme menschlicher Freiheit.253

Grolmann substituirte dem Postulate der Willensfreiheit die Annahme, der Mensch,der einmal gegen das Gesetz sich vergangen habe, werde das in Zukunft in gleicher oderähnlicher Weise wieder thun, und Feuerbach, obwohl selbst eine edle Natur, suchte dasProblem zu lösen, indem er den menschlichen Willen als Conglomerat oder Kesultanterein sinnlicher Motive betrachtete: um darauf zu wirken, musste das Gesetz ein möglichstfestes, bestimmtes sein. Beide Theorien waren falsch; aber beide förderten, was einmalim Zuge der Zeit lag, und sie waren zugleich in dem Sinne positiv, dass sie aus demGesetze, wie es

Seite 172nun einmal ergangen war, möglichst viele Wirkungen abzuleiten suchten, und so warensie denn auch vorzüglich geeignet, wieder hinzuweisen auf das positive Hecht, dieses alsein vernünftiges darzulegen. So gehen beide Autoren mit einem ganz anderen Respecte

250Vgl. z. B. die Rückfallsstrafen. Verkehrt ist auch die differente Behandlung von Verbrechen und Ver-gehen.

251Durch diese Gesetze, namentlich die Gesetze vom 28. April 1832 und 13. Mai 1863 ist freilich dasfranzösische Strafrecht praktisch sehr erheblich umgestaltet worden.

252De jure naturae et gentium I. c. 9. De offlcio hominis I. c. 1.253Vgl. Henke II. S. 334ff.

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

vor dem positiven Rechte zu "Werke und unter ihren Händen gewinnt dasselbe ein ganzanderes Ansehen, als in der Behandlung Derjenigen, welche es zu verachten gewohntwaren. Und der Zufall, oder vielmehr der innere Zusammenhang der Dinge brachte esmit sich, dass Beide, Grolmann sowohl wie Feuerbach,254 ganz besonders aber der letz-tere, Männer waren von scharfer Logik und begabt mit einem höchst bedeutenden Ta-lente der Formulirung und glänzender Darstellung, Feuerbach daneben noch ein Meistergleichsam anatomischer Zerlegungskunst der Motive menschlicher Handlungen, wie seineRevision und später namentlich seine classisch geschriebene „actenmässige Darstellungmerkwürdiger Criminalrechtsfälle"gezeigt haben. So bezeichnet denn das Erscheinen vonGrolmann’s Lehrbuch,255 dessen stolzes Motto sogleich die Vernichtung des damaligenAutoritätenkrams, das Zurückgreifen auf das positive Recht mit den Worten des Ulr.Zasius „Communibus uti opinionibus, si vel textus juris vel ratio manifesta repugnat,hoc nos certam veritatis pestem dicimus et contestamurändeutete, und noch mehr Feu-erbach’s „Revision des peinlichen Rechts"(1799), der scharfe Kampf Grolmann’s, undbesonders Feuerbach’s gegen Klein256 und Andere (Klein war trotz mannigfacher Ver-dienste und nicht selten, wie man nicht verkennen darf, historisch richtigerer Ansichten,der Feuerbach’schen Dialektik nicht gewachsen), endlich der gelehrte Streit der beidenbefreundeten Gegner Grolmann und Feuerbach, einen bedeutsamen Wendepunkt derdeutschen Strafrechtswissenschaft. Man lernte nun doch wieder, allgemeines philosophi-sches Denken und positives Recht trennen; man wurde sich wieder bewusst des Werthesdes Positiven und gewann damit wieder eine positive Jurisprudenz, und von nun an wur-den dem Strafrechte und Strafprocesse auch eigene Zeitschriften gewidmet. Grolmann,Feuerbach und v. Almendingen begannen 1797 die Herausgabe der

Seite 173Bibliothek für peinliche Rechtswissenschaft und Gesetzkunde;257 Klein und Kleinschrod(Professor in Würzburg) begründeten 1798 das Archiv des Criminalrechts, diese lang-jährige Centralzeitschrift des deutschen Strafrechts, Besonders durch Feuerbach wurdedann auch die verkehrte Verbindung von Strafjustiz und Polizei, die in der freilich schonöfter angezweifelten oder angegriffenen Verdachtstrafe258 gleichsam verkörpert wurde,vollständig gelöst, die Verschiedenheit der Aufgaben der Justiz und der Polizei klarge-stellt.Gleichzeitig machte aber auch die durch den Engländer Howard259 geweckte, auf Ver-

254Vgl. über das Leben des genialen Mannes (geb. 14. Nov. 1775), vielleicht des ersten der deutschenCriminalisten, Glaser: Ges. kleinere Schriften über Strafrecht, Civil- und Strafprocess, I. (1868) S.19—62; Geyer: Festrede zu Paul Jon. Anselm v.Feuerbach’s hundertjährigem Geburtstag; Binding inder Allgemeinen (Augsburger) Zeitung v. 14. Novbr. 1875 (No. 318).

255Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft nebst einer systematischen Darstellung des Geistes derdeutschen Criminalgesetze, Giessen 1798.

256Klein’s Aufsatz: Ueber Natur und Zweck der Strafe im Archiv des Criminalrechts, Bd. 2 (1800) I. S.60 ff., gibt historisch weit richtigere Gesichtspunkte als Feuerbach’s Revision. Vgl. auch Klein überGrolmann’s Lehrbuch im Archiv (.1. Criminalr. Bd. 1 Stück 4 S. 128 ff.

257Fortgesetzt bis Bd. 3. Giessen 1804.258Vgl. über die Behandlung der nicht vollkommen der Anschuldigung Uberwiesenen Personen in dama-

liger Zeit namentlich Eisenhart im Arch. des Criminalrechts 3 (1801) I. S. 57 ff., II. S. 1 ff. und Kleindas. S. 64 ff., C. S. Zachariä das. IV. S. lff.

259J. Howard: The State of the Prisons in England and Wales, 1777. Im Auszuge übersetzt und mit

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besserung der Gefängnisse und Strafanstalten gerichtete Bewegung sich in Deutschlandgeltend.260 Wenn auch in Deutschland der Zustand vieler grösserer Strafanstalten nichtein so entsetzlicher war, wie der der meisten englischen Gefängnisse, vielmehr in man-chen Territorien durch Verbesserungsbauten und genauere landesherrliche Oberaufsichteine mehr zweckentsprechende menschenwürdige und wohl auch in. einzelnen Beziehun-gen erziehende Behandlung der nicht zu den schwersten Strafen Verurtheilten erreichtwar,261 so fehlte es doch an einem durchdachten, plamnässigen Systeme der Freiheitss-trafen, und selbst Anstalten,262 die damals entschieden zu den besten gerechnet wurden,dienten z. B. gleichzeitig auch als Aufenthaltsort für Wahnsinnige, Arme oder gar Wai-senkinder. Ideen des Fortschritts, welche

Seite 174heut zu Tage noch nicht vollkommen verwirklicht sind, kämpften damals noch mit An-schauungen und Zuständen, die wir jetzt als unmögliche bezeichnen würden.263264

§. 62. Es war durch die Verhältnisse gegeben, dass ein Staat, der in Folge der aus-wärtigen Verwickelungen zur Zeit eine so hervorragende Stellung hatte und zugleich anFrankreich sich anlehnte, wie Bayern, ebenso wie in anderen Gebieten des Staatswe-sens, auch in der Strafjustiz auf die Bahn durchgreifender Reform gewiesen war, um somehr als es in Maximilian Joseph einen aufgeklärten und freisinnigen Regenten besass.Der Würzburger Professor Kleinschrod erhielt den Auftrag, den Entwurf eines peinli-chen Gesetzbuchs auszuarbeitan. Feuerbach lieferte eine meisterhafte Kritik dieses 1802veröffentlichten Entwurfs, der in Tendenz und Fassung nicht selten äusserst unklar, imGanzen im Sinne des strafrechtlichen Theiles des preussischen allgemeinen Landrechtsausgearbeitet war. Es waren in der That richtige Principien, die Feuerbach, ein Meisterauch des Stils, hier vertrat. Die Unvollständigkeit eines Gesetzbuchs, bemerkte er,265

könne auch durch eine gewisse Art der Ausführlichkeit entstehen. „Ein Gesetzbuch mussnicht allein über alle Gegenstände reden, die in seinen Umfang gehören, sondern es mussdiesen durch bestimmte erschöpfende Begriffe und durch allgemeine umfassende Kegelnbeherrschen. Fälle und Beispiele können nie in einer Gesetzgebung erschöpft werden. .

Zusätzen und Anmerkungen versehen von Köster, Leipzig 1780.260Vgl namentlich Wagnitz: Historische Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten Zucht-

häuser in Deutschland nebst einem Anhange über die zweckmässigste Einrichtung der Gefängnisseund Irrenanstalten, 2 Bde., Halle 1791, 1792. Das Zuchthaus bezeichnete damals eine mittlere Frei-heitsstrafe. Die schwereren Verbrecher kamen meist in die Stockhäuser oder Festungen. So wurdez. B. in das Braunschweiger Zuchthaus Niemand aufgenommen, der eine entehrende Strafe erlittenhatte. Vgl. Wagnitz II. S. 25.

261Vgl. das von Wagnitz II. S. 67 ff. über das Celler Zuchthaus Bemerkte.262In manchen derartigen Anstalten sah es übel genug aus (so z. B. in Leipzig, in Frankfurt a. M.,

in Augsburg, vgl. Wagnitz I. S. 267 ff., II. S. 90, 91, II. S. 11), und rohe Behandlung — vielfacherGebrauch der drahtgeflochtenen Peitsche — stumpfte alles Ehrgefühl ab. Zu dieser rohen Behandlunggehört auch die Sitte des Abpeitschens bei der Aufnahme in der Anstalt der sog. Willkommen.

263So konnte noch ein Mann wie Justus Möser (Patriot. Phantasien IV. S. 157) den Verkauf von Verbre-chern zu auswärtigen Militairdiensten empfehlen (vgl. Wagnitz II. S. 151), und von der Vertheilungvon Züchtlingen unter die einheimischen Soldaten war man in manchen Staaten noch nicht sehr langezurückgekommen (Wagnitz I. S. 214, 215).

264In Stettin z. B. waren die Festungsgefangenen angewiesen, sich Kleidung zu erbetteln. Hälschner S.243.

265Bibl. für peinliche Rechtswissenschaft, Bd. 2, Stück 3, S. 10.

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

. Glaubt also eine Gesetzgebung durch das Detail der einzelnen Beispiele und die Men-ge besonderer Bestimmungen den Mangel allgemeiner Begriffe und Regeln zu ersetzen,so wird sie dann durch ihre Ausführlichkeit unvollständig und voll Lücken sein."„DerGesetzgeber266 giebt keine Deductionen und spricht auch nicht durch philosophischeKunstwörter; er zeigt seinen philosophischen Geist in dem Umfassenden, in der Tiefeund Wahrheit seiner Gedanken, nicht in dem philosophischen Gewände; er spricht dieSprache seines Volkes mit dem hohen klaren Sinn des Denkers, und seine Simplicität istin Eintracht mit der Richtigkeit und Präcision der Ideen; obgleich Allen verständlich, istdoch jeder seiner Sätze dem Denker eine reiche Quelle der Gedanken."Mit Recht betonteFeuerbach auch die

Seite 175Systematik des Gesetzbuchs.267 „Freilich ist das Gesetzbuch kein Compendium; es kannnicht einmal in der schulgerechten künstlich und ängstlich gegliederten Form des Systemsimmer auftreten. Aber dass sich die Lehren in einer leichten, einfachen, durch Zusam-menhang und Verwandtschaft bestimmten Ordnung an einander reihen; dass nichts anseinem unrechten Orte stehe, dass nicht Gesetze über einen fremdartigen Gegenstandden Zusammenhang einer anderen Gesetzesreihe stören und verwirren, dass nicht Ge-setze durch ihren Standort, durch die Rubrik, unter die sie geordnet sind, und durchden Zusammenhang, in den sie .. .. gebracht sind, dem Irrthume oder Missverständnis-se ausgesetzt weiden: diese negativen Sätze eines Systems sind auch vom Gesetzgeberzu befolgen. Ist gleich sein Werk kein Werk der Wissenschaft, so ist es doch für dieWissenschaft, so soll doch von ihm künftighin Wissenschaft ausgehen."Das Alles standfreilich mit der platten Vorstellung wenig im Einklang, welche Viele, indem sie die Will-kür der Gerichte zu verbannen wünschten, sich von dem Verhältniss von Gesetzgebungund Wissenschaft machten. Hatte doch z. B. Quistorp in seinem Entwürfe zu einemGesetzbuche in peinlichen und Strafsachen (Th. 1. Abschn, 1. §. 5) den Rechtslehrernverbieten wollen, in Druckschriften ein Strafgesetz zu erklären.268

Die Folge dieser Kritik269 des bayerischen Entwurfs war, dass Feuerbach selbst denAuftrag erhielt, einen neuen Entwurf eines Strafgesetzbuchs für Bayern auszuarbeiten,und 1805 dahin berufen wurde, wohin er gehörte, in das Justizministerium Bayerns, woman damals, zu einer bedeutenden Machtstellung gelangt, entschieden gesonnen war,mit den tiefgreifendsten Reformen auf allen Gebieten des Rechts vorzugehen.Das wesentlich auf Feuerbach’s Entwurf beruhende, wenn auch keineswegs durchaus

seinen Ansichten entsprechende270 Bayrische Criminalgesetzbuch vom 16. Mai 1813, ein

266A. a, 0. 8. 20.267A. a. 0. S. 29, 30.268Vgl. dagegen Feuerbach, Biblioth. Bd. 2, Stück 3, Abth. 2, S. 20ff.269Feuerbach erstrebte schon damals die Einführung eines neuen Strafverfahrens, drang aber damit nicht

durch. Der processuale Theil des damaligen bayerischen Gesetzbuchs ist somit nur zu einer (freilichvorzüglichen) Bearbeitung des Inquisitionsprocesses geworden.

270Auch mit der Absicht, die Prügelstrafe abzuschaffen, drang Feuerbach nicht durch. Vgl. Geyer a. a, 0.S. 15. Dagegen fiel auf Feuerbach’s Andrängen die Folter im Jahre 1806. Er berichtete zur Begründungseiner Anträge, dass noch vor Kurzem innerhalb eines Zeitraums von 14 Tagen mindestens 5 Personendie Folter bestanden, nicht selten höre man auch, dass Dieser und Jener nach dreifach ausgestandenerTortur noch auf Lebenszeit ins Zuchthaus gebracht sei. Geyer S. 13.

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für die deutsche StrafgesetzgebungSeite 176

entschieden Epoche machendes Werk, zeichnet sich aus durch klare und eines Gesetzge-bers in jeder Beziehung würdige Sprache, durch eine in Deutschland bis dahin unbekann-te Präcision der Begriffsbestimmungen und Vollständigkeit des allgemeinen Theiles.271

Von einem haltlosen richterlichen Ermessen war selbstverständlich in einem Werke Feu-erbach’s nicht die Rede; aber das Gesetzbuch liess doch, ebenso wie der Code pénal undüberhaupt regelmässig die neuere Gesetzgebung, dem Richter das Recht der Strafzu-messung zwischen einem Minimum und einem Maximum der Strafe, und was entschie-den einen Fortschritt enthalt, Strafmilderung und Strafschärfung wurden genau von derStrafzumessung innerhalb des gewöhnlichen Strafrahmens unterschieden,272 In dersel-ben Weise, wie das französische, kündigte auch das bayerische Gesetzbuch sich als einvollständiges an, und nach Art. 1 musste die Analogie mit der Wirkung, die Strafbarkeiteiner Handlung zu begründen, für ausgeschlossen erachtet werden. „Denn darauf,ßo sa-gen die officiellen Anmerkungen zu dem Gesetzbuche (I. S. 66), „beruhet die Sicherheitdes Staats und aller Individuen."Das Gesetzbuch unterscheidet, ebenso wie das franzö-sische, Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen, überlässt die letzteren aber einembesonderen Polizeistrafgesetzbuch und weist die Verbrechen den Criminal-, die Verge-hen den Civilstrafgerichten, die Polizeiübertretung der Cognition der Polizeibehörden zu(Art. 3). (Unter Verbrechen werden verstanden alle strafbaren Handlungen, welche we-gen Beschaffenheit und Grösse der Uebelthat mit Todesstrafe, Kettenstrafe, Zuchthaus-,Arbeitshaus-, Festungsstrafe, mit Dienstentsetzung oder Unfähigkeitserklääung zu allenWürden, Staats- und Ehrenämtern bedroht sind.) Aber die Bestimmungen des allgemei-nen Theiles sollten ebensowohl von Vergehen wie von Verbrechen gelten.273 Ein genauberechnetes Strafensystem sollte sich dem Charakter der einzelnen strafbaren Handlun-gen anpassen; wie die Anmerkungen sagen, sollte die Qualität, nicht die Quantität derStrafe von dem Charakter der Handlung abhängen.Den Vorzügen des Gesetzbuchs stehen indess erhebliche Fehler gegenüber, welche lange

Zeit einen nicht wenig schädlichen Einfluss auch auf die Gesetzgebung anderer deutscherStaaten geübt haben. Freilich war Feuerbach sich des Unterschiedes der Aufgaben desGesetzgebers und der Wissenschaft sehr wohl bewusst. Aber als Dialektiker vertraute erder eigenen Einsicht doch zu sehr und glaubte die

Seite 177Grundprobleme der Wissenschaft in bestimmten Formeln endgültig lösen zu können.Daher enthält der allgemeine Theil eine ganze Reine verkehrter Bestimmungen und De-finitionen. Die Art. 65 ff., welche von der Fahrlässigkeit handeln, sind in einem Gesetz-buche übel angebracht, die Vorschriften über den rechtswidrigen Vorsatz aber sind zumgrossen Theile vollkommene Verkehrtheiten, welche in der berühmten oder berüchtigtenPräsumtion des Dolus ihren Gipfelpunkt erreichen.274 Auch stammen aus dem baye-

271„Von dessen Vollständigkeit und Gründlichkeit hängt das Schicksal aller besonderen Strafverordnungenab". Officielle Anmerkungen I. S. 49.

272Off. Anm. I. S. 232 ff.273Off. Anm. I. S. 30.274Vgl. Art. 41, 43 Anm. I. S. 143. Ueber Fahrlässigkeit vgl. Art. 65 ff. Art. 69 schuf dabei, indem er

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

rischen Gesetzbuche die unglücklichen und ausgeklügelten, gleichsam wie ein Krank-heitsstoff die meisten späteren deutschen Gesetzbücher inficirenden und erst langsamwieder ausgeschiedenen Bestimmungen über das Complott (Art. 56 ff.).275 Und da inGemässheit der Abschreckungstheorie doch möglichst Viel dem richterlichen Ermessenentzogen werden sollte,276 verlor das Gesetz sich doch bei den Strafbestimmungen inkleine Unterscheidungen, die in vielen Fällen ebenso ungerecht wie controvers werdenmussten, wie denn die Abschreckungstheorie277 auch die schweren Rückfallsstrafen (Art.113 ff.) und in ihrer Consequenz, da die angedrohte Strafe ja auch immer gerecht ist, dieVerhängung schwerer Strafen für nur präsumtiv oder möglicher Weise ein Verbrechenenthaltende Thatbestände (vgl. Art. 149, 160) zur Folge hatte. Da ferner Feuerbachnach seiner Theorie Recht und Moral absolut trennen wollte, kommt das Gesetz dazu,grobe Unsittlichkeiten, welche nicht subjective Rechte verletzen, niemals als Verbrechenbetrachten zu wollen,278 wird z. B. der Ehebruch in ganz oberflächlicher Weise als eineArt von doloser Nichterfüllung einer

Seite 178Vertragsschuld aufgefasst279 und in demselben Abschnitte behandelt, in welchem auchdie Untreue von Bevollmächtigten ihren Platz findet. Eigenthümlich ist auch, dass Art.106 noch eine Art von Verdachtstrafe bestehen liess, obwohl die Anmerkungen sich des-sen nicht bewusst sind.Die körperliche Züchtigung kommt im Gesetzbuche noch als Verschürfung von Frei-

heitsstrafen280 vor: indess hat der Gesetzgeber sie doch als eine für das Ende der Strafzeitzu verhängende wenigstens verboten. Die Confiscation des Vermögens war schon durchdie bayerische Constitution von 1808 ausgeschlossen und Art. 33 des Gesetzbuchs be-stätigt dies. Aber die künstliche und widernatürliche Institution des bürgerlichen Todeshat nach Art. 7 in Bayern bis zum Gesetze vom 19. Novbr. 1849 bestanden. Als einzi-ge Verschärfung der Todesstrafe kennt das Gesetzbuch noch vorherige Ausstellung amPranger,Bald nach Publication des Gesetzbuchs selbst wurden die Anmerkungen zum Strafge-

setzbuche für das Königreich Bayern nach den Protokollen des königl. geheimen Raths, 3Bde., München, 1813 veröffentlicht. Fs war eigentümlich, dass das königl. Publications-

allgemein die Fahrlässigkeit für strafbar erklärte, eigentlich eine ganze Reihe neuer Delicte.275Art. 46 Abs. 2 kennt sogar eine unabsichtliche Anstiftung.276Auch der Raum zwischen Minimum und Maximum der Strafen war meist ein zu enger. Vgl. Arnold,

Archiv d. Criminalr. 1844 S. 196.277Die künstliche mit dem realen Leben in Widerspruch tretende Abschreckungstheorie führte z. B. bei

den Delicten des Diebstahls und der Widersetzung gegen die Obrigkeit zu ganz unhaltbaren Conse-quenzen. Die Entwendung einer Rübe aus einem Acker oder einer Pflaume vom Baume zog nach Art.218, 220 ein- bis dreijährige Arbeitshausstrafe nach sich (vgl. Arnold S. 395), und die Anmerkungendes Gesetzbuchs wollen bei Unrechtmässigkeit des Befehls und Incompetenz des Beamten die Strafeder Widersetzung nicht ausschliessen (Anm. III. S. 52). — Noch mehr als das Gesetzbuch selbsthuldigte das bayer. Gesetz vom 9. Aug. 1806 über die Bestrafung des Wilddiebstahls der Abschre-ckungstheorie. Arnold (a. a. 0, S. 402) charakterisirt sehr gut die Wirkung des „AbschreckensäufGrund praktischer Erfahrung.

278Anm. II. S. 59.279Art. 401. Vgl. Anm. I. S. 59.280Ueber die zum Theil unverhältnissmässigen Ehrenstrafen und deren Wirkungen vgl. Arnold S. 379 ff.

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patent vom 13. Novbr. 1813 die Herausgabe weiterer Commentare über das Gesetzbuchverbot, ungeachtet letzteres doch recht eigentlich selbst als ein Werk der "Wissenschaftbezeichnet werden kann, und selbst die Lehrer an den Universitäten ausschliesslich aufden Text des Gesetzes und die officiellen Anmerkungen verwies, welche letztere übrigensselbst nicht selten dem klaren Text des Gesetzes entgegentraten!§. 63. Das bayerische Gesetzbuch diente nun zunächst als Muster und Grundlage für

die Strafgesetzgebungsarbeiten,281 welche in den meisten deutschen Staaten nach Besei-tigung der französischen Herrschaft unternommen wurden. Fast völlig übereinstimmendmit dem bayerischen Gesetzbuch war das oldenburgische Strafgesetzbuch vom 10. Sept-br. 1814 und noch das hannoversche Criminalgesetzbuch vom 8. Aug. 1840,282 obschones eine lange Zeit der Vorarbeiten und Vorstadien durchgemacht hatte, beruhte auf derGrundlage des bayerischen Gesetzbuchs. Die

Seite 179Gesetzgebungen dieser Zeit und die ihnen zum Theil voraufgehenden Specialgesetze auchüber Strafprocess283 beseitigten einen uns jetzt unleidlich erscheinenden Zustand, derUnsicherheit und Anarchie im Strafrechte und eine Masse immerhin wenigstens nochgesetzlich bestehender Anachronismen, 284und waren schon dadurch eine wahre Wohl-that für Gerichte und Bevölkerung. Auch besserte man im Vergleich zum bayerischenGesetzbuche im Einzelnen Vieles, schliff immer mehr von den Einseitigkeiten der Feu-erbach’schen Richtung ab und gewährte namentlich dem richterlichen Ermessen wiedergrösseren Spielraum, vereinfachte auch wohl die Definitionen und Distinctionen des all-gemeinen wie des besonderen Theiles. Man kann daher auch noch heut zu Tage die oftsehr gründlichen Debatten der Landtage der Einzelstaaten, wie solche in den besserenCommentaren der Particularstrafgesetzbücher überliefert sind, als eine nicht unergiebigeQuelle der Belehrung in manchen Punkten benutzen. Nach und nach erregen dann auchdie früher mehr von der Wissenschaft vernachlässigten politischen Delicte grössere Auf-merksamkeit, und namentlich die Frage des möglicher Weise berechtigten Widerstandesgegen Organe der Staatsgewalt.Andererseits ist man aber nun auch weit entfernt von jenem kühnen gesetzgeberischen

Muthe, welcher das Ende des XVIII. und noch den Anfang des XIX. Jahrhunderts aus-zeichnet. Eine gewisse Aengstlichkeit macht sich nicht selten geltend, und zwar nichtnur auf Seiten der Regierungen. Die Prügelstrafe findet energische und erfolgreiche Vert-

281Vgl. Stenglein: Sammlung der deutschen Strafgesetzbücher, 3 Bändchen, München 1858. — Einesystematisch-vergleichende Darstellung enthält Häberlin: Grundsätze des Criminalrechts nach denneuesten deutschen Strafgesetzbüchern, 4 Bde., 1845—1849.

282Leonhardt: Commentar über das Criminalgesetzbuch für das Königr. Hannover, 2 Bde., 1846, 1851;Magazin für hannoversches Recht, 1850; Neues Magazin, 1860 ff. (erscheint nicht mehr).

283In Hannover wurde z. B. die Tortur gesetzlich erst am 25. März 1822 abgeschafft.284Nach dem im Königreich Sachsen geltenden Rechte musste z.B.bei jedem Diebstahle von mehr als 12

1/2 Thlr. Werth achtjährige, bei jedem Diebstahle von mehr als 50 Thlr. Werth zehnjährige Zucht-hausstrafe erkannt, bei jeder auch noch so geringfügigen vorsätzlichen Brandstiftung (nach einemMandat von 1741) Feuerstrafe ausgesprochen werden. — Vgl. über diese und andere Anachronismenim Königr. Sachsen v. Wächter: Das königl. sächsische und thüringische Strafrecht (1857) S. 22, 23,der zugleich bemerkt: „Diese Strafen wurden auch von den sächsischen Gerichten stets, auch noch inder neuesten Zeit bis zur Pnblication des Criminalgesetzbuchs erkannt, und nur die Gnade konnte insolchen Fällen das Gesetz mit der Gerechtigkeit vermitteln".

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

heidiger, und noch lange Zeit begegnet man den nutzlosen Quälereien, welche den Frei-heitsstrafen für schwere Fälle hiuzugfügt werden (Fesseln, Klötzetragen am Beine).285

Diese Phase der Entwickelung bezeichnen namentlich das königl. sächsische Criminalge-setzbuch286 vom 30. März

Seite 1801838287 und das würtembergische Strafgesetzbuch288289 Tom 1. März 1839, letzteresein weniger selbständiges Werk als ersteres, und mehr als dieses noch beherrscht vonder Abschreckungstheorie. Das sächsische Gesetzbuch erhielt, mit nur wenigen Abän-derungen, Geltung auch in Sachsen- Altenburg, Sachsen-Meiningen und Schwarzburg-Sondershausen. (1841, 1844, 1845.) Ein besonders selbständiges und beachtenswerthesGesetzbuch dieser Periode ist das braunschweigische Criminalgesetzbuch von 1840,290

sich auszeichnend durch verhältnissmässige Kürze und eine dem richterlichen Ermessengewährte grössere Freiheit;291 auch ist von körperlicher Züchtigung der Strafgefangenenauf Grund des richterlichen Strafurtheils nicht mehr die Rede, und §. 13 enthält diewichtigen Sätze:„Alle Strafgefangenen sind zu Arbeiten anzuhalten, welche ihrer Körperbeschaffenheit

und ihren früheren bürgerlichen Verhältnissen möglichst entsprechen. So weit solchesmit diesem Grundsatze verträglich ist, sind die zu schweren Strafen Verurtheilten zuschwereren Arbeiten zu verwenden . . . .Zu Gefängnisstrafe Verurtheilte können wider ihren Willen weder zu öffentlichen noch

zu solchen Arbeiten gebraucht werden, in deren Verrichtung nach ihren bürgerlichenVerhältnissen eine Erschwerung der Strafe für sie liegen würde . . .Gefängnisssträflinge . . welche die Kosten der Strafvollziehung selbst bestreiten, können

sich die mit der Gefängnissordnung verträglichen Arbeiten selbst wählen, und derenErtrag verbleibt ihnen."292

Eine freilich weniger der Jurisprudenz und Wissenschaft, namentlich im allgemeinenTheile, Kaum lassende, überhaupt etwas weitläufig gehaltene, im Ganzen aber doch ge-lungene Arbeit ähnlichen Charakters,

Seite 181wie das braunschweigische, ist das mit grosser Selbständigkeit im Einzelnen ausgear-

285Vgl. königl. sächs. Criminalgesctzb. Art. 8, 22. Commentare von Weiss, 2 Thle., 2. Aufl., 1848, undHeld und Siebdrat, 1848. Vgl. v. Wächter: Sächsisch-Thüring. Straft. S. 35, 36.

286Königl. sächs. Crimin.ilgesetzb. Art. 7.287Vgl. auch Hermann; Zur Beurtheilung des Entwurfs eines Criminalgesetzbuches für das Königreich

Sachsen, 1836.288Vgl. über dies Gesetzbuch Mittermaier, Archiv des Criminalr. (1838) S. 319 ff. In diesem immerhin

für die damalige Zeit verhältnissmässig milden Gesetzbuche kommt Todesstrafe z. B. noch vor fürdie meisten Fälle des Raubes, für Erpressung, Brandstiftung und für einen Fall des Meineids, undvon lebenslänglicher Zuchthausstrafe wird sehr oft Gebrauch gemacht.

289Umfangreiche Commentare von Hepp, 2 Bde., 1839, 1842, und Hufnagel, 3 Bde., 1840-44.290Criminalgesetzbuch für das Herzogthum Braunschweig nebst Motiven, 1840 (von Breymann).291§. 62 räumt den Gerichten ein ziemlich weitgehendes Milderungsrecht auf Grund des Zusammentreffens

mehrerer Strafminderungsgründe ein. Vgl. indess die in §§. 81, 145 für Hochverrath und die meistenFälle des Mordes gemachten Restrictionen dieses Milderungsrechtes.

292Das braunschweigische Gesetzbuch wurde fast unverändert publicirt für Lippe-Detmold, 18. Juli 1843.

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beitete Strafgesetzbuch für das Grossherzogthum Hessen.293 Das Gesetzbuch kennt alsFreiheitsstrafen: Zuchthaus, Correctionshaus und Gefängniss, und als Parallelstrafe fürdie Correctionshausstrafe, sowie für den Fall des Zweikampfes die Festungsstrafe.294

Starke Verwandtschaft mit diesem Gesetzbuche295 verräth das ihm auch räumlich nahestehende badische Gesetzbuch vom 6. März 1845, weitläufiger gefasst, etwas ängstlichnach allen Eichtungen und nicht selten zu sehr detaillirend. 296 Als eine Fortbildung dessächsischen Criminalgesetzbuchs ist anzusehen das sog. thüringische Strafgesetzbuch,welches in Folge einer Vereinbarung für Sachsen-Woimar, Sachsen-Meiningen, Coburg-Gotha, Schwarzburg-Rudolstadt und Anhalt-Dessau 1850 zu Stande kam, jedoch nichtohne Abweichungen für die einzelnen Staaten. Es huldigte insofern dem Fortschritte, alses die Todesstrafe abschaffte,297 stand aber im Uebrigen nicht auf der Höhe des gross-herzogl. hessischen Gesetzbuchs. Die Anlage von Eisenbahnen und Telegraphen hatte indieser Zeit auch den Erlass von Specialgesetzen zum Schütze dieser wichtigen Anstal-ten gegen Beschädigungen und Gefährdungen zur Folge; in den späteren Gesetzbüchernsind die betreffenden Delicte dann der Klasse der gemeingefährlichen Delicte eingereihtworden. (Vgl. Preuss. Verordnung über Bestrafung der Beschädigung der Eisenbahnenvom 30. Novbr. 1840; preuss. Verordnung betr. die Bestrafung der Vergehen gegen dieTelegraphenanstalten vom 15. Juni 1849.)In Folge der politischen Ereignisse des Jahres 1848 und theilweise auf Grund der am

27. Decbr. 1848 publicirten „Grundrechte des deutschen Volks"298 wurde in einer Reihedeutscher Staaten die Strafe der körper-

Seite 182lichen Züchtigung und die Todesstrafe abgeschafft, letztere aber alsbald in mehrerenStaaten wieder eingeführt.299 Auch die Gesetzgebung über den Wilddiebstahl wurdenach den Ereignissen des Frühjahres 1848 in mehreren Staaten gemildert,300 und die

293Breidenbach: Commentar über das Grossherzoglich Hessische Strafgesetzb., 1. Bd., 2. Abth., 1842,1844 (nur den allgemeinen Theil umfassend).

294Art. 11: „Den Gerichten ist gestattet, nach sorgfältiger Erwägung der bürgerlichen Verhältnisse undder Bildungsstufe des Schuldigen, die Vollziehung der Correctionshausstrafe auf einer Festung odereiner dieser gleichgestellten Anstalt anzuordnen". Vgl. ähnliche Bestimmungen auch im badischenGesetzb. §§. 52, 51.

295Das nassauische Gesetzbuch vom 14. April 1849 war nur eine Umarbeitung des hessischen.296Vgl. über die das badische Gesetzbuch betreffenden Commentare von Thilo, Brauer und Jagemann,

und Puchelt: Berner, Strafgesetzgebung, S. 207.297Meiningen und Reuss behielten indess die Todesstrafe. Vgl. v. Wächter: Sächsisch-thüring. Strafr. S.

182.298Grundrechte §. 9: „Die Todesstrafe, ausgenommen, wo das Kriegsrecht sie vorschreibt, oder das See-

recht im Falle einer Meuterei sie zulässt, sowie die Strafe des Prangers, der Brandmarkung und derkörperlichen Züchtigung sind abgeschafft".

299Im Königreich Sachsen wurde z. B. in Gemässheit der Grundrechte durch Verordnung vom 20. April1849 die Strafe der körperlichen Züchtigung beseitigt, und die Regierung erklärte in der ersten säch-sischen Kammer, die Todesstrafe vorerst nicht vollziehen lassen zu wollen. Dieser Beschluss wurdeindess schon 1850 wieder aufgehoben und die Todesstrafe seitdem wieder vollzogen. Vgl. Wächtera. a. 0. S. 34, 178. In Würtemberg wurde die durch Gesetz v. 13. Aug. 1849 Art. 1 abgeschaffteTodesstrafe durch Gesetz vom 17. Juni 1853 wieder eingeführt.

300Vgl. z. B. bayer. Gesetz v. 25. Juli 1850, „die Bestrafung der Jagdfrevel betr."; hannoversches Gesetzv. 25. Aug. 1848 (wodurch das Specialgesetz von 1840 modificirt wurde).

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

Beseitigung der Censur veranlasste besondere Pressgesetze, über welche dann ein (inden einzelnen Staaten noch der Verkündung als Gesetz bedürfender, daher nicht über-all zu praktischer Geltung gelangter) Bundesbschluss vom 6. Juli 1854 ein allgemeinesNormativ im reactionären Sinne aufstellte. Das dieser Periode angehörende österreichi-sche Strafgesetzbuch vom 27. Mai 1852 ist nur eine Ueberarbeitung des Gesetzbuchsvon 1803. Das Strafensystem ist verbessert, aber das Gesetz nicht in jeder Beziehung alsein mildes zu bezeichnen. Statt der Bezeichnung „schwere Polizeiübertretungenïst nachdem Muster der übrigen neueren Gesetzbücher der Name „Vergehenëingeführt, sodassalso auch Verbrechen, Vergehen, Uebertretungen unterschieden werden. Als eine freilichweit mehr abweichende Neubearbeitung eines früheren Gesetzbuchs (des Gesetzbuchsvon 1838) ist im Grunde auch zu betrachten das königl. sächsische Strafgesetzbuch von1855, trotz mancher Vorzüge im Einzelnen nicht gelungen und mehrfach den Culminati-onspunkt der Reactionszeit der fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts bezeichnend., z. B.durch Schärfungen der Freiheitsstrafe theilweise mit Beineisen und Klotz, und sogar mitkörperlicher Züchtigung-. (Willkommen !)301 302

Seite 183§. 63. Einen eigentümlichen Gang nahm die Entwicklung in Preussen, welches auf straf-rechtlichem Gebiete zu Ende des vorigen Jahrhunderts anfing, die Centralstelle der Reac-tion zu werden. Die damals gerade, selbstverständlich in Folge der unruhigen Zeiten, sichmehrenden Eigenthumsverbrechen veranlassten die Circularverordnung vom 26. Febru-ar 1799 wegen Bestrafung der Diebstähle und übrigen Verbrechen gegen die Sicherheitdes Eigenthums, die so unklar abgefasst war,303 dass es zweifelhaft erschien, ob sie inWahrheit eine mehr energische Repression darstellte, und nicht vielmehr, je nach derAnsicht der einzelnen Gerichte, zu einer noch milderen Bestrafung der fraglichen Delicteführte. Einstweilen versuchte man, während ein grosser Theil der preussischen Gefäng-

301Vgl. v. Wächter S. 189ff. Man vergleiche auch z. B. das eine Sammlung verkehrter Bestimmungenenthaltende Kap. V. des allgemeinen Theils in Ansehung der Theilnahme, oder z. B. den juristischunhaltbaren Art. 247 über die Selbsthülfe und Art. 338, welche den ängstlichen Polizeistaat cha-rakterisiren und jedenfalls Muster schlechter Fassung sind: „Wer durch geflissentliche Verbreitungunwahrer Gerüchte über die Vermögensoder persönlichen Verhältnisse eines Anderen, oder dadurch,dass er solche Gerüchte als Thatsachen nacherzählt, denselben in Nachtheil bringt oder in seinemFortkommen behindert, ist auf Antrag mit Gefängniss bis zu vier Monaten zu bestrafen".

302Krug: Commentar zu dem Strafgesetzbuche für das Königreich Sachsen, 1. Aufl. 1855 (4 Abtheilungen),2. Aufl. 1861 (3 Abtheil.). Siebdrat: Deutsches Strafgesetzbuch für das Königr. Sachsen mit Com-mentar, 1862. Wichtig auch: Zeitschrift für Rechtspflege und Verwaltung zunächst f. d. KönigreichSachsen, 1838 ff. Schwarze: Allgemeine Gerichtszeitung f. d. Königreich Sachsen.

303Vgl. z. B. §. 2: „Wer zum ersten Male eines gemeinen Diebstahls überführt ist, wird körperlich gezüch-tigt oder wenn eine solche Züchtigung nicht anwendbar (?) oder für unzureichend erachtet werdensollte, zur Einsperrung in eine Besserungsanstalt, zum einsamen Gefängniss oder zur Strafarbeit ver-urtheilt". — §. 7: „Schärfere (?) Züchtigung wird erkannt, wenn u. s. w."(Das Maass der einfachenZüchtigung war gar nicht bestimmt.) — §. 18 verordnet Einsperrung bis zur erfolgenden Begnadigungwegen wiederholten gewaltsamen Diebstahls. — §. 12 verordnet neben lebenslänglicher Einsperrungauch Brandmarkung und öffentliche Stäupung gegen wiederholten Raub.

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nissanstalten sich in dem Zustande völliger Verwahrlosung befand,304305 das Heil306 indem mit besonderer Vorliebe empfohlenen und betriebenen Prügeln, namentlich der Un-tersuchungsgefangenen, die

Seite 184auf diese Weise zu Geständnissen gebracht wurden. Daneben begann die so lange inPreussen fortwuchernde Revolutions- und Demagogenfurcht in verschiedenen Verordnun-gen gegen Studirende, geheime Verbindungen und zur Verhütung von Tumulten Früchtezu treiben, und eine Reihe zum Theil wunderbarer Verordnungen über Injurien, bei de-nen die Standesunterschiede von Civil- und Militärpersonen dem Gesetzgeber erheblicheNoth bereiteten, steigerten neben der erwähnten Verordnung von 1799 den Zustand all-gemeiner Verwirrung, so dass schon im Jahre 1805 der Plan, ein neues Gesetzbuch zupubliciren, vom Gesetzgeber selbst ausgesprochen wurde.307 Gleichwohl kam es auchnach den Befreiungskriegen nur zu einer Reihe von Einzelverordnungen gegen gehei-me Gesellschaften, Censurcontraventionen, Verbrechen gegen den Staat und ähnlichendurch die Demagogenfurcht eingegebenen Verordnungen. Erst 1826 schritt man unterdem Justizminister Grafen Dankelmann zur Ausarbeitung eines Strafgesetzbuchs, undder Entwurf von 1830 enthielt in seinem allgemeinen wesentlich vom Kammergerichts-rath Bode ausgearbeiteten Theile einen erheblichen Fortschritt. Indess der 1830 auf denGrafen Dankelmann folgende Justizminister v. Kamptz suchte die Gesetzgebung wie-der auf den polizeilichen Standpunkt des allgemeinen Landrechts zurückzuschraubenund revidirte überhaupt im ultrareaktionären Sinne. Die Bestimmungen des im Jahre1836 erschienenen Entwurfs sind fast unglaublicher Natur,308 und geschärfte Todesstra-fe, sowie öffentlich (!) zu vollziehende körperliche Züchtigung fanden in diesem Entwürfewieder ihren Platz. Es kann hier nun nicht die Aufgabe sein, die complicirte Geschichteder langdauernden Vorarbeiten des preussischen Strafgesetzbuchs im Einzelnen zu ver-folgen. Wenn man aber die Gründlichkeit der Vorarbeiten von 1843,309 die Unterstellungderselben unter die öffentliche Kritik anzuerkennen Ursache hat, so erstaunt man dochandererseits in dem Entwürfe von 1847, der übrigens bereits mehr die Einwirkungendes französisch-rheinischen Hechts erkennen lässt, noch Bestimmungen zu finden, nach

304Ueber den schrecklichen baulichen Zustand mancher Anstalten, in welchen Reinigung völlig unmöglichwar, die Gefangenen von Ungeziefer verzehrt wurden, vgl. das Werk (des preuss. Justizministers v.Arnim): Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, 2 Bde., 1803, in welchem mit grosser Freimüthig-keit die Schäden des damaligen preussischen Criminaljustizwesens dargelegt werden, besonders II.S. 189ff.; über erbarmenswürdige Behandlung erkrankter Gefangener das. II. S. 78; dann aber auchüber das vergnügte Leben in anderen Strafanstalten das. I. S. 235, II. S. 39.

305Die Verlegenheit darüber, was mit den Strafgefangenen zu machen sei, führte 1801 gar zu einer Ca-binetsordre (v. 28. Decbr.), welche unter Umständen Deportation nach Sibirien in Aussicht nahm.Davon ist auch wirklich Gebrauch gemacht worden. Vgl. Wagnitz: Ideen und Pläne zur Verbesserungder Polizei- und Criminalanstalten, Halle 1801, II. S. 17, 43.

306Ueber die entsetzlichen Wirkungen dieses Prügelns in einer berühmten oder besser gesagt berüchtigtenUntersuchungssache vgl. v. Arn im a. a. 0. I. S. 38 ff.

307Vgl. Publicationspatent zur Criminalorduung für die preussischen Staaten vom 11. Decbr. 1805.308Eine Blumenlese stellt zusammen Berner, S. 224ff. So sollte z. B. die Verbreitung von Grundsätzen

und Gesinnungen, welche hochverrätherische Entwürfe und Gesinnungen hervorrufen oder befördernkönnen, mit 2 Jahren Arbeitshaus bis 6 Jahren Zuchthaus bestraft weiden.

309Vgl. überhaupt Berner S. 226ff.

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denen in gewissen schwersten Verbrechensfällen die Todesstrafe durch öffentliche Aus-stellung des Kopfes des Hingerichteten und nach dem Tode vorzunehmendes Abhauender rechten Hand, die Zuchthausstrafe in gewissen Fällen durch körperliche Züchtigung,die einfache Gefängnisstrafe durch Schmälerung

Seite 185der Kost, Anweisung einer harten Lagerstätte verschärft werden und sogar Confiscationdes gesammten Vermögens gegen Hoch- und Landesverräther und ausgetretene Militair-pflichtige stattfinden sollte.Das Jahr 1848 machte diesen "Velleitäten ein Ende, und das preussische Strafgesetz-

buch vom 14. April 1851310 bezeichnete in einer Keine der wichtigsten Bestimmungen,wenngleich nicht in jeder Beziehung, einen höchst bedeutsamen Fortschritt311 der deut-schen Rechtsentwickelung, einen Fortschritt, dem, abgesehen von der Carolina, etwa nurder durch das bayerische Gesetzbuch von 1813 bewirkte an die Seite gestellt werdenkann,312 und dieser Fortschritt war wesentlich gegeben durch die weitreichende Einwir-kung des französischen, bis 1851 in der preussischen Rheinprovinz gültigen Gesetzbuchs.Wie das französische Gesetzbuch, so zeichnet auch das preussische sich aus durch einekurze und das Ueberflüssige vermeidende Fassung, durch Weglassung des doctrinärenBeiwerks und desshalb auch durch die im Allgemeinen grosse Freiheit, welche es in denBestimmungen des allgemeinen Theiles der wissenschaftlichen Festsetzung lässt, und,wie das französische Gesetzbuch, eignet es sich daher auch mehr als irgend ein anderesder früheren deutschen Gesetzbücher für eine Handhabung durch Geschworene. Wie dasfranzösische Gesetzbuch ist es frei von moralisirenden und theologisirenden Tendenzenund im Ganzen, wenn auch nicht überall313, frei von jener kleinlichen Aengstlichkeit,welche uns in manchen Bestimmungen der früheren Particulargesetzgebung begegnet,und wie es annimmt die

Seite 186Eintheilung der strafbaren Handlungen in Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen,so trennt es letztere Klasse im speciellen Theile von den beiden ersten Klassen auch voll-ständig, behandelt überhaupt nur eine Anzahl von Polizeidelicten in einem Anhange,erstreckt dagegen, indem es zugleich Strafgrenzen für die Uebertretungen setzt, eine An-zahl der wichtigsten Bestimmungen des allgemeinen Theils auch auf die Uebertretungen.

310Der 1849 erschienene Entwurf, beruhend auf den Beschlüssen einer Commission des Justizministeriums,enthielt bereits wesentlich die Bestimmungen des nachmaligen Strafgesetzbuchs.

311Vgl. Goltdammer: Materialien zum Strafgesetzbuche für die preussischen Staaten, 1861, 1852; Beseler:Commentar, 1851; Oppenhoff: Das Strafgesetzb. für die preussischen Staaten, erläutert aus den Ma-terialien, der Rechtslehre und den Entscheidungen des Obertribunals, 6. Aufl., 1869; Temme: Lehrb.des preuss. Strafr., 1853; Hälschner: System, 2 Thle., 1855, 1868 (nicht vollendet; 1. Theil umfasstden allgemeinen Theil); Oppenhoff: Die Rechtsprechung des königl. Obertribunals in Strafsachen,1861 ff. — Archiv für preussisches Strafrecht, begründet von Goltdammer 1853, seit 1871 verwandeltin das „Archiv für deutsches u. preuss. Strafrecht", noch jetzt erscheinend, jährlich ein Band.

312Vgl. Mittermaier: Archiv f. preussisches Strafrecht, 1859, S. 14ff.313So erinnert der bekannte sog. Hass- und Verachtungsparagraph (§. 101: „Wer durch öffentliche Behaup-

tung oder Verbreitung erdichteter oder entstellter Thatsachen, oder durch öffentliche Schmähungenoder Verhöhnungen die Einrichtungen des Staates oder die Anordnungen der Obrigkeit dem Hasseund der Verachtung aussetzt, wird mit Geldbusse bis zweihundert Thalern oder mit Gefängniss biszu zwei Monaten bestraft"[vgl. noch §. 101]) an §. 151 des Th. II. Tit. 20 des allgem. Landrechts.

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Das Gesetzbuch besitzt aber gegenüber dem französischen nicht unbedeutende Vorzü-ge. Der allgemeine Theil hat unter dem Einfluss der deutschen Rechtswissenschaft eineumfassende Behandlung erfahren; die einzelnen Verbrechensdefinitionen sind sorgfältigerund genauer gefasst, und das Gesetzbuch ist durchgängig weit milder als der Code pénalin der ursprünglichen Gestalt von 1810. Von körperlicher Züchtigung ist nicht mehrdie Rede, und die Freiheitsstrafen sind einfach eingetheilt in Zuchthaus- und Gefäng-nisstrafe (letztere zerfällt in zwei Anwendungen für Vergehen und für Uebertretungen),neben welcher die die Ehre am meisten schonende Einschliessung in eine Festung alsihrer Art nach mildeste, aber möglicher Weise langdauernde Freiheitsstrafe für einzelneDelicte Platz greifen kann. Die Todesstrafe kommt ausser bei Mord und Hochverrathnoch vor für schwere Fälle des Todtschlags und bei gemeingefährlichen Verbrechen, sollaber nur durch Intramuranhinrichtung vollzogen werden. Allerdings aber ist das Gesetz-buch mehrfach, namentlich in der Lehre von der Theilnahme und vom Versuche, zu sehrdem französischen Rechte gefolgt, und die dem französischen Rechte nachgebildeten,von mancher Seite freilich empfohlenen Bestimmungen über die Möglichkeit der Annah-me mildernder Umstände bei manchen, keineswegs aber bei allen Delicten, verdientenjedenfalls schon dieser Inconsequenz wegen Tadel, lieferten aber ausserdem die nothwen-dige Strenge und Consequenz des Strafrechts dem individuellen Gefühle der einzelnenGeschworenenbänke aus. Auch sind manche Einzelbestimmungen hart, und eine ängst-liche, zu sehr dem Wortlaute folgende Interpretation der Gerichte hat Einzelnes auchnoch weniger erträglich erscheinen lassen.314 Dazu kommt, dass die Bestimmungen überden Vollzug der Freiheitsstrafen zu dürftig sind, so dass in Wahrheit de facto über dieBehandlung der Strafgefangenen, abgesehen davon, dass bei den wegen UebertretungenDetinirten der Zwang zur Arbeit wegfiel, doch das souveräne Ermessen der Gefängniss-verwaltung entschied, selbst

Seite 187darüber, ob und inwieweit Einzelhaft gegen den Willen des Detinirten stattfinden dür-fe.315 Auch die disciplinare Behandlung der Strafgefangenen erfuhr weder in dem Ge-setzbuche selbst, noch in irgend welchen Nebengesetzen eine Regelung, und von einemRechtsschütze, z. B. von Personen aus den gebildeten Ständen, die nicht wegen ehrenrüh-riger, sondern nur wegen rein politischer oder Press-Delicte verurtheilt waren, gegen eineden concreten Verhältnissen durchaus unangemessene Behandlung in den Gefängnissenkonnte nicht die Rede sein.§. 65. Die praktische Brauchbarkeit des preussischen Strafgesetzbuchs veranlasste ei-

ne Reihe kleinerer Staaten, dasselbe ihrer Strafgesetzgebung zum Grunde zu legen. So

314So z. B. wurde der von der Widersetzung handelnde §. 89 vielfach so interpretirt, dass auch der Wi-derstand gegen zweifellos gesetzwidrige Handlungen eines Beamten, sobald der Dolus des Beamtenausgeschlossen war, als strafbar angesehen wurde. Einige Nachtragsgesetze brachten einzelne Milde-rungen.

315Die dem Landtage überreichte Denkschrift des Ministers des Inneren vom 26. März 1861 stellte dieseBehauptung auf. Siehe dagegen v. Holtzendorff: Gesetz oder Verwaltungsmaxime, rechtliche Beden-ken gegen die preussische Denkschrift betr. die Einzelhaft, 1861. Die Auffassung der preussischenRegierung vertheidigt Böhlau: Die Einzelhaft in Preussen, 1861. Vgl. übrigens über gewisse Tenden-zen der damaligen preussischen Gefängniss Verwaltung auch v. Holtzendorff: Der Brüderorden desrauhen Hauses und sein Wirken in den Strafanstalten, 1862.

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wurde das preussische Strafgesetzbuch mit unerheblichen Abänderungen als Gesetz pu-blicirt in Waldeck und Pyrmont (1855),316 und das Strafgesetzbuch Lübecks von 1863stimmte, einzelne freilich bedeutsame Abänderungen abgerechnet, fast wörtlich mit dempreussischen überein;317 das oldenburgische Gesetzbuch vom 3. Jan. 1858 aber unter-schied sich dadurch von dem preussischen, dass es die Todesstrafe nicht mehr beibehielt,an deren Stelle lebenslängliches Zuchthaus setzte und hiernach auch die Strafmaasse füreinige andere Fälle zu ändern veranlasst war, dass es auch, abgesehen von dem Falle le-benslänglicher Zuchthausstrafe, den Verlust der Ehrenrechte stets nur auf Zeit eintretenliess.318

In mannigfacher Beziehung verwandt mit dem preussischen Gesetzbuche ist auch dieletzte bedeutendere Leistung der particularen Strafgesetzgebung, das bayerische Straf-gesetzbuch vom 10. Novbr. 1861, ebenso wie das preussische Gesetzbuch erst nach lang-jährigen Vorarbeiten zu Stande gebracht. In Ansehung der Ehrenfolgen strafgerichtlicherVerurtheilungen dem preussischen Gesetzbuche sich anschliessend und die

Seite 188Todesstrafe in mehreren Fällen beibehaltend (freilich nicht in sämmtlichen Fällen despreussischen Gesetzbuchs), leidet es an dem Mangel eines unklaren und unbestimm-ten Freiheitsstrafensystems, so dass namentlich das Verhältniss von Gcfängniss- undZuchthausstrafe schwer definirt werden kann. Körperliche Züchtigung ist selbst als Dis-ciplinarstrafe bei jeder Art der Freiheitsstrafe ausgeschlossen, und im Art. 19 ist dasSystem einer Parallelstrafe (statt der Gefängniss- und bezw. Zuchthausstrafe) für Perso-nen der gebildeten Stände unter gewissen Voraussetzungen angenommen, und währenddas Gesetzbuch in der Behandlung von Versuch und Theilnahme eine Vermittlung zwi-schen französischem und deutschem Rechte unternimmt, unterscheidet es sich von dempreussischen im allgemeinen Theile namentlich durch Nichtaufnahme des Systems dermildernden Umstände, wogegen Art. 68. den Milderungsgrund der geminderten Zurech-nungsfähigkeit anerkennt und Art. 74 den (freilich in das Ermessen des Richters ge-stellten) Milderungsgrund der freiwilligen Ersatzleistung bei gewissen (wichtigen) gegendas Vermögen gerichteten Delicten sanctionirt.319 Im Ganzen ist das Gesetzbuch nichtunerheblich milder als das preussische.320

316So auch in Anhalt (durch Gesetz vom 5. Febr. 1852); es wurde hier indess 1864 durch das thüringischeGesetzbuch ersetzt (vgl. Berner S. 257).

317So kannte das lübische Gesetzbuch definitiven Verlust der Ehrenrechte nicht, sondern nur Untersagungder Ehrenrechte auf Zeit, so wurde der Versuch stets milder bestraft, als die Vollendung. Vgl. überdas Einzelne Berner, S. 257.

318Eine Vergleichung des oldcnburgischen mit dem preussischen Gesetzbuche hat geliefert Mittermaier:Archiv f. preuss. Straft. 1859 S. 14 ff.

319Auch die Verjährung ist stark abweichend behandelt; hier aber steht das Gesetzbuch sehr wesentlichhinter dem preussischen zurück.

320Literatur siebe bei Berner, S. 341 ff. Hervorzuheben die Commentare von Hocheder, 1862 (nicht vollen-det, nur der erste Band erschienen); Stenglein, 2 Bde., 1861, 1862; Weis, 2 Bde., 1863, 1865; Dollmann,1862 (nicht vollendet); Sitzungsberichte der bayer. Strafgerichte, 5 Bde., 1850—53, nachher Zeitschr.für Gesetzgebung und Rechtspflege in Bayern, 1854ff.; Stenglein: Zeitschrift für Gerichtspraxis u.Rechtswissenschaft in Bayern, 1862, seit 1872 Zeitschrift f. deutsche Gerichtspraxis und Rechtswis-senschaft (seit 1880 eingegangen).

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§. 66. In den beiden Grossherzogthümern Mecklenburg, sowie in Kurhessen, 321inSchleswig-Holstein, Lauenburg, Schaumburg-Lippe, Bremen und Hamburg war es biszum Jahre 1866 zu einem umfassenden Gesetzbuche nicht gekommen; formell galt indiesen Ländern noch die Carolina, in Wahrheit aber der auf die Wissenschaft sich stüt-zende Gerichtsbrauch neben einigen mehr oder weniger umfassenden Specialgesetzen.322

Die Ereignisse des Jahres 1866 mussten den seit dem Jahre 1860 durch den deutschenSeite 189

Juristentag besonders gepflegten Bestrebungen zur Herstellung eines gemeinsamen deut-schen Rechtes323 einen neuen und nunmehr erfolgreichen Aufschwung geben. Zwar hatteanscheinend die preussische Regierung nicht sofort die Abfassung eines gemeinsamennorddeutschen Strafgesetzbuchs beabsichtigt, vielmehr in den neu von ihr erworbenenLandestheilen Hannover, Kurhessen, Schleswig-Holstein, Nassau, Hessen-Homburg undFrankfurt a. M., sowie in den abgetretenen bayerischen Gebietsteilen mittelst Verord-nung vom 25. Juni 1867 zunächst das preussische Strafgesetzbuch eingeführt324 325. Aberdie Verfassung des norddeutschen Bundes vom 26. Juni nahm (in Folge des AmendementLasker) im Art. 4. No. 18 unter diejenigen Gegenstände, für welche die Competenz derGesetzgebungsgewalt des norddeutschen Bundes begründet sein sollte, auch Strafrechtund Strafverfahren auf,326 und in Folge Beschlusses des Reichstags vom 18. April 1868wurde auf Ersuchen des Bundeskanzlers vom preussischen Justizministerium327 schonEnde Juli 1869 ein Entwurf eines Strafgesetzbuches für den norddeutschen Bund publi-cirt. 328

Dieser Entwurf, wesentlich ein Werk des damaligen Geh. Oberjustizraths, jetzigenpreussischen Justizministers Dr. Friedberg hatte, wie die Motive auch erklärten, undwie es in der That in der Natur der Verhältnisse begründet war, das preussische Gesetz-

321In Kurhessen mit nur sehr wenigen Aenderungen 1535 publicirt (sog. Philippina). Vgl. über Kurhessen:H. Kersting: Das Strafrecht in Kurhessen, 2 Bde., 1853, 1854.

322Für die beiden Grossherzogthümer Mecklenburg waren besonders wichtig: eine umfangreiche Verord-nung über den Diebstahl von 1839, eine Verordnung von 1853 über die Vergehen gegen die öffentlicheOrdnung und eine Verordnung von 1854 über Brandstiftung. — Ueber den Rechtszustand in denübrigen genannten Ländern vgl. die Motive zu dem Entwürfe eines Strafgesetzbuchs für den nord-deutschen Bund, S. 6 ff.

323Vgl. Verhandlungen des 1. deutschen Juristentags, S. 58; daselbst Antrag v. Gross und v. Kräwel, betr.Einführung einer gemeinsamen deutschen Strafgesetzgebung. Vgl. auch das. Antrag Wahlberg, S. 63.— Schon 1857 hatte Krug „Ideen zu einer gemeinsamen Strafgesetzgebung für Deutschland"publicirt.

324Ueber den Rechtszustand in Hannover, Schleswig-Holstein, Kurhessen, Nassau, Hessen-Homburg,Frankfurt a. M. zur Zeit der Annexion vgl. Goltdammer’s Archiv f. preuss. Strafr. 1866, S, 657—716.

325In Lauenburg, das ja erst 187G dem preussischen Staate wirklich incorporirt wurde, blieb einstweilendas dort geltende gemeine Recht bestehen.

326Die Befugniss der Einzelstaaten zum Erlass von Strafgesetzen war damit selbstverständlich nicht be-seitigt, und so wurde im Königreich Sachsen am 1. October 1868 eine Revision des Strafgesetzbuchspublicirt, in Hamburg 1869 noch ein neues Strafgesetzbuch.

327Eine sehr dankenswerthe Privat-Vorarbeit war von John geliefert (Entwurf mit Motiven zu einemStrafgesetzbuche für den norddeutschen Bund, 1868).

328Dem Entwürfe waren ausser den Motiven beigegeben Denkschriften über die Todesstrafe und über diehöchste Dauer zeitlicher Zuchthausstrafe, sowie Erörterungen strafrechtlicher Fragen aus dem Gebieteder gerichtlichen Medicin und eine vergleichende Zusammenstellung strafrechtlicher Bestimmungenaus deutschen und ausserdeutschen Gesetzgebungen (synoptisch nach Materien geordnet).

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buch zur Grundlage genommen. Er war indess erheblich milder als dieses — so war z.B.

Seite 190die Todesstrafe auf sehr wenige Fälle beschränkt, die Dauer der höchsten zeitlichenZuchthausstrafe auf 15 Jahre herabgesetzt — und andererseits hatte er den Anforderun-gen der Wissenschaft in mannigfacher Weise nachzukommen sich bestrebt, und nament-lich in den vom Versuche, von der Theilnahme, von der Zurechnungsfähigkeit der Kinderhandelnden Paragraphen statt der französischen im preussischen Strafgesetzbuche ad-optirten Grundsätze wieder mehr die Grundsätze des gemeinen deutschen Strafrechtsaufgenommen, allerdings aber das System der mildernden Umstände beibehalten undzugleich bedeutend ausgedehnt. Wichtige Neuerungen waren: die Entlassung der Straf-gefangenen nach theilweise verbüsster Strafhaft auf Widerruf, eine Massregel, welche(nach englischem Vorbilde) seit 1862 im Königreiche Sachsen auf Grund landesherrli-cher, wenngleich nach allgemein bekannt gegebenen Grundsätzen gehandhabter Gnadegeübt wurde, so wie ein Versuch einer rationellen, nicht sowohl die Strafart als die Na-tur des einzelnen Verbrechens wie den concreten Fall berücksichtigende Normirung derEhrenfolgen strafbarer Handlungen.Der Entwurf gieng übrigens von dem allein praktischen und richtigen Gesichtspunkte

aus, das ganze Gebiet des Bundes, ungeachtet der letztere keinen Einheitsstaat bildete,in strafrechtlicher Beziehung als einheitliches Gebiet zu behandeln329 — da in Wahr-heit die Strafgesetze wesentlich durch die Culturstufe des Volkes, zum Theil durch diegrössere oder geringere politische Freiheit, nur wenig aber durch die Differenzen desbürgerlichen Rechts beeinflusst werden — obgleich die Möglichkeit anerkannt wurde,dass Hoch- und Landesverrat!] wie gegen den Bund selbst so auch gegen die einzelnenBundesstaaten begangen werde, und sogar dann, wenn diese Verbrechen zu Gunsteneines anderen Bundesstaates unternommen werden. Selbstverständlich konnte freilichvon einem in dem Sinne vollständigen Gesetzbuche, dass daneben andere Strafgeset-ze überhaupt nicht zur Anwendung kommen würden, nicht die Rede sein: waren dochdie Gesetzbücher irgend grösserer Einheitsstaaten in diesem Sinne nicht vollständig. Somusste ein gewisser Kaum der Gesetzgebung der Einzelstaaten nothwendig bleiben; esmusste nur dafür gesorgt werden, dass die Einheit des Rechtes in der Hauptsache nichtdadurch vernichtet werde, dass die Einzelstaaten zu hohe Strafsätze annahmen, und dassnicht Strafen für Handlungen gedroht wurden, welche nach Sinn und Geist des

Seite 191Reichsgesetzes bei dessen Schweigen oder beschränkender Definition für straffrei anzu-sehen waren.Durchaus lückenhaft war der Entwurf in Ansehung des Vollzugs der Freiheitsstrafen;

nur wenige allgemeine Bestimmungen bilden hier einen Rahmen, bezw. eine Schrankefür die Landesgesetzgebung, oder wenn auch diese ungenügend ist, für das (besondersin Preussen) massgebende Ermessen der Verwaltungsbehörden. Allerdings war hier eine

329Die dagegen von Heinze (Staats- und strafrechtliche Erörterungen zu dem amtlichen Entwürfe einesStrafgesetzbuchs für den norddeutschen Bund, 1870) erhobenen Bedenken und Einwendungen habensich als unbegründet erwiesen. Vgl. gegen Heinze auch Bar im Archiv f. preussisches Strafrecht 1870,S. 83 ff., und jetzt Rüdorff: Strafgosctzb. für d. deutsche Reich, erläutert 2. Aufl. S. 19.

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einheitlich durchgreifende Regelung ohne eine Menge von factischen Einrichtungen, na-mentlich aber Vornahme kostspieliger und langdauernder Bauten nicht ausführbar. Manhätte hierbei das ganze Gesetz factisch aufschieben müssen.§. 67. Vielleicht ist nie in einem grösseren Staate ein Gesetzbuch von der Bedeutung

des norddeutschen Strafgesetzbuchs in so kurzer Zeit fertig gestellt worden, wie es beidiesem Gesetzgebungswerke geschah. Die Ueberarbeitung des Entwurfs durch eine vomBundesrathe niedergesetzte, am 1. October 1869 bereits tagende Commission unter demVorsitze des damaligen preussischen Justizministers Dr. Leonhardt, in welcher nebenFriedberg der königl. sächsische Generalstaatsanwalt Dr. Schwarze als ein besondershervorragendes Mitglied zu bezeichnen ist, wurde schon unter dem 81. December 1869dem Bundeskanzler überreicht. Auch der Bundesrath selbst einigte sich rasch und unterdem 14. Februar 1870 gieng dem Reichstage bereits der Entwurf des Gesetzes selbstnebst Entwurf des Einführungsgesetzes zu.Man darf sich nicht wundern, dass bei solcher Beschleunigung der Arbeiten an eine

tiefere Erwägung der Principien des Entwurfs und ihrer Consequenzen nicht gedachtwerden konnte: der Gedanke überhaupt Etwas fertig zu bringen, zu zeigen, dass der neu-gegründete Bund zur Herstellung eines umfassenderen neuen Gesetzgebungswerkes imStande sei, der Gedanke durch das Strafrecht die nationale Einheit schnell zu festigen,beherrschte die leitenden politischen Kreise. Allerdings fehlt es nicht an wichtigen redac-tionellen und sachlichen Aenderungen des ersten Entwurfs. So wurden die Bestimmungendes allgemeinen Theiles (der allgemeinen Regel nach) von der Bundesraths-Commissionauch für Uebertretungen auch formell für durchaus anwendbar erklärt ;330 so wurden diegegen Bundesfürsten und deren Familienangehörige persönlich sich richtenden Delicte ei-ner anderen Behandlung unterworfen, je nachdem es sich um den eigenen Landesherrndes Thäters, bezw. um den Landesherrn sich handelt, in dessen Gebiet die That began-gen wird; so wurde

Seite 192im allgemeinen Theile der von der geminderten Zurechnungsfähigkeit handelnde §. 47gestrichen, und so wurde das Erforderniss des Strafantrags des Verletzten zur Verfol-gung noch auf eine weitere Anzahl strafbarer Handlungen erstreckt. Auch wurde dieZuchthausstrafe als ipso jure die Ehre berührend insofern wieder behandelt, als nach§. 28 die Verurtheilung zu dieser Strafe ohne Weiteres die Unfähigkeit zum Dienste imBundesheere und in der Bundesmarine, sowie die dauernde Unfähigkeit zur Bekleidungöffentlicher Aemter zur Folge haben soll, eine Bestimmung des Strafgesetzbuchs, wel-che wohl hauptsächlich auf den Einfluss der militairischen Autoritäten des Bundesrathszurückzuführen ist, übrigens aber der Volksansicht mehr entspricht, als die zu idealeBehandlung der Ehrenfolgen der Verurtheilung, wie wir solche in dem ersten Entwürfefinden.Auch im Reichstage wurde der Entwurf einer äusserst raschen Behandlung unterzogen.

Eine abgesonderte Behandlung principieller Fragen wurde abgelehnt, und der allgemeineTheil und die sieben ersten hauptsächlich von politischen Delicten handelnden Abschnit-

330Die Uebertretungen sind daher nicht mehr in einem dritten Theile behandelt, sondern nur in einemeinzelnen (dem letzten) Abschnitte des besonderen (zweiten) Theiles des Gesetzbuchs.

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te des speciellen Theils wurden der sofortigen Berathung im Plenum, die Abschnitte9—23 einer aus 21 Mitgliedern bestehenden Commission überwiesen. Fast wäre indessdas ganze Werk noch an der Frage der Todesstrafe gescheitert. In zweiter Berathunghatte das Plenum am 1. März 1870 mit einer Majorität von 118 gegen 81 Stimmen dieAbschaffung der (inzwischen auch im Königreiche Sachsen 1868 beseitigten) Todesstrafebeschlossen, welche der Bundesrath (mit stark überwiegender Majorität) für vollendetenMord und die schwersten Fälle des Hochverraths (Mordversuch gegen das Landesober-haupt, gegen den eigenen Landesherrn oder denjenigen Landesherrn, in dessen Gebietedie That verübt wird) aufrecht erhalten wissen wollte. Bei der dritten Lesung fügte derReichstag, nachdem namentlich der Bundeskanzler Graf v. Bismarck das Gewicht seinerAutorität für die Beibehaltung der Todesstrafe eingesetzt hatte, sich hierin wie in einerdie processuale Behandlung gewisser politischer Delicte betreffenden Frage der Ansichtdes Bundesrates, und so konnte denn schon in der Sitzung vom 25. Mai 1870 der Bundes-rath dem Gesetzbuche einstimmig seine Genehmigung ertheilen, und dieses selbst nebstdem Einführungsgesetze vom Bundesoberhaupte am 31. Mai vollzogen und mittelst deram 8. Juni 1870 ausgegebenen Nummer 16 des Bundesgesetzblattes publicirt werden.Doch hatte der Entwurf noch durch Beschlüsse des Reichstags eine Anzahl nicht uner-

heblicher Aenderungen erfahren. So waren durch den Reichstag alle absolut bestimmtenStrafen, mit Ausnahme der beiden Fälle der Todesstrafe, beseitigt, und wo ursprünglichlebenslängliches Zuchthaus gedroht war, ist es jetzt dem Richter gestattet, auch auf

Seite 193zeitliche, durch ein bestimmtes Maximum bestimmte Strafe zu erkennen; so waren dieStrafen in einer Anzahl von Fällen herabgesetzt, so war die Zulassung der Annahme mil-dernder Umstände auf eine grössere Anzahl von Delicten ausgedehnt, der Kreis der nurauf Privatantrag verfolgbaren Handlungen vergrössert, und so waren die die politischenDelicte betreffenden Beschlüsse von einschneidender Bedeutung. In letzterer Hinsichtsind zu erwähnen die §§. 11. 12., welche die Redefreiheit und bezw. die Straffreiheit wahr-heitsgetreuer Berichte, welche die Bundesverfassung bezüglich des Reichstags sanctionirthatte, auf die Mitglieder bezw. die Verhandlungen der gesetzgebenden Versammlungender Einzelstaaten ausdehnen, und der in der That als eine Schutzwehr staatsbürgerlicherFreiheit zu betrachtende Zusatz zu §. 113331 des St. G. B., nach welchem die Strafbar-keit der Widersetzung gegen die Handlungen eines Beamten auf die Fälle rechtmässigerAusübung des Amtes beschränkt ist. 332

Das Gesetzbuch ist kein tief eingreifendes reformatorisches Gesetzbuch; seine wesent-liche, allerdings nicht leicht zu überschätzende Bedeutung besteht in der Begründungder Rechtseinheit für das Strafrecht im Bundesgebiete. Dass es aber gleichwohl für dieMehrzahl der betheiligten Staaten, namentlich z. B. für Preussen und Sachsen, einensehr wesentlichen Fortschritt enthielt, kann nicht geleugnet werden; ebenso wenig derUmstand, dass es jedem der betheiligten Staaten in vielen und wichtigen Beziehungen,

331Vgl. auch den Zusatz in §. 110, wonach die Strafsanction der Aufforderung zum Ungehorsam auf denFall rechtsgültiger Verordnungen oder die innerhalb der Zuständigkeit von der Obrigkeit erlassenenAnordnungen beschränkt ist.

332Vgl. über die Entstehungsgeschichte namentlich die knappe und zugleich gute Darstellung Rüdorffs,Commentar S. 12ff.

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mochte immerhin das frühere Recht Einzelnes besser bestimmt haben, Besseres brachte.Dass es Fehler und Mängel hat, ist eine Eigenschaft, die es mit jedem Gesetze theilt.Allerdings hätte Manches sorgfältiger erwogen werden und nach solcher Erwägung ver-bessert werden können. Dass aber, abgesehen von diesen Fehlern, dem Gesetzbuche derFehler allzu grosser Milde mit Grund vorgeworfen werden könne, und dass an den Fehlerndes Gesetzbuchs wesentlich die Wissenschaft die Schuld trage, wie freilich von Manchenbehauptet wird, die schwerlich das Gesetzbuch oder die Geschichte des Strafrechts ge-nauer kennen, wird keineswegs nachweisbar sein. Der Wissenschaft blieb überhaupt zueiner eingehenderen und zugleich umfassenden Kritik des Gesetzentwurfs keine Zeit, undTheoretiker im ausschliesslichen Sinne dieses Wortes waren bei den Entwürfen nicht bet-heiligt.333 So hatten die Kritiken der Entwürfe334

Seite 194denn auch äusserlich nur einen recht bescheidenen Umfang, und es war eben nur Zeit,diese oder jene Einzelheit genauer zu behandeln.Noch bevor das Gesetzbuch als norddeutsches in Kraft trat (mit dem 1. Jan. 1871), war

es schon gewiss geworden (durch die im Jahre 1870 mit den Grossherzogthümern Hessenund Baden, den Königreichen Bayern und Würtemberg geschlossenen Verträge, welcheden deutschen Bund begründeten), dass es zum Strafgesetzbuche des neuen deutschenBundes werden würde. In Hessen, südlich des Maines, trat das Gesetzbuch schon am 1.Jan. 1871 in Kraft, in Würtemberg, Baden, Bayern sollte es mit dem 1. Jan. 1872 inKraft treten. Inzwischen wurde aber durch das norddeutsche Gesetz vom 16. April 1871,betreffend die Verfassung des deutschen Reiches, das Strafgesetzbuch zum Reichsgesetzefür das Gebiet des norddeutschen Bundes, erklärt und zugleich bestimmt, dass die inden hinzutretenden Gebieten erlassenen und künftig noch zu erlassenden Gesetze desnorddeutschen Bundes als Reichsgesetze gelten sollten. So gilt denn das Strafgesetzbuchals Reichsgesetz auch in Hessen südlich des Mains seit dem 1. Jan. 1871, in Bayern,Würtemberg, Baden seit dem 1. Jan. 1872, in Elsass-Lothringen aber kraft besonderenGesetzes vom 30. Aug. 1871 seit dem 1. October 1871. Mit Rücksicht auch darauf, dassdie den norddeutschen Bundesverhältnissen entsprechenden Ausdrücke durch die demneuen Reichsorganismus entsprechenden zu ersetzen waren, schien es aber geboten, eineneue Redaction des Gesetzbuchs anzufertigen. Diese Redactionsänderung erfolgte fürdas Strafgesetzbuch selbst (nicht für das Einführungsgesetz)335 durch Gesetz vom 15.Mai 1871, betreffend die Redaction des Strafgesetzbuchs für den norddeutschen Bundals Strafgesetzbuch für das deutsche Reich.336

333Vgl. über den Verlauf der Sache namentlich v. Wächter: Beitrag zur Geschichte und Kritik der Entwürfeeines Strafgesetzbuchs für den norddeutschen Bund, 1870.

334Verzeichniss der mit der Kritik der Entwürfe sich befassenden Schriften und Aufsätze siehe bei WächterS. 18; v. Holtzendorff, Handb. I. S. 131 ff.

335Eine Neuredaction des Einführungsgesetzes hat man nicht für nöthig erachtet. Die Anwendung des§. 2 Abs. 2 des Gesetzes vom 16. April 1871: „Die . . bezeichneten Gesetze sind Reichsgesetze. Woin denselben von dem Norddeutschen Bunde, dessen Verfassung, Gebiet, Mitgliedern oder Staaten,Indigenat, verfassungsmässigen Organen, Angehörigen, Beamten, Flagge u. s. w. die Rede ist, sinddas Deutsche Reich und dessen entsprechende Beziehungen zu verstehen", hat man hier der Praxisüberlassen.

336Uebrigens enthalten die §§. 102, 103 des Strafgesetzbuchs für das deutsche Reich auch eine anderwei-

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

§. 68. Ein Uebelstand, der übrigens von einigen Seiten schon vorherSeite 195

gerügt worden, auch heut zu Tage noch zu nicht selten das Gerechtigkeitsgefühl verlet-zenden Urtheilen Anlass gibt, sind die mildernden, lediglich der individuellen Auffassungüberlassenen Umstände; ein anderer unverkennbarer Uebelstand ist in der Gestalt, wel-che die Sache nun einmal erhalten hat, das Recht der sog. Antragsdelicte. Bei diesenletzteren Delicten wurden die Nachtheile denn auch bald sowohl von den Gerichten,als von der öffentlichen Meinung als unverkennbare, der Abhülfe dringend bedürftigebezeichnet. Einerseits war das Erforderniss des Strafantrags auf eine zu grosse Anzahlvon Delicten angewendet, andererseits das Recht der Rücknahme des Strafantrags unddamit der Sistirung des Strafverfahrens durch Privatwillkür des Verletzten (bezw. sei-nes gesetzlichen Vertreters) bis zu einem zu späten Stadium des Verfahrens eingeräumtworden (bis zu einem auf Strafe lautenden Erkenntnisse.) 337

Die Vorlage zu einer Strafgesetznovelle, welche der Bundesrath bereits im November1875, also nachdem das Gesetz noch nicht volle 4 Jahre als Reichsgesetz, noch nicht volle5 Jahre im Gebiete des norddeutschen Bundes und in Hessen gegolten hatte, dem Reichs-tage zustellte, gieng indess über die Beseitigung dieses Uebelstandes weit hinaus. Manwollte daneben nicht nur in Anlass eines in Belgien338 vorgekommenen Falles, in welchemes sich um eine vielbesprochene Bedrohung des Lebens des Fürsten Bismarck handel-te,339 die erfolglose Anstiftung in weitestem Umfange unter Strafe stellen und durch eineSpecialstrafbestimmung die Subordination und Pflichttreue der Beamten des auswärti-gen Amtes sicher stellen,340 sowie eine Anzahl von an sich zum Theil zweckmässigen(nachher auch vom Reichstage angenommenen) mehr untergeordneten Specialbestim-mungen in Vorschlag bringen, sondern auch eine totale Umänderung tief eingreifenderBestimmungen des allgemeinen Theiles (Bestrafung im Auslande begangener Delicte,Bestrafung des sog. beendigten Versuchs), sowie auch durch gedehntere Fassung undstrengere Strafen eine strengere Repression der öffentlichen Aeusserung und Verbreitunggefährlich erscheinender politischer Doctrinen herbeiführen. 341 Die nach schwierigenVerhandlungen zu Stande gebrachte

Seite 196Strafgesetznovelle vom 26. Februar 1876 hat indess nur einen Theil dieser Propositionenverwirklicht. Die sog. erfolglose Anstiftung ist im §. 49 a (§. Duchesne) nur unter be-sonderen Voraussetzungen für strafbar erklärt, und auch §. 353a (§. Arnim) entsprichtder ursprünglichen Vorlage nur theilweise, während die veränderte Behandlung des Ver-suchs, die principiell andere Behandlung im Auslande begangener Delicte überhaupt

te sachliche Aenderung. Die zum ehemaligen deutschen Bunde gehörigen Staaten Oesterreich undLiechtenstein nehmen eine besondere Stellung nicht mehr ein.

337Vgl. die amtlichen Motive zur Strafgesetznovelle von 1876.338Vgl. belgisches Gesetz vom 9. Juli 1875.339Fall Duchesne.340Fall des Grafen Harry v. Arnim. Vgl. darüber z. B. Rechtsgutachten, herausgegeben von v. Holt-

zendorff, 1875; Verteidigungsreden in der Untersuchungsaache wider den Grafen Harry v. Arnim,gehalten von den Rechtsanwälten Dockhorn und Munckel, Berlin 1875.

341Ein anderer wenig glücklicher Vorschlag des Entwurfs bezog sich auf die Einführung einer sog. Frie-densbürgschaft für gewisse Fälle. Vgl. darüber Schierlinger: Die Friedensbürgschaft, S. 76ff.

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abgelehnt ist, ebenso die grössere Ausdehnung einzelner politischer Delicte. Dagegen hatdie Behandlung der sog. Antragsdelicte eine tiefgreifende Aenderung erfahren. Bei ei-ner Anzahl von Delicten ist das Erforderniss des Strafantrags des Verletzten behufs derStrafverfolgung überhaupt gestrichen, und Regel ist nunmehr, dass ein einmal gestellterStrafantrag nicht wieder zurückgenommen werden kann. Diese Kegel wird indess durchzahlreiche Ausnahmen durchbrochen, und so, dass diese Ausnahmen zuweilen als Privilegder Verwandtschaft zwischen dem Verletzten und dem Schuldigen erscheinen, währendder verkehrte Zeitpunkt der Möglichkeit der Rücknahme geblieben ist.Schon vorher hatte übrigens durch Gesetz vom 10. December 1871 das Strafgesetzbuch

im §. 130 a in Folge der Streitigkeiten mit der römischen Curie einen Zusatzparagraphenerhalten, der sich gegen aufreizende Reden der Geistlichen richtet. Durch die Strafgesetz-novelle wurde dieser §. 130a auf schriftliche Erörterungen der Geistlichen in Ausübungihres Berufs oder in Veranlassung der Ausübung ihres Berufes ausgedehnt. Auch warenschon vor der Novelle §. 287 durch §. 14 des Gesetzes über den Markenschutz vom 30.Novb. 1874 und §. 337 durch §. 67 des Gesetzes über die Beurkundung des Personenstan-des und die Eheschliessung vom 6. Febr. 1875 ersetzt worden, wie denn mit Einfuhrungder umfassenden Reichs-Justizgesetzgebung (1. October 1879) die vom strafbaren Ban-kerotte handelnden §§. 281—283 des Strafgesetzbuchs ersetzt sind durch §§. 209—214der deutschen Concursordnung vom 10. Febr. 1877.342

Dass durch die neuen Einrichtungen des deutschen Reiches einerseits, durch die Be-dürfnisse des Verkehrs andererseits eine Menge von Special-Strafbestimmungen polizei-licher Natur — wenn auch die Strafen nicht selten hinausgehen über die Maximalstrafender Uebertretungen — nothwendig geworden sind, ist leicht erklärlich, ebenso aber auch,dass Gesetze dieser Art zum Theil einer Öfteren Aenderung unterliegen. Von mehr ein-greifender, nachhaltiger Bedeutung und zugleich für die Theorie

Seite 197des Strafrechts nicht ohne Schwierigkeit sind indess, abgesehen von dem Reichspress-gesetze vom 7. Mai 1874, das Gesetz betreffend den Verkehr mit Nahrungs- und Ge-nussmitteln vom 14. Mai 1879 und das Gesetz vom 24. Mai 1880 betreffend den Wucher.Durch das letztere Gesetz ist dem Richter, freilich unter mannigfachen Cautelen, ein sehrweitgehendes Ermessen in Ansehung der Beurtheilung des Thatbestandes eines Delicteseingeräumt. Möglicher Weise könnte es in gewissem Sinne der Ausgangspunkt für weite-re unbestimmte, dem Richter moralische Erwägungen in grossem Umfange zumuthendeGesetze werden, welche mit einer staatasocialistischen Richtung allerdings harmonirenwürden.§. 69. Es erübrigt noch, einen Blick zu werfen auf die Geschichte der Wissenschaft des

Strafrechts in diesem Jahrhundert.Der durch Feuerbach und Grolmann angeregte Streit der Strafrechtstheorien hat seit

dieser Anregung nicht geruht und einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung selbstdes positiven Rechts geübt. Aber neben der philosophischen Richtung machte sich bald

342Abgesehen von der neuen Strafbestimmung des §. 213 sind durch die Concursordnung — soweit esdie factischen Voraussetzungen zulassen — die Strafbestimmungen, welche das Strafgesetzbuch nurfür den Concurs von Kaufleuten aufstellte, auch auf den Concurs von Nichtkaufleuten für anwendbarerklärt.

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G. E. Das Strafrecht seit der Reception des römischen Rechts

auch eine historische geltend, welche einerseits auf den durch Hugo und Savigny wie-der erweckten römischen, andererseits auf den durch Eichhorn und Grimm angeregtengermanistischen Forschungen ruhte. Dieser mehr historischen Richtung gehören an diewichtigen Arbeiten von Wilda, Heffter, v. Wächter, Zachariä, Osenbrüggen und Ande-ren, aber auch von Köstlin,343 obwohl dieser letztere Schriftsteller auch durch Arbeitenphilosophisch-psychologischer Art die Wissenschaft gefördert hat.344 Zugleich aber fingdie Wissenschaft345 des Strafrechts an, der selbstverständlich zu beachtenden nationalenVerschiedenheiten ungeachtet, insofern sie auf allgemein menschliche und psychologischeErwägungen sich gründet, ein Gemeingut der civilisirten Nationen zu werden, und umdie vergleichende Jurisprudenz, wie um die Wissenschaft des Gefängnisswesens, welchebesonders der sog. Besserungstheorie mannigfache Anregung verdankt, hat sich nament-lich durch zahllose Aufsätze und kleinere Schriften der unermüdliche Mittermaier (+1867) ein stets unerschrockener Vorkämpfer für Freiheit und Humanität, bleibendes

Seite 198Verdienst erworben. Die Verbesserung des Gefängnisswesens346 erhielt seit den zwanzi-ger Jahren neue Anregung — freilich bleibt gerade hier noch Vieles zu wünschen übrig— und seit dieser Zeit datiren auch in Deutschland Vereine zur Verbesserung des Loosesentlassener Sträflinge. 347 Indess ist die Resolution des norddeutschen Reichstags vom4. März 1870, welche den Wunsch nach bundesgesetzlicher Regelung der Freiheitsstrafenaussprach, bis jetzt noch unerledigt geblieben.348Seite 199

343Von Wächter und Heffter besitzen wir auch wichtige Lehrbücher des gemeinen Rechts, von denen dasletztere eine grössere Anzahl von Auflagen erlebt hat. Das Wächter’sche, 1825 und 1826 in 2 Bändenerschienene Lehrbuch des römisch-deutschen Strafrechts zeichnet sich aus durch sehr vollständigeLiteraturangaben und ist deshalb auch gegenwärtig noch werthvoll. Das Köstlin’sche System desdeutschen Strafrechts, 1855, ist nicht vollendet. Der erschienene erste Band umfasst den allgemeinenTheil.

344Vgl. namentlich Köstlin’s „Neue Revision der Grundbegriffe des Criminalrechts, 1845".345Die Arbeiten jetzt noch lebender Autoren sind nicht genannt.346Vgl. für die erste Zeit der ernstlichen Wiederaufnahme der Reformbestrebungen Julius: Vorlesungen

über die Gefängnisskunde, Berlin 1828.347Vgl. übrigens auch unten die Lehre von den Freiheitsstrafen.3481845 wurde das erste deutsche Zellengefängniss zu Bruchsal erbaut, 1849 folgte der Bau des Zellenge-

fängnisses zu Moabit bei Berlin.

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H. II. Geschichte der StrafrechtstheorienSeite 201

Henke: Handbuch des Criminalrechts und der Criminalpolitik I. (1823) S. 52—129.— Bauer: Die Warnungstheorie nebst einer Darstellung und Beurtheilung sämmtlicherStrafrechtstheorien, 1830. — *Hepp: Ueber die Gerechtigkeits- und Nutzungstheoriendes Auslandes und den Werth einer Philosophie des Strafrechts, 1834. — *Hepp: Dar-stellung und Beurtheilung der deutschen Strafrechtssysteme, 2 Abtheilungen (2. Aufl.),1843, 1844. — A. Freytag: Die Concessionalgerechtigkeitstheorie des Strafrechts nebsteiner kurzen Darstellung und Beurtheilung der übrigen neueren Theorien des Strafrechts,1846. — Köstlin: Neue Revision der Grundbegriffe des Criminalrechts, 1845, S. 764—850.— A. Franck: Philosophie du droit pénal, 1864. — Röder: Die herrschenden Grundlehrenvon Verbrechen und Strafen in ihren inneren Widersprüchen, 1867. — *Heinze in v. Holt-zendorff’s Handbuch des deutschen Strafrechts I. (1871) S. 239—344. — *Laistner: DasRecht in der Strafe, 1872. — Wharton: Philosophy of criminal law (Allgemeiner Theildes Strafrechts) aus der 8. Aufl. des „Criminal law of the United States"des Verfassers,Philadelphia, S. 1-29.(Die mit * vorbezeichneten Werke enthalten die vollständigeren Gesammtdarstellun-

gen 1.) (Hepp berücksichtigt mehr die Juristen, Laistner mehr die Philosophen.)1Man theilt die Strafrechtstheorien gewöhnlich ein in absolute und relative. Die ersteren deduciren dieStrafe als eine in dem Wesen des Verbrechens liegende, daher nothwendige Folge des Verbrechens;die letzteren suchen die Strafe zu rechtfertigen, indem sie eine Wirkung derselben nachweisen, welcheeinem aus anderen Gründen unumgänglich anzustrebenden Zwecke entspricht, und da dieser Zwecknur gefunden werden kann in den Bedingungen des Zusammenlebens der Menschen, so erscheint dieStrafe nach Massgabe der relativen Theorien erst mit dem Staate, welcher diese Bedingungen regelt,gegeben, während die absoluten Theorien die Strafe auch ohne den Staat als möglich erachten unddieselbe erst aus Zweckmässigkeitsgründen auf den Staat übertragen. Die sog. Coalitionstheorienversuchen verschiedene Strafrechtstheorien, insbesondere auch absolute und relative Begründung derStrafe mit einander zu verbinden. Eine Vereinigung speciell dieser letzteren Art ist in verschiedenerWeise denkbar, so z. B. dass man die Strafe an sich absolut begründet, dann aber die Ausübungnach Zweckmässigkeitsgründen modificirt oder beschränkt, oder so, dass der Nachweis unternommenwird, die absolute Begründung des Strafrechts stehe einer Berücksichtigung bestimmter (Wohl-) Zwe-cke nicht entgegen, schliesse diese vielmehr in sich. Weniger durchgreifend sind die Kategorien derRechts- und andererseits Nützliehkeits-(Interessen-)Theorien, je nachdem die betreffenden Theorieneinen besonderen Rechtsgrund für den strafenden Staat (z. B. Annahme einer vertragsmässigen Un-terwerfung des Verbrechens unter die Strafe, Rechtlosigkeit des Verbrechers in Folge des begangenenVerbrechens) aufstellen oder sich lediglich an einem Grunde des Nutzens oder der empirischen Unent-behrlichkeit der Sache genügen lassen, die Vertrags- (Vergütungsoder)Erstattungstheorien, welche dieStrafe gründen auf die erforderliche Erstattung oder Wiederaufhebung eines durch das Verbrechenverursachten intellectuellen (socialen) Schadens u. s. w. Heinze (S. 243) will in die Eintheilung derabsoluten und der relativen Theorien noch das Mittelglied der Rechtstheorien eingeschoben wissen,d. h. derjenigen absoluten Theorien, welche, ohne die Strafe als den Ausdruck absoluter Nothwendig-keit zu betrachten, doch den Rechtsgrund der Strafe lediglich in dem begangenen Verbrechen finden,welche also die Strafe zwar als absolutes Recht, nicht aber als absolute Pflicht des Staates behandeln,

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H. II. Geschichte der Strafrechtstheorien

Vgl. auch P. Janet: Histoire de la philosophie morale et politique. 2 Vols., Paris 1868.

also als Befugniss, von der möglicher Weise auch Gebrauch nicht gemacht werden könnte. Indeesdürfte es schwer halten, diese Mittelkategorie bestimmt zu begrenzen, und so hat denn auch bereitsLaistner, S. 180, sich gegen dieselbe erklärt. Mehr detaillirte schematische Uebersichten finden sichbei Bauer: Abhandlungen aus dem Strafrechte und Strafprocesse I., 1840, S. 28ff.; Hepp I. S. XIVff. Sie leiden wohl an dem Mangel, dass die einzelnen wirklich aufgestellten Theorien nur zum Theiloder nur gezwungen unter diese Eintheilungsgründe sich bringen lassen.

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I. A. Das griechische und römischeAltethum

Seite 202§. 70. Kein Zweifel kann darüber bestehen, dass die Staatsordnung, überhaupt diemenschliche Gesellschaft, für unübersehbare Zeiten der Strafjustiz nothwendig bedarf.Aber so überflüssig hiernach die Frage nach dem Rechte zu strafen erscheinen möchte,immer wieder drängt sich die Frage auf, wie ist es möglich, dass die öffentliche Zwangs-moral — und als solche wird man schliesslich doch das Recht betrachten müssen — eineVerletzung des Uebelthuenden fordern kann, während in der Privat-

Seite 203moral das „Liebet Eure Feinde", „Thut wohl Denen, die Euch hassen", „Bittet für Die,so Euch beleidigenßwar gewiss nicht immer factisch, wohl aber theoretisch in unbe-strittener Geltung steht? Und selbst der rein praktische Kopf, den solche Zweifel nichtdrücken, wird doch zu Zeiten an die Frage erinnert, oh denn der Staat, indem er die-se oder jene Handlung straft oder nicht straft, indem er die Gesetzgebung nach dieseroder jener Richtung hin verändert, auf dem rechten Wege sich befindet, ob wir in demRichtschwert oder dem Fallbeil nur den Ueberrest vergangener Barbarei, langdauern-der Verirrung oder das unveräusserliche, höchste Recht menschlicher oder gar göttlicherGerechtigkeit zu erblicken haben.Gerade diese eminent praktischen, wenigstens für die Gesetzgebung eminent prakti-

schen Fragen, deren Beantwortung indirect auch Schatten und Licht wirft auf die rich-terliche Praxis — hat z. B. die Praxis zu gewissen Zeiten innerhalb der gesetzlichenStrafgrenzen das Recht des Exempelstatuirens oder nicht? — die Fragen: „1) welcheHandlungen, soll der Staat mit Strafe belegen? 2) welche Strafmittel soll er anwendenund 3) nach welchen Rücksichten soll er die Strafen abstufen?ßind aber — abgesehenvon haltloser Routine und einfacher Befolgung der Tradition — nicht zu beantworten,wenn nicht der Grund des Strafrechts selbst festgestellt ist: denn nach dem Grunde mussUmfang und Gestaltung des Strafrechts sich bestimmen.§. 71 Wie nun aber der rein praktische Sinn vieler Einzelner noch heut zu Tage an

den vielen und mannigfachen, mindestens scheinbaren Widersprüchen der Strafjustizkeinen Anstoss nimmt, so ist es im Anfang der geschichtlichen Entwicklung auch derFall mit Denjenigen, welche zuerst über Eindruck und die Bedeutung der Strafe reflec-tiren. Sie geben einfach wieder (reflectiren) die Wirkung der Strafe nach der einen oderanderen Richtung oder nach mehreren verschiedenen Richtungen. Befriedigung an derharmonisch erscheinenden Vergeltung, 1 Reinigung des Landes von der Uebelthat und

1Die Pythagoräer stellten das XXX als Princip des Strafrechts auf. Vgl. Laistner S. 8: „Leidet er, waser gethan, so ist es der geradeste Rechtsweg"XXXXXXX. Arist. Eth. Hicom. V. 5, 3. Vgl. HermannS. 6.

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I. A. Das griechische und römische Altethum

von dem Verbrecher, Sühne des Zornes der Götter,2 also Standpunkt der göttlichen Ge-rechtigkeit, Besserung des Verbrechers, Abschreckung Anderer erscheinen da in buntemWechsel, ohne dass die feindlichen Consequenzen so widersprechender Principien zumBewusstsein gelangen.

Seite 204In Wahrheit geht die erste vollständigere Erforschung, die den Namen eines wissen-schaftlichen Versuchs verdient, aus von den Sophisten. Protogoras3 gab bestimmt denStandpunkt der Vergeltung auf. Wer auf vernünftige Weise zu strafen begehrt, sagt erbei Plato,4 züchtigt nicht des vergangenen Unrechts wegen — lässt doch das Begangenesich ungeschehen nicht machen — sondern um der Zukunft willen, damit weder der Be-strafte wieder unrecht handle noch ein Anderer, der ihn bestraft sieht. Besserung undAbschreckung sind die Ziele der Strafe. Und ihre Berechtigung erhält die Strafe dadurch,dass Wer das Gefühl für Recht und Unrecht sich anzueignen nicht vermag, als Krank-heit (krankes Glied) des Staates (vöaog nultwg) dem Tode verfallen sei. Man macht mitjeder Strafe nur den Versuch, ob man den Verbrecher nicht bessern kann; Gesetz undOrdnung, zu deren Aufrechterhaltung die Strafe dient, aber müssen gelten, weil ohne sieein Zusammenleben der Menschen unmöglich ist. Nur noch oberflächlich wird der Zu-sammenhang mit dem alten Volksglauben festgehalten, indem das Gefühl für Recht undUnrecht als eine von Zeus gegebene Anlage, das Gesetz, nach welchen das unheilbareGlied des Staates dem Tode verfallen sein soll, als von Zeus verordnet bezeichnet wird.Diesen Verbindungsfaden zerschneidet die spätere Sophistik. In Consequenz des Grund-

gedankens der Sophistik „Aller Dinge Maass ist der Mensch"5 und zwar nun nicht derMensch nach einer etwa vorausgesetzten ewig gleichbleibenden Anlage, sondern derMensch nach seinen wechselnden Anschauungen und Bedürfnissen, erscheinen die Ge-setze als künstliche Massregeln der Convenienz und der Berechnung, wie Kritias meinte,um die Schwachen gegen die Starken und mehr Vermögenden zu schützen, und indemdas Strafgesetz auf eine Linie der Wirksamkeit gesetzt wird mit dem Glauben an all-mächtige und allwissende Götter, welcher vorhanden sei, um neben dem offenbaren auchdas geheime Unrecht zu verhindern, wird der Nachdruck, ähnlich wie es in der Neuzeitvon Feuerbach geschehen ist, zunächst nicht gelegt auf die Vollziehung, sondern auf dieAndrohung der Strafe.§. 72. Die Philosophie des Sokrates steht mit der Sophistik insofern auf demselben

Boden, als sie die Ethik ebenfalls auf den Nutzen gründet; führt doch Sokrates mitVorliebe den Satz aus, dass der Tugendhafte aus seiner Tugend schliesslich selbst denmeisten Nutzen habe, und untersucht er doch in zweifelhaften Fällen, welche Maxime

Seite 205des Handelns den meisten Nutzen gewähre. Aber dieser Hinweis auf den Nutzen dientnur als Beweis a posteriori für eine vorausgesetzte göttliche Ordnung der Dinge, undin Plato’s Philosophie, welche das Bild göttlicher Ordnung unmittelbar als wirkliches

2Vgl. die Stellen aus griechischen Schriftstellern bei C. F. Hermann: Ueber Grundsätze und Anwendungdes Strafrechts im griechischen Alterthume, 1855, S. 10, 27, 28.

3Lehrte etwa 480 v. Chr.4Vgl. Plato’s Protagoras 324 (Plato’s Werke übers, von Füller, I. S. 451).5Vgl. Z e l l e r : Geschichte der griechischen Philosophie, I. S. 921.

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und fertiges voraussetzt und die empirische Erscheinung der einzelnen Dinge nur alsunvollkommene Nachbildung jener betrachtet, tritt diese göttliche Ordnung wieder andie erste Stelle. Ganz von selbst fügen dann dieser göttlichen Ordnung als einzelne Zügesich diejenigen Einrichtungen ein, welche der Philosoph als nothwendige und von Allenheilig gehaltene zu betrachten gewohnt war, und so auch die Strafe. Sie wird der göttli-chen Ordnung entsprechend sofort in idealer, vollkommener Weise gedacht und in dieserGestalt stört sie denn begreiflicher Weise auch nicht die Harmonie der Welt, sondernstellt vielmehr die durch das Verbrechen gestörte Harmonie wieder her nach Aussen undnach Innen, d. h. auch für den Verbrecher selbst. Der Verbrecher, indem er die Strafeauf sich nimmt, gewährt der Weltordnung die XXX und empfängt sie zugleich zurück.6Er empfängt Gutes, da die Gerechtigkeit etwas Gutes ist: er wird innerlich gesund. Sowird der Richter verglichen mit dem Arzte, dessen Messer und Brenneisen man sichmit geschlossenen Augen und den Schmerz verbeissend überliefert; der Verbrecher aber,der die Strafe fürchtet, gleicht dem thörichten Knaben, der aus Furcht vor Messer undBrenneisen krank bleiben will.Freilich auf die im wirklichen Leben so wichtigen Einzelheiten geht Plato nicht ein.

Es kommt ihm nur darauf an, den göttlichen Hintergrund hinter den Dingen zu bewei-sen oder richtiger gesagt künstlerisch einleuchtend auszumalen. So weist er auch denaus dem wirklichen Leben entnommenen Einwurf, wie es denn mit einer grausamenHinrichtung stehe, mit den kurzen Worten zurück: „Du malst Schreckbilder, aber Duwiderlegst nicht."7 Nicht einmal die Präge der Todesstrafe wird genauer in Betracht ge-zogen. Nur gelegentlich wird die Todesstrafe mit anderen Strafen erwähnt, und aus derArt der Erwähnung geht hervor, dass der Philosoph es begreiflich findet, dass auch jenezur Herstellung der Harmonie der Weltordnung gehöre, verdient sein könne, und dasses vielmehr das Schlimmste sei, wenn Jemand, wie es bei ganz grossen Bösewichternder Fall sei, bei Tyrannen und gekrönten Bösewichtern überhaupt, in diesem Leben derverdienten Strafe, d. h. der Herstellung der Harmonie in diesem Leben entgehe. In Wahr-heit ist das, wie auch Laistner Anderen gegenüber sehr richtig ausführt, eine absoluteBegründung der Strafe, abgeleitet aus der

Seite 206mit unwiderstehlicher Macht in diesem oder im künftigen Leben sich vollziehenden Har-monie der Weltordnung. Die heilende, bessernde Wirkung der Strafe für das Individuum,welche nach einzelnen Stellen freilich im Vordergrunde erscheint, ist nicht der Grund derStrafe — wird es doch als möglich angesehen, dass das Individuum für ewig der Harmoniezum Opfer fallen könne — und wenn auch nicht übersehen wird die abschreckende, aufAndere sich erstreckende Wirkung der Strafe, so ist diese Abschreckung doch nicht einPrincip, aus welchem einem menschlichen Gesetzgeber Consequenzen zu ziehen verstat-tet wäre, vielmehr nur eine Seitenwirkung der Strafe, welche ebenfalls nach dem Gesetzeder Harmonie von selbst stattfindet, aber Gegenstand menschlicher Berechnung nichtist.8

6Gorgias 472 e.7Gorgias 473c. Müller I. S. 431.8Gorgias 525a, b.

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I. A. Das griechische und römische Altethum

Aus der Sphäre der allgemeinen Weltharmonie führt uns Plato’s Politikos und dieRepublik zu der Harmonie des Staates. Dieser gegenüber hat das Individuum ebensowenig wie der Weltharmonie gegenüber «ine selbständige Bedeutung. Stört es, so kannes beseitigt, vernichtet werden, und der Staat reinigt durch Tod und Verbannung sichvon Denjenigen, die sich nicht fügen. Im Ganzen indess waltet der Gesichtspunkt der Er-ziehung vor: das Individuum aber kann sich nicht beklagen; denn das Leiden als solchesist für Jeden als etwas Heilkräftiges selbst dann anzuerkennen, wenn es nicht verschuldetist. Es ist schliesslich auch hier wieder der Hinweis auf den transcendenten göttlichenHintergrund, der das Individuum trösten soll, wenn es dem Staate geopfert wird, undin den verschwimm enden Umrissen, in welchen die Strafe hier nur als ein äusserstes,im vollkommenen Staate eigentlich nicht gebrauchtes9 Auskunftsmittel erscheint, wirdfür den Philosophen der Widerspruch verhüllt, in welchen bei genauerer Ausführung dieVerwendung der Strafe zu blossen Wohlzwecken — und möglicher Weise selbst nur vor-übergehenden — mit der Idee der Harmonie und der durch diese hindurchschimmerndenIdee der Vergeltung gerathen müsste.In den Gesetzen endlich, dieser Concession, welche der alternde Plato der unvoll-

kommenen Welt der Erscheinungen macht, treten naturgemäss die Gesichtspunkte derSicherung und Abschreckung, da die Gesetze des hier vorausgesetzten Gemeinwesens diemenschliche Unvollkommenheit zur Basis der Berechnung nehmen, in den Vordergrund.Mit tiefem Blicke wird zwar erkannt, dass diejenige Gesetzgebung die beste sei, welcheauch durch die Strafe10 in dem Verbrecher selbst eine

Seite 207dem Rechte entsprechende Gesinnung zu erwecken verstehe, und so soll es mit Denen,welche verderbliche Glaubensgrundsätze über die Götter hegen und verbreiten, zunächstmit der Einsperrung in ein Besserungshaus (awqtpoi’toTriQwi’, vgl. S. 909) versucht wer-den. Aber wenn andere Strafen sich nutzlos erweisen, so rechtfertigen die Gesetze nachden Zwecken der Sicherung und Abschreckung auch die Todesstrafe als letztes Auskunfts-mittel mit dem später nicht selten von Anderen wiederholten Bemerken, dass es dem Un-verbesserlichen selbst besser sei zu sterben, als zu leben.11 Und von diesem Standpunktedes praktisch berechnenden Staates, welcher sich nicht anmassen darf, göttliche Gerech-tigkeit zu handhaben, erklärt es sich denn auch, wenn der Gesichtspunkt der Vergeltung,welcher in dem Idealstaate der Republik noch durchschimmert, in der Weltharmonie desGorgias aber die Strafe als Wohlthat erscheinen lässt, damit die gegen das Unrecht undden Unrechtthuenden schliesslich sich kehrende Wirkung des Unrechts selbst abgewen-

9Republ. III. 405 b.10Daneben werden (Legg. IX. 862) auch andere Mittel, z. B. Auszeichnung genannt: „Ob nun Jemand

durch Wort oder That. durch Erregung von Lust oder Schmerz, durch Auszeichnung oder Zurückset-zung oder auf irgend welche Weise den Schuldigen dahin bringe, die Ungerechtigkeit zu hassen unddas Wesen der Gerechtigkeit liebzugewinnen, oder wenigstens nicht zu hassen, das ist die Aufgabedes trefflichsten Gesetzgebers".

11Legg. IX. 862: „Bei Wem der Gesetzgeber inne wird, dass derselbe durchaus unheilbar ist, über Denlasse er Gericht und Gesetz walten, indem er einsieht, dass es für solche Menschen selbst nicht besserist, am Leben zu bleiben und dass sie wohl Anderen dadurch einen doppelten Nutzen schaffen, dasssie vom Leben scheiden, indem sie sowohl ihnen ein vor Unrecht schützendes Beispiel geben, als auchden Staat von schlechten Menschen befreien".

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det werde,12 in den Gesetzen ausdrücklich verworfen wird.13 Der empirisch rechnendeStaat hat kein Recht der Vergeltung, sondern nur das Recht, vernünftige Zwecke für dieZukunft zu verfolgen, und das Geschehene lässt sich nicht ungeschehen machen.So schliesst die Strafrechtsphilosophie Plato’s mit offenkundigem Widerspruche. Wäh-

rend wir oben eine absolute Begründung der Strafe glaubten finden zu müssen, könnenwir, was den Dialog von den Gesetzen betrifft, an der Verwerfung dieses Standpunktesnicht zweifeln. Doch ist dieser Widerspruch mehr scheinbar als wirklich. Der Staat derGesetze lediglich ist der Staat, wie ihn heut zu Tage der Jurist voraussetzt, der Staat,in welchem ein wohl berechnetes Gesetz einen Damm bilden soll gegen Leidenschaft undUnrecht. Der Idealstaat der Republik existirt empirisch nicht; ihm möchte Plato eineArt vergeltender Ge-

Seite 208rechtigkeit an Stelle der göttlichen vindiciren, nicht aber jenem empirischen Staate, undin der allgemeinen Harmonie der Welt ist jede Strafe entweder Vergeltung oder Wohl-that. Der Dualismus, auf welchem Plato’s Philosophie überhaupt beruht, macht sonachauch in der Auffassung der Strafe sich geltend. Es ist da nicht selten zweifelhaft, ob dieErörterung sich bewegt auf dem Boden empirischer Wirklichkeit, oder ob sie nur ein niezu erreichendes Ideal zur Basis hat. Die Frage, wie Ideal und Wirklichkeit zu einandersich verhalten, hat aber Plato überhaupt nicht gelöst, und so war von ihm von vorn-herein eine Vereinigung der relativen mit der absoluten Begründung der Strafe nicht zuerwarten.§. 73. Eigentümlich und im Alterthum fast isolirt stehend ist die Strafrechtstheorie

des Aristoteles.Während sonst die alte Philosophie ein selbständiges Recht des Einzelnen dem Staat

gegenüber nicht anerkennt, vielmehr den Einzelnen, wenn nöthig, ohne Bedenken undohne weitere Begründung der Harmonie des Ganzen unbedingt zum Opfer fallen lässt,betrachtet Aristoteles das Strafrecht nicht nur von der Seite des Strafe verhängendenStaates, sondern auch von der Seite des Verbrechers, der die Strafe zu leiden hat, oh-ne dass er die Strafe — womit Plato in seinen idealen Erörterungen sich hilft — ohneWeiteres als Wohlthat für den Verbrecher ansieht. Aristoteles unterscheidet somit dasStrafen dürfen und das Strafenmüssen. Das Erstere gründet er auf einen Vertrag, dender Verbrecher eingegangen sei. Der Verbrecher masst sich zu viel an, und da die Gerech-tigkeit darin besteht, dass Niemand zu viel und Niemand zu wenig habe, so schliesst derVerbrecher durch Begehung des Verbrechens einen unfreiwilligen Vertrag dahin ab, dassdas Zuviel bei ihm wieder ausgeglichen werde durch den Richter.14 Aber freilich wird dasZuviel bei ihm nicht gemessen nach dem Vortheile, den er erhalten hat, sondern nach derAnmassung, die er auf das Recht geübt hat, und so wird oft die Strafe grösser sein müs-sen, als die (äussere) Verletzung, welche das Verbrechen verursacht hat. Die Strafe wirdhiernach von Aristoteles nicht zurückgeführt auf die nach geometrischer Proportion ver-fahrende austheilende (distributive) Gerechtigkeit, sondern auf die nach arithmetischer12Die Stelle Legg. V. 728, welche die Gemeinschaft mit den Schlechten als die grösste Strafe bezeichnet,

ist nicht mit Laistner, S. 27, auf staatliche Strafe zu beziehen.13Legg. IX. 934: „oi yäg TO ytyovbs ayivtflav loica nori".14Eth. Nicom. V. 5 u. 7.

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I. A. Das griechische und römische Altethum

Proportion verfahrende ausgleichende Gerechtigkeit: mit anderen Worten, die Strafjustizist ihm nur ein Nebenzweig der Civiljustiz, welche es mit der Ausgleichung des Schadenszu thun hat. Der Schaden aber wird hier, wie insbesondere das von Aristoteles benutzeBeispiel der einer obrigkeitlichen Person zugefügten Injurie15 zeigt, zugleich

Seite 209im Sinne eines idealen Schadens genommen, und wenn die Frage, wie denn gerade derStaat das Strafrecht überkommen, auch von Aristoteles nicht direct beantwortet wird, soersehen wir doch aus der Behandlung des Selbstmordes, dass Aristoteles den Schaden,welchen der Einzelne erleidet, zugleich als Schaden des Gemeinwesens betrachtet unddaraus gerade die Berechtigung des Staates zur Strafe abzuleiten geneigt sein musste.Mit dem Strafen dürfen ist aber für Aristoteles die Frage des Strafenmüssens noch nicht

erledigt, und von dieser Seite betrachtet, gewinnt die Strafe bei ihm eine ganz andereBedeutung. Hier hat sie bei Aristoteles wie bei Plato die Bedeutung einer Heilung desSchuldigen,16 und so scharf wird diese Bedeutung von ihm accentuirt, dass nach seinerAnsicht Rache der eigenen Befriedigung des Rächenden wegen, Strafe zum Besten desBestraften stattfindet.17 Gleichwohl wird dieser Gedanke nicht consecquent festgehal-ten. Er verbindet sich mit der Idee der Abschreckung. Die Strafe wendet sich gegen denbei der Menge vorherrschenden Trieb des Egoismus auf Kosten Anderer (avfytjig) undsetzt dem Verlangen nach Lust das Bild der Unlust, der Trauer entgegen.18 Nicht deut-lich tritt dabei hervor, ob, was ja mit der Besserung vereinbar, nur die Abschreckungdes Bestraften selbst, oder was mit jenem Zwecke, in den Consequenzen wenigstens,unvereinbar ist, auch die Abschreckung Anderer gemeint ist. Die Ausstossung der Un-verbesserlichen, als äusserste Massrege], wird direct nur als eine von Anderen gebilligteMeinung vorgetragen, über welche Aristoteles selbst sich nicht äussert.19

§. 74. Ohne Zweifel hat Aristoteles das Strafrechtsproblem tiefer erfasst, als irgendeiner der Philosophen des Alterthums, und der Einsicht, dass die Strafe durch den Wil-len des zu Strafenden selbst über diesen kommen müsse, einer Einsicht, welche freilichnur höchst unvollkommen in der Theorie des unfreiwilligen Vertrages gestaltet ist, ver-danken wir die noch heut zu Tage beachtenswerthe Theorie der Zurechnung, welche inder Nikomachischen Ethik (V. 8) sich findet. Aber Aristoteles ist hierin im Alterthumohne Nachfolger geblieben, und die Art, in welcher er das Problem zu lösen unternimmt,erscheint auch erkünstelt und unbefriedigend. Eine unbefangene Ansicht wird Strafe (indem gewöhnlichen Sinne) und Lohn als Correlate auffassen und beide Begriffe gleich-mässig auf die vertheilende, nicht auf die ausgleichende, das Privatrecht beherrschendeGerechtigkeit zurückführen.

Seite 210Die Hauptsache aber war, dass mit dem Zerfalle des griechischen Staatswesens die grie-chische Philosophie sich mehr und mehr von der Betrachtung der Staatsordnung abwen-dete und das Princip der Ethik in dem Individuum und dessen Selbstgenügsamkeit, sei15Eth. Nicom. V. 5 §. 1.16Eth. Nicom. II. 3 §. 1.17Rhet. I. 10.18Eth. Nicom. X. 9 §§. 3, 8, 9.19Eth. Nicom. X. 9 §. 9.

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es in der Weise der Epikuräer, in der ungestörten Ruhe und Heiterkeit des Gemüthes,sei es in der Weise der Stoiker, in der isolirten schroffen Tugend der Weisen fand. Derstoischen Philosophie konnte Strafe und Strafrecht nur ein Nebensächliches sein, das zuergründen nicht der Mühe verlohnte. Die Schlechten werden einfach dem Laufe der Welt,wie er nun einmal ist, überlassen. Der Gesetzgeber, indem er (willkürliche) Strafen gegensie ansetzt, fügt ihnen kein Unrecht zu; genau betrachtet, behandelt er sie noch immerzu milde, nie napu xiugt’uv, und dem Uebelthäter gegenüber ist Mitleid nur Schwäche.In Wahrheit beruht das auf der Idee der Nichtigkeit alles Bösen, d. h. hier der Ver-nichtungswürdigkeit des Bösen, und mit dem Bösen wird der Urheber desselben ohneWeiteres in der Art identificirt, dass ein absoluter Gegensatz der Schlechten und derGuten angenommen, die erziehende Kraft der Strafe, welche Protagoras an dem Gra-debiegen des krummen Holzes demonstrirt hatte, mit der Bemerkung abgewiesen wird,zwischen dem Graden und Ungraden, zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit gebees kein Mittleres, folglich auch keinen Uebergang.20

Wenn nach dem Stoicismus Verbrechen und Strafen dem Laufe der Welt überlassenwerden, weil der strenge, absolute Standpunkt die Vernichtungswürdigkeit des Schul-digen ohne Weiteres folgert, so überlässt der Epikuräismus die gesammte Staats- undRechtsordnung principiell der Convenienz und den Nützlichkeitsmaximen. Konnte demEpikuräismus Schuld gegeben werden, er betrachte nicht das Verbrechen, sondern dasBestraftwerden21 oder die Furcht vor den Folgen des Verbrechens als ein Uebel, so scheintes sich von selbst zu verstehen, dass die Strafe in der Hand des Gesetzgebers nur einMittel der Zucht oder Abschreckung oder allenfalls der Besserung sein kann, um denMenschen für den Zweck des Gesetzgebers dienstbar zu machen. Eine Begründung derStrafe, welche diese auch vom Standpunkte des Bestraften aus als gerecht erscheinenlässt, ist nach dieser Auffassung unnöthig-. Eigentlich ist es nur eine Art von Unglück,bestraft zu werden: kann doch gegen den Straffälligen nur gesagt werden, dass er mitdem Rechte zufällig in seinen Anschauungen und Neigungen nicht in Uebereinstimmungsich

Seite 211befinde, oder dass er nicht klug genug sei, das Uebel, das aus seiner That folgt, zu meiden.Die skeptische Philosophie (die Schule des Pyrrhon) setzt sodann, indem sie auf jede

Erklärung verzichtet, an die Stelle des Conventionellen das positiv Bestehende und dieAutorität. Eine theoretische Gewissheit ist ihr unmöglich; da aber das praktische Lebeneine Richtschnur nicht entbehren kann, so wird als solche einfach das Bestehende undUeberlieferte anerkannt.Die römische Philosophie, die es überhaupt zu einem eigenartigen Systeme nicht ge-

bracht hat, steht wesentlich auf stoischer Grundlage; aber wie es ihrem auch sonst so viel-fach hervortretenden Eklekticismus und einem ihr zuzuerkennenden praktischen Tacteentspricht, mildert sie die schroffen Consequenzen des Stoicismus durch die allgemeinenHumanitätsideen, welche damals dem Christenthume den Boden ebneten. So ist Cicero22

20Vgl. die Zusammenstellung der Stellen aus den Schriften der Stoiker bei Laistner S. 34ff.21„To yaq xletf/ai oiide ahö b ’ETICXOVQO; cino(f(th’li xaxov, äkia rö »". Epikt. diss. III. 7,12. Vgl.

Hildenbrand: Geschichte u. System der Rechts- und Staatsphilosophie I. (1860) S. 516.22De off, I. 25 (89).

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I. A. Das griechische und römische Altethum

besorgt, dass die Strafe das richtige Strafmass nicht überschreite; so soll nach ihm dieStrafe nur Wenige treffen, aber die Furcht Alle im Zaum halten,23 und Seneca 24 wieder-holt mit Vorliebe die Worte Plato’s über die heilende Kraft der Strafe und rechtfertigtebenso mit rhetorischem Pathos die Todesstrafe als eine Wohlthat, welche äusserstenFalles dem Verbrecher selbst erzeigt. werden müsse, und während bei den römischen Ju-risten die Zwecke der Abschreckung, der Sicherung vor dem einzelnen Verbrecher, aberauch zuweilen die Vergeltung ohne weitere Consequenz nur zur Rechtfertigung einzelnerunmittelbar praktischer Bemerkungen und Entscheidungen herangezogen werden, klingtes fast christlich, wenn nach Epiktet der Weise selbst

Seite 212den grössten Verbrecher nur als einen Unglücklichen und Verblendeten zu betrachtenhat, dem man nicht zürnen dürfe, und wenn er von Jedem fordert, dass er an der Besse-rung Anderer mitarbeite. Und wenn man aus anderweiten Aeusserungen des verehrungs-würdigen Philosophen auf dem römischen Kaiserthrone, des Marc Aurel, des SchülersEpiktet’s, einen Schluss ziehen darf, so kann auch er, der die Strauchelnden und Feind-seligen zu lieben und ihrer sich anzunehmen für ein Gebot der Moral erachtete,25 dieeigentliche Idee der Strafe nur als die der Besserung des Schuldigen angesehen haben.Tiefer als diese letzten Ausläufer der stoischen Schule, welche trotz vieler bestechen-

der Aeusserungen doch selbst auf dem Gebiete der Ethik mehr nur einem oberflächlichenDenken huldigen, fasst dann im Alterthum noch einmal ein Vertreter des Neuplatonismusdas Problem der Strafe an. Aus der subjectiven Richtung des Stoicismus heraus suchteder Neuplatonismus wieder eine Verbindung mit der objectiven allgemeinen IdeenweltPlato’s, und so werden auch theilweise Plato’s Ansichten über die Strafe reproducirt.Hierokles 26 erklärt die Strafe daraus, dass das Gesetz, welches nicht wolle, dass Bösesgeschehe, sich durch jene aufrecht erhalte: die Guten dürfen nicht fühllos werden gegen-über der Uebertretung des Gesetzes, und im Verbrecher selbst muss die Achtung desGesetzes wieder hergestellt werden. In dieser Hinsicht richtet sich die Strafe gegen dieThat; die Person des Thäters erscheint da gleichgiltig, wie Hierokles bemerkt, um dieGottheit vor dem Vorwurfe zu bewahren, dass sie die Strafe auf den Einzelnen bringe,andererseits aber um die menschliche Freiheit zu retten, ohne doch zu einem der Wahr-heit widersprechenden Strafvertrage des Verbrechers seine Zuflucht zu nehmen. Aber wie23Pro Cluentio c. 46 (128): „Statuerunt enim majores nostri . . . uf metus videlicet ad omnes, poena ad

paueos perveniret". Vgl. auch De off. I. 11 (33): „Atque haud scio an satis sit, eum qui lacessierit,injuriae suae poenitere, ut et ipse ne quid tale posthac (faciat), et ceteri sint ad injuriam tardiores".

24De Clement. I. 21. De ira I. 5, 14—16, II. 31. Vgl. Ulpian in L. 6 §.1 D. de poenis 48, 19: „ . . . utexemplo deterriti minus delinquant"; L. 16 §. 10 (Saturninus): „Nonnumquam evenit, ut aliquorummaleficiorum supplicia exacerbentur, quoties nimium multis personis grassantibus exemplo opus est".— L. 20 D. de poenis: „Si poena alicui irrogatur, receptum est commenticio jure, ne ad heredestranseat. Cujus rei illa ratio videtur, quod poena constituitur in emendationem honinum quae mortuoeo, in quem conatitui videtur, desinit". Vgl. noch L. 6 §. i. f. de custod. reor. 48, 3; L. 9 §. 3 D. deoff. proc. 1,16; L. 1 §. 1 D. de J. et J.; L. 131 D. de V. S.: „ . . Poena est noxae vindicta". — Vgl.auch z. B. L. 55 C. de episc. 1, 3; Nov. 12 c. 1; s. Heinze in v. Holtzendorff’s Handbuch I. S. 247, 248und besonders Abegg: Die verschiedenen Strafrechtstheorien, S. 78 ff.

25Vgl. Zeller III. 1 S. 683.26Vgl. über Hierokles namentlich Laistner S. 45ff. Bezeichnend sind für Hierokles die Stellen des Com-

mentars zum goldenen Gedichte der Pythagoräer v. 8, 14, 15, 18ff., ed. Mullach p. 74, 75.

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kommt nun doch die Strafe dazu, sich an die Person des Thäters zu halten und geradeihm das Uebel aufzuerlegen? Nach menschlichen Begriffen, meint Hierokles, erscheine esals etwas Zufälliges; aber der Verbrecher erfülle doch die Bedingung des Gesetzes, unddie Absicht der Gottheit könne wohl keine andere sein, als den Verbrecher zu besserndurch ein Leiden, welches nicht seinem Wesen nach ein Leiden ist, sondern schliesslichals ein Gutes sich herausstellt, indem es zu Gott zurückführt. Bestraft werden ist nachHierokles besser, ebenso wie nach Plato’s Ansicht, als straflos bleiben, und in dem Ver-brecher vollzieht sich nach überstandener Strafe eine Restitution. Nach überstandenerStrafe soll er so angesehen werden, als habe er eine gewisse mittlere Würdigkeit undTüchtigkeit wieder erreicht. Wenn

Seite 213Hierokles, da er der Gottheit nur den Zweck der Besserung glaubt zuschreiben zu dürfen,den freilich sonst bei Hervorhebung der Willensfreiheit im Neuplatonismus naheliegendenGedanken der Vergeltung zu verwerfen scheint, so kann man sagen, dass seine Theoriedaran scheitert, die Gerechtigkeit der Strafe vom menschlichen Standpunkte aus zu erwei-sen. Zur Zurückweisung der That, als einer nicht zu achtenden, hat auch die Menschheitein Recht, da sie dem Willen der Gottheit entsprechend leben und handeln muss; aberwie kommt es, dass sie sich hierbei an den Thäter halten kann? Die Berufung auf dasgöttliche Gesetz 27 ist doch, hier nur das Zugeständniss, dass der Philosoph die Wahrheit,die uns so nahe zu liegen scheint, nicht gefunden hat, und es klingt mystisch und gemahntan die modernen Soirées de St. Petersbourg des Grafen J. de Demaistre, wenn Hieroklesbemerkt, das sei das eigenthümlich Gute (der eigentliche Zweck) des Gesetzes, den Rich-ter, welcher die Strafe verhängt, zusammenzufahren mit dem Verbrecher; das klingt fast,wie Laistner richtig hervorhebt, als sei das Verbrechen etwas Wünschenswerthes, um dieMajestät des Gesetzes in der Opferung des Verbrechers zur Anschauung zu bringen. ImGrunde wird, ebenso wie bei Plato, das ganze Problem verschoben. Wenn der Philosophdavon ausgeht, dass die Strafe ihrem Wesen nach gar kein Uebel sein könne, sondernnur die innere Schlechtigkeit, so existirt ja das Problem, wie die bürgerliche Gesellschaftberechtigt sein könne, Jemandem in Gestalt einer Strafe ein Uebel zuzufügen, auch garnicht; so kommt es mit anderen Worten auf nichts Anderes heraus, als auf die von Platobereits vorgenommene Verwechselung des absolut göttlichen, mystischen Standpunktesmit dem menschlichen, uns begreifbaren und für uns allein praktischen Standpunkte.Alle diese theoretischen Ausführungen aber hatten auf die praktische Gestaltung des

Strafrechtes im Alterthume keinen Einfluss; höchstens dann mochten sie ihn haben, wennein Philosoph, wie Marc Aurel, Kaiser und Richter war: es wurden wohl dann eine AnzahlStrafurtheile gemildert. Noch war die Noth und Verwilderung der Zeit zu gross, als dassblosses Nachdenken hier hätte wirksam eingreifen können. Einen nachweisbaren Einflussübte nur, wie bereits oben in der Geschichte des Strafrechts selbst bemerkt wurde, dasChristenthum aus. Es bleibt indess noch zu untersuchen, wie das Christenthum sichtheoretisch zum Strafrecht stellte.

27„XXXX..."Mull ach p. 75.

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I. A. Das griechische und römische Altethum

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J. B. Die Srafrechtsphilosophie desMittelalters.

Seite 214§. 75. Die Christen waren anfangs eine meist nur geduldete, oft verfolgte Secte, welcheStaat und Rechtsordnung als ausserhalb ihrer Lehre stehende Institutionen betrachtete.Das erste Christenthum kennt nur eine christliche Moral, nicht ein christliches Recht.Das Recht ist unter Christen überflüssig; es geht auf in der Liebe;1 denn wenn Alle dieGebote der christlichen Liebe erfüllen, so wird weder der Eine den Angriff des Anderenbefürchten, noch Jener sein Recht gegen Diesen zwangsweise verfolgen. Und die christli-che Moral konnte in der Voraussetzung, dass ein zu grosses Mass der Selbstverleugnungdoch praktisch nur selten vorkommen werde, den Ausspruch thun: „So Dir Jemand einenStreich giebt auf Deinen rechten Backen, dann biete auch den anderen dar."2 Für denNichtchristen bestand ja der Staat mit seiner Ordnung; unter Christen sollte die LiebeAlles überwinden. Um den Staat kümmert sich die christliche Lehre, als Lehre eben einerzunächst unterdrückten Secte, nur insofern sie ihren Anhängern einschärft, mit den Ge-setzen des Staates sich nicht in Conflict zu bringen. „Gebet dem Kaiser, was des Kaisersist,ßagt in diesem Sinne Christus selbst, und in diesem und keinem anderen Sinne, je-denfalls nicht in dem Sinne, den bestehenden Einrichtungen dadurch auch eine religiöseSanction zu geben, sagt ebenfalls Christus: „Stecke Dein Schwert an seinen Ort; dennWer das Schwert nimmt, soll durch das Schwert umkommen."3 In einer Lehre, welcheden Satz aufstellte: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt"können diese Aussprüche nichtwohl anders gedeutet werden; es bedarf dazu gar nicht erst der Correctur durch eine ge-nauere Uebersetzung, obwohl letztere das Resultat nur bestätigt, um zu finden, dass.

Seite 215darin nicht eine Sanction der Todesstrafe enthalten sein kann.4 Auch in den bekanntenWorten des Apostel Paulus 5 (Röm. 13, T. 1—6), wird nicht gesagt, dass die staatlicheOrdnung, so wie sie sei, den Anforderungen der christlichen Lehre entspreche. Der Christhat nur die staatliche Ordnung, so wie sie ist, als göttliche Fügung anzuerkennen; er sollsich ihr nicht widersetzen, und namentlich nicht aus dem Grunde widersetzen, dass sieeine christliche zur Zeit nicht ist.Allerdings musste diese Auffassung von Recht und Staat sich ändern, als das Chris-

tenthum von der Stufe einer untergeordneten Secte zu der einer Staatsreligion erhobenwurde, und namentlich nachdem die Kirche die gewaltsame Verfolgung Andersgläubi-

1Vgl. Janet: Histoire I. S. 216.2Ev. Matth. 5 v. 39.3Ev. Matth. 26 v. 52.4Vgl. Hetzel: Die Todesstrafe in ihrer culturgeschichtlichen Entwicklung, 1870, S. 49 ff.5Jedermann sei Unterthan der Obrigkeit u. s. w.

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J. B. Die Srafrechtsphilosophie des Mittelalters.

ger anfangs duldete, nachher gar forderte. Es musste jetzt, da die christliche Moral denStaat selbst beherrschen sollte, auch der Weg gefunden werden, sie vereinbar zu erklärenmit dem grausamen Strafrechte des Staates, der grausamen Verfolgung der Ketzer, unddieser Weg bestand einfach darin, dass man dem Staate und der Rechtsordnung göttli-chen Ursprung zuschrieb und beides dadurch menschlichem Belieben und menschlicherEinwirkung scheinbar entzog.Nun war die Verantwortlichkeit für alle im Namen der Justiz begangenen Grausamkei-

ten dem Menschen abgenommen; es war nicht eigentlich mehr Aufgabe der menschlichenFassungskraft, zu ergründen, wie Staat und Recht als menschliche Schöpfungen mit derchristlichen Moral vereinbar sein möchten; es war vielmehr dieselbe Aufgabe, wie die,welche zu lösen war, wenn man Krieg, Pest und andere verderbenbringende Naturereig-nisse mit der unendlichen Güte Gottes vereinigen wollte.§. 76. So verhehlt sich Thomas Aquinas, den man mit Recht als den Mittelpunkt der

mittelalterlichen Philosophie betrachten darf, nicht, dass die menschliche Strafe überdie (in Wahrheit der christlichen Moral allein entsprechende) Medicina des Verbrechershinausgehe. Aber er beruhigt sich mit der Erwägung, auch die von Gott verhängte ewigeVerdamniss verhalte sich nicht anders, und nach göttlichem Rathschlusse gelte der Satz:„Pestilente flagellato stultus sapientior fit",6 überhaupt aber sei die (von der Medicinaverschiedene) Vindicatio gerechtfertigt, insoweit sie die Coercitio majorum bezwecke.Daran, dass, wenn Abschreckung Zweck der Strafe ist, Grund der Strafe nicht sowohldie Schlechtigkeit des Fehlenden als vielmehr die Schlechtigkeit des Abzuschreckendenist, denkt Thomas Aquinas nicht, noch weniger daran, dass jener Satz, so unvermitteltaufgestellt, mit der göttlichen Gerechtig-

Seite 216keit schlecht harmoniren würde. Dass aber die bürgerliche Gerechtigkeit nur eine Nach-bildung der göttlichen sei, spricht er klar aus, wie das auch schon Augustin gethan hatte.7Doch übersieht der scharfe und tiefsinnige Denker einen Unterschied nicht, den Platounbemerkt gelassen hatte. Die Lex humana, die menschliche Vernunft, welche Theil hatan der göttlichen Vernunft, und welche die Aufgabe hat, die Lex aeterna, die allen We-sen von Gott eingepflanzte Neigung zu ihrem Endzwecke zu erforschen, und aus der Lexaeterna bestimmte Vorschriften abzuleiten, kann nicht alle und jede Sünde, wie es zwarder göttlichen Gerechtigkeit entspricht, strafen, „quia dum aufferre vellet omnia mala,sequeretur quod etiam multa bona tollerentur et impedirentur",8 in der That der ersteauf richtiger Basis unternommene Versuch, Recht und Moral zu unterscheiden, wenneben davon ausgegangen wird, dass die göttliche Gerechtigkeit das Gebiet der Moralerschöpfe. Mit dieser Erwägung wird zugleich die ganze Erörterung versetzt auf denBoden ulilitarischer Rücksichten, und es gewinnt den Anschein, als sei das Princip der

6Summa theolog. 2, 1 qu. 87 n. 3, 4. Spr. Salomo 19 v. 25.7S. theolog. II. 2 qu. 108 art. 3 n. 5: „Dicendum quod sicut Augustinus dicit judicium humanum debetimitari divinum judicium in manifestis Dei judiciis, quibus homines spiritualiter damnat pro propriopeccato. Occulta vero Dei judicia quibus temporaliter aliquos punit absque culpa (z. B. die Kinderfür die Sünden der Väter) non potest humanum judicium imitari, quia homo non potest comprenderehorum judiciorum rationem".

8L. theol. II. 1 qu. 90, 91, 95 a. 1.

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Vergeltung, welches neben den Zwecken der Medicina und der Coercitio malorum (derAbschreckung) als Nachbildung der göttlichen Gerechtigkeit betrachtet wird, völlig auf-gegeben. Allein wir dürfen nicht vergessen, dass es das Wesen dieser mittelalterlichenPhilosophie ist, den Autoritätsglauben neben der freien Erörterung beizubehalten, undso wird denn von Thomas von Aquino darauf hingewiesen, dass die Lex humana der Er-gänzung durch das göttliche (geoffenbarte) Gesetz bedürfe.9 Danach würde denn, wennz. B. das mosaische Recht auch als geoffenbartes Recht betrachtet wird, auch die Wie-dervergeltung im weitesten Sinne gerechtfertigt werden, auch wenn man davon absieht,dass der dem Aristoteles entlehnte, anderweit10 aufgestellte Satz: „Per poenam repara-tur aequalitas"gleichfalls auf die Vergeltung hinführt. Tiefer als manche Neuere aber hatder mittelalterliche Denker auch darin gesehen, dass er, obwohl, wie bemerkt, Recht undMoral unterscheidend, das Recht doch als eine beschränkte, modificirte Moral betrach-tet, und z. B. die Norm „Du sollst nicht tödten"nur als eine Consequenz des allgemeinenPrincips „Thue Niemandem Unrechtänsieht.11 Sind manche vielbesprochene moderne

Seite 217Untersuchungen, in denen erörtert wird, ob ein Strafgesetz, möglicher Weise ein Polizei-gesetz von der Verletzung dieser oder jener Norm handele, ob darin eine selbständigeoder nicht selbständige, zusammengesetzte oder nicht zusammengesetzte Norm aufge-stellt werde, nicht möglicher Weise scholastischer als diese einfache, Alles erschöpfendeBemerkung des grossen Scholastikers des Mittelalters?Wenn aber der grösste Philosoph des Mittelalters nur eine wenig umfangreiche, wenig

eingehende Erörterung der weltlichen Strafgewalt widmet, wenn er nur recht bescheideneZweifel an der Gerechtigkeit menschlicher Strafen andeutet, darf man sich da wundern,dass die übrige Philosophie des Mittelalters, die, abgesehen von dem reellen Streit überdas Verhältniss der geistlichen und der weltlichen Gewalt, gleichsam mit geschlossenenAugen an den schwersten socialen Uebelständen vorübergeht und in das unerquicklicheSpiel der Definitionen oder in den Mysticismus der Vereinigung des Menschen mit Gottsich verliert, auch für die Verirrungon der Strafjustiz, welche das Ende des Mittelaltersschänden, kein Gefühl besitzt und aus ihnen keine Anregung entnimmt, dem Problemder Strafrechtslehre nachzuforschen? Zwar hätte man, den Andeutungen des Doctor uni-versalis über die Lex humana bezüglich der Strafgewalt folgend, weiter kommen können;aber es geschah eben nicht, und so wenig die Vertreter der Weltherrschaft des Papstes,wie die Verfechter der Unabhängigkeit der weltlichen Gewalt, hatten ein Interesse dar-an, die Strafjustiz, wie sie nun einmal war, zu discutiren oder gar in Zweifel zu stellen;die ersteren befanden sich recht wohl bei der Strafjustiz, wie sie war, insofern diese dieKirche auf das kräftigste, wenigstens theoretisch, schützte, und Andersgläubige als Ver-brecher behandelte; die letzteren aber mussten, da sie die Unabhängigkeit der weltlichenGewalt eben auf unmittelbare göttliche Bestimmung gründeten, auch den unmittelbargöttlichen Ursprung der Strafgewalt, so wie sie war, behaupten 12 und hatten somit eben-

9L. c. art 4.10II. 2 qu. 108 art. 411L. c. qu. 91 art. 2, qu. 95 art. 2.12Dies tritt z. B. recht deutlich hervor bei Dante: De monarchia II. c. 13, wo in sonderbarer Weise

die Göttlichkeit der weltlichen Gewalt auch dadurch dargethan wird, dass Christus die Strafe der

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J. B. Die Srafrechtsphilosophie des Mittelalters.

falls keinen Grund zur Kritik und zur Forschung. Gelegentliche Bemerkungen über dieWirkungen der Strafe aber zusammenzustellen, hat kein Interesse, wenn jene eben nurin Wiederholungen aus Aristoteles, aus der Bibel oder aus dem Corpus juris bestehen.Man kann die Frage aufwerfen, ob nicht die Philosophie des Mittelalters, wenn die

Herrschaft des Papstes eine unbestrittene gewesen, wenn eine Verfolgung der Ketzereinicht nöthig gewesen wäre, auch schliesslich zu einer eingehenderen Prüfung der Grund-lagen des Strafrechts gelangt wäre. Die Wurzeln des Naturrechts verlieren sich ja bis

Seite 218tief in das Mittelalter hinein, und mit der bereits im Mittelalter auftauchenden Leh-re von der Volkssouveränetät,13 welche die Macht des Herrschers auf den Willen desVolkes zurückführt, hätte man auch zu einer Begründung des Strafrechts durch dendurch vernünftige Zwecke geleiteten menschlichen Willen gelangen können, und geradedie katholischen Rechtsphilosophen, namentlich Molina und Suarez14 argumentiren un-mittelbar nach der Reformation am freiesten über Staat und staatliche Ordnung. Aberdie Reformation griff hier, wie wir oben sahen, zunächst hemmend und zurückschrau-bend ein. Eine freiere Discussion konnte, wenn man von dem cynischen UtilitarismusMacchiavell’s 15 absieht, erst dann, dann aber auch wirklich nachhaltig, Boden gewin-nen, als man — freilich die Masse des Volks erst nach und nach — anfing einzusehen,dass die moderne Rechtsordnung weder von der Rechtgläubigkeit der Protestanten nochvon der der Katholiken auszugehen habe — und davon waren auch die Reformatorennoch ziemlich weit entfernt — dass vielmehr ein rechtliches und sittliches Zusammenle-ben auch ohne ausschliessliches bestimmtes Glaubensbekenntniss möglich sei, und diesmusste zunächst in der Praxis der Staaten zur Geltung kommen, welche als katholischeund protestantische neben einander zu bestehen und mit einander in Verkehr zu tretenhatten.Es ist daher keineswegs vollkommen zufällig, dass derjenige Schriftsteller, den man als

den Begründer des modernen Völkerrechtes zu betrachten gewohnt ist, auch die erstemoderne Strafrechtstheorie aufgestellt hat.

gesammten Menschheit durch die weltliche Gewalt auferlegt sei.13Vgl. Janet I. S. 403; Gierke: Johannes Althusius, S. 63, 64.14Vgl. Gierke S. 65.15Vgl. namentlich das 17. Cap. des Buches von Fürsten.

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K. C. Die Strafrechtstheorien der neuerenZeit

Seite 219§.77. Hugo Grotius kommt, indem er in freilich nicht zutreffen- der Weise das Rechtdes Krieges als ein Recht des beleidigten oder ver- letzten Staates auf Strafe auffasst,im 20. Capitel des II. Buchs des berühmten Werkes „De jure belli et pacisßu einerausführlichen Er- örterung über Grund, Umfang und Ausübung des Strafrechts und mitdem umfassenden und tiefblickenden Geiste, der ihn überhaupt auszeichnet, fasst er dasProblem sogleich in einer solchen Ausdehnung und Tiefe, dass seine Theorie, welche ingewissen Punkten selbst die geschichtliche Entwickelung zu erklären unternimmt, auflange Zeit hin von den Späteren, mögen diese auch Einzelheiten besser erfassen, doch imGrossen und Ganzen unerreicht blieb.Freilich ist es noch die Idee der Vergeltung, welche der Theorie des Grotius zum Grun-

de liegt, und diese Idee wird nicht weiter begründet, höchstens gesagt, sie widerstreitenicht der Billigkeit (Aequitas), welche dem Grotius als die eigentliche Substanz des posi-tiven Rechtes gilt, d. h. sie widerstreite nicht den Bedingungen, welche für das Verhaltender Menschen aus der Natur des Menschen und dem diesem innewohnen- den Triebedes Zusammenlebens (Appetitus socialis) zu folgern sind. Die Strafe ist Etwas, was un-mittelbar aus dem Wesen des Verbrechens folgt: „Crimen grave non potest non essepunibile"(II. 20, §. 2 n. 3). Aber diese Vergeltung, zu deren Aufstellung Grotius durchseine allerdings empirisch meist, und mehr noch als jetzt zu Hugo Grotius’ Zeit zutref-fende, oft wiederholte Definition der Strafe „Malum passionis quod infligitur ob malumactionis"(II. 20 §. 1) genöthigt war — während die Frage, ob denn die Strafe für den zuStrafenden nothwendig ein Uebel sein müsse, doch erst noch zu untersuchen war — wirdin einem anderen Sinne als dem bisherigen aufgefasst. Im Mittelalter und im Alterthumerschien sie als Pflicht und Recht; bei Grotius erscheint sie als eine

Seite 220Befugniss, und wie nun jedes Recht nach Grotius’ Behauptung1 nur nach vernünftigenZwecken auszuüben ist, so auch das Strafrecht.2 Desshalb, sagt Grotius, sei auch Ra-che nicht verwerflich, falls sie einen vernünftigen Zweck habe, z. B. den Zweck, für dieZukunft ähnliche Verletzungen, wie die empfangenen, zu verhüten. Ja in "Wahrheit er-kennt Grotius sehr richtig die Rache als die historische Wurzel des Strafrechts an. Erschreibt ursprünglich"3 das Recht Rache zu nehmen Jedem zu; nur aus Zweckmässig-

1So z. B. auch das Eigentumsrecht (II. 20 §. 5).2II. 20 §. 22 n. 1; „Naturaliter qui deliquit, in eo statu est, ut puniri licite possit; sed idco non sequitureum debere puniri".

3Daher könne unter ausserordentlichen Umständen das Strafrecht der Einzelnen auch heut zu Tagenoch Platz greifen. Vgl. II. 20 §. 9 n. 2.

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keitsgründen, namentlich weil die Rache leicht die vernünftigen Grenzen überschreite,sei das Strafrecht in die Hand des Richters (des Staates) gelangt.4Die Frage, welche Handlungen sollen bestraft werden, lässt ferner Grotius ebensowenig

unerörtert, wie die Frage nach den Strafmassen. In ersterer Beziehung geht er, da ihmRecht und Moral ihrem innersten Wesen nach identisch sind, von dem Satze aus, dassPeccatum und strafbare Handlung ihrem Wesen nach und abstrahirt von den Bedürfnis-sen einer concreten Rechtsordnung gleichfalls identisch seien, wie denn das griechischeAlterthum z. B. auch hier keine principielle Grenze kannte, die Unmässigkeit, den Ueber-muth (vßgig) als möglicher Weise strafbare Handlungen oder Gesinnungen betrachtete,und der Satz, dass die Strafe nur ein Recht, nicht aber eine Pflicht sei, gibt ihm hier dieMöglichkeit, den Kreis des Strafbaren gegenüber dem Kreise der Immoralität in richti-ger Weise zu verengern. Es sollen nicht bestraft werden Handlungen, die weder direktnoch indirekt die Gemeinschaft der Menschen berühren (deren schädliche Wirkungensich nicht auf Andere erstrecken), und da der Staat nicht strafen muss, sondern nur be-rechtigt ist zu strafen, so besteht nach Grotius auch die Möglichkeit, eine Strafe im Wegeder Gnade zu erlassen, und für diese Gnade können Utilitätsgründe auch als hinreichendanerkannt werden.Das Strafmass aber betreffend, so finden bei Grotius sich freilich erhebliche Schwan-

kungen und Ungleichheiten. Während er einerseits auf die Aristotelische Ausführungzurückgreift, welche die Strafe nicht der Justitia assignatrix, sondern der Justitia exple-trix zuweist,5 und

Seite 221während er danach die Strafe als eine (allerdings das einfache Mass über- steigen-de6) Ausgleichung eines Schadens betrachtet, lässt er an anderer Stelle, bei Erörterungder Nothwehr, den richtigen Gedanken durchblicken, dass eine Commensurabilität vonSchuld und Strafe (logisch) überhaupt nicht vorhanden sei, dass es vielmehr nur eineGewissenspflicht (Caritas7) der Gesetzgebung sei, in der Abwehr des Unrechts Mass zuhalten, und damit in Verbindung steht es wohl, wenn dem Gesetzgeber, obwohl nichtultra meritum gestraft werden kann (was heisst das?), bei Ausmessung der Strafe nach.Utilitätsgründen freie Hand gelassen wird.8Vom Standpunkte des Verbrechers aus aber wird die Strafe gerecht- fertigt durch

den Hinweis auf dessen eigenen Willen, auf freiwillige Unter- werfung: „qui deliquit suavoluntate se videtur obligasse poenae, quia crimen grave non potest esse non punibile, utqui directe vult peccare per consequentiam et poenam mereri voluerit". Gleichwohl wirddem Gesetze nicht, wie es später Feuerbach vom Standpunkt freiwilliger Unterwerfungaus that, eine hervorragende Bedeutung beigelegt. Es erscheint bei Grotius nicht als

4II. 20 §. 8 n. 4. Vgl. auch II. 20 §. 40 n. 1. Die Summa potestas im Staate hat das ausschliesslicheRecht zu strafen nicht seiner Natur nach: „subjectio aliis id jus abstulit".

5II. 20 §§. 2 ff. und dazu Hartenstein: Darstellung der Rechtsphilosophie des Hugo Grotius in Ab-handlungen d. Königl. Sachs. Gesellschaft der Wissenschaften, histor.-philosoph. Klasse 1850, 8. 529,530.

6„Nec enim aequum est, ut par sit periculum nocentis et innocentis", II. 20 §. 32 n. 2. Vgl. dazu Laistner,S. 64. Aus diesem Grunde billigte Grotius 1. c. unter Umständen auch die qualificirte Todesstrafe.

7II. 1 §. 10 n. 1. III. 1 §. 4 n. 2.8II. 20 §. 28.

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Begründung, sondern als Sehranke der Strafgewalt, aber freilich auch in der Richtung,dass er es für bedenklich erachtet, ein einmal gegebenes Strafgesetz nicht zur Anwendungzu bringen;9 denn allerdings werde eine Handlung, die sich gegen ein specielles Strafgesetzrichte, dadurch allein schon gefährlicher und straf- barer: Lex prohibens omuia peccatageminat; non enim simplex est peccatum, sed etiam vetitum committere, habe bereitsAugustin gesagt.10

Der Fehler der Strafrechtstheorie des berühmten Rechtsphilosophen besteht wohl haupt-sächlich darin, dass er die Strafe von vornherein als Uebel auffasst. Die Strafe als Reactiongegen Unsittlichkeit, beziehungs- weise gegen Unrecht lässt sich ethisch und logisch, dieStrafe als Uebel nur empirisch begründen. So muss denn die Idee der Vergeltung zu Hülfegenommen, ohne Beweis postulirt werden. Die Idee der Vergeltung

Seite 222aber schliesst wieder in sich, dass ihre Ausübung nicht zunächst ein Recht, sondern prin-cipiell eine Pflicht ist und erst folgeweise ein Recht, bringt also die Consequenz mit sich,dass aus Nützlichkeits- und Menschlichkeitsrücksichten von Dem, was die Vergeltungfordert, nichts nachgelassen werden kann, und doch erkennt Grotius mit richtigem Bli-cke, dass in den Händen des Staates die Strafe eine unbedingte Pflicht in jedem Fallenicht sein könne.Abgesehen aber hiervon steht die Strafrechtstheorie des Hugo Grotius merkwürdiger

Weise hoch über den Versuchen, welche zur Lösung des Problems fast zwei Jahrhun-derte hindurch von Anderen später gemacht sind. Gerade die Möglichkeit, welche derGrotius’sehen Ansicht nicht abzusprechen ist, der geschichtlichen Entwicklung gerechtzu werden, ein Punkt, der flache und einseitige Geister abzustossen pflegt, hinderte ih-re allgemeinere Anerkennung. Mehr einseitige Eichtungen haben oft grösseren Erfolg,wenn die von ihnen gelieferten Resultate bestimmten Zeitbedürfnissen dienen oder auchleichter verständlich sind. Die Nachfolger des Hugo Grotius sind besonders für dieseErscheinung bezeichnend.§. 78. Hatte Grotius zwar die Rechtsordnung und den Staat hervorgehen lassen aus

der Vereinigung der Individuen, so war der Trieb, der zu dieser Vereinigung führte, dochein sittlicher, auf der allgemeinen Weltordnung beruhender, und wie das Individuum, sobetrachtet er auch den Staat — freilich nicht immer consequent — als gebunden durchjene allgemeine sittliche Ordnung. Die naturrechtliche Schule lässt nach und nach im-mer mehr das Moment der Willkür in jener Vereinigung hervortreten, und unter demEindrucke der Verwirrungen der englischen Revolution lässt Thomas Hobbes Staat undRechtsordnung auf einer pessimistischen Betrachtung der menschlichen Eigenschaftenruhen: die schlechten Eigenschaften der Individuen sollen durch Staat und Recht imZaum gehalten werden. Unbegrenzte Selbstsucht, ja genau betrachtet die Sucht, Ande-ren zu schaden, erscheint ihm als der Grundzug der menschlichen Natur, und der Staat

9II. 20 §. 2 n. 3. — §. 24 n. 1—3. Grotius denkt hier wohl besonders an ein neu gegebenes Strafgesetz.10Die Stelle II. 20 §. 35 wird von Laistner, S. 66 Anm. 4, wohl nicht richtig aufgefasst. Grotius sagt hier

nicht, der Richter solle ein strenges Strafgesetz nicht anwenden, wenn eine allgemeine Consuetudo,das fragliche Delict zu begehen, vorhanden sei; er sagt nur, solche Consuetudo sei für den Richtereher ein Grund der Milde, während der Gesetzgeber darin einen Grund der Strafschärfuug findenkönne.

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ist danach nur die Zwangsanstalt, bestimmt, dem aus solcher Selbstsucht hervorgehendenKriege Aller gegen Alle und der damit verbundenen allgemeinen Unsicherheit ein Endezu machen. Dazu aber bedarf es vor Allem des Rechts der Strafe: der blosse Vertrag wür-de bald von der Leidenschaft gebrochen werden „ut aperte majus sit periculum fecissequam non fecisse. Omnes enim homines necessitate naturae id eligunt quod sibimet ipsisapparenter bonum est."11 Die Strafe hat also keinen anderen Zweck als Abschreckungdurch Drohung des Gesetzes, und da

Seite 223Hobbes, einer tieferen historischen Betrachtung unfähig, den Zusammenhang der Rachemit der Strafe nicht zu entdecken vermag,12 lässt er letztere auch erst mit dem Staateentstehen und möglich werden. Er steht also zunächst auf dem Boden einer rein relativenTheorie, mit welcher die spätere Theorie Feuerbachs — obwohl dieser bekanntlich aucheinen Antihobbes geschrieben hat — eine sehr starke Verwandtschaft aufweist. Dabeiwird denn einerseits der Zusammenhang des strafbaren Unrechtes mit dem civilen Un-rechte13 völlig, und andererseits der Zusammenhang des Strafrechts mit der Moral fastvöllig gelöst. Schaden und Schadensersatz v laben nach ihm mit Verbrechen und Strafenichts gemein, und wenn er auch anerkennt, dass Lege naturali z. B. Diebstahl, Ehe-bruch, Tödtung verboten seien, und auch die Staatsgewalt von der Lex naturalis nichtabweichen könne, so verflüchtigt sich doch die Beobachtung dieser Lex naturalis beiHobbes dahin, dass die Staatsgewalt zwar Ordnung schaffen und die einmal geschaffeneOrdnung auch aufrecht erhalten muss, dass aber die Art und Weise der Gestaltung dieserOrdnung ganz vom Belieben des Inhabers der Staatsgewalt abhängen soll: „Furtum ho-micidium adulterium atque injuriae omnes legibus naturae prohibentur, caeterum quidin cive furtum, quid homicidium, quid adulterium, quid denique injuria appellandumsit, id non naturali, sed civili lege determinandum est."14 Daraus folgt dann weiter, dassauch das Strafmass nach Massgabe der Utilitas publica durchaus vom Gutdünken derSumma potestas im Staate abhängt, und die Beziehung der Strafe auf etwas Vergangeneswird ausdrücklich als verkehrt verworfen.15 Nur die gesetzliche Strafe darf, obwohl einebesondere Strafdrohung gar nicht einmal nöthig ist, vielmehr ein Verbot an sich zur Be-strafung des Uebertreters hinreicht, nicht überschritten werden; denn das würde nichtsAnderes sein als für den Fehler, den der Gesetzgeber begieng, einen Anderen büssenzu lassen.16 Die Begründung der Strafe vom Standpunkte des Bestraften aus bleibt beiHobbes nicht ganz unberücksichtigt; aber sie ist fast unglaublich flach. Die Fiction, dassder Schuldige, indem er das Verbrechen begebe, sich selbst freiwillig der Strafe unter-werfe, erkennt Hobbes zwar als unzutreffend an — und es ist das, wie spätere specielle

11De cive c. 6 §. 4. Vgl. auch Leviathan c. 28: „Poena malum est transgressori Legis auetoritate publicainflieta eo fine, ut terrore ejus voluntates civium ad obedientiam conformentur". Das Buch „Deciveërschien 1646.

12Leviathan 1. c.13De cive c. 3 §. 4.14De cive G §. 16. Dabei verwechselt Hobbes übrigens die civilrechtliche Frage, wie Eigenthum u. s. w.

entstehe, mit der strafrechtlichen, welche Verletzungen des einmal entstandenen Eigenthums Dieb-stahl seien u. s. w.

15De cive 3 §. 11.16De cive 13 §. 16.

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Ausführungen Pufendorf’s gezeigt haben, nicht ganz unwichtig für die BeurtheilungSeite 224

einzelner auf dem natürlichen Triebe der Selbsterhaltung beruhender Handlungen, sowiegegenüber den äussersten Consequenzen des inquisitorischen Princips im Strafprocesse—, aber er glaubt genug gethan zu haben, wenn er als Inhalt des nach seiner Theorie denStaat begründenden Vertrags auch den Satz mitaufnimmt, dass Niemand DemjenigenBeistand leisten werde, den der Inhaber der Summa potestas zu strafen für gut fin-de.17 Das Recht zu strafen aber, meint er, brauche der obersten Gewalt im Staate nichtbesonders übertragen zu werden; es besässen das ursprünglich Alle gegen Alle, und hier-mit kommt dann Hobbes, freilich ohne des Widerspruchs sich bewusst zu werden, aufeine absolute Begründung des Strafrechts zurück. Es ist nur eben keine Begründungdurch eine ethische Idee, sondern eine Begründung durch Berufung auf den allgemeinenKriegszustand, der Jedem gegen Jeden Alles gestatten soll, also eine Begründung desStrafrechts auf die durch eine ethische Ordnung nicht geregelte Gewalt, und bei Verbre-chen, deren Wesen gerade darin besteht, die Autorität des Staates als solche anzugreifen,also bei Majestätsverbreehen, meint Hobbes, gelte auch jetzt der reine Kriegszustand,ein Satz, mit dem dann auch abnorme Massregeln, wie die Erstreckung gewisser Strafenselbst auf Nachkommen von Hochverräthern, gerechtfertigt werden, aus dem aber dochinsofern wieder eine richtige Einsicht hervorleuchtet, als Strafrecht und Strafgesetz, wiespäter namentlich Fichte hervorgehoben hat, in gewissem Umfange als Beschränkungendes Kriegrechts und der Bache aufgefasst werden können.§. 79. Es ist eine eigenthümliche Erscheinung, auf welche Ahrens18 mit Recht aufmerk-

sam macht, dass Anschauungen, wie die, von denen Hobbes ausgeht — die schrankenloseMacht des durch ethische Motive nicht gezügelten Individuums — und der Pantheismus,welcher der Persönlichkeit keine Selbständigkeit zugesteht, sie vielmehr nur als vorüber-gehende Erscheinung des All betrachtet, in mannigfachen Ergebnissen und besonders,dürfen wir hinzufügen, was das Strafrecht betrifft, übereinkommen. So finden wir beidem Begründer des modernen Pantheismus, bei Spinoza, in dessen berühmten Tractatustheologico-politicus19 fast genau dieselbe Begründung des Strafrechts wie bei Hobbes.Das Recht ist Spinoza seinem Ursprünge und seinem Wesen nach nichts Anderes alsMacht — natürlich; denn ethische Ideen setzen Freiheit voraus. Wenn aber alle Thätig-keiten der Einzelwesen mit Nothwendigkeit durch das Gesammtwesen bestimmt werden,so entziehen sie sich jeder Werthschätzung nach einer Idee, welche ein Sollen, nicht einabsolutes Müssen

Seite 225voraussetzt. Die grossen Fische haben das Recht, die kleinen zu verschlingen, und imNaturzustand hat Jeder das Kocht, zu nehmen und zu thun, was er nehmen und thunkann und wozu er Lust hat. 20 Er handelt ja damit seiner Natur, dem in ihm walten-den Gesetze des All entsprechend. Nur die allgemeine Unsicherheit führt nach Spinoza

17De cive 6 §. 5; Leviathan e. 28 init.18Naturrecht, Bd. I. S. 100 (6. Aufl.).191670 zuerst erschienen.20Tr. c. 16: „Jus itaque naturale unius cujusque hominis non sana ratione, sed cupidate et potentia

deterininatur".

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ebenso wie bei Hobbes zum Staatsvertrage und damit auch zum (staatlichen) Strafrecht;letzteres entsteht eigentlich nicht erst mit dem Staate: Jeder hat es schon von Natur,soweit seine Macht reicht; im Staate übt es eben die Staatsgewalt nur deshalb, weil dieEinzelnen darauf verzichten. Das Ziel der Strafgewalt und des Strafgesetzes aber ist derGehorsam, wie der Ungehorsam das Wesen des Verbrechens ausmacht, daher ist dennauch der unmittelbare Zweck des Strafgesetzes die Furcht, welche dem grossen Haufeneingeflösst werden soll, der geneigt ist, nach seinen niederen sinnlichen Begierden gegendie wahren Gesetze der Natur zu handeln: terret vulgus nisi metuat. Es ist mit ande-ren Worten das Strafrecht basirt auf Abschreckung und Determinismus, wobei es dennunentschieden bleibt, ob der Nachdruck mehr gelegt wird auf das Gesetz oder auf dieVollziehung der Strafe.21 Aber in einer Beziehung unterscheidet der tiefer blickende Spi-noza sich doch sehr wesentlich von Hobbes. Er gibt der Lex naturalis, von welcher derStaat sich nicht soll enfernen dürfen, einen weit bestimmteren Inhalt als Hobbes gethanhatte und, wie seine Rechtspilhosophie einen demokratischen Zug verräth in der an Ari-stoteles erinnernden Bemerkung, eine grössere Menge von Menschen, die vereinigt dieStaatsgewalt ausübe, werde nicht leicht etwas vollkommen Verkehrtes thun, so weist erauch darauf hin, dass die Bedingung einer dauernden Macht die Befriedigung der wah-ren Bedürfnisse des Volkes sei: nicht ein formeller Vertrag, sondern ihr rationeller Willebindet die Unterthanen.22 Daraus ergibt sich denn — was Spinoza allerdings nur nachder Seite der Glaubens- und Denkfreibeit hin ausgeführt hat — eine weit grössere Be-schränkung der Staatsgewalt in Ansehung der möglicher Weise mit Strafe zu belegendenHandlungen.Im Ganzen spiegelt sich in Spinoza’s Staats- und Rechtsphilosophie die eigene Lebens-

lage des Forschers in deutlichen Zügen wieder. Es ist die Rechts- und Staatsphilosophiedes feinen und scharfen Denkers, der nach der Lage seines Lebens — Spinoza gehörteja dem damals fast überall noch unterdrückten israelitischen Stamme an — von einemactiven Eingreifen in das Staatsleben ausgeschlossen ist, der dafür in dem ruhigen

Seite 226Sinnen und Forschen über den Zusammenhang der Dinge den höchsten Genuss und diehöchste Bestimmung des Menschen findet und deshalb von der Staatsgewalt nicht viel,aber doch eine gewisse Garantie für Ruhe und den Genuss der natürlich nothwendigenGrundlagen des Lebens, vor Allem aber Forschungsfreiheit erwartet. Mit dem Strafge-setze, mit welchem bei activerem Eingreifen und lebendiger Theilnahme am Staatslebenauch edlere Naturen in Conflict gerathen können, wird eine solche feinfühlende und vor-nehm sich zurückziehende Natur kaum einen Conflict haben, ausgenommen etwa imGebiete der Denk- und Glaubensfreiheit. Sie betrachtet so das Strafgesetz als wesentlichnur bestimmt für den Pöbel und fasst es daher auch von der niedrigen Seite als Schreck-mittel, geeignet die sinnlichen Begierden zurückzuhalten, und übersieht seine allgemei-nere und höhere ethische Bedeutung.23 Das ist eine geschichtlich öfter wiederkehrende

21Das Uebel, welches in der Strafe liegt, muss grösser sein, als der Vortheil, den das Verbrechen bringenwürde.

22„Ex quibus concludimus, pactum nullam vim habere".23Nach dieser Auffassung kann auch wenig an dem Verbrecher liegen. Deshalb hei Spinoza auch kein

Zweifel an der Zweckmäßigkeit oder Rechtmässigkeit der Todesstrafe, oder um Ausdrücke unserer

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Auffassung und Stimmung, namentlich wiederkehrend in den Kreisen des blasirten Bür-gerthums, gewisser wohlsituirter Stände, die zwar Steuern zahlen, im Uebrigen aber ihreSonderinteressen verfolgen, bis denn irgend unerwartete Fälle daran erinnern, dass esnicht immer die Gemeinheit ist, die mit dem Strafgesetze in Conflict geräth und dass dierichtige Umgrenzung der Strafgewalt des Staates ein ideales und zugleich ein materiellesGut für Alle ist.§. 80. Samuel von Pufendorf24 theilt, was die Begründung des Strafrechts betrifft,

völlig den Standpunkt, welchen Hobbes25 einnimmt, und auf diesen beruft er sich auchnicht selten ausdrücklich.26 Ebenso wie Hobbes leugnet er den ursprünglich ethischenCharakter der Beziehung des Menschen zum Menschen; ebenso wie Hobbes betrachtet erden Menschen als ursprünglich zu Allem berechtigt, wozu er die Macht hat, und ebensowie Hobbes leitet er das ausschliessliche Strafrecht des Staates einfach ab aus einemVerzichte des ursprünglich einem Jeden

Seite 227zustehenden Rechtes nach seinem Interesse einem Jeden Wehe zu thun, der seiner Mei-nung nach diese Interessen verletzt oder ihm im Wege steht;27 Strafe im wahren Sinnekommt nach Pufendorf nur im Staate vor und wird nur al imperante verhängt. Von Ver-geltung als Princip der staatlichen Strafe will er nichts wissen: „non est homo propterpoenam, sed poena propter hominem",28 und deshalb ist seiner Ansicht nach auch Tali-on im Strafrecht, wie praktisch undurchführbar, so auch theoretisch nicht anzuerkennen.Der wahre Charakter der Strafe besteht vielmehr in einer Cautio vor künftigen Verletzun-gen, d. h. Abschreckung Anderer oder Besserung beziehungsweise Unschädlichmachungdes Verbrechers selbst, wesshalb denn auch — nach einem von Pufendorf wie von An-deren nicht selten gemachten Fehlschusse — gerade in Beziehung auf dolose TödtungTodesstrafe unter Umständen gerechtfertigt erscheint.Pufendorf hat nun, wie vielleicht kein Anderer, die Grundsätze des Staatsabsolutismus,

welche den Staat des Mittelalters und seine sociale Ordnung beseitigten, in Deutschlandverbreitet. Indess hat sein Staatsabsolutismus doch nicht den einseitigen, schroffen, aberfreilich auch consequenten Charakter, welcher die Staats- und Rechtslehre des Thomas

Zeit zu gebrauchen, an der Arbeit des Henkers „sans phrase", welche noch den Nutzen hat, die„Bestie"jedenfalls unschädlich zu machen. Spinoza redet da, wo er von der Strafe speciell spricht, fastimmer nur vom Schaffot als der „formido malorum". Vgl. Laistner S. 78.

24Vgl. namentlich das dritte Capitel des 8. Buchs des umfassenden Werkes „De jure naturae et gentium",zuerst erschienen 1672. Das genannte Capitel hat die Ueberschrift „De potestate suinmi imperantisin vitam ac bona civium in causa delicti".

25Der Bemerkung Heinze’s, S. 254, dass Pufendorf wesentlich die Auffassung des Grotius theile, kannich nicht beitreten.

26Vgl. namentlich auch 1. c. §. 5, wo gegen Grotius ausgeführt wird, dass die Strafjustiz zur Justitiaexpletrix gehöre.

27Das Recht der Bestrafung ist bei Pufendorf ebenso wie bei Hobbes im Grunde nur eine Machtfrage;auf eine Begründung der Strafe Tom Standpunkte des zu Bestrafenden aus wird einfach verzichtet,sehr richtig und treffend aber die Ansicht von der freiwilligen Unterwerfung unter die Strafe kritisirt:„quum nemo delictum admittat quin simul speret, fiese latendo aut aut alia ratione poenam declina-turum". Doch wird allerdings §. 23 wieder bemerkt, über die Härte einer vorher verkündeten Strafekönne sich Niemand beschweren.

28VIII. 3 §. 17 a. E.

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Hobbes auszeichnet. Ebenso wie bei Spinoza hat bei Pufendorf die Lex naturae unddie Lex divina einen bestimmten Inhalt und die Publica utilitas, die Salus reipublicaeist Grund wie Schranke der Staatsgewalt, wenngleich die gefährliche Spitze dieses sonstleicht zur Lehre der Volkssouveränetät hinführenden Satzes von Pufendorf dadurch ab-gebrochen wird, dass er eine Präsumtion voraussetzt, kraft welcher die Handlungen derStaatsgewalt der Salus reipublicae entsprechen.Hier liegt auch der Punkt der Annäherung an Hugo Grotius. Aber statt wie dieser

Staat und Recht aus der inneren und ethischen Natur des Menschen hervorgehen zulassen, legt Pufenberg nur das Streben und das Bedürfniss nach äusseren Gütern undnach Sicherheit, allenfalls nach einer gewissen Vervollkommnung zum Grunde und ent-kleidet so principiell das Recht des ethischen Charakters. Dagegen fasst er andererseitsden Menschen im Naturzustande nur unter dem moralischen Gesichtspunkte auf, und sokommt es, dass während dem Rechte,

Seite 228wie es im Staate herrschen soll, der ethische Charakter abgesprochen wird, das Recht,welches vor dem Staate existirt oder mit ihm gleichaltrig sein soll, vorherrschend unterdem Gesichtspunkte der Moral betrachtet wird,29 und dass dann die so aus der Be-trachtung des Rechtes als moralischer Pflicht gewonnenen Resultate auf den Staat unddas Recht im Staate theilweise übertragen werden, Recht und Moral also, ungeachtetPusendorf ihre gemeinsame Wurzel und ursprüngliche Einheit zu leugnen scheint, miteinander vermischt werden. Und eine fehlerhafte Richtung war es auch jedenfalls, mitHobbes und Spinoza, das Strafrecht als Zucht-(Erziehungs)mittel, nicht zunächst alsSchutz oder gleichsam dem Angreifer entgegengesetzte Aussenseite des anderweit vor-handenen Rechtes aufzufassen, wodurch wiederum der Omnipotenz des Staates Vorschubgeleistet wurde und wodurch man mehr und mehr sich abwendet von dem ursprüngli-chen Ausgangspunkte des germanischen Rechts, das allein dem Strafrechte Stetigkeit zuverleihen vermag.Dennoch ist Pufendorf ein hervorragendes Verdienst um die Förderung des Rechts,

speciell aber des Strafrechts keineswegs abzusprechen. Wenngleich er von Leibnitz be-zeichnet wurde als „homo parum jureconsultus et minime philosophusünd wenngleichseine dialektisch-didaktische Manier30 sich auch zuweilen recht unfruchtbar erweist, sokennt er doch andererseits das Recht im Einzelnen wirklich und hat an praktischenFragen ein Interesse, beides Dinge, die dem Philosophen nicht selten abgehen. Seine Er-örterungen über Zurechnung,31 Nothwehr, Nothstand, Strafzumessung32 mussten dochfür eine verknöchernde, lediglich an Autoritäten sich klammernde Jurisprudenz wiederbelebend wirken. Und in einer wichtigen Beziehung noch merkt man gegenüber Grotius

29Vgl. z. B. die Untersuchung „De defensione sui"(Lib. II. c. 5) und „De jure necessitatis"(II. c. 6).30Vielleicht interessirt es die Anhänger der heut zu Tage so beliebten „Normentheorießu wissen, dass

diese Theorie sich bei Pufendorf, VIII. c. 3 §§. 2, 4 angedeutet findet. Auch sagt Pufendorf schon,die Strafbestimmung des Gesetzes wende sich nicht an den Thäter, sondern an den Magistrates (denRichter und Beamten). Vgl. auch schon Hobbes (de cive XIV. §. 7, §. 23), der fast noch deutlicherist — allerdings kommt das nur nebenbei vor.

31Vgl. I. c. 4 u. 5.32VIII. c. 3 §§. 18 ff. Die Strafarten werden wenig berücksichtigt.

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schon den Fortschritt der Zeit: Pufendorf erachtet es nur selten bei strafrechtlichen Erör-terungen noch für nöthig, sich mit der Theologie und der biblischen Geschichte abzufin-den, während die weitläufigen Untersuchungen des Grotius darüber, ob seine Ergebnissemit der Handlungsweise des Moses, der jüdischen Richter und Könige übereinstimmen,heut zu Tage einen befremdenden Eindruck machen.

Seite 229Nach Grotius, Hobbes und Pufendorf macht die Strafrechtstheorie längere Zeit keineerheblichen Fortschritte, und im XVIII. Jahrhundert selbst fehlt es sogar nicht an Ver-suchen, die von diesen Männern vollzogene Emancipation von der Theologie rückgangigzu machen. Doch kommen immerhin bei einzelnen bedeutenderen Schriftstellern Gedan-ken und Gesichtspunkte vor, die der Beachtung werth erscheinen.§. 81. Locke33 geht ebenso wie Hobbes von einem ursprünglich den Einzelnen zustehen-

den Rechte aus, wirkliche oder vermeintliche Rechtsverletzungen nach ihrem Ermessenzu ahnden, ein Recht, dass dann durch Verzicht der Einzelnen auf den Staat übergeht.Im Grunde betrachtet, erscheinen ihm Strafrecht und Recht der Selbsterhaltung iden-tisch: daher ist denn der Zweck der Strafe: Sicherung; wenn es angeht: durch Besserungdes Verbrechers; wenn es nicht anders geht, aber auch durch Todesstrafe, und letztereist nicht anders zu beurtheilen, als die Tödtnng von Löwen und Tigern, in Beziehungauf welche das Jagdrecht ja auch Jedermann zusteht. Der Verbrecher hat — und dieserinnert an die spätere Fichte’sche Theorie — keinen Grund, sich über die Strafe zubeschweren. Er hat durch das Verbrechen erklärt, dass ihn Recht und Billigkeit nichtsangehe, damit aber auch, dass jede Schranke beseitigt sei, die ihn selbst vor Gewalt undUnrecht schützte (§. 8). Aus diesem Grunde ist auch das Maass der Strafe nur durchdas Gewissen des Strafenden gegeben. Eine absolute Nothwendigkeit aber zu strafen,besteht nicht; die Strafe kann auch, wenn es nützlich erscheint, erlassen werden.Die Ideen, von denen ein wirklicher Fortschritt des Strafrechts ausgehen konnte, lagen

in den verschiedenen nützlichen Zwecken der Strafe, die in richtiger Ordnung und inrichtigem Verhältniss allerdings das absolute Princip der Gerechtigkeit gleichsam vonder anderen Seite betrachtet darstellen. Die absolute Theorie, die nicht die relativenin sich aufnimmt, stellt immer das Princip des Beharrens dar oder wirkt allenfalls alsMahnung zur Umkehr, wenn das Strafrecht oder seine Theorie sich auf einem falschenWege befindet oder zu einseitig die Consequenzen einer relativen Theorie verfolgt.So haben geschichtlich auch Leibnit‘ens in dessen Theodicee zerstreut vorkommenden,

wenig zusammenhängenden Iedeen keine Wirkung gehabt, und ebensowenig Samuel v.Cocceji’s Schadensersatztheorie. Leibnitz’ens34 Grundidee erinnert an Plato. Wie diesemscheint

Seite 230ihm Lohn und Strafe durch ein die gesammte Welt beherrschendes Princip der Harmonie

33On government (London 1690) II. besonders §. 87. Vgl. Laistner S. 72 ff.34Nouveaux essais de theodicee I. c. 2 (ed. Erdmann I. S. 215b), I. 70, 71, 73, 74 (Werke ed. Erdmann

I. S. 521 ff.). I. 73 heisst es von der Strafe: „un rapport de convenance qui contente non seulementl’offense, mais encore les Sages qui la voient comme une belle musique ou bien une bonne architecturecontente les esprit bien faits". 74: „ . . Dieu a établi dans l’Univers une connexion entre la peine oula recompense et entre la mauvaise ou la bonne action".

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gegeben zu sein, und wie nach Aussen so stellt auch nach Innen, in dem Verbrecher selbst,die Strafe die nur verdunkelte Herrschaft der von Gott eingepflanzten Ideen wieder her.Selbstverständlich führt das auf den Zweck der Besserung; aber auch den Zweck derAbschreckung verwirft Leibnitz nicht, freilich ohne darzulegen, wie letzterer mit ersteremsich vereinigen lasse. Ebenso wie bei Plato herrscht aber die absolute Theorie vor. DieGenugthuung, die allein bei Annahme auch der Willensfreiheit35 einen Sinn hat, istdas Primäre, und die Gerechtigkeit beruht nach Leibnitz nicht auf den möglicher Weisewechselnden Bedürfnissen und Ansichten der Menschen. Einen tiefen Blick zeigt abereine Stelle, in welcher Leibnitz als eine der wirksamsten möglichen Verbrechensstrafendie allgemeine Verachtung das Verbrechers durch die Gesellschaft bezeichnet und dieseinsbesondere mit der Excommunication bei den ersten Christen vergleicht.36 Von hierbis zu dem Satze, dass die Strafe nicht begriffsmässig ein äusseres Uebel sein müsse, istder Weg nicht weit.Samuel v. Cocceji’s Schadensersatztheorie37 beruht auf der Betrachtung, dass das Un-

recht neben der materiellen Verletzung auch einen idealen Schaden bereite, und dassdieser durch die Strafe ausgeglichen, werden müsse,38 wird auf göttliche Anordnung zu-rückgeführt, indess in der ganz eigentümlichen Weise, dass die Strafe als nothwendigzur Aufrechterhaltuug der dem Einzelnen und dem Staatsoberhaupte gegebenen Rechte(auch das Rechtes auf Gehorsam) betrachtet wird, dass also die absolute Theorie prak-tisch umschlägt in die alte und oft wiederholte, auch von Cocceji gleich an den Anfanggestellte Nützlichkeitsbetrachtung, man dürfe mit einfachem Schadensersatze beim De-licte sich nicht begnügen, weil ja dann Niemand bei Begehung eines Delictes- Schadenleiden und also Jeder zur Begehung von Delicten angereizt werden würde. Talion er-scheint hiernach Cocceji als die principiell richtige Strafe39 und als Voraussetzung derExistenz eines Delictes die

Seite 231Verletzung eines Rechtes. Aber die Idee des Talion sieht der Jurist sich genöthigt in dieIdee eines gleichwertigen Uebels zu verflüchtigen40, und so wird diese biegsam wie Wachsund elastisch wie Gummi, und mit dem Satze, dass das Handeln gegen ein Gesetz oderGebot des Superior auch eine Verletzung des Rechts, nämlich des Rechts auf Gehorsamsei,41 lässt sich eben Alles rechtfertigen. Die Grenze aber von Moral und Recht wird nichtselten dadurch verwischt, dass eine Rechts-verletzung schon dann deducirt wird, wenndas Recht Jemandem nicht besonders die Befugniss zuspreche, in der fraglichen Weise

35Vgl. 1. c. I. 74.36Nouveaux essais sur l’entendement humain II. c, 28.37Introduetio ad Henrici de Cocceji Grotium illustratuin 1751, diss. XII.38L. c. §. 555.39§. 554: Sane talio non intelligi potest de retribuendo ejusdem generis modo . . . Sed tantundem illud

aestimationem recipit, vi cujus aliquid pensamus cum aliis rebus vel factis, quae sunt vel ejusdemquantitatis vel qualitatis. Vgl. die Anwendung §. 561 n. 8; Todesstrafe ist auch dann

40§. 521. So wird namentlich die Bestrafung des Selbstmordes gerechtfertigt, weil Niemand ein Rechthabe auf sich selbst, ausser zu seiner Erhaltung. Vgl. auch XI. §. 27: „Principium juris naturalis estvoluntas Creatoris . . Omnis autem illa voluntas hac generali propositione conti-netur, ut creaturaeratione praeditae ,Jus suum cuique’ tribuat".

41Vgl. §. 513 c. 4

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zu handeln. Ebensowenig haben indess die Rechtsphilosophen und Juristen, welche dasStrafrecht in relativer Weise zu begründen suchen, bis auf Beccaria, die Sache gefördert.42 Thomasius reproducirt in den kurzen Bemerkungen, welche sich in den „Fundamentesjuris naturae et gentium"finden, die Theorie Pufen-dorf’s. Die Expiation, insofern sie vonMenschen unternommen werde, bezeichnet er als Crudelitas: Assecuratio und Emenda-tio, gelten ihm allein als Ziele der Strafe; hauptsächlich aber wird die letztere betontund die Strafe insbesondere mit der Medicina verglichen, welche freilich auch nach Zeitund Umständen verschieden angewendet werde. Gleichwohl, und ungeachtet Thomasiusso oft gegen die Theologen gestritten hat, fällt er stellenweise wieder zurück in den Bannder Theologie, indem er der Meinung ist, dass für einzelne Delicte die Strafe durch Jusdivinum bestimmt sei. Consequenter verfährt Christ. Wolff. 43 Keine Handlung, meinter, verlange ihrer Natur nach Strafe; nur Abwendung von Schaden von den Einzelnenwie von der Gesammtheit des Staates (Salus reipublicae suprema (nach dem Principeder Talion!) gerechtfertigt: „si tanta est malitia ut spes eum meliorem fieri posse nullasupersit. „Arbitrio judicantis definitio talionis reservata est".

Seite 232lex esto!) sei der Zweck der Strafe. Bemerkenswerth ist, dass bei Wolff die Beziehung derStrafe auf den Rechtsschutz deutlich hervortritt. Keine Strafe soll desshalb stattfindenwegen eines Actus internus, da nur eine Laesio die Strafe begründet.. Die Gerechtigkeitder Strafe wird also dem Verbrecher gegenüber auf das verletzte Recht gegründet, vomStandpunkte des Staates aus auf die Salus reipublicae.Eine eigentliche Theorie der Begründung des Strafrechts kann man auch nicht nen-

nen, was sich bei Rousseau44 darüber findet. Rousseau kam es nur darauf an, die Strafe,die er wohl oder übel als praktisch unentbehrlich betrachten musste, mit seiner Lehrevon der der unveräusserlichen, auch vom Staate nicht zu beeinträchtigenden Freiheit zuvereinigen. Dies geschieht nun so, dass er das Verbrechen als Vertragsbruch bezeichnet,welcher letztere dem Staate das Kriegs- und Vertheidigungsrecht gegen den Einzelnenwiedergibt. Indess wird hiermit noch eine andere Begründung verbunden, welche dieStrafe auf den Willen des Verbrechers zurückführt, und es wird diese zweite Begründungdesshalb hinzugefügt, weil Rousseau unter Umständen auch eine Aufopferung des Einzel-nen für den Staat fordert. Jeder nimmt nach Rousseau’s Ansicht das Risico auf sich, dassder Staat ihm sage, es sei nöthig, dass er für den Staat sterbe. Es ist nun zwar richtig,dass Rousseau den Zweck der Abschreckung bei der Strafe verwirft, dass er ausserdembemerkt, selbst der Schlechteste sei noch zu Etwas zu gebrauchen ; aber der Satz, dassman das Recht habe, Denjenigen zu tödten, den man ohne Gefahr nicht am Leben lassenkönne, löst den Begriff der Strafe völlig von der Geschichte und der Ethik und machtihn dehnbar wie Kautschuk. Man hat gesehen, was die schönsten Theorien der Mensch-lichkeit und des Edelmuths in der französischen Revolution mit der Behauptung der

42Fast komisch klingt die Aufzählung von sechs verschiedenen Strafzwecken bei Leyser, Medit. sp. 649 n.1: 1) satisfactio laesi, 2) pensatio mali cum malo, 3) emendatio malefici, 4) detractio virium nocendi,5) terror aliorum, 6) incrementum rei publicae, aut alia rei publicae utilitas .. per-fectissima . . poenaest, per quam omnes istae fines simul oltinentur.

43Institutiones juris naturae et gentium, 1754, §§. 93, 157, 410, 758, 809, 1043 ff.44Contrat social, 1762, II. eh. 5.

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Notwendigkeit zu entschuldigen vermochten. Die Notwendigkeit, bemessen lediglich nachden concreten Umständen, liefert die Theorie der Ausnahmegesetze und der Willkür.45

Und noch bedenklicher ist es, wenn man, wie Rousseau freilich mit Bestimmtheit nichtthut, in dem Verbrechen nicht sowohl die Rechtsverletzung als vielmehr den Ungehor-sam hervorhebt. Bei Rechtsverletzungen ist man traditionell schon mehr an bestimmteStrafmasse gewöhnt; aber eine erhitzte Phantasie vermag aus einem Acte vermeintlichenoder wirklichen

Seite 233principiellen Ungehorsams leicht den Untergang des Staates und damit die Notwendig-keit strafrechtlicher Repression à outrance zu deduciren.§. 82. Das berühmte und seiner Zeit so erfolgreiche Buch Cesare Beccaria’s „Dei delitti

e delle pene"46 begegnet heut zu Tage nicht selten einer wenig günstigen Kritik,47 undwenn man den Massstab der Folgerichtigkeit und Genauigkeit an die theoretische Be-gründung anlegt, so lassen sich auch, abgesehen von dem Mangel an historischem Sinne,abgesehen auch von der ganz oberflächlichen und verkehrten, nachher aber im vorigenJahrhundert von so Vielen getheilten Ansicht, dass die Strafgesetze einer wissenschaftli-chen Interpretation entbehren könnten und müssten, in der That vielfache Ausstellungenmachen. Die Theorie Beccaria’s gründet Staat und Recht auf einen Vertrag, und erin-nert, indem sie die zu erlangende Sicherheit als Motiv des Vertragsschlusses annimmt,an Hobbes. Sie nimmt aber eine andere Wendung dadurch, dass, während Hobbes diegesammte Freiheit des Individuums der Staatsgewalt zum Opfer bringt, Beccaria vondem Satze ausgeht, es dürfe nur ein möglichst geringer Theil jener Freiheit von den Ein-zelnen als Preis der Sicherheit des Rechtes geopfert werden. Daneben muss dann abernach Beccaria, damit nicht Jeder durch seinen Egoismus bewogen, nicht nur den von ihmeingebrachten Theil, sondern etwa auch den Antheil der Anderen sich anmasse, ein weite-rer Theil der Freiheit dergestalt zum Pfande gesetzt werden, dass der Staat ihn einzieht,wenn ein Angriff auf den Anderen garantirten Antheil ihrer Freiheit gemacht wird. DieseVerpfändung begründet die Strafe, deren Zweck daher Sicherheit durch Abschreckungist, während das Verbrechen Verletzung oder doch Gefährdung fremden Rechtes ist. Esist mit anderen Worten die Fiction der Einwilligung des Verbrechers einerseits und dasPrincip der Notwendigkeit, Unumgänglichkeit der Strafe andererseits, welche Beccariaanwendet. Allein die Unwahrheit der Fiction, dass der Einzelne eingewilligt habe, sichzum Zwecke der Abschreckung Anderer habe opfern wollen, liegt offen zu Tage, und zwarum so mehr, als bei Beccaria die Abschreckung nicht, wie später bei Feuerbach durchdie Drohung des Gesetzes, sondern durch die Vollziehung der Strafe bewirkt werden soll.

45Daneben finden sich übrigens zuweilen tiefgehende und richtige Bemerkungen. So sagt er in den „Dis-cours sur l’origine de l’inegalitö"(Oeuvres par Musset-Pathay, Paris 1823, I. S. 281), dass auf denAnfangsstufen der Rechtsentwicklung jede Rechtsverletzung als persönliche Beleidigung aufgefasstwerde.

46Zuerst 1764 erschienen.47Vgl. Janet II. S. 412, Laistner S. 92ff. — Faustin Hélie in seiner mit Einleitung und Anmerkungen verse-

henen französischen Uebersetzung der Beccaria’schen Schrift (2. Aufl. Paris 1870) überschätzt (in derEinleitung) die Verdienste Beccaria’a. Die Gedanken Beccaria’s sind fast durchgängig nicht originale.— Eine richtige Würdigung gibt Glaser in der Vorrede seiner vorzüglichen deutschen Uebersetzung,2. Aufl. 1876.

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Die Schwäche der Argumentation48 zeigt sich besonders in demSeite 234

theoretischen Angriffe — Beccaria macht allerdings noch andere, richtigere, der Erfah-rung entnommene Gründe geltend — auf die Todesstrafe. 49 Beccaria meint, der Einzelnekönne der Gesellschaft nicht das Recht übertragen haben, ihn zu tödten; dazu habe erja selbst nicht das Recht. Dies Argument spricht gegen alle Strafen, mit Ausnahme50

vielleicht der blossen Vermögensstrafe, und die schrecklichen Freiheitsstrafen, die er anStelle der Todesstrafe setzen will, und die in dem österreichischen Gesetzbuche Joseph’sII. bald praktisch werden sollten, waren in Wahrheit schlimmer als der Tod. Gleichwohlwar gerade die vorangestellte theoretische Begründung geeignet, einen Punkt zu. treffen,auf welchem die Reform der Strafrechtspflege damals einsetzen musste, und daraus er-klärt sich, der ungeheure Erfolg des Buches und sein Ansehen. Nicht mit Unrecht kannman der Strafjustiz, wie sie noch um die Mitte des vorigen Jahrhunderts meist geübtwurde, den Vorwurf machen, dass sie mit den Strafen, d. h. mit andern Worten mit demmenschlichen Unglück, eine entsetzliche Verschwendung trieb, die doch keineswegs einegenügende Wirkung hervorbrachte, und Beccaria begründet nicht sowohl das Strafrecht,als dass er mit Nachdruck seine Schranken hervorhebt. Nur diejenigen Handlungen dür-fen seinen Ausführungen zufolge bestraft werden, die dem Staate, bezw. Anderen wirklichgefährlich sind; nur soviel Strafe darf angewendet werden, als zum Zweck der Abschre-ckung unumgänglich nothwendig ist,51 und der Staat hat auch die Verpflichtung, durchandere Mittel, als durch Strafe, Verbrechen zu verhüten;52 er hat zu überlegen, ob nichtandere Mittel diesem Zwecke besser dienen und ob nicht demgemäss die Strafe (in man-chen Fällen) besser wegfallen könne. Diese Sätze sind unzweifelhaft richtig, und Beccariaverwendet sie — und

Seite 235darin besteht ja bekanntlich sein unbestreitbares, unvergessliches Verdienst — um da-mit eine Unzahl von groben Missbräuchen im Strafrecht und Strafprocesse (die Tortur,die schmählichen Zustände der Untersuchungsgefängnisse, die lange Dauer der Untersu-chungen, die damalige verschwenderische Anwendung der Todesstrafe, die grausamen,das Gefühl verhärtenden Strafen, die Anwendung der schweren Strafen auf wenig ge-fährliche Delicte, die Confscationen u. s. w.) zu bekämpfen, während er andererseitsmöglichste Schnelligkeit der Strafen befürwortet. Es versteht sich von selbst, dass eine

48Vgl. Glaser S. 10, 11.49c. 16. Er will freilich unter exceptionellen Voraussetzungen die Todesstrafe als äusserstes Sicherungs-

mittel nicht ganz verwerfen. Die Todesstrafe erscheint ihm als eine Art Rückfall in den Kriegszustand.50Vgl. Glaser S. 69, 70. Freilich meint Beccaria, die langdauernde Freiheitsstrafe wirke mehr auf den

Beobachter, als auf den Sträfling selbst (?). So schimmert bei ihm die Idee einer Scheinstrafe durch.Die Idee, dass die Freiheitsstrafe nach Aussen, z. B. durch das Aussehen der Gefängnissgebäude,möglichst abschrecken soll, kehrt bei Anderen wieder.

51Die Strafe muss freilich das Gut, was der Verbrecher von dem Verbrechen erhofft, an Werth übertreffen(c. 15).

52Der Satz ist zwar in c. 13 etwas crass ausgedrückt. Allein Beccaria nimmt ihn offenbar nicht in demvon Laistner, S. 98, scharf getadelten Sinne, dass der Staat nur dann strafen dürfe, wenn er vorherdie Mittel, dem Verbrechen zuvorzukommen, erschöpft habe, ein Satz, der, gewissenhaft erwogen,freilich zur Beseitigung der Strafjustiz fuhren müsste.

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solche Theorie sich gegen die Auffassung der staatlichen Strafe als eines Ausflusses dergöttlichen Gerechtigkeit kehrt und gegen die Auffassung des Verbrechens als Sünde.53 Indieser Beziehung brachte die Schrift zwar nichts Neues; aber so populär war die Sachenoch nicht dargestellt, und wenn auch Beccaria keinen Versuch macht, seine relativeTheorie mit einer absoluten Begründung des Strafrechts zu vereinigen, so lässt die edleBegeisterung des Verfassers, die herrliche Sprache, in der das Buch geschrieben istr dochgleichsam ahnen, dass man hinter dem vorangestellten Princip des allgemeinen Nutzens,der möglichsten Glückseligkeit Vieler (c. 1), noch ein absolutes Princip auffinden könne.Durch Beccaria’s Schrift wurde die Ansicht, dass staatliche Strafe und göttliche Ge-

rechtigkeit nicht identisch seien, in der That ziemlich allgemeine Ansicht der Gebildeten,der Gesetzgeber und der hervorragenden Juristen.54 Auch galt die Theorie der Vergel-tung, bis sie durch Kant wieder rehabilitirt wurde, als beseitigt. So sagt der verdienstvolleösterreichische Jurist v. Sonnenfels55 : „In der Rechtswissenschaft ist durch eine Art vonUeberlieferung eine Erklärung der Strafe eingedrungen, die mehr witzig als richtig ist:ein Uebel der Empfindung wegen Bosheit der Handlung.Ër56 verwirft also auch die Defi-nition des Hugo Grotius, und Filangieri57 hält es nicht mehr für nöthig, die Begründungder

Seite 236Strafjustiz auf göttliche oder menschliche Vergeltung zu widerlegen. 58 Ihm ist die StrafeGenugthuung für den in dem Verbrechen liegenden Vertragsbruch 59 und diese Genugthu-ung kann nur sein Sicherung vor dem einzelnen Schuldigen und Vernichtung des Einflus-ses, welchen das böse Beispiel auf Andere haben kann. Filangieri’s Theorie besteht alsoin einer unklaren und verschwommenen Vermischung der sog. Specialpräventions- undAbschreckungstheorie (Abschreckung durch Zufügung der Strafe).60 Von einer Begrün-dung des Strafrechts vom Standpunkte des Verbrechers aus ist keine Rede; nur werdendie zu weitgehenden Consequenzen der Abschreckung durch Berufung auf die notwendi-ge Beobachtung der Humanität abgewiesen. Bemerkenswerth ist indess, dass Filangierimehr geschichtlichen Sinn hat, als z. B. Beccaria u. Andere,61 und dass er auch keines-

53Doch will B e c c a r i a , c. 25, die Verbindung des Strafrechts mit der Moral bei Bestimmung derstrafbaren Handlung aufrecht erhalten.

54Die Theorie der göttlichen, bezw. moralischen Vergeltung wurde z. B. noch 1744 von dem Professorder Theologie und Philosophie C r u s i u s , in seiner „Anweisung vernünftig zu leben"(3. Aufl. 1766),und von dem Philosophen B a u m g a r t e n (Metaphysik, Halle 1757) vertreten. Vgl. darüber H ep p I. S. 15—21.

55Grundsätze der Polizei-, Handlungs- und Finanzwissenschaft, Th. 1 (3. Aufl.) S. 335 (1777).56Die eigenen Ansichten v. S o n n e n f e l s ’ über den Grund des Strafrechts sind unbedeutend. Er

vertritt eine widerspruchsvolle und unklare Abschreckungstheorie und zugleich die Humanitätsideeim Strafrecht.

57In dem berühmten Werke „Scienza della legislazione", zuerst 1780—85 in Neapel erschienen.58Vgl. Introduzione zu Libro III. (Bd. 1. S. 86 der Florentiner Ausgabe von 1820), und III. c. 25 ff.59„II delitto non e altro che la violazione d’un patto".60wie weit soll das Sicherungsprincip, wie weit das Princip des Exempelstatuirens reichen? In vielen

Fällen wird dem ersteren Principe schon genügt sein, während das letztere noch einen Zusatz fordernwürde und umgekehrt.

61Filangieri hat z. B. ziemlich richtige Vorstellungen über die historische Entstehung des Strafrechts.Nach seiner Ansicht wird auch das Strafrecht erst im Laufe der Zeit auf den Staat übertragen.

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wegs die unbeschränkte Omnipotenz des Staates vertritt: so haben seine Ausführungenüber die Begrenzung des Kreises der strafbaren Handlungen auch h. z. T. noch Anspruchauf Beachtung; er ist auch ebensoweit davon entfernt, Recht und Moral mit einander zuverwechseln, wie den Zusammenhang beider zu leugnen und nimmt in dieser Beziehungeinen richtigeren und höheren Standpunkt ein als Feuerbach.§. 83. Weit flacher und h. z. T. theilweise selbst von fast abstossender Wirkung ist die

inconsequente Verarbeitung, welche Beccaria’s Ansichten in der ihrer Zeit berühmten,preisgekrönten Abhandlung von Globig und Huster, Ueber die Criminalgesetzgebung(1783), erlitten haben, bemerkenswerth freilich dadurch, dass die Verfasser zum erstenMale eine Strafrechtstheorie als Vorarbeit für eine Gesetzgebung durchführen. Indemdie beiden Verfasser gegen „träumerische Einwendungen aus einem . . . göttlichen Geset-ze"der Gerechtigkeit polemisiren, stellen sie selbst eine Reihe verschiedener Strafzweckeneben einander, ohne irgend welchen Versuch der Rangordnung dieser Zwecke (Ersatzdes Schadens, Wiedervergeltung, Abschreckung Anderer, Besserung des Verbrechers).Hauptsächlich bestimmend aber ist für sie die Abschreckung (zuweilen

Seite 237in unklarer Verbindung mit der Vergeltung62) und zwar soweit, dass sie selbst offenbareRückschritte gegen die damalige Praxis zu empfehlen sich nicht scheuen, z. B. beschimp-fende Behandlung des Leichnams, wenn man der Person des Verbrechers nicht habhaftwerden kann, ja sogar das Zungenabschneiden,63 wenn auch nur ausnahmsweise. Natür-lich ist keine Rede von einer Begründung des Strafrechts vom Standpunkte des Verbre-chers aus, und neben manchen richtigen Bemerkungen, z. B. neben der Bemerkung, dassdie nothwendige Strafe auch gerecht sei (8. 48), neben dem richtigen Gedanken, dassder Gesetzgeber Criminal- und Polizeidelicte nicht mit einander vermengen dürfe, nebender Ausführung, dass die Strafe nicht auf einen Vertrag mit dem Verbrecher zu gründensei (und desshalb denn auch die Zulässigkeit der Todesstrafe nicht bestritten werdenkönne), stossen wir auf arge juristische Schnitzer (z. B. auf eine völlige Verwirrung derBegriffe von Dolus und Culpa), auf Sätze, die nur der seichtesten Aufklärung möglichsind,64 und im Ganzen auf eine völlig schrankenlose willkürliche Anwendung der Maxime„Salus reipublicae suprema lex esto."65 Man könnte geneigt sein, sich über den Erfolg,den diese Schrift gehabt hat, zu wundern, wenn dergleichen nicht eben öfter in der Wis-senschaft wiederkehrte. Anzuerkennen ist allerdings der Hinweis auf die Nothwendigkeitbestimmter und zeitgemässer Strafgesetze.66

§. 84. In eine förmliche Nothwehrtheorie ist der Gedanke Beccaria’s von der Nothwen-digkeit der Strafe umgewandelt in der Schrift Servin’s,67 welche ursprünglich mit der

Insofern könnte man seine Theorie als eine nicht relative bezeichnen.62Vgl. z. B. S. 73, 85.63Vgl. S. 73.64Z. B. soll der Begriff der Ehre eigentlich nur ein eingebildeter sein, S. 124.65So werden die härtesten Strafen empfohlen gegen Personen, die im Staate neue Religionen predigen

(S. 254); so sprechen die Verfasser sich für wahrhaft barbarische Freiheitsstrafen aus (S. 168).66In mehr gemäsaigter Weise wird das Princip der Abschreckung nach dem Satze „Salus reipublicae

suprema lex esto"vertreten von Grmelin: Grundsätze der Gesetzgebung über Verbrechen und Strafen,1785.

67De la législation criminelle, mémoire fini en 1778, envoyé a la société Economique de Berne 1778 et

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Schrift von v. Globig und Huster um den von der Berner ökonomischen Gesellschaft aus-gesetzten Preis concurriren sollte. Das Strafrecht ist nach Servin nur das auf den Staatübergegangene natürliche Recht der Nothwehr der Einzelnen. Wie der Einzelne im Na-turzustande sich sichern kann vor der Wiederholung des Angriffs selbst durch Tödtungdes Angreifers, so später auch der Staat

Seite 238durch Strafe. Hiernach würde man vermöge der (freilich unrichtigen) Praesumtion, dassder Verbrecher das verübte Verbrechen wiederholen werde, als Zweck der Strafe die Si-cherung vor dem einzelnen Verbrecher erwarten müssen. Allein der Verfasser stellt dieAbschreckung Anderer in den Vordergrund — während die Nothwehr sich doch immerauf den Angreifer, nicht auf Dritte beziehen muss — und der Consequenz des Abschre-ckungsprincips, dass nämlich die Grosse der Strafe dann nicht von der Bedeutung darstrafbaren Handlung, sondern von der Stärke der Beweggründe abhängen werde, welcheja oft bei geringeren Delicten weit bedeutender sind (z. B. bei Gelegenheitsdiebstählenu. s. w.), entgeht er, wie später auch Feuerbach, durch einen zweiten Bruch mit derConsequenz, indem er, offen genug jene Consequenz anerkennend, sagt, das gehe derErfahrung nach nicht.68 Von Folgerichtigkeit kann also bei diesem früher oft genanntenSchriftsteller entfernt nicht die Rede sein. Während er z. B. mit Beccaria möglichsteBeschränkung der Strafen proclamirt und pathetisch ausruft: „Ménagez la liberté du ci-toyen69", flösst ihm «ine ausgedehnte Denunciationspflicht, ferner Bestrafung des durchdas Verbrechen Verletzten im Falle des Nichtanzeigens (S. 24 vgl. S. 367), Bestrafungder Auswanderung (S. 275) nicht das mindeste Bedenken ein, und während er die To-desstrafe verwirft — wesentlich aber nur deshalb, weil sie nicht genügend abschrecke —vertheidigt er die körperliche Züchtigung in weitem Umfange und selbst die von der da-maligen Praxis bereits aufgegebenen Verstümmelungsstrafen. Bemerkenswerth ist nochdie Anwendung, welche Servin von der Unterscheidung des Droit naturel und des Droitconventionnel macht. Angriffe gegen das natürliche Recht sind ihm Crimes, Angriffe ge-gen das conventioneile Recht Délits. Hier begegnen wir also zum ersten Male70 dieserspäter so bedeutsam gewordenen Eintheilung der strafbaren Handlungen; allerdings istsie keineswegs glücklich durchgeführt. Leben, Gesundheit, Freiheit gehören zum natür-lichen Recht. Das conventionelle Recht besteht aus Dem, was aus dem Contrat socialfolgt, und dahin gehört auch das Eigenthum, da der Staat das Eigenthum vertheilt (!):71

daher kann der Diebstahl immer nur Délit sein, nie Verbrechen (S. 298), und was dieStrafen betrifft, so wird aus dem Begriffe des Conventionellen Rechts abgeleitet, dass bei

Seite 239Délits niemals Todes- oder auch nur lebenslängliche Freiheitsstrafe zulässig sei; denn

rétiré du concours 1782. Avec des considerations . . par Iselin, Secrétaire d’Etat de la république deBasle. Basel 1782.

68Vgl. S. 27, 28.69Vgl. I. 4 und S. 265.70Die Worte „crimeünd „délit"wurden vor der Gesetzgebung der französischen Revolutionszeit promiscue

gebraucht. Vgl. Schäffner: Geschichte der Rechtsverfassung Frankreichs, III. S. 440.71Diese Argumentation wird freilich zunächst zu dem Zwecke benutzt, die damals noch so oft bei einfa-

chem Diebstahl verhängten Todesstrafen zu bekämpfen.

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einen Vertrag, wodurch einem Anderen das Recht der Tödtung oder der lebenslängli-chen Freiheitsentziehung eingeräumt würde, kann Niemand schliessen (S. 179). Nebendiesen immerhin verdienstlichen, wenn auch verfehlten Versuchen, verschiedene Artender strafbaren Handlungen zu unterscheiden, geht dann aber nebenher eine bedenklicheVermischung von Recht und Moral. Sichtig hat Servin es zwar erkannt, dass die schwerenVerbrechen immer auch Verletzungen des Moralgesetzes sind (S. 91). Aber nun begehter den Fehler, aus dem Moralgesetze unmittelbare Rechtssätze zu abstrahiren, und inFolge der Verwechslung von Recht und Moral den Dolus zu charakterisiren als „Absichtzu schaden"(envie de nuire), eine Auffassung, welche später in mehrfacher Beziehung fürdie französische Jurisprudenz und Justizpflege höchst nachtheilig geworden ist."Wie weit man übrigens bei Nichtachtung des geschichtlich Gegebenen mit dem Satze

„Salus reipublicae suprema lex esto"kommen kann, zeigt vielleicht besonders deutlichdie Schrift des Leipziger Professors der Philosophie E. C. Wieland „Geist der peinlichenGesetze", 2 Theile, 1783. Das Buch verdient auch h. z. T. noch Interesse. Ungeachtet derin juristischen Schriften übrigens nicht unbelesene Verfasser nicht Jurist ist, spiegelt eswie vielleicht kein anderes den Geist der damaligen aufgeklärten Jurisprudenz wieder,macht daher freilich nicht selten auf uns den Eindruck der Carieatur.Von den natürlichen Gesetzen ausgehend, die Wieland mit den Geboten der Moral

ohne Weiteres identificirt,72 betrachtet er, wie Servin, die Strafgesetze als Mittel desZwanges zur Beobachtung der natürlichen Gesetze, wie derjenigen Gesetze, welche nurden Zweck der Wohlfahrt der einzelnen Bürger haben (peinliche Gesetze und Polizeige-setze). Gleichwohl wird dann andererseits das Strafrecht gegründet auf das Recht dernatürlichen Verteidigung, welches von dem Einzelnen auf den Staat übergegangen sei (I.S. 393), und von diesem Principe der Sicherung vor dem einzelnen Verbrecher werdendann die meisten Consequenzen für die Behandlung der Delicte und Strafen gezogen.Auf eine Widerlegung der Wieland’schen Theorie in diesem Punkte kann es hier nichtankommen, da die sog. Specialpräventionstheorie, in einer vollkommneren Form vonGrolmann vorgetragen, später den Angriffen Feuerbach’s erlegen ist. Bemerkenswerthaber ist, dass Wieland es vollständig verkennt, dass es das Wesen des Rechtes ist, denBerechtigten innerhalb des Rechtes frei schalten zu lassen, dass er in Verkennung diesesFundamentalsatzes den Umfang eines positiv gegebenen Rechtes unmittelbar bestimmt

Seite 240nach dem letzten Zwecke der Vervollkommnung des Menschengeschlechts, und dass ausdiesem Grunde schon eine völlige Vermischung von Recht und Moral einen Grundzugdes Buches ansmacht.73 Diese Vermischung wirkt aber noch besonders in folgender Rich-tung. Das Wesen des Verbrechens ist nach Wieland seine Bosheit d. h. eine Absicht desVerbrechers, welche diametral entgegengesetzt ist den Gesetzen der Natur; sobald derVerbrecher noch gewissen natürlichen Trieben zu folgen scheint, handelt er deshalb auchnicht mit völliger Bosheit und kann also auch nicht von der höchsten Strafe des Gesetzesgetroffen werden. Es wird mit anderen Worten die Theorie der moralischen Freiheit als

72I. S. 5 ff., S. 102.73Besonders deutlich tritt dies hervor in der Erörterung über die Nothwehr (II. S. 136), ferner in der

Erörterung über Selbstmord und Vernachlässigung der eigenen Gesundheit (I. S. 335).

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Vorbedingung der ordentlichen Strafe vertheidigt.74 Wo irgend ein glaubhafter Grundgefunden werden kann, der den Verbrecher bewog, das Verbrechen zu begehen, da kannnicht die ordentliche Strafe angewendet, da muss der Verbrecher milder behandelt wer-den, z. B. auch der Raubmörder, der sein Opfer ermordet, weil er Entdeckung befürchtet,und so ist auch z. B. der falsche Zeuge, der nur einem Anderen oder auch sich selbstdurch die falsche Aussage zum Vortheile handeln will, kein wirklicher Verbrecher. So hatdenn der Staat und der Richter in Wahrheit nach den allerunsichersten Vermuthungen,nach Grundsätzen, die in der praktischen Anwendung jeden Augenblick sich widerspre-chen, die Strafe (beliebig) festzusetzen d. h. zu mildern; aber Staat und Richter dürfenauch, wenn sie nur die genügende Ueberzeugung von der „Bosheit"75 des Verbrechershaben, recht strenge strafen, und der Verfasser, der anfangs so besorgt erscheint, dassja der Staat nicht unnütz strafe, der anfangs ausführt, dass nur eine Verletzung des sog.natürlichen Rechtes ein Verbrechen sein könne, will nachher auch den „boshaften Unge-horsam"gegen irgend welche Staatsgesetze zu einem wirklichen Verbrechen stempeln.76

Natürlich: ein solcher Ungehorsam gegenSeite 241

den Staat wird sich auch schliesslich gegen die natürlichen Rechte wenden: das ist das Ar-gument des Despotismus, welches freilich von einem bornirten Liberalismus auch heutzu Tage nicht verschmäht wird. (Man braucht mir statt des gegenwärtig nicht mehrbeliebten Wortes „boshaft"das hier im Sinne nicht verschiedene Wort „principiellßu set-zen.) Da nun Alles boshaft und Alles gefährlich sein kann, so kann denn auch die blosseUeberredung zum Missvergnügen im Staate zu einem Verbrechen werden, und da dieVervollkommnung des Einzelnen dessen unbedingte Pflicht ist, so kann auch der Einzel-ne mit Strafe dazu gezwungen werden. So wird die denkbar ausgedehnteste Einmischungder Polizei (überall natürlich mit Strafbefugnissen77) in die Verhältnisse der Einzelnen,der Familie gepredigt und bei solcher Omnipotenz der Staatsgewalt von der Annahmedes beschränkten Unterthanenverstandes ausgegangen.78 Man wird da lebhaft gemahntan das wenige Jahre nach dem Erscheinen der Wieland’schen Schrift publicirte preus-sische allgemeine Landrecht, und dass seine Ansichten ihrer Zeit die Ansichten Vielerwaren, sieht man auch aus einer Vergleichung mit dem von Feuerbach so meisterhaftkritisirten Entwürfe des bayerischen Criminalgesetzbuches von Kleinschrod. 79

74I. S. 275, 276: „Nur Derjenige kann sich eines Verbrechens schuldigmachen, der nicht allein das über-tretene Gesetz kennt, sondern auch sich der Bewegungsgründe, die mit der Beobachtung desselbenverknüpft sind, bewusst und in dem Augenblicke der Uebertretung stark genug ist, um jene Be-wegungsgründe zu unterdrücken und sich vermittelst dieser Unterdrückung zu einer ganz entgegen-gesetzten Anwendung seiner Kräfte zu bestimmen". Vgl. auch I. S. 336, wo ausgeführt wird, dassgewaltsame Leidenschaften die Selbsttätigkeit ausschliessen.

75„Die selbstthätige Bestimmung zu zweckwidrigen Handlungen ist Bosheit und jede boshafte Uebertre-tung eines Gesetzes ist ein Verbrechen,Ï. S. 275, II. S. 109 und anderwärts.

76I. S. 306.77I. S. 177 ff., I. S. 250 ff. Zuweilen werden auch entsprechende Belohnungen und Tugendpreise empfohlen,

I. S. 165.78I. S. 147: „Die Bürger sind gewöhnlich viel zu leichtsinnig, viel zu wenig aufgeklärt". „Das Gefühl dieser

Einschränkungen (der natürlichen Freiheit) muss in ihnen erregt werden, um sie zu guten Bürgernzu machen".

79Wieland sagt (I. S. 406): „Menschen, die in der Bosheit so weit gekommen sind, dass sie nicht leben

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Seite 242§. 85. Es kam bei solchen Verirrungen praktisch darauf an, einerseits Recht und Moral zuunterscheiden, andererseits das Recht aus der völligen Auflösung in Nützlichkeitsrück-sichten für den einzelnen Fall zu retten.Eine Theorie, die dies mit Erfolg unternahm, musste nothwendig einen bedeutenden

Eindruck bei den Zeitgenossen hervorrufen, so stark ihre sonstigen Mängel auch seinmochten. So erklärt sich der bedeutende Eindruck zunächst der Kant’schen Strafrechts-theorie.80

Kant, der dem Menschen die Möglichkeit theoretischer Erkenntniss der „Dinge ansich"(der Wahrheit im objectiven Sinne) durchaus abspricht, rettet bekanntlich durcheinen kühnen Sprung die Möglichkeit einer Ethik, welche sich auf den freien Willen desIndividuums gründet, durch die Annahme einer unmittelbar erkannten, unumstösslichenNorm für das praktische Handeln, welche Freiheit, Gott, Unsterblichkeit zur Vorausset-zung hat. Dieser kategorische Imperativ bedeutet ihm für das Strafrecht: Vergeltung.Dem Verbrechen muss unbedingt Vergeltung zu Theil werden, und bei dieser durch dieGerechtigkeit gebotenen Vergeltung findet kein Zusetzen, kein Abhandeln aus Nütz-lichkeitsgründen statt; auf ihr beruht überhaupt Würde und Werth aller menschlichenEinrichtungen. „Wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Werth mehr, dassMenschen auf Erden leben. Selbst wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glie-der Einstimmung auflösete, . . . müsste der letzte im Gefängnisse befindliche Mördervorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Thaten werthsind,"81 Von diesem Standpunkte aus wird dann insbesondere die Rechtmässigkeit undNothwendigkeit der Todesstrafe behauptet.Es ist leicht, Kant zu widerlegen. Seine Theorie verdient, wenn. man ehrlich sein will

und sich nicht blenden lässt durch den berühmten Namen, kaum die Bezeichnung eineswissenschaftlichen Versuchs. Sie ist nichts als einfache Berufung auf das unmittelbareund in der Zeit, in welcher Kant lebte, doch schon individuell recht verschiedene Gefühl.Schwerlich wird heut zu Tage noch ein wissenschaftlich Gebildeter behaupten wollen,

können, ohne entweder schädliche. Handlungen wirklich zu unternehmen oder mit unruhiger Auf-merksamkeit den ersten günstigen Augenblick zur Ausführung einer schon entworfenen schädlichenUnternehmung zu erwarten, sind unter aller Besserung, und der Tod allein ist fähig, der Wirksam-keit ihres Lasters Einhalt zu thun". Der bayerische Entwurf sagte im §. 129: „Die Todesstrafe sollgegen Hochverräther, Mörder, Todtschläger, Aufrührer und Brandstifter nur dann erkannt werden,wenn Verbrecher dieser Art in Gefängnissen und Zuchthäusern nicht so verwahrt werden können,dass dadurch die nahe Gefahr entfernt wird: sie möchten sich in Freiheit setzen und solche Verbre-chen wieder begehen". §. 130: „Als Fälle dieser Art sind anzusehen, wenn solche Verbrecher einenso starken Anhang haben, dass zu befürchten ist, ihre Anhänger möchten sie von den Straforten,an welche man sie bringen könnte, befreien, oder wenn die Anzahl der obengedachten Verbrecherin einem hohen Grade zunimmt, oder überhaupt, wenn ein Missethäter so beschaffen ist, dass jedeandere Strafe nicht im Stande ist, den Staat und Unsere getreuen Unterthanen gegen ihn in Sicherheitzu setzen."Vgl. darüber Feuerbach: Bibliothek für peinl. Rechtswissenschaft, Bd. 2 Stück 3 (1804) S.166ff. — Die Todesstrafe wird nebenbei von Wieland I. S. 419, auch damit gerechtfertigt, dass mandabei unverbesserliche Menschen (zu denen Mörder gar nicht einmal immer gehören) nicht weiter zufuttern brauche.

80Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797, S. 195—206.81S. 199.

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K. C. Die Strafrechtstheorien der neueren Zeit

dass es einen kategorischen, in der Weise, wie Kant annahm, stets sich gleichbleibendenImperativ gebe. Die Ethik hat ihre Entwicklungsphasen in der Geschichte, und dieseBetrachtung wie die Rechtsgeschichte zerstört unerbittlich die Annahme einer vom Ur-anfange an geltenden Todesstrafe des Mörders. Nur darin trifft Kant das Richtige, dassdas Schick-

Seite 243sal des einzelnen Verbrechers nicht so, wie man in damaliger Zeit oft es wollte, vonunbestimmten Zweckmässigkeitserwägungen abhängig gemacht werden darf. Dazu warder pathetische Appell an den kategorischen, über Zeit und Raum erhabenen Imperativvorzüglich geeignet.Wie aber überhaupt die Unmöglichkeit besteht, eine Vergeltungstheorie durchzufüh-

ren, so hat auch Kant sie, ungeachtet von einer wirklichen Durchführung irgend einerTheorie bei ihm keine Rede sein kann, seine Theorie nicht viel über aphoristische Be-merkungen hinauskommt, thatsächlich aufgeben müssen, indem er der realen Vergeltungdes Gleichen mit dem Gleichen in vielen Fällen die Vergeltung der Wirkung oder demGefühle nach substituirt (S. 198). Doch hat sein kategorischer Imperativ ihn noch in argeVerwicklungen verstrickt. Das uneheliche Kind sollte als ein rechtswidriges Kind eigent-lich gar nicht existiren, und so ist es schwer, den Kindesmord für strafbar zu erklären;die Gebote der Ehre erscheinen als kategorische Imperative — was kann nicht Alles nachZeit und Umständen als kategorischer Imperativ erscheinen!82 — und so findet er, wasdas Duell betrifft, auch keinen rechten Ausweg. Die kategorischen Imperative bekämpfenhier einander, und obschon sie bei Leibe nichts sich abdingen lassen sollen, so machensie hier doch eine Ausnahme.Sehr richtig hat indess Kant das Sophisma, dass der Verbrecher selbst die Strafe wolle

und daher desshalb rechtmässig sei, durchschaut und widerlegt,83 wie es in etwas plat-terer Weise freilich schon Hobbes und Rousseau gethan hatten. Dass es so bald nachhervon Feuerbach wieder hervorgesucht werden konnte, ist freilich ein Beweis für die Le-benskraft solcher logischer Kunststücke, mit denen — im Ganzen mühelos — die Lösungtieferer Probleme immer neu versucht wird.§. 86. Ebenso wie Kant das Recht durchaus von der Moral trennt84

82Auch Guillotine und Staatsstreiche sind ihrer Zeit schon sittliche Pflichten gewesen.83S. 203: „Wenn ich (also) ein Strafgesetz gegen mich, als einen Verbrecher, abfasse, so ist es in mir die

reine rechtlich-gesetzgebende Vernunft (homo noumenon), die mich als einen des Verbrechens fähigen,folglich als eine andere Person (homo phaenomenon), sammt allen übrigen in einem Bürgervereindem Strafgesetze unterwirft. Mit anderen Worten: nicht das Volk (jeder einzelne in demselben),sondern das Gericht (die öffentliche Gerechtigkeit), mithin ein anderer als der Verbrecher, dictirt dieTodesstrafe, und in dem Socialcontract ist gar nicht das Versprechen enthalten, sich strafen zu lassen,und so über sich selbst und sein Leben zu disponiren".

84Dies lag im Zuge der Zeit, welche nunmehr wieder direct an Hobbes anknüpfte. So wollte auch Abicht:Ueber Belohnung und Strafe, 2 Thle., Erlangen 1796, die moralische Vergeltung (göttliche Vergeltung)von der bürgerlichen (Strafgerechtigkeit) durchaus trennen (vgl. darüber Hepp I. S. 61—64). CarlChr. Erhard Schmid: Versuch einer Moralphilosophie, Jena 1790, unterscheidet (vgl. namentlich §.397) Zwangsübel — diese kann jeder Beleidigte und in seinem Namen die Gesellschaft anwenden —,Züchtigung — diese ist Sache des Erziehers — und Warnexempel — zu diesen ist nur die Obrigkeitkraft des Gesellschaftsvertrages berechtigt. Bestrafen, d. h. den niederen Grad der Glückseligkeit nachVerhältniss der Würdigkeit des Charakters bestimmen, meint Schmid, könne nur der Unendliche. —

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Seite 244und es dadurch auf den zwar richtigen, an sich aber inhaltlosen Begriff der Freiheit stellt,so geschieht jenes auch von Fichte.85

Wie das Eigenthumsrecht sich bei Fichte nur auf einen willkürlichen Ueberlassungs-vertrag der Nichteigenthümer an den Eigenthümer gründet, und wie der Staat bei ihmnur durch Vertrag zu Stande kommt, so ist auch das Verbrechen bei Fichte lediglichBruch dieses Vertrages, d. h. der durch Vertrag garantirten Rechte, und dieser Bruchdes Vertrages seitens des Verbrechers hat, genau betrachtet, die Lösung des gesammtenrechtlichen Verhältnisses zwischen Staat und Verbrecher zur Folge, d. h. die Rechtlosig-keit des Verbrechers: der Rechtlose ist vogelfrei.86 Indess zieht der Staat diese schroffeConsequenz nicht völlig; er kann sich der Regel nach begnügen mit einer Garantie, dassder Verbrecher den Vertrag (Bürgervertrag) künftig besser halten werde, und findet dieseGarantie in dem sog. „Abbüssungsvertrage", aus welchem für den Verbrecher „das wich-tige Recht"resultirt, nicht für rechtlos erklärt, sondern „abgestraft zu werden". 87 Kraftdieses Abbüssungsvertrags wird nun der Verbrecher einer Besserungsstrafe unterworfen.Aber der Abbüssungsvertrag bildet, wie gesagt, nur die Regel. Es gibt Verbrechen von

der Art, dass der Schuldige überhaupt eine genügende Garantie für künftiges Innehal-ten des Vertrages nicht scheint geben zu können; in diesen Fällen kommt es nicht zurAbbüssung (zur eigentlichen Strafe), sondern bleibt es bei der Rechtlosigkeit, und inFolge dieser Rechtlosigkeit ist der Staat auch berechtigt, zur eigenen Sicherheit (bezw.zur Sicherheit der übrigen Bürger) dem Verbrecher das Leben zu nehmen, wie Fichteausdrücklich hervorhebt, nicht zur Strafe, sondern von Polizei wegen; ein richterlichesTodesurtheil sollte nach Fichte un-

Seite 245zulässig sein (II. S. 124).88 Und da eigentlich, wenn jener Abbüssungsvertrag nicht wäre,gegen den an sich rechtlosen Verbrecher Alles erlaubt ist, so ist es nach Eichte auchnicht unzulässig-, sondern nützlich, dass das Gesetz, welches ja den Abbüssungsvertragals eine Wohlthat für den Verbrecher betrachten muss, auch den Abschreckungszweck 89

mit in sich aufnehme (II. S. 99 ff.). Mit den einzelnen Consequeazen der Abschreckungs-und der Theorie der Sicherung vor dem einzelnen Verbrecher hat Fichte nun freilich sich

Kant selbst hatte früher in seiner „Kritik der praktischen Vernunft"die Strafe einfach als moralischeVergeltung hingestellt. Vgl. darüber Hepp I. S. 24, 25.

85Grundlage des Naturrechts nach den Principien der Wissenschaftslehre, Jena und Leipzig 1796, 2Thie. — Die spätere mystische Fichte’sche „Staatslehre oder über das Verhältniss des Urstaates zumVernunftreiche"(Vorträge gehalten 1813, aus F.’s Nachlass herausgegeben, Berlin 1820) bietet für dasStrafrecht nichts.

86II. S. 113—130.87II. S. 97, 98.88Im Ganzen ist Fichte gegen die Todesstrafe. Er rechtfertigt sie mir wie Cato nach Sallust’s Bericht die

Erdrosselung der Catilinarier rechtfertigte. Vgl. II. S. 124, 125. — Die wunderbare Präsumtion, derMörder, sei unverbesserlich, ist nur aus dem Streben zu erklären, die aufgestellte Theorie mit einemals unentbehrlich angesehenen Satze des positiven Rechts zu vereinigen.

89Dag Abschreckungsprincip schillert bei Fichte zuweilen in das Talionsprincip hinüber. Vgl. II. S. 100:„Jeder muss notwendig von seinen eigenen Rechten und Freiheiten so viel auf das Spiel setzen, als erdie Rechte des Anderen . . . zu verletzen in Versuchung ist (die Strafe des gleichen Verlustes, poenatalionis)".

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nur wenig befasst. Dass sie mit einander nicht harmoniren, hat der Streit zwischen Grol-mann und Feuerbach bald genug gezeigt, und nicht einmal der Versuch ist von Fichtegemacht worden, die strafbaren (strafwürdigen) Handlungen zu bestimmen, als Versuchaber eines objectiven Strafmasses begegnet uns höchstens der Schadensersatz in Formeiner gewissen, unklar gedachten Arbeitshausstrafe.90

Im Ganzen aber ist das Recht nach Fichte und daher selbstverständlich auch dasStrafrecht, wie Stahl91 schon sehr richtig ausgeführt hat, nichts als eine äussere, allersittlichen Idee — mit Ausnahme allein der Wahrung einer gewissen abstracten Freiheit— entbehrende Zwangsanstalt. Das Ideal ist Fichte (I. S. 169) eine „mit mechanischerNothwendigkeit92 wirkende Veranstaltung, durch welche aus jeder rechtswidrigen Hand-lung das Gegentheil ihres Zweckes erfolgt", und so kann es denn nicht anders sein, alsdass die letzte Gewähr für die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung bei solcher Auffas-sung, welcher die Ge-

Seite 246sinnung der Staatsangehörigen nichts gilt, in einer grenzenlosen Polizeiaufsicht und Po-lizeiplackerei (mit Pässen und Reiserouten) gefunden wird — sonderbar genug bei einemPhilosophen, der gerade die deutsche Nationalität so muthvoll gegen das Franzosenthumvertheidigt hat, immerhin aber lehrreich für den philisterhaften, falschen Liberalismus,der überall nach Sicherheiten gegen den Missbrauch sucht und in keiner Weise auf die Ge-sinnung vertraut. Auch fehlt es Fichte durchaus an wahrhaft historischem Sinne. Sonsthätte er wissen müssen, dass jene Basis der Rechtlosigkeit des Verbrechers, welche erdurchweg dem Strafrecht gibt, nur für die ersten Entwickelungsstufen des Rechtes passt.Gleichwohl kann man von Fichte Verschiedenes lernen. Erstens steckt in dieser Annahmeder Rechtlosigkeit des Verbrechers eine wohl zu beachtende relative Wahrheit, und esfolgt daraus namentlich eine viel richtigere Würdigung des Strafgesetzes, als z. B. nachder späteren Feuerbach’schen Theorie.93 Und zweitens hat der Philosoph darin tiefergesehen, als manche der bald zu erwähnenden Juristen, dass er eine Begründung desStrafrechts auch vom Standpunkte des Verbrechers suchte.§. 87. Grolmann’s Theorie (der Specialprävention)94 findet, wie Fichte, den Rechts-

grund der Bestrafung dem Verbrecher gegenüber darin, dass gegen Den, der sich derRechtsordnung widersetze, ein Zwangsrecht begründet sei, was bis zur Vernichtung gehenkönne. Eine Moderation dieses Zwanges suchend, 95findet G. dieselbe in der Anwendung90II. S. 112.91Die Philosophie des Rechtes I. (3. Aufl.) S. 230 ff.92Mit dieser mechanischen Auffassungsweise steht wieder der Bessevungszweck in unlöslichem Wider-

spruche; denn nach Fichte hat das Recht es nicht mit der Gesinnung zu thun. Wie aber Besserungohne Aenderung der Gesinnung möglich sein soll — denn auch die blosse Gewöhnung ändert schliess-lich die Gesinnung — bleibt schwer zu begreifen. Fichte hilft sich hier (II. S. 114, vgl. S. 118, 119),ebenso wie später Grolmann mit der Bemerkung, es sei nicht auf moralische, sondern aut politische(?) Besserung abgesehen.

93Das Strafgesetz soll (wenn dasselbe nämlich nicht auf Willkür, sondern auf geschichtlicher Nothwen-digkeit beruht) nicht sowohl Grund der Bestrafung, als vielmehr deren Schranke sein.

94Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft; Ueber die Begründung des Strafrechts und der Strafge-setzgebung, Giessen 1799.

95Vgl. Begründung S. 157. Der Staat würde sich selbst herabsetzen, wenn er den auszuschliessendenVerbrecher ohne weiteren Grund tödtete.

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eines Mittels, nach dessen Gebrauche der Gefahrdrohende (der Verbrecher) künftig nichtmehr als ein Gefahrdrohender angesehen werden könne; dieses Mittel ist die Strafe.96

Den Vorwurf, den man, und insbesondere Feuerbach gegen Grolmann erhoben hat,dass er wegen eines nur möglichen (wahrscheinlichen bösen Willens), nicht wegen einerbegangenen That strafen wolle, ist also genau betrachtet, nicht zutreffend. Grolmannwill zwar die Rechtsverletzung seitens des Verbrechers für die Zukunft verhüten; aber dieStrafe wendet sich doch in Wahrheit gegen den durch die vergangene That dargelegtenCharakter des Verbrechers, aus welchem für die Zukunft andere Verbrechen indicirterscheinen. Dies geht, obwohl es Grolmann selbst (S. 54)

Seite 247in seiner Definition der Strafe nicht hervorhebt, doch zur Evidenz daraus hervor, dasser (vgl. namentlich S. 120 ff.) die illegale Stimmung, d. h. den dauernden Charakterdes Verbrechers, zum Massstabe der anzuwendenden Strafe nimmt und (S. 121) dieRegel aufstellt, je grösser die Verwilderung des Verbrechers sei, um so gefährlicher seiletzterer auch für die Zukunft, d. h. um so grösser müsse die Strafe sein. Das Massder Verwilderung sieht er dann reflectirt in der Natur der durch die gesetzwidrige Thatverletzten Rechte.97 Darin tritt aber auch die Unhaltbarkeit der ganzen Theorie offen zuTage. Strafrecht und Moral, meint G., haben mit einander nichts zu thun, und feierlichverwahrt er sich gegen die Annahme, dass seine Strafe die Menschen moralisch bessernsolle (S. 125); nicht gegen die Verwilderung des Herzens, sondern gegen den Willen sollletztere sich richten. Allein wie soll man beides unterscheiden ? Und nicht zweifelhaftkann sein, dass Grolmann’s Theorie die Individualität des einzelnen Verbrechers beiAusmessung der Strafe vorzüglich berücksichtigen muss. Gerade die Frage, ob Derjenige,der einmal ein Verbrechen begieng, dasselbe vermuthlich wiederholen oder auch späterein anderes Verbrechen begehen werde, ist, wie kaum eine andere, abhängig von derIndividualität das Verbrechers und den individuellen Umständen der That. Feuerbach,der freilich nicht selten die Waffe der Sophistik auch gegen Grolmann anwendet, hattedoch darin ganz Recht, dass ein Gesetzbuch, welches den Menschen und das Verbrechennur in grossen Zügen und nach allgemeinen für die Mehrzahl der Fälle gültigen Normenbeurtheilen kann, genau betrachtet, unmöglich die Abmessung der Strafbarkeit nach demCharakter des Verbrechers vornehmen dürfe. Die Abmessung der Strafe aber nach derWichtigkeit der durch das Verbrechen verletzten Rechte ist ein radicaler Bruch mit demersten Principe selbst. Consequenter verfährt denn auch die Besserungstheorie, wenn sieschliesslich jede bestimmte Strafe verwirft und die Strafgrösse von der erst nachher zuconstatirenden Besserung des Verbrechers abhängig macht.Die Specialpräventionstheorie Grolmann’s musste den Waffen Feuerbach’s unterliegen;

sie konnte keinen wirklichen Fortschritt im Strafrechte begründen, höchstens eine milde-re Strafpraxis oder Gesetzgebung insofern herbeiführen, als der nach angeblich göttlicherGerechtigkeit besonders straffällige Verbrecher zuweilen als für die Zukunft harmlos an-gesehen werden mochte. In der Zeit eines entwickelteren, Staatslebens ist die Rücksicht,

96S. 32.97„Je unersetzlicher und wichtiger die verletzten Rechte, desto dringender das Interesse der Menschen

die Unterlassung (der Handlung) erforderte, desto grösser die Verwilderung".

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den einzelnen Verbrecher unschädlichSeite 248

zu machen, nur eine höchst untergeordnete, der kaum der Richter, der doch dem einzel-nen Verbrecher gegenüberstellt, innerhalb eines sehr weiten Strafrahmens einigermassengerecht werden kann. Die Gesetzgebung kann mit diesem Principe wenig anfangen. Sosah sich denn Grolmann selbst durch die Angriffe seines Freundes und Gegners Feuerbachbald stark in die Enge getrieben; schon in der Schrift über Begründung des Strafrechtsräumte er der Abschreckung Feuerbachs einen erheblichen Einfluss ein.§. 88. Feuerbach’s"98 Theorie war nun zur Begründung einer positiven, in damaliger

Zeit dringend geforderten Gesetzgebung in ganz anderer Weise geeignet.Sein Streben ging zunächst dahin, das Strafrecht zu befreien von den damals herr-

schenden Theorien, die das positive Strafrecht nur als einen unvollkommenen Versuchbetrachteten, das der Natur der Sache entsprechende Strafrecht auszudrücken, und diedemgemäss den Richter für berechtigt erklärten, da, wo ein Satz des positiven Rechtesmit jenem aus allgemeinen Principien abgeleiteten Rechte nicht zu harmoniren schien,diesen positiven Rechtssatz bei Seite zu setzen. Zur Rechtfertigung dieses letzteren Ver-fahrens und zugleich als Mittel, die doch nothwendige Unterordnung des Richters unterdas Gesetz scheinbar zu wahren, diente namentlich die Betrachtung und Erwägung derZwecke des Strafrechts und die hiermit zusammenhängende Theorie von der moralischenFreiheit als Erfordorniss der vollen Strafbarkeit des Verbrechers. Die Folge war die obengeschilderte richterliche Willkür, und zwar unter Umständen auch, was die Verschärfungder Strafe betrifft; denn wie der Richter in einigen Fällen von der gesetzlichen Strafe dis-pensirte, hielt er sich in anderen für berechtigt, die gesetzliche Strafe nach allgemeinenPrincipien zu erhöhen.Dem gegenüber galt es die Autorität des Positiven, des Gesetzes zu stärken, und

zugleich, da in der That das Gesetzbuch des gemeinen Rechts, die Carolina, in vielfacherBeziehung unanwendbar geworden war, zu zeigen, wie Vieles durch ein präcis abgefasstes,zeitgemässes Gesetzbuch zu erreichen war. Feuerbach hatte zwar zunächst nur das Ersteim Auge; das Zweite inusste sich aber von selbst ergeben, und so ist es kein Zufall, dassalsbald Feuerbach mit der Abfassung eines wichtigen Gesetzbuchs betraut wurde.Feuerbach’s Theorie — er wendet sich auch energisch gegen die

Seite 249Einmischung der Theologie in dag Strafrecht99 — ist im Abrisse die folgende. Der Staathat die Aufgabe, Rechtsverletzungen zu verhüten; er kann dies durch unmittelbar physi-schen Zwang nicht ausreichend und ist daher berechtigt, psychologischen Zwang dadurchanzuwenden, dass er ein Uebel Demjenigen androht, der (ein Verbrechen) eine Rechts-verletzung begehen werde. Diese Drohung ist an sich erlaubt; sie greift in NiemandesRechte ein. Ohne Vollziehung der Drohung würde aber letztere selbst unwirksam sein.Daher ist auch die Vollziehung gerechtfertigt, und zwar auch vom Standpunkte des da-98Vgl. besonders die Revision der Grundbegriffe des peinlichen Rechts, 2 Theile 1799; daneben den

Aufsatz in der Bibliothek der peinl. Rechtswissenschaft, 1798, Th. I. Stück 2 Nr. 2, und die Schrift„Ueber die Strafe als Sicherungsmittel", 1800, und das Lehrbuch.

99Vgl auch die Recension von Grolmann’s Criminalrechtswissenschaft in der Bibliothek für peinl.Reehtsw. Bd. 2, St. 1, S. 366.

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durch Betroffenen aus desshalb, weil dieser ja, indem er die Strafdrohung kannte, welcheauf die Rechtsverletzung gesetzt war, die er an sich schon zu vermeiden verbunden war,sieh der Vollziehung der Strafdrohung freiwillig unterworfen hat.Feuerbach’s Theorie wird hiernach genannt die Theorie des psychologischen Zwanges,

der Abschreckung durch Drohung des Gesetzes, und man kann sie auch so bezeichnen.Vielleicht aber kann man sie richtiger noch bezeichnen als die Theorie des positivenGesetzes. Die Strafe wird gerechtfertigt durch das positive Gesetz; sie geht so weit,und nur soweit, als man Wirkungen von einem positiven, d. h. einem publicirten, zuJedermanns Kunde zu bringenden Gesetze erwarten kann. Dies ist der wahre Kern seinerTheorie; die Abschreckung spielt eine mehr untergeordnete Rolle.Vollkommen neu ist diese Theorie, wie man leicht sieht, nicht. Sie erinnert in ihren

Grundlagen mannigfach au Pufendorf. Aber neu und genial ist ihre Durchführung imEinzelnen; genial auch Feuerbach’s Polemik gegen die Theorie der moralischen Freiheit,genial eidlich Feuerbach’s Fähigkeit, Gesetze zu formuliren. In gewisser Beziehung bildenFeuerbach und Kant eine Parallele. Beide suchen nach einer festen Stütze für das Straf-recht. Aber während Kant in idealer Weise in apodiktischen, jeder Prüfung und weiterenBegründung enthobenen Sätzen ewiger Gerechtigkeit, in unmittelbaren Thatsachen, wieer meint, unseres Bewusstseins das Strafrecht gleichsam vom Himmel herabholt, stützt esFeuerbach auf die Macht des irdischen Gesetzgebers gegenüber den sinnlichen Trieben derMenschennatur, und da hierin allerdings eine grosse, wenn auch beschränkte Wahrheitliegt, die Macht des irdischen Gesetzgebers und die sinnlichen Triebe der Menschenna-tur eine gewisse Berechnung gestatten, so bewirkte Feuerbach’s Theorie praktisch einenerheblicheren Fortschritt als das hochtönende Pathos des Königsberger Philosophen.

Seite 250Die Strafe, wie sie der Staat verhängt, ist nach Feuerbach vor Allem nicht moralischeStrafe (Vergeltung), gegründet auf eine angebliche, für uns unfassbare moralische Frei-heit, deren Annahme die vollkommensten, von Feuerbach meisterhaft nachgewiesenenWidersprüche für das Strafrecht in sich schliesst. Die Strafe ist bürgerliche Strafe, gegrün-det auf den klaren Ausdruck des Gesetzes, und letzteres findet seine Rechtfertigung demVerbrecher gegenüber in der durch die Drohung vermittelten freiwilligen Unterwerfungdes Verbrechers, nach der Seite des Staates aber in der Möglichkeit, durch Androhungder Strafe vor Verbrechen abzuschrecken, also Verbrechen zu verhüten. Diese Strafan-drohung aber hat es wesentlich nicht mit dem einzelnen Verbrecher zu thun; mit diesemhat es nur der Strafvollzug zu thun, und letzterer ist nach Feuerbach etwas Secundäres,nur erforderlich, damit die Drohung in Zukunft wirksam bleibe. Dadurch gerade wird esFeuerbach möglich, die Autorität des Gesetzes zu heben, die Unterordnung des Richtersunter das Gesetz wirksam darzuthun.100 Denn nun kommt es nicht mehr auf die schwererkennbare Natur des Einzelnen, sondern nur auf die Frage der Subsumtion der Thatunter die vom Gesetzgeber ein für alle Mal festgestellten Merkmale an, da nur diesebei einer abstracten Drohung des Gesetzes massgebend sein können. Was dahinter liegtim Inneren des Verbrechers, was von Aussen hinzukommt an Nebenumständen, ist völ-

100Vgl. namentlich die in der Revision I. S. 147 über die Bedeutung der Strafgesetze aufgestellten Haupt-sätze.

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lig gleichgültig, und nur da muss eine Ausnahme gemacht weiden, wo die Strafdrohungvon vornherein nicht wirken konnte, wo eine verständige Entscheidung des Thäters nachsinnlichen Triebfedern, denen der Gesetzgeber ja die Drohung entgegenstellt (ebenfallsalso eine sinnliche Triebfeder), nicht möglich war.So erhielt Feuerbach zugleich eine feste Grundlage für die Beantwortung der Frage

der Zurechnungsfähigkeit,101 und indem er nun den letzten Zweck der Strafdrohung inder Sicherung vor Rechtsverletzungen, d. h. Verletzungen des subjectiven Rechtes desStaates selbst und der Einzelnen, fand — hier ist für Feuerbach die damals herrschendeAuffassung des Rechtes massgebend, nach welcher das Recht nur den Schutz der äusse-ren Freiheit bezweckt — gelangte er zugleich zu einem Massstabe der Strafbarkeit derVerbrechen nach der objectiven und der subjectiven Gefährlichkeit desselben: objectivbemisst sich die Gefährlichkeit nach der Wichtigkeit der verletzten oder gefährdetenRechte, subjeetiv nach der Gefährlichkeit und Intensität der sinnlichen Triebfeder. Mansieht, dies Alles sind gleichsam greifbare, der gesetzlichen Fest-

Seite 251stellung zugängliche Dinge, denen gegenüber im Lichte der Feuerbachschen Polemik dieDoctrinen der moralischen Freiheit, des Indeterminismus in Nebel zerrannen, und gegen-über allen anderen relativen Theorien mit speciellen Strafzwecken (Sicherung vor demeinzelnen Verbrecher, Besserung des letzteren) brachte Feuerbach die unleugbare, alleinder Würde des Strafrechts entsprechende, zugleich aber eine Schranke desselben ent-haltende Wahrheit zur Geltung, dass das Strafgesetz weniger durch seinen Vollzug imeinzelnen Falle wirkt, als vielmehr dadurch, dass es sich an die Allgemeinheit wendet undgewisse Grundsätze des Handelns als unverbrüchliche aufstellt,102 dass es eben aus die-sem Grunde auch leidenschaftlos und nach allgemeinen Erwägungen verfährt, währendAbschreckung durch Strafvollzug, Sicherung vor dem einzelnen Verbrecher, ja selbst dasPrincip der Besserung gar keine Grenzen in sich kennen.Von Dem, was die grosse Menge meist unter Abschreckungstheorie versteht, war Feu-

erbach weit entfernt, namentlich auch von der brutalen Straftheorie, welche in Augenbli-cken socialer Unruhen oder Gefahren den Einzelnen deshalb strenger strafen will, weilAndere neben ihm auch Verbrechen begehen, und seine Strafscala, in erster Linie basi-rend auf der Wichtigkeit der verletzten Rechte, nimmt erst in zweiter auf den EindruckRücksicht, welche sie auf die Sinnlichkeit der Menge machen will. Es heisst daher Feu-erbach’s Bedeutung völlig verkennen, wenn man mit Hepp (II. S. 260 ff.) das Gesetz beiFeuerbach als ein überflüssiges Mittelglied der Deduction bezeichnen will. Rein logischgenommen ist es zwar richtig, dass nach Feuerbach der Rechtsgrund der Strafe auf sel-ten des Staates in Wahrheit darin liegt, dass der Staat die Strafe eben als nothwendig

101Revision II. S. 131 ff.102Ganz verfehlt ist der so oft gegen Feuerbach erhobene Einwand, dass die Drohung des Gesetzes (rich-

tiger des Strafrechtes) dem Verbrecher gegenüber keine Wirksamkeit äussere, da dieser sich durchdie Hoffnung der Straflosigkeit, also gerade der Unwirksamkeit des Strafgesetzes leiten lasse (vgl. z.B. Ziegler, Gerichtssaal 1862, S. 15). Wer das Verbrechen wirklich begeht, hegt freilich meistens jeneHoffnung. Aber wie Viele würden nicht ausserdem das Verbrechen begehen, wenn ihnen Straflosigkeitgesichert wäre? Dass Feuerbach das Strafgesetz nicht als das einzige, wenn auch als das unerlässlicheMittel betrachtet hat, Verbrechen zu verhüten, hat er oft genug ausgesprochen.

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betrachtet, und dass hiernach die Zulässigkeit der Androhung auf der Zulässigkeit derVollstreckung, nicht aber diese auf jener beruht, und wahr ist es auch, dass Feuerbachselbst 103 später die zuerst von ihm angenommene Einwilligung des Verbrechers"104 indie

Seite 252Bestrafung hat fallen lassen. Es wird bei dieser späteren Abänderung der Feuerbach’schenTheorie klar, dass sie von einer Rechtfertigung der Strafe vom Standpunkte des Verbre-chers aus abstrahiend letzteren principiell ebenso als Mittel für andere Zwecke behandelt,wie die von Feuerbach bekämpften Theorien der Abschreckung durch Strafzufügung undder Specialprävention, und dass sie von manchen Abwegen dieser letzteren Theorien nurdadurch bewahrt wird, dass sie den Einzelnen nicht nach seiner Individualität, sondernals Durchschnittsmenschen behandelt — denn das Gesetz kennt ja den Einzelnen nicht.Hätte Feuerbach sich dies letztere klar gemacht, so hätte er auch finden müssen, dassdas moralische Urtheil und das Strafurtheil des Staates sich nicht so wie er meint ge-genüberstehen — ungeachtet er selbst gestehen musste, dass überall im Strafrecht sichdie moralischen Begriffe und Urtheile „aufdrängen"105 —, dass beide Urtheile vielmehrnur darin differiren, dass das Urtheil des Strafrichters die Moralität der That nur biszu einem gewissen, leichter festzustellenden Punkte ergründet, dass also das Strafrechtdie Moral des Gemeinwesens in grossen und gröberen Zügen ausdrückt. Dann hätte erauch nicht so wie er es that das Gesetz vom Volksbewusstsein emancipiren, das Stra-fen auf Grund blosser angeblicher Nützlichkeit der Strafdrohung oder Gefährlichkeit derHandlung rechtfertigen und das Strafrecht nicht ausschliesslich auf die Verletzung vonRechten im subjectiven Sinne basiren können.106 Er hätte dann auch nicht seine be-rüchtigte Präsumtion des Dolus zu Hülfe zu nehmen brauchen, um der Consequenz zuentgehen, dass Wer in Unkenntniss des Strafgesetzes oder seiner Strafdrohung handeltoder auch nur irriger Weise seine Handlung unter das Strafgesetz nicht subsumirt, nichtwegen absichtlicher Verletzung des Gesetzes, nicht wegen Dolus gestraft werden könnte,da allerdings Abschreckung allein hei Kenntniss der Strafdrohung möglich ist. Er brauch-te dann endlich auch nicht den Menschen bloss als nach sinnlichen Motiven Verbrechenbegehend, den Gesetzgeber als lediglich auf diese Motive wirkend zu betrachten. Sehrrichtig bemerkte die in mancher Beziehung vortreffliche kleine Schrift Thibauts: Beiträ-ge zur Kritik der Feuerbachischen Theorie über die Grundbegriffe des peinlichen Rechts(1802), obwohl sie grundsätzlich die

Seite 253Abschreckung als das richtige Princip des Strafrechts gelten lassen wollte,107 dass keine

103Vgl. „Heber die Strafe als Sicherungsmittel", S. 92 ff., Lehrbuch §. 17 II., §. 16 II. und dazu Hepp II.S. 222.

104Dieser besonders schwache Punkt war sogleich treffend von Grolmann: Ueber die Begründung desStrafrechts, S. 10 ff., widerlegt worden. Wer ein Brot stiehlt, schliesst keinen Kaufcontract. EinPrivatmann kann nicht annehmen, dass Wer sein Zimmer betritt, ihm 10 Thlr. zahlen wolle, falls erdies als Bedingung des Eintretens angeschlagen hat.

105Revision I. S. 161.106Sittlichkeitsverbrechen, die nicht zugleich subjectives Recht verletzen, sind nach Feuerbach’s Ansieht

principiell nur Polizeidelicte. Vgl. F.’s Kritik des Kleinschrod’schen Entwurfs I. S. 16.107S. 58.

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K. C. Die Strafrechtstheorien der neueren Zeit

Criminalgesetzgebung ihren Endzweck besser ereiche, als diejenige, welche die gemeinenBegriffe der moralischen Vergeltung zum Massstabe nehme, während das Abschreckungs-princip in seinen Consequenzen — da immer das Uebel angedroht werden müsse, wel-ches geeignet sei abzuschrecken (also der Anreiz zum Verbrechen wenn möglich stets zuüberwinden sei) — zu immer schrecklicheren Strafen, damit aber auch zur Verarmung,Erbitterung führen müsse.108 Thibaut hatte hiermit offen die Consequenz des Absehre-ckungsprincips gebrochen; Feuerbach selbst hatte es bereits unbemerkt gethan, indemer die Strafbarkeit zunächst auch nach der "Wichtigkeit des verletzten oder gefährdetenRechtes beurtheilen wollte.109 Die Wichtigkeit des verletzten oder gefährdeten Rechteslässt sich nur nach der moralischen Wertschätzung des Volksbewusstseins bestimmen.Die Abschreckung dagegen müsste in erster Linie auf den grösseren Anreiz zur Bege-hung des Delicts Rücksicht nehmen, und dieser ist oft bei geringeren Rechtsverletzungenbesonders stark. Die Bedenklichkeit der Feuerbach’schen Theorie liegt aber praktischdarin, dass sie den Gesetzgeber dazu verführt, diesen letzteren Massstab nach. Zeit undUmständen mit dem ersteren zu verwechseln, und dass sie ihm dabei die Ueberzeugungbeibringt, er lade, wenn nur ein Gesetz die Strafe gedroht habe, gleichwohl den Vorwurfder Ungerechtigkeit nicht auf sich- Zuletzt kommt also Feuerbach’s Theorie hinaus aufdie so häufige Verwechslung von Gesetz und Recht.Eine interessante Parallele und zugleich in mancher Beziehung werthvolle Vervollstän-

digung der Feuerbach’schen Theorie ist die Theorie des berühmten Engländers JeremiasBentham.110 Auf eine Begründung des Strafrechts vom Standpunkte des Verbrechersaus verzichtet Bentham völlig. Er erklärt es einfach als ein Axiom, dass man Verbrechenauch durch Strafen verhüten müsse, und wenn man das Recht einfach auf den

Seite 254allgemeinen Nutzen gründet, so scheint es wohl auch hinreichend, die Strafe als nütz-lich zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Rechtsordnung darzustellen, und das letztereist von selbst einleuchtend. So kann es denn nur das Bestreben des Gesetzgebers sein,einerseits nicht Handlungen zu bestrafen, deren Bestrafung unnütz oder gar, genau be-trachtet, schädlich wäre, und auch nicht Strafarten zu verwenden, die den gleichen Erfolghaben würden, und andererseits die schädlichen Handlungen auch ausreichend und mitwirksamen Strafen zu bedrohen. So untersucht B. bis in die feinsten Verzweigungen diewirklichen oder auch nur vermeintlichen Hebel, die aus den als Delicte wesentlich odermöglicher Weise in Betracht kommenden Handlungen entstehen oder entstehen können,mit meisterhafter Analyse, so aber auch die Wirkungen der möglicher Weise anzuwen-denden Strafen. Die Frage des Strafmasses tritt dabei mehr in den Hintergrund. So be-

108S. 98, S. 82 ff.109Bereits richtig hervorgehoben von Schulze: Leitfaden der Entwicklung der philosophischen Principien

des bürgerlichen und peinlichen Rechts, 1813, S. 326.110Vgl. über Bentham namentlich v. Mohl: Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Bd. 3

(1858) S. 595 ff. — Ueber seine Straftheorie auch Hepp: Gerechtigkeits- und Nutzungstheorien, S.50. Das hier in Betracht Kommende findet sich, abgesehen von der grossen Originalausgabe derSchriften Bentham’s, Lesbarer und geschickt zusammengestellt in den Traites de législation civile etpénale, ouvrage extrait des manuscrits du M. J6remie Bentham par Et. Dumont, Paris 1820, 3 Vols.- Feuerbach (Lehrbuch §. 18, Anm. 11) erklärte selbst, dass Bentham’e Theorie im Wesentlichen mitder seinigen übereinstimme.

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merkt man noch weniger als bei Feuerbach den Widerspruch, welcher in der Bestimmungder grösseren oder geringeren Strafbarkeit nach Massgabe der grösseren oder geringe-ren Wichtigkeit der verletzten oder gefährdeten Lebensbeziehungen und der Theorie derBändigung der Antriebe zum Verbrechen durch Androhung von liebeln liegt. Wie immerbei Bentham muss man neben vielen wahrhaft fruchtbringenden Gedanken Verkehrtesund Verschrobenes mit in den Kauf nehmen.§. 89. Mit Feuerbach’s Theorie in vielen Beziehungen übereinkommend, in anderen

freilich stark differirend, ist die schon 1791 zuerst aufgestellte Nothwehrtheorie Roma-gnosi’s,111 welche indess in Deutschland112 erst später Einfluss gewann. Romagnosi un-terscheidet

Seite 255sich dadurch zunächst von Feuerbach, dass er sehr richtig von einer freiwilligen Unter-werfung des Verbrechers unter die Strafe nichts wissen will; er bezeichnet solche Verträgeals Erfindungen (§§. 387 ff.). Ihm ist die Strafe einfach Abwehr zukünftiger Verletzungen,welche von dem Verbrecher oder von Anderen begangen werden möchten, und das Rechtder Abwehr ist ihm, wie er auszuführen unternimmt (§. 49), nichts Anderes, als eine Seitedes Rechts auf das Leben und alle anderen Rechte. Im Zustand der natürlichen Verein-samung des Menschen würde nun freilich das Recht der Abwehr mit dem Augenblickdes Angriffs aufhören; aber im Zustande der Gesellschaft erwächst aus der Straflosigkeitdes Angreifers eine neue Gefahr für den Angegriffenen und alle Anderen,113 eine Gefahr,füür welche der Verbrecher als für eine natürliche Folge seines Angriffes mithaftet,114

mit anderen Worten, es erwächst so das Recht der Strafe, welche mithin keinen anderenZweck hat, als den der Abschreckung.115 Mit dieser letzteren Wendung kommt nun Ro-

111Genesi del diritto penale. — Uebersetzung von Luden, Romagnosi, Genesis des Strafrechts, 2 Bde.,1833.

112Anhänger der Nothwehrtheorie: Martin: Lehrb. d. teutschen gemeinen Criminalrechts, zuerst 1812;Carmignani: Teoria delle leggi della sicurezza sociale, III. ed. 1832, Pisa, S. 47ff.; ferner z. B. A.Franck, Philosophie du droit pénal, vgl. bes. S. 115 ff. Die Nothwehr der Gesellschaft löst sich aber,da jene nicht der Nothwehr des Individuums gleichgestellt werden soll, in den Zwang zur Aufhebungdes angestifteten moralischen Schadens auf. Franck’s Nothwehrtheorie ist in Wahrheit identisch mitder Erstattungstheorie Welcker’s. Daneben kommt bei Franck (S. 120) auch die Fichte’sche Begrün-dung vor. Auch Carrara (Programma del diritto criminale edit. 5, Lucca 1877, II. §§. 608 ff.) kannman als einen Anhänger der Nothwehrtheorie bezeichnen. Er leitet indess das Strafrecht nicht ab alsein Recht des Staates, sondern als ein Recht, gegründet auf die Necessitá della umana natura (§. 608a. E.). Der Staat hat nur ein Recht zu bestrafen, insoweit der Rechtsschutz (Tutela giuridica), welcherihm anvertraut ist, es verlangt. Carrara steht insofern noch auf dem Boden des alten Naturrechts,und die Consequenz seiner Ansicht würde denn auch sein, dass das Strafrecht, welches nach §. 612bestimmt ist, die menschliche Freiheit aufrecht zu erhalten, zu blossen Zwecken des Staatswohlesnicht verwendet werden dürfte. Die Schwierigkeiten, welche in der Theorie der Difesa oder der Tutelagiuridica liegen, werden aber wohl zu leicht von dem berühmten und verdienstvollen Criminalistenübersprungen, dessen Theorie, da die Erreichung der Ruhe (bei dem Verletzten, bei den Bürgern) alsZiel der Strafe bezeichnet wird (§. 621 a. E.) schliesslich auch umschlägt in die ErstattungstheorieWelcker’s. Aus der auf die Zukunft bezogenen Abwehr folgt noch nicht, wie Carrara (614) postu-lirt, die Gerechtigkeit irgend eines Strafmaasses. Man unterschreibt gern die einzelnen treffendenBemerkungen Carrara’s; aber man vermisst ein einigendes Band für dieselben.

113§§. 221, 251 ff. Die Auffassung der Strafe als Abbüssung wird ausdrücklich verworfen, §. 1345.114§§. 46, 47.115Vgl. namentlich §. 395.

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K. C. Die Strafrechtstheorien der neueren Zeit

magnosi auf die Consequenzen der Feuerbach’schen Theorie, und wie Feuerbach machtauch Romagnosi den Trugschluss, dass es dem Principe der Abschreckung entsprechensoll, auf Angriffe von Rechten von grösserer Wichtigkeit strengere Strafen zu setzen,116

während aus dem Principe der Nothwehr in Wahrheit die gleiche Strafe für alle und jedeAngriffe, falls man sie eben nicht anders verhüten könnte, folgen würde, eine Consequenz,die Romagnosi selbst auch dadurch anerkennt, dass es seiner Meinung nach im Grundenur ein Recht geben soll, welches in den sog. verschiedenen Rechten nur nach verschie-denen Seiten sich darstellt. Wiederum von Feuerbach verschieden ist aber Romagnosi’sAuffassung darin, dass er zwar einen Unterschied, nicht aber, wie Feuerbach, eine

Seite 256absolute Trennung von Recht und Moral annimmt.117 Andererseits begeht er oben dess-halb auch einen verhängnissvollon Fehler, den Feuerbach freilich leichter vermeiden konn-te, gegen den er seine Zeitgenossen sogar, wie wir sahen, höchst nachdrücklich undmit Erfolg zu warnen unternahm: Romagnosi betrachtet die sog. moralische Freiheit alsErforderniss der vollen Strafbarkeit des Verbrechers nach dem Gesetze. Seine „Malva-gità,"118 (von Luden „Ruchlosigkeit"übersetzt) ist nichts Anderes, als jene moralischeFreiheit, und damit steht die Verkehrtheit im Zusammenhange, dass er den Grund desVerbrechens nicht in der Selbstliebe des Verbrechers, sondern in naturwidrigen Triebenerblicken will. Hier führt Romagnosi’s Theorie entschieden auf Abwege.Und befriedigen kann die Nothwehrtheorie auch aus anderen Gründen nicht. Sie ist,

wie man freilich meist119 annimmt, nicht sowohl deshalb falsch, weil die Nothwehr mitdem Momente des beendeten Angriffs gleichfalls endet — denn dies gilt, genau betrach-tet, doch nur in dem Zustande gesicherter Rechtspflege, und wo diese fehlt, kann derAngegriffene die Nothwehr sehr wohl dahin erweitern, dass der Angreifer auch für dieZukunft unschädlich zu machen sei — als vielmehr desshalb, weil der Verbrecher inWahrheit ja nicht immer wegen seiner, sondern wegen der Schlechtigkeit der Uebrigengestraft wird. Wären diese moralisch vollkommen, so würden sie durch die Schlechtig-keit des Verbrechers sich nicht verführen lassen. So muss der Verbrecher für die Anderenmitleiden, und so ist die Nothwehrtheorie um nichts gerechter als die Abschreckungs-theorie.120 Sie hat aber ausserdem noch das Uebel, dass sie bedenklich hinüber schwanktzur Theorie der Sicherung gegenüber dem einzelnen Verbrecher, und diese Theorie führtin ihrer individualisirenden Richtung nothwendig zur Willkür. Dafür liefern Romagnosi’swillkürliche und falsche Auseinandersetzungen über das Strafmass einen Beleg.121

Eine Reaction gegen Feuerbach’s Theorie musste allerdings zunächst gegen die schon

116Erstere sollen eine stärkere verbrecherische Neigung bezeugen, §. 1367. Romagnosi nimmt, ebenso wieFeuerbach, den Durchschnittsmenschen zur Berechnungsbasis seiner Strafen, §. 1386.

117§§. 922, 1385.118Vgl. besonders §. 473.119So namentlich auch Hepp II. S. 716ff.120Die Begründung der Strafe aus den nachtheiligen Folgen der Straflosigkeit ist genau betrachtet eine

Petitio principii. Es ist als bezeichnete man den Mangel eines Dammes als Ursache einer Ueber-schwemmung; dabei setzt man voraus, dass an der betreffenden Stelle ein Damm sich hätte befindenmüssen: id quod erat demonstrandum.

121In dem sonderbaren dialektischen Labyrinthe des Romagnosi’schen Werkes, welches nicht selten rechtlangweilig ist, findet man übrigens manche treffliche und ewig wahre Sätze.

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von Romagnosi verworfene absolute Trennung von Recht und Moral sich richten. DerZusammenhang namentlich des

Seite 257Strafrechts mit der Moral liegt doch jedem Unbefangenen zu klar vor. Auch Anhänger derFeuerbach’schen Theorie mussten hier corrigiren. So erklärte insbesondere der dänischeJurist Oersted sogleich im Anfange seines gehaltvollen und berühmten Werkes „lieberdie Grundregeln der Strafgesetzgebung",122 dass seiner Ansicht nach die Strafgesetze imSittengesetze wurzeln123 und warf damit denn auch die verkehrte Ansicht Feuerbach’s,welche für die Strafe nothwendig ein Strafgesetz forderte,124 über Bord, ebenso aber auchdie Annahme einer freiwilligen Unterwerfung des Verbrechers unter die vom Gesetzeangeordnete Strafe. Mit dem Aufgeben des letzteren Punktes aber war allerdings, wieoben bemerkt, die wissenschaftliche Einheit des Feuerbach’schen Systems zerstört, unddie Vertheidigung, welche Oersted gegen den Vorwurf des Drakonismus, der als letzteConsequenz dem Feuerbach’schen Systeme entgegengehalten wurde, unternahm,125 istebenso wenig gelungen, wie Diejenige, mit welcher Feuerbach selbst jener Consequenzsich zu erwehren versuchte. Wenn Oersted hier einen Abbruch der Consequenz undmildere Strafen desshalb annimmt, weil die Volksüberzeugung die strengen, nach derreinen Abschreckung etwa zu fordernden Strafen nicht wolle, so heisst das nichts Anderes,als dass die Volksüberzeugung die Consequenzen der Abschreckungstheorie und damitdiese selbst verwirft.126

§. 90. Als eine Modification der Feuerbach’schen Abschreckungstheorie wird auch be-trachtet die Warnungstheorie Bauer’s.127 Freilich hätte Bauer auf dem Wege, den ereinschlug, es zu mehr bringen können, als zu einer blossen Abschwächung der Feuer-bach’schen Principien, als welche man jene Theorie bezeichnet. Ungeachtet es die Härtenund irrigen Consequenzen der Feuerbach’schen Theorie waren, die Bauer zum Versucheeiner Modification der letzteren veranlassten, und ungeachtet Bauer ebenso wie Feuer-bach den Zweck des Strafgesetzes und den Zweck der Strafzufügung unterscheidet undebenso wie Feuerbach die Gerechtigkeit der letzteren nicht auf ein an sich schon beste-hendes Verhältniss des Einzelnen zum Gemeinwesen, sondern lediglich

Seite 258auf die Existenz des Strafgesetzes oder doch der positiven Rechtsnorm 128 gründet, istdie Differenz gegen Feuerbach doch eine tiefgehende, tiefer als Bauer selbst annimmt.Die Warnung Bauer’s129 ist nicht eine durch die Strafdrohung hervorgebrachte Einwir-kung auf sinnliche Triebfedern oder richtiger Paralysirung der letzteren — denn Bauerbemerkt sehr richtig, dass keineswegs alle Verbrechen in sinnlichen Trieben ihren Grund

122Aus dem Dänischen übersetzt, Kopenhagen 1818.123Vgl. namentlich S. 5.124Inabea. S. 109.125S. 149 ff.126Völlig misslungen ist der Versuch Oersted’s, die Specialpräventionstheorie mit Feuerbach’s Abschre-

ckungstheorie zu verbinden. Vgl. Hepp II. S. 590ff.127Vgl. Warnungstheorie, übrigens aber auch einen schon 1827 im Archiv d. Criminalr., S. 429—472,

publicirten Aufsatz Bauer’s (Versuch einer Berichtigung der Theorie des psychologischen Zwanges).128Warnungstheorie S. 44.129„Moneat lex priusquam feriat". S. 130.

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K. C. Die Strafrechtstheorien der neueren Zeit

haben, dass auch Verbrechen aus politischer oder religiöser Schwärmerei, ans unrichti-ger Auffassung moralischer Pflichten hervorgehen können130 — die Warnung im SinneBauers, welche sich ebensowohl an die sittliche wie an die sinnliche Natur des Men-schen wendet (S. 38), ist vielmehr das Spiegelbild des Werthes der Rechtsordnung. DerGesetzgeber hält den Bürgern das Bild der Strafwürdigkeit der verbrecherischen Hand-lungen vor, und den Massstab der Strafwürdigkeit entlehnt er, wie Bauer annimmt, derWichtigkeit der einzelnen Rechtsinstitute und Rechtsinteressen, welche die Handlungdes Verbrechers bedroht oder angreift (S. 126 ff.). Von diesem Standpunkte aus hält B.denn auch, abweichend von Feuerbach, eine criminelle Bestrafung von Handlungen fürmöglich, die subjective Rechte nicht verletzen, aber indirect die Rechtsordnung unter-graben.131 Nun aber vermag Bauer, obwohl er mehrfach, wie bemerkt, behauptet, dieWarnung des Gesetzes wende sieh auch an die sittliche Seite des Menschen, doch eineVerwandtschaft von Recht und Moral nicht zu entdecken (S. 50, 56), und so endigt dennseine Theorie, da er die Feuerbach’sche Ansicht von der freiwilligen Unterwerfung desVerbrechers unter die Strafe verwirft,132 mit einem Verzicht auf philosophische Recht-fertigung der Strafe, mit einer Rechtfertigung einfach durch Berufung auf das positiveGesetz, d. h. schliesslich wieder mit einer entschiedenen Wendung zu Feuerbach, die zu-gleich recht bedenklich ist.133 Der Gesetzgeber kann, genau betrachtet, jedes Strafübelandrohen, und wenn ein angedrohtes Straftübel vollzogen wird, so kann der Verbrecher,an dem es vollzogen wird, über Ungerechtigkeit sich nicht beklagen, und diese Freiheitdes Gesetzgebers wird nach Bauer’s Ausführungen höchstens durch die Betrachtung ein-geschränkt, dass zu strenge Strafen möglicher Weise weniger wirken, nicht aber durch dieBeachtung der geschichlichen Tradition. Diese Berufung auf das positive Recht ist totalverschieden von der Warnung, die sich in der Stimme des Gewissens geltend machen soll,und der

Seite 259Schluss der Warnungstheorie ist ungeachtet des schönen Anlaufes, ein besseres Principzu finden, doch nur eine Wiederholung der Theorie Feuerbach’s in verblassenden Farben— Heinze134 sagt, eine „umgetaufteÄbschreckungstheorie.§. 91. Die bedeutendste und was die Kritik der Principien betrifft gehaltvollste derje-

nigen Schriften, welche im Gegensatze zu Feuerbach und Grolmann wieder den Zusam-menhang von Hecht und Moral herzustellen versuchten, ist die des Philosophen Ge. ErnstSchulze: Leitfaden der Entwickelung der philosophischen Principien des bürgerlichen undpeinlichen Rechts, 1813. Die unglückliche Verbindung, in welche Schulze seine Ausfüh-rungen mit der formellen Nothwehrtheorie setzt, hat indess wohl dazu beigetragen, dassseine Theorie nur als eine Schattirung der letzteren betrachtet und deshalb auch weniger,als sie verdient, beachtet zu werden pflegt. Schulze betrachtet die Moral als principiellmassgebend für die Begrenzung der strafwürdigen Handlungen; daher ist ihm auch diejuristische Schuld nicht specifisch verschieden von der moralischen, und daher auch die

130Daselbst S. 169.131Daselbst S. 106 ff.132S. 83.133Vgl S. 226 ff., S. 233.134In v. Holtzendorff’s Handbuch I. S. 268.

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Strafbarkeit des Verbrechens nicht erst durch das Gesetz gegeben,135 und deshalb hälter, ohne eine besondere Vorliebe für bestimmte Strafarten an den Tag zu legen,136 nichtdas Uebel selbst, welches dem Verbrecher zugefügt werden möchte, sondern die nach-drückliche Bezeichnung des Verbrechens als einer der Fortentwickelung der Menschheitschädlichen Handlung für den Hauptzweck der Strafe.137 Statt aber nun von dieser Basisaus zu untersuchen, wie denn die vom Staate im Grossen geübte Moral, welche dem Ein-zelnen gegenüber zwingend auftreten muss, sich zu unterscheiden habe von der Moraldes Einzelnen, und so den specifischen Charakter des Rechts gegenüber der Moral imgewöhnlichen Sinne zu begründen, schiebt Schulze plötzlich das Princip der Nothwehrunter (oder der Verteidigung der Rechtsordnung): der Verbrecher wird gestraft, weil dieStrafe ein Mittel ist, ihn selbst und Andere von weiteren Schädigungen zurückzuhalten.Nun hatten kritische Angriffe leichtes Spiel. Dass die Strafe nicht Nothwehr im gewöhn-lichen Sinne sei, ist, wie bereits bemerkt, leicht zu erweisen. Darüber wurden Schulze’sandere und tiefer gehende Ausführungen übersehen. So hat sein Buch thatsächlich wenigErfolg gehabt. Inzwischen hatte die Fichte-Grolmann’sche Richtung in Steltzer’s Kritiküber des Freiherrn v. Eggers Entwurf eines peinlichen Gesetz-

Seite 260buchs für die Herzogthümer Schleswig und Holstein 138 eine principielle, die Strafe alsBesserungsmittel betrachtende Wendung genommen. Die Strafe macht nach Steltzer diesonst nothwendige Ausschliessung des Verbrechers aus der Rechtsgemeinschaft überflüs-sig, indem sie durch Besserung des Schuldigen für die Zukunft Sicherheit vor diesemgewährt. 139 Es soll aber für die Bestimmung des Strafmaasses eine Präsumtion der Bes-serung entscheiden, und da sich das Bedenkliche einer moralischen Besserung140 durchden Staat und durch Staatsanstalten von selbst fühlbar macht, so redet Steltzer von derHerbeiführung einer juridisch-besseren Gesinnung (S. 37) des zu Bestrafenden, ohne sichklar zu machen, dass letztere ein unmöglicher Begriff ist. Die Strafe ist nach Steltzerwesentlich ein andauerndes Leiden durch Freiheitsstrafe.141 Ein Versuch, die strafbarenHandlungen nach dem eigenen Principe genauer zu bestimmen, wird von Steltzer nichtgemacht; er betrachtet im Ganzen alle Handlungen als strafbar, welche die Sicherheitder Rechte Anderer (dolos) angreifen.142

Abgesehen von den noch unten zu betrachtenden Einwendungen, welche gegen einejede principiell und in erster Linie die Besserung des einzelnen Verbrechers bezweckendeStrafe erhoben werden können, entbehrte die Steltzer’sehe Besserungstheorie insoferneiner Basis, als sie die Strafe gegenüber dem Verbrecher nicht als Recht zu begründenvermochte, sie vielmehr nur als Nothmassregel des Staats erfasste. Man bedarf einersolchen Basis nicht, wenn man die Strafe überhaupt nicht mehr als Uebel, sondern als

135S. 378 ff.136S. 52, S. 353 Anm.137Schulze liefert nebenbei eine vortreffliche Kritik der Theorien der Abschreckung, Besserung und Wie-

dervergeltung.1381811, 2 Thle.139S. 8, 13.140S. 129.141S. 11. Todesstrafe ist als äusserstes Sicherungsmittel gerechtfertigt.142S. 8, 26.

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K. C. Die Strafrechtstheorien der neueren Zeit

Erziehungsmittel betrachtet.§. 92. Dies ist denn auch von naturwissenschaftlich-ärztlichem Standpunkte aus ge-

schehen durch Groos, von einem allgemeineren philosophischen Standpunkte aus durchKrause und die Anhänger der Krause’schen Philosophie, namentlich durch Ahrens undRöder.Groos143 betrachtet den Verbrecher als einen der Nacherziehung bedürftigen erwach-

senen Menschen, das Verbrechen als ein „Bubenstück". 144 Die Schuld sucht er im An-schluss einerseits an die, ihm als Irrenarzte sich besonders aufdrängende, Erfahrung, dassVerbrechen und Geisteskrankheit zuweilen schwer unterscheidbar sind und an einandergrenzen, im Anschluss aber auch an die griechische Philosophie nicht sowohl im Willen,als vielmehr in einem mangelhaften Verständnisse des

Seite 261Guten. So ruht seine Theorie auf einem ausgeprägten Determinismus. Der Mensch han-delt nur, und mit Nothwendigkeit, nach Motiven, wenn auch nicht selten nach rechtversteckten Motiven. Doch sind dies keineswegs sinnliche Motive;145 vielmehr entschei-det sich der Mensch nur nach Begriffen: er will das Gute und kann gar nicht anders; nurfasst er das Gute nicht selten falsch auf, indem er es für das Gute hält, seinen Vortheilmit den Nachtheilen Anderer zu erkaufen; er subsumirt falsch. So kommt es nur daraufan, in dem Verbrecher durch Erziehung andere Begriffe, wir würden sagen können, einanderes Urtheil über seine Handlungsweise hervorzurufen.146 Allerdings verschwindenso, wie Groos selbst hervorhebt, die Begriffe von Verdienst und Schuld; aber der erste-re verdankt nur unserem Stolze, der letztere unserer Rachsucht seine Entstehung, undso ist ihr Verschwinden nicht zu beklagen. Dagegen Strafrecht und Moral hören nachGroos in der Consequenz seiner Grundsätze keineswegs auf. Im Gegentheil, sie wirkenja in Gemässheit der deterministischen Annahme um so sicherer, während die gewöhn-liche Freiheitslehre ja die Möglichkeit offen lässt, dass selbst der unterrichtete, erzogeneMensch sich fortwährend gegen Recht und Moral empöre. Für das Strafrecht aber lässtnach Groos’ Meinung eine um so erfolgreichere Behandlung durch jenen Determinismussich erreichen. Das Begriffsvermögen, welches auch in dem Kopfe des Verbrechers hervor-leuchtet, soll vom Gesetzgeber und von den Criminalisten erforscht und benutzt werden,um durch Züchtigungen und Entbehrungen den Schuldigen möglichst umzuschauen.Hiernach ist allerdings der Vorwurf einer Verwechslung von Geisteskrankheit und Ver-

143Der Skepticismus in der Freiheitslehre, 1830.144Vgl. daselbst S. 140.145S. 53, 77, 78, 90, 128. Groos bezeichnet seinen Determinismus (S. 53) im Gegensatze zu dem mecha-

nischen, niederen Determinismus, als den höheren, religiösen Determinismus, der von ihm auf einengöttlichen, dem Menschen angeborenen, intelligenten Trieb als Urquell des Guten zurückgeführt wird.Der Mensch strebt nach Groos’ Ansicht zum Guten nothwendig hin. Verwandt mit der Groos’schenAnsicht und der Gall’schen Phrenologie (vgl. unten), aber weit roher als erstere, ist die Begründungdes Strafrechts bei Dankwardt: Psychologie und Criminalrecht, 1863. Dankwardt geht ebenfalls ausvon der Annahme absoluter Unfreiheit des Menschen und fasst das Strafrecht auf als ein künstlichesMittel 1) dem unabweisbaren Naturtriebe des Verletzten auf Rache (Zerstörungstriebe!) zu genügen,2) die Gefahr für die Gesellschaft zu beseitigen. Das Milderwerden der Strafen bei fortschreitenderCultur erklärt er (S. 49) aus einer Abstumpfung des natürlichen Zerstörungstriebes.

1468. 25.

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brechen Groos gegenüber unbegründet. Er sagt auch ausdrücklich, der zurechnungsfähigeUebertreter des Gesetzes sei fähig der Verstandescultur und der Abschreckung, der Irredagegen sei solchen

Seite 262Einwirkungen unzugänglich und müsse ärztlicher Kur unterworfen werden. Aber dasBedenkliche und Verkehrte besteht in der völligen Auslöschung der Idee von Verdienstund Schuld, ohne welche das praktische Leben und daher auch das eine Seite desselbendarstellende Recht nicht existiren kann. Zugegeben auch — was freilich die Theologiebestreitet — dass dem Menschen im Grossen und Ganzen der Trieb nach dem Guten undVernünftigen inne wohne, so fragt es sich doch, ob das nicht etwa desshalb der Fall ist,weil in dem Einzelnen der Glaube an die eigene Verantwortlichkeit nie ganz zu erstickenist.147 Die Abschwächung dieses Gedankens würde unzweifelhaft das B8se immer weiterum sich greifen lassen. Und man glaube auch nicht, dass mit dem verfeinerten Deter-minismus ohne Weiteres ein humanes Strafrecht gegeben sei. Schon aus der BemerkungGroos’, dass unter Umständen auch Todesstrafe gerechtfertigt sei, geht es hervor, dasseine andere Art der Berechnung der Wirkungen der Erziehungsmittel zu harten Stra-fen, zu häufiger Anwendung der Todesstrafe führen kann. Dann aber hat Groos nichteinmal den Versuch gemacht, den Kreis der strafbaren Handlungen zu bestimmen unddie Möglichkeit eines hinreichend bestimmten Strafrechts auf der Basis seiner Theoriedarzulegen. Hier treffen seine Theorie alle diejenigen Einwürfe, welche Feuerbach mitRecht gegen die Grolmann’sche Theorie erhoben hat.148

Krause,149 der übrigens den Determinismus nicht anerkennt, betrachtet die Strafe alsein Erziehungsmittel (nicht als ein Uebel ihrer Natur und ihrem Zwecke nach). DerStrafgefangene steht, wie der noch Unreife, unter Vormundschaft; das Gemeinwesen hatdas Recht, für Heranbildung des noch unreifen, für Besserung des verdorbenen sittlichenWillens zu sorgen. Eine Rechtsbefngniss, ein Uebel als Uebel zuzufügen, damit

Seite 263es wehe thue, kann es nach Krause nicht geben.150 Die tiefere Begründung findet die-se Theorie einerseits in der absoluten Werthschätzung, welche nach der Krause’schenRechtsphilosophie dem Individuum zukommt und welche einen Verbrauch des Indivi-duums lediglich als Mittel des Gemeinwesens verbietet, andererseits in der von Krauseoft betonten Solidarität der Interessen der Glieder des Gemeinwesens, dergemäss für die

147Vgl. übrigens auch Jarcke’s Polemik in Hitzig’s Zeitschr, für die Criminalrechtspflege in den preues.Staaten, 1829, Heft 21—23.

148Es wird nicht erforderlich sein, genauer auf die verkehrte, selbst der Basis der genauen Beobachtung imnaturwissenschaftlichen Sinne entbehrende Lehre einzugehen, welche das Verbrechen als eine Folgeder Schädelverbildung bei dem Verbrecher betrachtet (George Combe). Vgl. darüber und dagegen undüberhaupt gegen die Consequenzen der Gall’schen Schädellehre Mittermaier, N. Archiv d. Criminalr.,1820, S.412ff., Hepp II. S. 646ff., Franck: Philosophie du droit pénal, S. 64ff. Ein neuer Versuch derBegründung des Strafrechts auf der von Groos gegebenen Grundlage ist der von Karel J. Rohan: EinVersuch über die Entstehung und Strafbarkeit der menschlichen Handlungen, Wien 1881. Nur wirdhier der Determinismus im Sinne der Feuerbach’schen Abschreckungstheorie verwendet.

149Vgl. namentlich Karl Christ. Friedr. Krause: Das System der Rechtsphilosophie, Vorlesungen heraus-gegeben von Röder, 1874.

150A. a. 0. S. 457, 532.

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K. C. Die Strafrechtstheorien der neueren Zeit

Erziehung und Cultur der einzelnen Glieder zu sorgen ist. Ahrens151 gibt dieser Theorieeine in die absolute Begründung hinüber schillernde Färbung, indem er als Zweck derStrafe die Wiederherstellung der gestörten Rechtsordnung betrachtet. Da er aber dieWiederherstellung der Rechtsordnung nur in der Persönlichkeit des Verbrechers, nichtin einer Wirkung auch auf Andere findet, so bezeichnet er selbst, unter Verwerfung allerabsoluten Theorien, die nach seiner Meinung mehr oder weniger auf eine Vergeltunghinauslaufen, seine Theorie als Besserungstheorie und vertheidigt dieselbe mit Erfolg ge-gen mehrere naheliegende Einwendungen. Die erste dieser Einwendungen besteht darin,dass man der Besserungstheorie im Allgemeinen vorwirft, sie verwechsele den rechtli-chen und moralischen Standpunkt, die Beobachtung der Besserung gehöre lediglich demletzteren an: die Besserung entziehe sich der rechtlichen Beurtheilung. Dagegen bemerktAhrens (S. 453) mit Recht, dass die Beurtheilung der Schuld schon eine gewisse mo-ralische Beurtheilung voraussetze. Die zweite Einwendung besteht darin, dass nach derBesserungstheorie möglicher Weise in Aufregung begangene Verbrechen straflos bleibenmüssten, wenn die Gewissheit bestehe, dass der Thäter sie nie wieder begehen werde.Ahrens sagt hier in gewisser Beziehung mit Recht: „Wie! bei einem Menschen, dessenrechtliche Willenskraft sich so schwach gezeigt hat, dass sie sich durch einen Affect odereine Leidenschaft zu einem Verbrechen, z. B. einer Tödtung, hinreissen liess, soll Ge-wissheit bestehen, dass er sich durch seine Affecte oder Leidenschaften nicht wiederumzu weiteren oder gleichen Verbrechen fortreissen lassen werde ? Gerade das Gegentheilist anzunehmen, und zur Besserung wird gewiss volle Zeit nöthig sein.Ïndess gegen denEinwand, dass der Strafvollzug, auch in der humansten, am meisten vorgeschrittenenWeise gehandhabt, sich doch in specifischer Weise von der Erziehung unreifer Personenunterscheiden müsse, wird die Besserungstheorie sich nie vertheidigen lassen. Der Er-zieher muss den Zögling lediglich nach dem Gesichtspunkte behandeln, ihn dadurch zufördern. Geschähe dies aber von Seiten des Staates in Bezug auf die Verbrecher, so würdefür diejenigen Volksklassen, aus welchen hauptsächlich das Verbrecherthum

Seite 264sich entwickelt, die Strafe etwas Begehrenswerthes werden: der Staat würde den Ein-zelnen bessern, die Masse zur Begehung von Verbrechen ermuntern. Das ist unmöglich,und nie darf der Strafe der Charakter des Schimpflichen völlig genommen werden, der,wenn auch in milder Form, doch in Etwas in der Behandlung der zu bedeutendererFreiheitsstrafe verurtheilten Personen sich aussprechen muss. Der Replik, dass wir vonsolcher verlockenden Einrichtung der Strafanstalten noch weit entfernt seien, dass esdamit überhaupt schon aus finanziellen Gründen gute Wege habe, ist hinfällig. Nach derBesserungstheorie müssten doch solche Hindernisse einer bessern Behandlung der Sträff-linge nach Kräften beseitigt werden, und selbst diese Bestrebungen, so weit es geht,rücksichtslos durchgeführt, würden nach und nach den Gedanken der Schuld im Volkeaufheben und an dessen Stelle den des unverschuldeten „Erziehungsmangelsßetzen. Mitdieser Beseitigung des Schuldbegriffs hängt es auch zusammen, dass nach der Conse-quenz der Besserungstheorie, die von Ahrens in der That auch selbst gezogen wird, dasrichterliche Urtheil seine Bedeutung fast völlig verlieren müsste, da die Dauer der Strafe

151Vgl. Naturrecht oder Rechtsphilosophie, 6. Aufl., 1871, II. S. 448 ff.

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— nach weiterer Consequenz auch die Art derselben — zum bei weitem grössten Theilenicht durch das Gesetz und den Richter, sondern durch die Beobachtungen und das Er-messen der Gefängnissbeamten bestimmt werden würde. Ein derartiges Strafsystem, dasHeuchelei und Willkür unzweifelhaft im Gefolge haben würde, müsste nicht nur einemjeden Volke, das noch etwas auf Freiheit im idealen Sinne hielte, widerwärtig erscheinen;es würde auch dem Volke die Genugthuung rauben, eine schlechte, nichtswürdige Thatdurch den Staat als solche ausreichend gekennzeichnet zu sehen. Die consequente Besse-rungstheorie ist nur die Theorie des aufgeklärten Despotismus, und Wer wollte leugnen,dass ein solcher auch recht grausam sein kann? Man sieht dabei auch nicht ein, wess-halb denn die Strafe wesentlich auf Rechtsverletzungen beschränkt sein soll; moralischkönnte vielleicht Jeder gebessert werden, und die Strafe ist ja kein Uebel, sondern eineWohlthat; also lieber zu viel, als zu wenig strafen! Röder152 hat der Besserungsstrafeeine grössere Bestimmtheit dadurch geben wollen, dass er bemerkt, der Zweck der Strafebestehe in der Aufhebung des thätlich erwiesenen, unsittlichen Willens; demzufolge seiJeder genau insoweit unter die (Straf-)Vormundschaft zu stellen, als

Seite 265er einen zum Unrecht gestimmten Willen bethätigt habe.153 Allein die Grosse der Rechts-verletzung ist nicht mit der Dauer des rechtswidrigen oder unsittlichen Willens identischund geht auch nicht ihr parallel. Die consequente Besserungsstrafe kann immer nur undmuss so lange fortgesetzt werden, bis wenigstens präsumtiv Besserung erreicht ist; siekann also nie, auch nur einigermassen, allgemein und sicher durch Gesetz und Rich-terspruch bestimmt sein. Der erwähnte Satz ist daher nur ein Sophisma, mit dem derum das Gefängnisswesen in der That verdiente Köder sich selbst unbewusst täuscht,und die Möglichkeit, nachher die erkannte Strafe zu kürzen wegen eingetretener Besse-rung des Sträflings, hat immer nur eine relative Berechtigung. Wenn dann Röder, umden Charakter seiner Erziehungsstrafe als wirklicher Strafe zu retten von der „rauhenSchaale"154 dieser Erziehung spricht, so wird damit eben nur die weitere unliebsameConsequenz der Besserungstheorie verhüllt, nach welcher den Sträflingen auch Annehm-lichkeiten erwiesen werden müssten, welche möglicher Weise der ehrlichen grossen Masseder Bevölkerung nicht zu Gebote stehen, falls jene nur der Besserung dienen würden undirgend finanziell zu erschwingen wären. Der Vorwurf eines ausschliesslichen Cultus desIndividuums155 wird der Besserungstheorie nie erspart bleiben.156

152Vgl. Röder: Zur Rechtsbegründung der Besserungsstrafe, 1846; Grundzüge des Naturrechts, 2. Aufl.(1860—63), II. S. 163 ff.; Der Strafvollzug im Geiste des Rechtes, 1863; Besserungsstrafe und Besse-rungsanstalten als Rechtsforderung, 1864; Die herrschenden Grundlehren, S. 97 ff.; Kritische Viertel-jahrsschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1869, S. 375 ff.

153Vgl. namentlich Grundlehren, S. 99.154A. a, 0. S. 107.155Sehr treffend sagt Carrara (Progr. del dir. crim; II. 619), dass die aus dem Besserungsprincipe folgende

Ungewisse Dauer der Strafe die moralische Wirkung (forza inorale) der letzteren vollständig zerstöre.156Nebenbei kann übrigens die Besserungsstrafe auch in das Gregentheil umschlagen, wenn nämlich ge-

sagt wird, man dürfe den Sträfling nicht eher wieder loslassen, bis er sich gebessert hat und so diemenschliche Gesellschaft sicher vor ihm sei. Eine absolute Sicherung vor Rechtsverletzung und Scha-den braucht die Rechtsordnung im Staate nicht zu gewähren und kann es auch nicht. Dass man alsoallenfalls auch gefährliche Menschen wieder frei lassen muss, ist kein Vorwurf gegen andere Straf-rechtstheorien.

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K. C. Die Strafrechtstheorien der neueren Zeit

§. 93. Die sog. Wiedererstattungstheorie oder Vergütungtheorie, welche in geistvollerWeise namentlich Welcker157 ausgeführt hat, ist in Wahrheit nur eine Zusammenfassungder verschiedenen relativen Strafrechtstheorien, insbesondere der Besserungs- und Ab-schreckungstheorie; doch erscheint letztere in so gemilderter Form und Gestalt, dass siesich derjenigen Theorie, welche durch die Strafe nur gewisse Maximen und Grenzen derHandlungsweise als unverbrüchliche bezeichnen will, allerdings nähert. Damit wird dannauch in milderer Form die

Seite 266Fichte’sehe Vertragsthorie, obschon sie nicht als solche bezeichnet wird, verbunden, umdie Rechtmässigkeit der Strafe auch vom Standpunkte des Verbrechers aus zu begründen,Die in dem Verbrechen liegende Rechtsverletzung verpflichtet nämlich zum Schadenser-satze: der Verbrecher wird nicht, wie nach Fichte, vollkommen rechtlos, aber insofernerhält die Gesammtheit doch ein absolutes Recht über ihn, als sie ihn zum Ersatze desSchadens anhalten kann.158 Der Schaden, den das Verbrechen verursacht, ist aber einmaterieller oder ein intellectueller (oder beides zugleich). Der materielle Schaden istGegenstand des Civil-, der intellectuelle Gegenstand des Strafrechts, und seine Wieder-aufhebung ist die Strafe. Dies letztere wird im Einzelnen ausgeführt.159 Der Verbrecherbeweist durch die Begehung des Verbrechens 1) einen erkennbaren Mangel rechtlichenWillens und des Princips desselben, einen Mangel der Achtung moralischer Würde unddes Rechtsgesetzes, einen Mangel der für das Rechtsverhältniss (die Rechtsordnung) not-wendigen Herrschaft der Vernunft, 2) überhaupt ein Uebermaass oder zu grosse Stärkesinnlicher Triebe und einen Mangel ihrer Harmonie mit den Forderungen der Gerechtig-keit. Bei den anderen Bürgern erzeugt aber das Verbrechen ohne ihre Schuld 1) einenMangel der Achtung und des Zutrauens zu dem Verbrecher; dieser ist durch das Ver-brechen untauglich geworden für die bürgerliche Gemeinschaft; 2) eine Verletzung undStörung ihres rechtlichen Willens: die Nichtachtung des Gesetzes fordert die Sinnlich-keit der Uebrigen ebenfalls zu Rechtsverletzungen auf. Ganz besonders wird aber dierechtliche Willensstimmung bei dem Verletzten gestört, der das Verbrechen, sofern esnicht gerächt oder gesühnt wird, als eine Schmach empfindet. Danach werden siebengerechte Strafzwecke (S, 265) abgeleitet: 1) moralische, 2) politische Besserung des Ver-brechers; 3) Wiederherstellung der Achtung und des Zutrauens seiner Mitbürger gegenihn; 4) Wiederherstellung der rechtlichen Willensstimmung bei den Bürgern überhaupt,ihrer sittlichen und politischen Achtung des Rechts; 5) Wiederherstellung der Ehre undAchtung des Beleidigten, 6) Wiederherstellung seiner rechtlichen Willensstimmung; 7)

157Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, 1813. Vgl. auch Welcker: Die Universal- und diejuristisch-politische Encyclopädie und Methodologie, 1829, S. 573 ff. Die Citate beziehen sich auf daserstere Werk.

158S. 249: „Hat ein Mitglied der rechtlichen Verbindung .. im Widerspruche mit sich selbst und seinerbesonnenen Erklärung (Wclcker lässt Staat und Recht noch aus einer vertragsmässigen Erklärungder Einzelnen hervorgehen) das Rechtsverhältniss verletzt und demselben einen Schaden zugefügt, soist die erste Bedingung seiner rechtlichen Existenz, die erste Rechtspflicht, die . . . Störung möglichst. . . gut zu machen".

159Vgl. S. 262: „Insofern also der Verbrecher für sein Theil (?) dazu beigetragen hat, die Achtung desRecht» zu vermindern, die sinnlichen Triebe aufzureizen, ist eine Strafe zur Abscheuerweckuiig undAbschreckung des Verbrechens rechtlich erlaubt und nothwendig".

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Reinigung des Staates von dem ganz verderblichen Mitgliede.Seite 267

Der wohl gegen diese Theorie erhobene Einwand, dass der intellectuelle Schaden nichtimmer zu erweisen, nicht immer vorhanden sei, und dass demnach unzulässig erscheinedie von Welcker vorgenommene Gleichstellung dieses intellectuellen Schadens mit demcivilrechtlichen Schaden, welcher stets nur ersetzt werde, wenn er im einzelnen Falle be-wiesen werde, ist unzutreffend.160 Das Recht kann und muss sich in gewissem Umfangegenügen lassen an Demjenigen, was in der überwiegenden Mehrzahl der Falle eintritt,wenn die Untersuchung darüber, ob in jedem einzelnen Falle die fragliche Folge eintritt,zu schwierig sein oder überhaupt oft gar nicht zum Ziele führen würde. Auch rein ci-vilrechtliche Schadenberechnungen gehen von diesem Grundsatze des Gewöhnlichen, desmeistens Zutreffenden aus, und leugnen lässt sich gewiss nicht, dass die ungeahndete Be-gehung von Verbrochen, wie Wolcker das auch trefflich geschildert hat, eine Auflösungvon Recht, Moral und Staat allmählig zur Folge haben würde. Allein abgesehen davon,dass das Civilrecht die ungenaue Ermittelung des Schadens allenfalls nur als einen schwervermeidbaren Uebelstand mit in den Kauf nimmt, die Gerechtigkeit des Strafrechts da-gegen durch eine zu genaue Erwägung der Folgen des einzelnen Verbrechens möglicherWeise nur verlieren würde, liegt der Fehler darin, dass, ungeachtet Welcker dem Rechteeine moralische Basis vindicirt und (wenn auch vielleicht nicht mit genügender Klar-heit) das Recht als die vom Gemeinwesen gehandhabte, daher dem Einzelnen gegenüberzwingend auftretende Moral bezeichnet, die Strafe nicht als eine an sich nothwendigeReaction der Moral gegen die moralwidrige Handlung aufgefasst, sondern erst durch dieEinwirkung des Verbrechens auf den Verbrecher selbst, auf den Verletzten und Drittebegründet wird. Diese nachtheilige Wirkung des Verbrechens für Dritte und für den Ver-letzten aber tritt nicht, wie freilich Welcker meint, ohne Schuld dieser Personen ein. Esist vielmehr immer das Zeichen eines moralisch nicht eben vollkommenen, ja eines nichteinmal verhältnissmässig vorgeschrittenen Zustandes, wenn die Begehung von Verbre-chen durch Andere oder auch Verletzung durch das Verbrechen zu einer Provocation zurBegehung von Verbrechen sich gestaltet. Der intellectuelle Schaden kann also jedenfallsnicht ausschliesslich dem Verbrecher in Rechnung gesetzt werden, und so wird auch nachWelcker der Verbrecher wesentlich deshalb gestraft, damit ein Eindruck auf Andere ge-macht werde. Der Ver-

Seite 268such, die Strafe ohne Weiteres aus der Rechtsverletzung zu begründen, ist also auchbei Welcker missglückt, und noch weniger als die Abschreckungsstrafe lässt sich aus derRechtsverletzung die Besserungsstrafe — was ja die Welcker’sche Strafe zum Theil auchsein soll — ableiten. Wie der Staat, wenn er doch nicht unmittelbar den Einzelnen über-haupt eine Moral aufdrängen darf (S. 31), durch die Rechtsverletzung des Verbrechers dasRecht der Besserung, der zwangsweisen Herstellung des Vertrauens zu den Verbrechenerwerben soll, ist nicht einzusehen. Ferner muss die Consequenz des Besserungsprincips

160So namentlich auch Heinze, S. 279, 280. Wenn das im Texte gegen diesen Einwand Bemerkte richtigist, so kann auch die von Heinze gezogene Consequenz— dass nach Welcker’s Theorie das Strafgesetzbestimmte Strafdrohungen nicht enthalten dürfte, vielmehr die Ermittlung des Schadens dem Richterim einzelnen Falle überlassen müsste — Welcker nicht zur Last gelegt werden.

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K. C. Die Strafrechtstheorien der neueren Zeit

mit dem Principe, den notwendigen Eindruck auf Andere hervorzubringen, in Wider-spruch gerathen, und endlich liefert der Ersatz des sog. intellectuellen Schadens einenverkehrten Massstab der Strafbarkeit, wie Heinze sehr richtig hervorhebt: „Der Abscheuder Bürger vor dem Verbrechen, die allgemeine Missbilligung der That würde, wenn sieschon vor der Bestrafung vorhanden wäre, was bei den schwersten Verbrechen seltenausbleiben wird, nicht wie billig Erhöhung, sondern Minderung der Strafe bewirken".Gleichwohl hätte es nur weniger Modificationen bedurft, um auf einen einfacheren

und richtigeren Weg zur Begründung des Strafrechtes zu gelangen. Sagt Welcker, S. 262,doch selbst: „Am meisten"(also ist dies die Hauptsache) „muss durch eine an das Verbre-chen geknüpfte allgemeine Missbilligung und Verachtung des Verbrechers161 das Gefühlder Unverletzlichkeit und Heiligkeit des Rechtes . . . erweckt und hergestellt werden",und sehr richtig war es auch, in der Strafe und in dem Zwange zum SchadensersatzeFunctionen der Culturmacht zu erkennen, die sich ergänzen und vertreten können; sehrrichtig auch darauf aufmerksam zu machen, dass in der öffentlichen Strafe stets auchein Rest von Genugthuung für den Verletzten enthalten ist, und daher Strafe und Be-gnadigung nicht ohne alle Rücksicht auf das Verhältniss des Verletzten eintreten dürfen.Doch erklärt die Subsumtion der Strafe unter den Begriff des Schadensersatzes nichts.Man denkt beim Schadensersatze gewöhnlich zuerst an den Fall, dass der Ersatzpflichtigeirgend einen Vortheil hat oder doch genossen hat, und hier bringt es allerdings die ein-fache Idee, dass das Recht einen rechtswidrigen Zustand nicht dulden darf, mit sich, denSchuldigen zur Herausgabe oder Wiedererstattung in einem Aequivalente anzuhalten.Die Begründung der Schadensersatzpflicht für die zahlreichen Fälle dagegen, in denender Pflichtige nicht den geringsten Vortheil aus der schuldhaften Handlung gezogen, janicht einmal zu ziehen beabsichtigt hat, ist ebenso schwierig wie die Be-

Seite 269gründung der Strafe, wie denn ja auch der Schadensersatz im concreten Falle hier zu einersehr empfindlichen Strafe sich factisch gestalten kann, und wie es sehr möglich ist, dass insolchen Fällen eine Gesetzgebung sich mit dem Schadensersatze genügen lässt, währendeine andere hier ausserdem eine Strafe dictirt, so dass mindestens nicht geradezu principi-elle Rücksichten für den Ausschluss der Strafe hier entscheidend sind. Hepp’s162 Theorieder bürgerlichen Gerechtigkeit ist im Principe nur eine Wiederholung der Welcker’schenTheorie unter einem anderen Namen. Der Schuldige hat den aus gewissen Handlungenentspringenden moralischen Schaden zu vergüten. Wie es kommt, dass diese Vergütunggerade in dem Strafübel besteht, welches der Schuldige übernehmen muss, leuchtet dabeinicht ein, es müsste denn sein, dass die Macht des bösen Beispiels, welche allerdings nichtzu leugnen ist (vgl. S. 779), welche in Wahrheit aber auf der mangelhaften Sittlichkeitder etwa "Verführten beruht, als Beweisgrund dafür angesehen würde. Dieser Einflussdes Beispiels wird durch das Strafübel des Schuldigen freilich gebrochen. Im Einzelnensind übrigens bei Hepp viele richtige Bemerkungen, namentlich über die Abgrenzung desstrafbaren Unrechts gegenüber blosser Unsittlichkeit und gegenüber dem Civilunrecht,

161Man muss nur nicht sagen: „Verbrechers", sondern „Verbrechens". Gegen den Ausdruck Welcker’s sinddie Einwendungen Hepp’s, II. S. 766, begründet, dass Infamie und Schande des Verbrechers mit derBeeserungsidee wenig harmoniren.

162Hepp II. S. 770-852.

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nicht zu verkennen.§. 94. Es wird jetzt zweckmässig sein, zu einer Betrachtung der Evolutionen des abso-

luten Princips der Strafbegründung zurückzukehren.Wenig ins Gewicht fällt der verfehlte Versuch C. S. Zachariä’s, 163 der absoluten Ver-

geltungstheorie eine andere dem Zeitbewusstsein mehr entsprechende Deutung dadurchzu geben, dass er das Verbrechen als einen Eingriff in die äussere Freiheit Anderer be-trachtet und demgemäss die Vergeltung auch in einer Freiheitsstrafe164 bestehen lassenwill. Diese Deduction beruht auf einer einfachen Begriffsverwechslung: bei den Verbre-chen ist Eingriff in die Freiheit soviel als Rechtsverletzung, bei der Strafe Freiheit derGegensatz von Einsperrung. Es hat bei diesem offen zu Tage liegenden Fehler kein Inter-esse, die wenig befriedigenden und wenig beachteten gekünstelten Strafmass- und zumTheil auch Strafartbestimmungen zu verfolgen, welche Zachariä aus jenem fortgesetztenFehlschlüsse glaubt ableiten zu müssen.

Seite 270Ansprechender ist die Wendung, welche Henke165 der Vergeltungstheorie gegeben hat,der zufolge sie praktisch als Besserungstheorie erscheint. Die Strafe ist ihm nothwendigeRückwirkung gegen jeden Versuch des Einzelnen, sieh aus der Einheit des Gemeinwesensloszureissen und dem Gesetze, nach welchem letzteres sein Leben ordnet, sich zu ent-ziehen. Einen weiteren Beweis für die Notwendigkeit dieser Rückwirkung gibt es nicht;sie kündigt sich bei Jedem, in dem das Menschenthum ausgebildet ist, durch eine unbe-zwingliche Stimme an. Die Strafe beruht auf einem sittlichen Triebe, und der Verbrechermuss sie früher oder später selbst auf sich herabrufen. Sie stellt die Heilung des Staatesdar, der entweder durch physische oder bürgerliche Vernichtung des kranken Gliedes(des Verbrechers) oder durch Unterwerfung desselben unter eine andere Strafe, welcheihn als dienendes Glied des Gemeinwesens wieder betrachten lässt, seine Gesundheitwieder erlangt. Sie befreit aber auch den Verbrecher von innerem Zwiespalte, indemsie durch eine der inneren Schuld entsprechende, nicht rein äusserliche Vergeltung ihnbessert. Das erinnert an Plato, und Plato’s Ideengange entspricht es auch, dass Henkeals Erfolg der Strafe eine wirklich moralische Besserung des Verbrechers fordert und dieIdee einer nur sog. politischen Besserung als eine leere Abstraction (mit Recht) verwirft.Ebenso wenig wie Plato hat aber Henke eine wirkliche Ausgleichung der Vergeltung imSinne der Herstellung der „Majestät des Staates"(des Gesetzes) und der Besserung desVerbrechers zu geben vermocht. Es ist eine nicht zu verkennende Wahrheit, dass das Bö-se am vollständigsten beseitigt wird, wenn der Schuldige selbst durch innere Umkehr dieHerrschaft des Guten (und des Rechtes) anerkennt. Allein so friedlich und harmonischdie allgemeinen Gedanken der Vergeltung und der Besserung neben einander zu wohnen

163Carl Salomon Zachariä: Anfangsgründe des philosophischen Criminalrechts, 1805; Strafgesetzbuchsent-wurf, 1826. — Vgl. namentlich Anfangsgründe §. 42. Daselbst wird die äussere Freiheit der negativenBedingung der Glückseligkeit gleichgesetzt.

164Aus dem Nothrechte des Staates werden aber auch andere Strafen (z. B. Todesstrafe) zugelassen.165H. W. E. Henke: Ueber den Streit der Strafrechtstheorien, 1811; Lehrbuch, 1815; Handbuch des Cimi-

nalrechts und der Criminalpolitik I. (1823), besonders S. 9,10, S. 146ff. — Ursprünglich hatte Henke:Geschichte des peinl. Rechts in Deutschland, II. S. 362ff., sich gegen jede absolute Theorie erklärt,und in der Schrift: Ueber den gegenwärtigen Zustand der Criminalrechtswissenschaft in Deutschland,1810, S. 15 ff., im Wesentlichen sich der Fichte’schen Theorie angeschlossen.

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K. C. Die Strafrechtstheorien der neueren Zeit

scheinen, so hart stossen sich ihre Consequenzen. Strafe bemessen nach dem Eintritte derBesserung ist noch keine Vergeltung, wenn jene schnell nach der schweren That eintritt,und sie geht über die Vergeltung hinaus, wenn jene nach weniger schlimmer That beiHartnäckigkeit des Verbrechers lange auf sich warten lässt.

§. 95. Mehr Beifall haben die Vereinigungen gefunden der Vergeltungstheorie mit einerrelativen in dem Sinne, dass der Rechtsgrund der Strafe in die nothwendige Vergeltunggesetzt, dann aber gesagt wird,

Seite 271von der hieraus folgenden Berechtigung zur Strafe dürfe nur insoweit Gebrauch gemachtwerden, als damit bestimmte vernünftige Zwecke für die Zukunft sich erreichen lassen,oder beziehungsweise, wenn man hier zu erreichende Einzelzwecke nicht ausschliesslichgelten lasse, als zur Aufrechterhaltung der Rechtsordnung nothwendig sei. Diese Coaliti-on der Vergeltungstheorie namentlich mit einer gewissen unbestimmten Nothwehrtheoriehat besonders in Frankreich und bei Schriftstellern Zustimmung gefunden, welche starkunter dem Einflusse des französischen Geistes stehen; nicht weniger aber ist sie in Wahr-heit regelmässig die herrschende gewesen in den Gesetzgebungs-Commissionen und ge-setzgebenden Versammlungen. Die gelehrte Jurisprudenz Deutschlands hat dagegen fastdurchgängig den Stab über solche Vereinigung gebrochen. Und beides hat seine gutenGründe. Theoretisch unhaltbar in der Form, in welcher sie auftritt, liefert diese Coalitiondoch praktisch die richtigsten Ergebnisse; Ergebnisse, die thatsächlich übereinkommenmit denen einer Theorie, welche die praktisch unmittelbar einleuchtenden Consequen-zen nur als die Kehrseite eines an sich absoluten Princips erkennen lehrt. Der erste undgeschickteste Vertreter dieser Coalition ist Rossi.166 Er betrachtet die Vergeltung des Bö-sen mit dem Uebel als unbedingtes und feststehendes Gebot der Gerechtigkeit.167 Aberdie bürgerliche Gesellschaft hat, da ihre Aufgabe nur darin besteht, die Rechtsordnungaufrecht zu erhalten, auch nicht den Beruf, diese Gerechtigkeit voll und unbedingt zuverwirklichen. Sie verwirklicht sie nur, insoweit es zur Aufrechterhaltung der Rechtsord-nung nützlich erscheint. So restringirt die Betrachtung des Nutzens die Anwendung derGerechtigkeit, begründet sie aber nicht.168 Und nun wird sehr richtig die Angemessenheitoder Ünangemessenheit der Strafe für der Moral widerstreitende Handlungen auch mitRücksicht darauf erwogen, dass die menschliche Justiz, auch wenn sie an sich das Rechtwill, doch mit der Möglichkeit des Irrthums, mit der Schwierigkeit der Feststellung zu

166Rossi: Traite du droit pénal (Paris et Genéve, 1829), I. S. 125—289.167Diese Darstellung ist Selbstzweck: „elle est, parce qu’elle est", S. 289.168Daselbst: „Le but de la justice humaine est exterieur et borné. C’est encore la justice absolue, mais

la justice absolue applique seulement aux violations de nos devoirs envers les tiers, en tant que cesviolations troublent d’une manière sensible l’ordre social". — S. 290: „La repression des délits par lapeine n’est donc legitime qu’ä la condition que la peines’appliquera aux coupables, et aux coupablesseulement . . . Des qu’on depasse d’un atome le mal mérite, il n’y a plus justice: on retombe dans leSysteme de l’interet".

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rechnen hat.169 Haus, 170 Ortolan,171 und Gabba 172

Seite 272z. B. haben diese Theorie — nur mit anderen Worten — einfach adoptirt (ebenso v.Preuschen173 und Möhl174, Mittermaier175 und Henrici176 sie aber nur unklarer gemacht,indem sie den Nutzen der Strafe in die erste, die Gerechtigkeit) die sie auch als Vorbedin-gung der Strafe wollen, in die zweite Linie stellen. Bei Mittermaier scheint mit Rücksichtvielleicht auf die freilich vom Standpunkte der absoluten, ewigen Gerechtigkeit nicht soohne Weiteres zu rechtfertigenden, gleichwohl aber praktisch nicht zu entbehrenden man-nigfachen Polizei- und Zwangsstrafen doch der Gedanke durchzuschimmern, dass unterUmständen eine Strafe wohl durch Androhung gerechtfertigt werden könne, und Henrici(S. 78) meint von vornherein das Rechtsprincip selbständiger gestellt zu haben, wenn ermit dem relativen Principe der Vertheidigung oder Aufrechterhaltung der Rechtsordnungbeginnt, die absolute Gerechtigkeit dagegen diesem Principe gegenüber als restringiren-des Princip betrachtet. In Wahrheit muss es aber auf ein und dasselbe herauskommen,wenn man nur soweit gehen will, als die Uebereinstimmung zweier Principien reicht, manmag die Einzelfrage nun zuerst nach dem Principe A. oder nach dem Principe B. be-messen. Wenn bei Rossi — das mag zugegeben werden — die Gefahr besteht, die Strafezunächst und demnach auch vielleicht zu sehr auf das rein moralische Gebiet zu über-tragen, so besteht bei Mittermaier und Henrici insbesondere die Gefahr, dass die Strafezuerst als Nützlichkeitsmassregel auf manche Dinge ausgedehnt werde, die in der Thatnicht strafwürdig sind, und dass dann die Gerechtigkeit schwere Arbeit haben werde, denGesetzgeber von dieser Nützlichkeitsmassregel wieder abzuhalten. Schwer ins Gewichtfallen kann diese Differenz aber nicht; dagegen macht Henrici’s Bemerkung (S. 85), die(absolute) Gerechtigkeit müsse aber auch den Gesetzgeber

Seite 273davor bewahren, nicht zu wenig zu thun, nicht unzeitige Milde bei todeswürdigen Ver-brechen zu üben, die Sache völlig unklar: hier tritt nach Henrici’s Gefühl die abso-lute Gerechtigkeit also einfach als constitutives Princip auf, ohne dass sie sich durchNützlichkeits- oder Humanitätsideen beschränken lassen soll. Wenn das zulässig ist, sowird die Auswahl zwischen absoluter Gerechtigkeits-(Gefühls-) Strafe und Strafe auchnach Nützlichkeits- oder relativer Nothwendigkeitserwägung wiederum einfach zur Ge-

169Vgl. I. S. 297, 303.170Principes generanx du droit pénal Beige, 1869, S. 26ff. — S. 29:„La peine est un mal qui est rendu

pour un mal; elle retombe sur le coupable parce qu’il a enfreint la loi, et parce que cette infractionmerite la souffrance qu’on lui fait éprouver. Le pouvoir social a-t-il le droit de punir? Pour qu’il aitce droit, il faut que la peine soit un moyen propre à realiser le but qui lui est assigné. II faut ensuitequ’elle soit un moyen de protection nécessaire".

171Ortolan: Elements du droit pénal, I. S. 176 ff. Nach S. 187 sagt die Gesellschaft dem Verbrecher, densie straft und der nach dem Grunde des ihm zugefügten Uebels fragt: „Tu le merites", und auf dieweitere Frage, was die Gesellschaft das angehe, erwidert diese: „Es handelt sich um meine Erhaltung".

172II pro ed il contro nella questione della pena di in orte, 1866, S. 52.173Versuch über die Begründung des Strafrechts, 1835, bes. S. 37 ff.174lieber den Zweck der Strafe, 1837, bes. S. 36 ff.175N. Archiv d. Criminalrechts, 1836, S. 403ff. Mittermaier in der von ihm besorgten 14. Aufl. des Feu-

erbach’schen Lehrbuchs, §. 20 b.176Ueber die Unzulänglichkeit eines einfachen Strafrechtsprincips, 1839.

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fühlssache. Dieselbe Kritik trifft selbstverständlich auch die Ansicht v. Wieck’s,177 wel-cher dem allgemeinen Zwecke der Aufrechterhaltung der Rechtsordnnng dio speciellenZwecke der Abschreckung und Besserung substituirt und diese freilich nur insoweit be-rücksichtigen will, als sie den Hauptzweck der Strafe: Vergeltung durch Leidenszufügung,nicht beeinträchtigen. Bemerkenswerth ist nur, dass v. Wieck, der durchaus auf positiv-christlichem Standpunkte steht, ein Gefühl von der Unvereinbarkeit der Vergeltung alsLeidenszufügung mit der christlichen Ethik zu haben scheint. Die unklare Bemerkung (S.13), der Staat habe in seinem jetzigen Zustande, wo das Böse noch nicht überwundensei, Gnade und Barmherzigkeit nur insoweit zu üben, als es ohne wesentliche Beein-trächtigung der Strafe geschehen könne, zeigt diesen Widerspruch mehr, als dass sie ihnaufhebt.§. 96. Eine wirklich neue, wenn auch sicher nicht eben glückliche "Wendung versuchte

Herbart"178 dem absoluten Princip der Vergeltung zu geben — vielfach dabei an Platound Leibnitz erinnernd. Die Vergeltung wird gedacht und gefordert als ein ästhetischesUrtheil. Wie das Recht nur das Mittel ist, den ästhetisch missfallenden Streit mehrererindividueller Willen zu beseitigen, so beruht die Strafe auf dem Axiom (der Billigkeit):die unvergoltene That missfällt. Allein während bei Plato die Strafe nur als ideale dieHarmonie der Welt erfüllen hilft, und eben deshalb, abgesehen von einigen extremen Fäl-len, auch betrachtet wird als eine Wohlthat für den Bestraften, welcher dadurch selbstin dio allgemeine Harmonie wieder eingefügt, also besser wird, finden wir uns mit demästhetischen Urtheile Herbart’s auf dem unmittelbar praktischen und realen Boden desgegenwärtigen Strafrechts, wie dies namentlich auch daraus hervorgeht, dass Herbartvon Besserung des Verbrechers recht wenig hält und wissen will.179 Und dieser nach

Seite 274Herbart mit Tod und lebenslänglichem Gefängniss recht tüchtig zu befassenden undoperirenden Strafe lässt sich doch wohl ebenso gut auch vom ästhetischen Standpunkteaus die schöne Idee entgegenhalten, welche nicht den Tod des Sünders, vielmehr die Ue-berwindung des Bösen durch das Gute will. Es ist mindestens doch Petitio principii, zubehaupten, Ersteres sei ästhetisch zusagender als Letzteres. Herbart hat dies auch selbstgefühlt. Er gesteht zu, die Vergeltung des Uebels mit dem Uebel lediglich um ihrer selbstwillen falle in die Sphäre des „Uebelwollensünd deshalb bedürfe die Strafe noch einesMotivs.180 Solche Motive liefern ihm die ethischen Ideen der Vollkommenheit, des "Wohl-wollens und des Rechtes und insbesondere die Idee der Vervollkommnung, Förderung,Sicherung des Volksganzen. So wird zuletzt Herbart’s Theorie eine Reproduction derRossi’schen Coalitionstheorie, nur unter anderem Namen: gegen den Verbrecher wirddie Strafe begründet durch die Idee der Vergeltung; die Gesellschaft aber kann vondieser Vergeltung nur Gebrauch machen, insoweit ihre Zwecke es fordern oder (sagenwir lieber im Sinne Herbart’s) es wünschenswerth erscheinen lassen. Denn nicht das

177Ueber Strafe und Besserung, 1853.178Vgl. Werke, heransgeg. von Hartenstein, 8. S. 318, 9. S. 387ff. Vgl. auch Geyer: Geschichte und System

der Rechtsphilosophie, 1863, S. 127 ff.179Aphorismen zur praktischen Philosophie, Werke 9. S. 418: „Rechtliche Besserung des Bestraften? Nein!

sondern wenn auch diese leider oft unmöglich: rechtliche Besserung der Gesellschaft".180Praktische Philosophie (L), Werke 8. S. 44, 45.

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strenge Rechtssystem mit möglichst freier Entfaltung des Individuums ist das Ziel desHerbart’schen Staates. Verwaltungssystem, Lohnsystem und System des gegenseitigenWohlwollens können, das sieht Herbart ein, einen viel weiter gehenden Zwang des In-dividuums nöthig machen, als das Rechtssystem ihn fordern würde. „Die Züchtigungauszuüben, ist möglich, sobald es die Wohlfahrt erheischt, und sobald die allgemeineAnerkennung, die Strafe erhebe keinen Streit, vorausgesetzt werden kann.Ünd „wo derRichter nicht züchtigen dürfte, da dürfte es der Gesetzgeber."181 Also mit anderen Wor-ten: wo das allgemeine Gefühl durch die Strafe nicht verletzt werden würde, da darf auchgestraft werden, und jedenfalls in diesem Falle dann, wenn das positive Gesetz es so will.Zuletzt kommt man auf diesem Wege zu dem reinen Positivismus. Es entspricht demästhetischen Gefühle, dass Gesetze befolgt werden, also auch, dass nach ihnen, wenn siees so wollen, gestraft werde.182 Das ist der Standpunkt des modernen, plattesten Libe-ralismus,

Seite 275der Recht und Gesetz gar nicht mehr zu trennen vermag. Ohne Zweifel war Herbart vondieser Anbetung des Gesetzes als solchen — man macht erst, wenn möglich mit kaumerreichter Majorität, ein Gesetz, und nachher betrachtet man das Gesetz als einen un-antastbaren Götzen — weit entfernt. Aber die Consequenz zeigt gerade deshalb rechtdeutlich die Unbrauchbarkeit des ästhetischen Urtheils zur Gewinnung eines festen Bo-dens für das Strafrecht: sachlich übereinstimmend mit dem kategorischen Imperativ,ist das von Herbart sogenannte ästhetische Urtheil verschwommener als dieser. Nachdem kategorischen Imperativ kann nur gestraft werden, insofern unser Bewusstsein diesunbedingt fordert; nach dem ästhetischen Urtheile kann gestraft werden, wenn unserBewusstsein sich nur nicht dagegen erklärt.Es kann hier nun nicht darauf ankommen, die mit der Grundauffassung H e r b a r t ’ s

mehr oder minder eng zusammenhängenden Aphorismen über das Strafrecht183 durchzu-gehen. Neben einzelnen scharfsinnigen Bemerkungen documentiren sie im Ganzen doch,dass der Philosoph den Gegenstand, über welchen er philosophirte, das Strafrecht, wenigkannte.184

Die Herbart’sche Strafrechtsphilosophie hat wenig Anhänger gefunden. Am besten undgeschicktesten ist sie wohl von Geyer vertheidigt worden. Aber eben diese durch vielefeine und treffende Bemerkungen ausgezeichnete Verteidigung185 zeigt, dass eine Vert-

181Werke 8. S. 87.182Das. 8. S. 85: „Zusammengefasst ergibt das Vorstehende einen strengen Unterschied zwischen der

Möglichkeit, gestraft zu werden, und der Möglichkeit, zu strafen. Dass Jemand gestraft werde, istmöglich nur dadurch, dass er zuvor Etwas begangen habe; welches die Strafe auf ihn zurückwerfe. .. obJemand strafen könne, (hängt) von einer neuen Bedingung ab, ob ein Motiv vorhanden sei, dass dieStrafe bloss Mittel, nicht Zweck werde. Zunächst wehrt das Motiv dem Vorwurfe des Uebelwollens;es soll aber von der Art und Stärke sein, dass auch nicht der Mangel als eine Unvollkommenheithervortreten könne".

183Werke 8. S. 415-418.184So z. B. die fehlerhatten Bemerkungen über Dolus und Culpa.185Vgl. namentlich auch den Aufsatz: „Ueber den Begriff des Verbrechensïn Haimerl’s Österreich. Viertel-

jahrsschrift f. Rechts- u. Staatswissensch., Bd. 9 (1862) S. 215—253, und Geyer in v. Holtzendorff’sRechtsencyclopädie Bd. I.

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K. C. Die Strafrechtstheorien der neueren Zeit

heidigung des Herbart’schen Princips in wirksamer Weise auch Dem nicht möglich ist,der die volle Kenntniss des Stoffes besitzt. Bei Geyer wird der Satz „die unvergolteneThat missfällt"wieder vollständig zur Idee der einfachen Vergeltung.186 Nur lässt dieseVergeltung, obschon dies im Grunde ihrem Wesen widerspricht, bei Geyer eine Beschrän-kung zu: „Das Wehethun187 an sich missfällt,ünd so müsste denn der Staat eigentlichalles absichtliche Wehethun, ja wie Geyer später (S. 245) auch ausführt, selbst jedes cul-pose Wehethun bestrafen. Indess das ästhetische Urtheil ist ein kategorischer Imperativ,der mit sich handeln lässt. Daher greift die Maxime Platz „Minima non curat praetor":eine zu weit gehende Strafgewalt hat die mannigfachsten Uebelstände im Gefolge; undebenso muss der Volksgeist und die Macht des Bestehenden anerkannt werden

Seite 276(S. 231). Ja man kann unter Umständen mit der Verpflichtung zum Schadensersatze anStelle der Strafe auskommen.188 Das ist denn freilich, da Schadensersatz unter Umstän-den auch von Demjenigen geleistet werden muss, den keine Schuld trifft, eine völligeVerleugnung der Idee der Vergeltung, des ästhetischen Urtheils. Und anders kann es jaauch nicht kommen. Sobald man zu Einzelheiten übergeht, kann man Kant’s Absur-ditäten nur durch eine Verleugnung der Vergeltungsidee vermeiden. Die Uebelthat isteine Dissonanz nach Herbart’s und Geyer’s Auffassung-. Wird eine Dissonanz dadurchminder gefühlt, dass man eine zweite darauf folgen lässt? Denn Strafe soll doch demVerbrecher Uebles, Wehe bereiten. Wenn ein Schulknahe schreit, der von einem anderenSchulknaben geschlagen wird, so wird dies Wehegeschrei doch nicht dadurch hinterherzu einem Wohllaute, dass nun bald darauf auch der zweite Schulknabe schreit, der vondem Schulmeister für sein Uebelverhalten gezüchtigt wird. Allerdings mag es Dem, dersich für pädagogische Zucht interessirt, ein angenehmes Gefühl sein, dass auch in diesemFalle dieselbe Anwendung fand. Genau so steht es auch mit der Strafe. Passen wir dieStrafe principiell auf als Wehethun, als ein Uebel, so kann dies Uebel doch seinen hässli-chen Charakter nur verlieren, wenn es Mittel wird zu einem zu erreichenden Wohlthun.Und wenn es auf die Vergeltung an sich ankäme, wäre es nicht die beste, auch vomStaate als Strafe anzuerkennende Vergeltung, wenn der Verbrecher bei Ausführung derThat selbst sich einen empfindlichen Schaden oder Schmerz zuzieht, ohne irgend einenVortheil zu erreichen? 189 Geyer (S. 233) weist diesen Einwurf zwar mit der Bemerkungzurück, das Uebel müsse als „Vergeltungëintreten. Allein ist nicht die Vergeltung ihrerIdee nach eine um so vollkommnere, je weniger sie künstlicher Veranstaltungen bedarf?Jede gut entworfene Tragödie dürfte die Richtigkeit dieser Widerlegung Geyers erweisen.Bei genauer Betrachtung zeigt sich eben, dass die Begriffe Vergeltung und Strafe sichgar nicht decken.

186Vgl. namentlich den citirten Aufsatz S. 219.187Vgl. a. a. 0. S. 225 ff., besonders S. 228.188Gegenüber einer Theorie, welche die Strafe auf Vergeltung oder ein unbedingtes ästhetisches Urtheil

gründen will, sind Binding’s Ausführungen (Die Normen und ihre Uebertretung, I. S. 207 ff.) überden diametralen Gegensatz von Schadensersatz und Strafe richtig. Anders steht es, wenn man dieStrafe nicht auf Vergeltung gründet und wenn man die Sache nicht vom Standpunkte des positivenRechts, sondern historisch und politisch betrachtet Vgl. darüber unten.

189Die gemeine Ansicht wird dies immer als Vergeltung im eminenten Sinne auffassen.

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§. 97. Einen wesentlichen Fortschritt enthält dagegen- die Theorie Hegels.190 Hegel istdie Strafe einfach Negation des Unrechts, welches

Seite 277letztere wieder die Negation des Rechtes ist. Zwar ist das Unrecht dem Rechte gegenüber(der allgemeinen Rechtsordnung gegenüber, welche abstract gedacht, unverletzbar ist) ansich schon nichtig, allein die Strafe hat diese Nichtigkeit des Unrechts in dem besonderenWillen des Verbrechers zu bewirken, also das Recht in diesem Willen wiederherzustellen.So ergibt sich denn auch ein Unterschied der Reaction bebezüglich der verschiedenenArten des Unrechts: des unbefangenen Unrechts, des Betrugs und des Verbrechens. Dasunbefangene Unrecht besteht nicht in dem Willen Desjenigen, der sich dem Rechte op-ponirt; vielmehr wird hier das Recht an sich gewollt, aber nur in dem concreten Fallemit dem Unrechte verwechselt. Dies ist der Fall des Civilunrechts. In dem Falle des Be-truges wird der Schein des Rechts gewahrt, unter diesem Scheine allerdings das Unrechtgewollt; in dem Falle des Verbrechens wird das Recht sowohl objectiv wie subjectiv vondem Schuldigen negirt. Hier also wird es nothwendig, das Unrecht auch äusserlich alsein nichtiges aufzuweisen durch die Strafe. Die letztere kann daher ihrer Natur nachnicht als ein Uebel bezeichnet werden. Die Zufügung eines Uebels nur um deswillen, weilschon ein anderes vorhanden ist, erscheint Hegel, wie er (§. 99) ausdrücklich bemerkt,als unvernünftig. „Das Aufheben des Verbrechens ist insofern Wiedervergeltung, als siedem Begriffe nach Verletzung der Verletzung ist und dem Dasein nach das Verbrecheneinen bestimmten qualitativen und quantitativen Umfang, hiermit auch dessen Negati-on als Dasein einen eben solchen hat. Diese auf dem Begriffe beruhende Identität istaber nicht die Gleichheit in der specifischen, sondern in der an sich seienden Beschaffen-heit der Verletzung, nach dem Werthe derselben."„Bei dem Verbrechen, als in welchemdas Unendliche der That die Grundbestimmung ist, verschwindet das bloss äusserlichSpecifische um so mehr und die Gleichheit bleibt nur die Grundregel für das Wesent-liche, was der Verbrecher verdient hat, aber nicht für die äussere specifische Gestaltdieses Lohns. Nur nach der letzteren sind Diebstahl, Raub, Geld- und Gefängnissstrafeu. s. f. schlechthin Ungleiche, aber nach ihrem Werthe, ihrer allgemeinen Eigenschaft,schlechthin Verletzungen zu sein, sind sie Vergleichbare"(101). Mit anderen Worten: dasWesentliche des Verbrechens ist Auflehnung gegen das allgemeine Rechtsprincip; daherist die Frage, durch welche äusseren Mittel, der Qualität und Quantität nach, diese Auf-lehnung als eine nichtige bezeichnet werden soll, dem Principe nach nicht zu bestimmen.Erst „der Gedanke des Werthes"vermittelt die Vergleichbarkeit der That und des Mittelsihrer Aufhebung. Hiernach würde denn auch, was Hegel freilich nicht weiter ausführt,die Gestaltung und Ausmessung der Strafen von dem Gedanken des Werthes, d. h. vonder Wertschätzung in einem bestimmten Staate und zu einem bestimmten Zeitpunkteab

Seite 278hängen, sie würde überhaupt nicht in die Sphäre des Princips fallen.191 Endlich ist es

190Grundlinien der Philosophie des Rechts, herausgeg. von Gans, 3. Aufl., 1854, §§. 82 ff.191Vgl. das §. 63 über den Werthbegriff Bemerkte. Zusatz zu §. 96: „Wie ein jedes Verbrechen zu bestra-

fen sei, lässt sich durch den Gedanken nicht angeben, sondern hierzu sind positive Bestimmungennothwendig". Nur bei dem Morde soll es nach §. 101 a. E. anders stehen: „Denn da das Leben der

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auch nicht begrifflich nothwendig, dass die Nichtigerklärung des Unrechts Sache des Staa-tes sei. Sie kann auch in der Form der Rache von dem Verletzten selbst erfolgen, freilichin unvollkommener und leicht verderblicher Weise, da in der Form der Rache die Nega-tion des Unrechts leicht mit dem Unrecht verwechselt werden oder in dasselbe ausartenkann.192

Diese der nicht selten abstrusen Sprache193 wegen von Vielen nicht genug gewürdigteTheorie hat, wie aus den letztgenannten Consequenzen hervorgeht, jedenfalls den Vor-zug, dass sie der Gesehichte gerecht werdenkann. Sie vermag die Rache als Vorstufeder staatlichen Strafe anzuerkennen, und sie kann das vielgestaltige Bild der positiv be-stimmten Strafen als ein Phänomen betrachten, in welchem ihr Princip sich bethätigt,ohne sich untreu zu werden. Und die bedeutendste Leistung ist, dass sie die Strafe nichtals ein Uebel auffasst, d. h. als Etwas, das principiell den Zweck hätte, dem Verbrecherein Uebel zu schaffen. Zum ersten Male ist hier vom Standpunkte der absoluten Theorieaus der Widerspruch zwischen Moral und insbesondere christlicher Moral und staatlicherStrafe, nicht etwa nur pädagogischer Züchtigung, wirklich beseitigt. Aber es wird auchder Versuch gemacht, die Strafe nicht nur als nothwendige Massregel des Allgemeinen,des Gemeinwesens zu rechtfertigen, sondern auch sie darzustellen als gefordert durchdie Persönlichkeit des Schuldigen selbst. Die Strafe ist das Recht des Verbrechers selbst;auch in ihm existirt die allgemeine Vernunft, welche die Strafe dictirt und so wird inder Strafe der „Verbrecher als Vernünftiges geehrt"(S. 136). Dieser letztere Satz klingtin dieser Form freilich fast als Hohn und scheint geeignet, selbst den Spott über Hegel’sTheorie zu motiviren. So wie er aufgestellt ist, ist er auch unrichtig. Der Verbrechererkennt gerade die allgemeine im Recht und Gesetz waltende Vernunft nicht an, und we-nigstens ist dies nicht der Fall bei dem verstockten Verbrecherthum, welches im Kriegemit der übrigen Menschheit sich befindet. Aber der Satz streift die Wahrheit. Selbst mitdem

Seite 279verstockten Verbrecher verfährt ein geläutertes Strafrecht doch immerhin noch anders,als wir mit der Bestie verfahren, die unser Leben oder unser Gut bedroht, oder mitdem Thiere, das wir für Zwecke der Menschheit, vielleicht auf qualvolle Weise, opfern.Verglichen mit dem letzteren Verfahren ehrt die Strafe doch immer noch die Vernunftim Verbrecher. Es durfte nicht gesagt werden: die Vernunft im Verbrecher fordere dieStrafe. Es musste gesagt werden: streng genommen zerreisst der Verbrecher die rechtli-che Gemeinschaft: so kann er auch rücksichtslos behandelt werden, und so geschah esauch auf den Anfangsstufen der Rechtsbildung; der Verbrecher wurde da rechtlos. Diespätere, masshaltende Strafe ist also ihm gegenüber Wohlthat; man betrachtet in demVerbrecher doch die rechtliche Gemeinschaft als wirksam, und so ehrt man ihn in derThat als ein vernünftiges Wesen. So haben wir den Fichte’sehen Gedanken wieder, dass

ganze Umfang des Daseins ist, so kann die Strafe nicht in einem Werthe, den es dafür nicht gibt,sondern wiederum nur in der Entziehung des Lebens bestehen". Hier hat die traditionelle Anschauungund die noch nicht voll überwundene „Vergeltungëinen Streich gespielt.

192§§. 102, 220.193Dieselbe ist in der obigen Darstellung des leichteren Verständnisses wegen theilweise schon in die

gewöhnliche Sprache übersetzt.

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es eben ein wichtiges Recht sei, gestraft, d. h. nicht als rechtlos behandelt zu werden.Ebenso streift die Wahrheit die Unterscheidung des strafbaren Unrechts und des Ci-

vilunrechts. Nur muss erstens die Mittelstufe des Unrechts, der Hegel’sche Betrug ge-strichen werden; anscheinend hat hier einerseits die bekannte dialektische Dreitheilung,andererseits aber die Beobachtung eingewirkt, dass im Verkehr das „Invicem sese cir-cumsribere licet"gelten, also listige Uebervortheilung straflos sein kann — aber freilichnur in gewissem Umfange, nicht allgemein. Und zweitens ist auch nur soviel zuzugeben,dass die Strafe sich vorzugsweise an das absichtliche Unrecht hält. Es wird aber kei-neswegs alles und jedes absichtliche Unrecht gestraft; es gibt auch doloses Civilunrechtund andererseits gibt es strafbares Unrecht ohne begleitenden Dolus. Nur kann es straf-bares Unrecht ohne auch nur indireet dafür verantwortlich zu machenden Willen nichtgeben. Der Ausgangspunkt für die noch in unseren Tagen oft behandelte Frage der Un-terscheidung des strafbaren und des nicht strafbaren Unrechts liegt allerdings in HegelsBemerkungen.Am wenigsten befriedigend ist die dialektische Umsetzung des Rechts in Strafe. Das

Recht ist an sich kein actives Princip; das Recht sagt nicht: Du musst etwas thun, son-dern nur: Du darfst es. Wenn der Verletzte oder beziehungsweise der Staat das Rechthaben, zu strafen, so müssen sie noch nicht strafen. Die Pflicht zu strafen, welche nachHegel doch anscheinend neben dem Recht zur Strafe, wenigstens was den Staat betrifft,angenommen werden muss, war also noch besonders zu deduciren. Aus der Nothwendig-keit der Selbsterhaltung des Rechts folgt sie noch nicht. Man kann daraus an sich nurableiten, dass, wenn der Berechtigte will, der thatsächlich dem Rechte widersprechendeZustand dem rechtlichen Zustande zu weichen habe; es folgt daraus also nur ein vomBelieben

Seite 280des Berechtigten abhängiger Wiederherstellungszwang — soweit solcher möglich ist. EinePflicht zu strafen kann nur daraus abgeleitet werden, dass man im Rechte die moralischeBasis aufsucht; das Recht an sich ist nicht activ, aber die Moral muss unter Umständenactiv werden, wenn sie Moral bleiben will. Hier findet sich bei Hegel ein Sprung in derDeduction, der zugleich eine Unklarheit einschliesst. Aus dem Begriffe des Unrechts folgtdie Strafe nicht rein logisch. Wäre das aber, wie Hegel freilich glaubt, der Fall, so wäreein Verzicht auf die Strafe von Seiten des Staats unzulässig; es dürfte die von Hegel dochzugelassene Begnadigung194 nicht stattfinden; denn das rein begriffsmässig Folgende istnothwendig.§. 98. Die Hegel’sche Strafrechtsphilosophie hat tief in die Entwicklung eingegriffen.

Eine erhebliche Anzahl gerade der bedeutendsten Strafrechtslehrer hat gestanden undsteht noch unter dem Einfluss Hegels. Da aber die Modifikationen der Hegel’schen Theo-rie noch wesentlich unter den lebenden Theoretikern mitvertreten werden, wird es zweck-mässig sein, zunächst die theologische Einkleidung zu betrachten, welche die Hegel’scheTheorie durch F. J. Stahl 195 erhalten hat. Sie hat unter den Gelehrten verhältnissmässig

194§. 282.195Die Philosophie des Rechts, 3. Aufl. (1856) Bd. 2, Abth. 1, S. 160ff., Abth. 2, S. 681 ff. In den Grund-

zügen findet sich diese Theorie schon bei Jarcke: Handbuch des gem. deutschen Strafrechts, I. (1827)S. 240ff. (und in der übrigens unbedeutenden Schrift v. Linck’s: Ueber das Naturrecht unserer Zeit als

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wenig Anhänger gefunden.Noch einmal wird der Gedanke der vergoltenden göttlichen Gerechtigkeit zur Grund-

lage der bürgerlichen Strafjustiz gemacht; diese ist nichts Anderes, als eine beschränktegöttliche Gerechtigkeit, oder wie Stahl auch ausführt, eine sittliche Strafe in einer gewis-sen, dem Aeusseren zugewandten und daher zunächst auch nur auf Aeusseres wirkendenRichtung. So wird aus der dialektischen oder logischen Wirkung, welche nach Hegel inder Strafe das Recht auf das Unrecht ausüben soll, eine That dor Obrigkeit in Folgegöttlicher Vollmacht. Zugleich steht Stahl mit einem Fusse auch auf dem Boden der re-lativen

Seite 281Theorie. Vielleicht ist dabei einerseits doch das Gefühl massgebend gewesen, dass ei-ner geläuterten Anschauung, und insbesondere der christlichen, es wenig entspreche, derGottheit einen unbedingten Rache- oder Vergeltungsdurst zuzuschreiben, und anderer-seits hat der kundige und gewandte Jurist und Staatsmann doch nicht verkennen können,dass die Strafe auch anderen als Vergeltungszwecken sich zu accommodiren habe, Nichtdas Gesetz soll durch die Strafe aufrecht erhalten werden, sondern seine Herrlichkeit(Oberherrschaft). „Jede (strafbare) That enthält eine Herrschaft, es ist eine unendlichereale Macht in ihr, eine absolute Wirkung,"diese Herrschaft (Auflehnung) des individu-ellen Willens soll durch die Strafe niedergedrückt, aufgehoben werden.196 Mit anderenWorten: „Durch die Strafe . .. wird der Staat auch erhalten und gesichert gegen dieGefahr, die das Verbrechen für ihn enthält, und wenn er die sittliche Pflicht, die Gerech-tigkeit zu handhaben, zu strafen, nicht erfüllte, müsste er auch äusserlich und mechanischzu Grunde gehen (Nothwehr). Die Strafe macht nicht bloss den übelsten Theil der Be-völkerung, der sich durch Verbrechen als solcher bewährt, gänzlich oder für eine Zeitunschädlich (Prävention), sondern was bei weitem wesentlicher ist, sie hält die ganzeBevölkerung durch Furcht vor der Strafe von Verbrechen ab (Abschreckung), und beider Oberhand des Bösen im irdischen Zustande ist nur diese Furcht vermögend, die Ord-nung und die Sicherheit für das Ganze und die Einzelnen zu gewähren. In gleicher Weisewird durch die Strafe und die Pflege der Gerechtigkeit auch die Sittlichkeit gefördert.Fürs Erste die Sittlichkeit des Verbrechers (Besserung); denn das äussere Leiden, das ihnals ein verdientes trifft, muss ihn zur Besinnung und Bekehrung bringen, wenn er nichtselbst hartnäckig widerstrebt. . . Fürs Andere die Sittlichkeit der Bevölkerung. Denn dieStrafe schreckt nicht bloss psychologisch vom Verbrechen ab durch die Furcht vor demsinnlichen Uebel der Strafe, sondern sie erfüllt auch sittlich mit dem Bewusstsein derVerdammlichkeit des Verbrechens und dem Abscheu der sinnlichen Triebfedern, die zu

Grundlage der Strafrechtstheorien, 1829). Bemerkenswerth ist, dass Jarcke, S. 244, 245, den Nutzender Philosophie des Strafrechts nur darin sieht, dass „dadurch falschen und einseitigen Theorien derWeg in die Praxis verschlossen und der Schlaffheit entgegengewirkt wird, die geflissentlich zuweilenschuldige Verbrecher durchschlüpfen lasst". Auf das Detail des Strafrechts, welches lediglich Sacheder geschichtlichen Entwicklung sei, soll die Philosophie keinen Einfluss haben, ja nicht einmal ein-zelne Strafen als unvernünftig bezeichnen dürfen. — Die einfach retrograde Tendenz der absolutenTheorie, insofern sie die Strafe als Uebel der Leiden des Schuldigen betrachtet, ist damit sehr gutgekennzeichnet.

196II. 1. S. 166.

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ihm führen."197 Die Zurückführung von Strafe und Staat auf einen göttlichen Willen kannman nun freilich .adoptiren; ja Jeder, der überhaupt einen höheren Zusammenhang derDinge anerkennen will, wird ihn auch in Bezug auf Strafe und Staat anerkennen müssen,und durch die Zurückführung der Strafe auf ein höheres Gesetz, als das der menschlichenWillkür und des berechneten Nutzens kann der Strafjustiz möglicher Weise gerade einegewisse weise Zurückhaltung gewahrt werden. Ebenso ist Stahl’s Kritik der Hegelschenrein dialektischen Ableitung der Strafe treffend: „. . Eben die

Seite 282Frage, wie eine „Verletzung"des Thäters als Person eine Aufhebung oder auch logischeNegation seines vergangenen verbrecherischen Einflusses und Actes sei, ist damit nochnicht beantwortet, vollends dass auch ein reuiger Verbrecher, in welchem das Verbrechenkeine Existenz mehr hat, gestraft werden müsse oder nur dürfe."198 Aber Stahl entnimmtnun doch wieder, je nachdem es ihm und seinen Tendenzen passt, bestimmte Sätze alsRechtssätze der heiligen Schrift, und der Gefahr, die göttliche Sanction der Institutionim Allgemeinen mit der göttlichen Sanction einer bestimmten Ausgestaltung der Insti-tution, bezw. der Institution in bestimmten Anwendungen zu verwechseln, ist er trotzseines Protestes199 erlegen.200 Ferner die Ableitung der Strafe unmittelbar aus der gött-lichen Gerechtigkeit — wenn auch nur aus einer beschränkt durch einen Stellvertreterausgeübten — ist in Wahrheit mit der Begründung der Strafe durch die Notwendigkeitder Aufrechterhaltung von Recht und Staat nicht vereinbar. Aus der letzteren könnte z.B. die Notwendigkeit einer durch die erstere nicht geforderten Strafe deducirt werden.Diese Strafe wäre dann nicht etwa, wie Stahl (II. 2. S. 702) meint, als Nothrecht ent-schuldigt, sondern einfach ungerecht; denn göttliche Gerechtigkeit duldet ebensowenigZusätze wie Abzüge, und endlich muss durch die Auffassung der Strafe als Bethätigunggöttlicher Gerechtigkeit, durch die Auffassung des Staates als eines äusseren Abbildesdes Reiches Gottes die Tendenz entstehen, die staatliche Strafe der göttlichen möglichstzu nähern, also Sünde (Immoralität) und Verbrechen möglichst zu identificiren. Der vonStahl oft benutzte Hinweis, dass der Staat eben nur ein äusseres Reich sei, ist dieserTendenz gegenüber doch nur eine gebrechliche Schranke. Denn bei dieser Auffassungmuss die „Aeusserlichkeit"ja nur als eine möglichst zu überwindende Unvollkommenheit

197II. 2. S. 684.198II. 1. S. 174.199II. 2. S. 683.200Vgl. namentlich II. 2. S. 701, 702, die Erörterung über die Todesstrafe: „Die Obrigkeit trägt das Schwert

nicht umsonst".

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erscheinen.201202203

Seite 283Genau betrachtet, ist die Vereinigung von christlicher Theologie und staatlichem Straf-recht, welches als ein unerlässliches Attribut das Beil des Henkers behalten soll, bei Stahlweder neu noch neu begründet, sondern Repristination des Standpunktes der Reforma-toren. Interessanter und tiefer ist die Auseinandersetzung, welche der berühmte TheologeSchleiermacher zwischen Christenthum und staatlicher Strafe versucht hat.204 Schleier-macher erklärt sehr richtig die Aussprüche der heiligen Schrift, welche dem Christenzur Pflicht machen, die Obrigkeit nicht anzurufen, für eine Consequenz der damaligenZeitverhältnisse, in welchen es eben eine christliche Obrigkeit nicht gab, und so findet erdenn, weil ohne Strafgerichtsbarkeit die Macht des Bösen unüberwindlich werden würde,auch kein Bedenken dagegen, dass der Christ die Obrigkeit bei Ausübung der Strafge-richtsbarkeit unterstützen, ja selbst die Stelle der Obrigkeit übernehmen könne (S. 247ff.). Nur die Todesstrafe scheint ihm durchaus gegen den Geist des Christenthums zu seinund dagegen, als gegen einen Rest alter Barbarei, polemisirt er denn auch in scharfen

Seite 284Ausdrücken. Ebenso will er von Vergeltung nichts wissen und fühlt, dass das Wehethunder Strafe, insofern man dadurch den Verbrecher nicht zur Busse bewege, der vollkommenchristlichen Gesinnung nicht entspreche. So möchte er am liebsten es hei der Strafdrohung

201Vgl. II. S. 691. Hiernach sollen Unheiligkeit und Sünde doch auch bestraft werden können, wenn auchnur polizeilich, zur sittlichen Förderung und zur Reprobation des Aergernisses. Mit der Qualificati-on der Strafe als einer nur polizeilichen, dürfte thatsächlich nichts geändert sein. Dass Niemand fürblosse Unheiligkeit und Sünde geköpft oder lebenslang eingesperrt werden kann, ist ohnehin selbst-verständlich.

202Diese Tendenz tritt besonders deutlich hervor bei E. J. Bekker: Theorie des heutigen deutschen Straf-rechts, I. (1857), S. 28 ff., der deshalb auch als idealen Standpunkt die Abschaffung der festen Rechts-normen bezeichnet, damit der Richter alles Strafwürdige bestrafen könne. Bekker betrachtet dasVerbrechen als Auflehnung gegen den (christlichen) Staatswillen. — Stahl’s Theorie ist von Walter:Naturrecht und Politik im Lichte der Gegenwart, 1863, §. 409, einfach adoptirt worden.

203In einer eigenthümlich mystischen Weise ist das Vergeltungsprincip im Anfange dieses Jahrhundertsvon dem Vertreter des Legitimismus und des Pabstthums, dem Grafen Joeeph de Maistre, aufgestelltworden. Diese allerdings in den Einzelheiten nicht durch geführte Theorie kann als Beleg dafürdienen, zu welchen Consequenzen man schliesslich mit der Theorie der göttlichen Vergeltung, jader Vergeltung überhaupt — denn die Vergeltungsidee läuft schliesslich immer auf eine Vergötterungdes Bestehenden hinaus — gelangt Nach de Maistre sind wegen der allgemeinen Sündhaftigkeit derMenschen Opfer nöthig; sie fallen massenweis im Kriege und einzeln unter dem Beile des Henkers,und über die grössere oder geringere Zahl dieser Opfer brauchen wir uns keine Bedenken zu machen.Der Henker aber ist das geheimnissvolle Correlat irdischer Hoheit, ohne welches diese, die irdischeMajestät, die Stellvertreterin Gottes, nicht bestehen kann. Der Henker flösst Schrecken und Grauenein, und man begreift nicht, wie zu diesem furchtbaren Amte sich noch Jemand finden kann; aber inFolge einer geheimnissvollen Fügung der Vorsehung hat der Henker noch nie gefehlt, und in Wahrheitthut er ja auch nichts Anderes als der Soldat (!), den die Wuth, der Enthusiasmus des Schlachtens undOpferns ergreift. Beruhigen wir uns auch darüber, wenn etwa ein Unschuldiger hingerichtet wird: esgibt weit schlimmere Uebel, und für seine Sünden hat es Jeder verdient. — Und doch ist diese ganzeAusführung nicht so absurd wie sie scheint. In Wahrheit ist die Idee der Vergeltung im Strafrechtimmer eine Verwechslung des menschlichen und praktischen Standpunktes mit dem göttlichen, unsunnahbaren und daher unpraktischen Standpunkte (Soirées de St. Petersbourg I. S. 14 ff., S. 34 ff.,II. S. 4, S. 23, I. S. 182 ff., S. 214 ff.).

204Vgl. Schleiermacher: Die christliche Sitte, herausgegeben von Jonas, S. 241 ff.

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bewenden lassen, wenn nicht eben die der Vollziehung ermangelnde Drohung wirkungs-los werden würde, und fast scheint es, als ob seiner Idee nach den wirklich bussfertigenSünder auch keine Strafe treffen dürfte, wenngleich freilich auch der bussfertige Christ,falls ihn wirklich die Strafe trifft, dieselbe gehorsam anzunehmen hat.205 So wird Seh-leiermacher durch den nebenbei auch ausgesprochenen richtigen Gedanken, dass, wennAlle — sagen wir richtiger, die ganz überwiegende Mehrzahl — wahre Christen wären,die Strafe in Wegfall kommen müsste (S. 260), zu der Feuerbach’schen Theorie des psy-chologischen Zwanges gedrängt, 206 und sogar den Satz findet man bei ihm, dass ebenwegen der vorausgegangenen, dem Schuldigen bekannten Drohung nicht eigentlich dieObrigkeit das Uebel zufüge, sondern der Schuldige es sich selbst zuziehe.207 Er benutztdiesen Satz, um den anklagenden, denuncirenden oder strafenden Christen vollends reinzu waschen, ohne zu der Erkenntniss zu gelangen, dass an der Notwendigkeit der Stra-fe nicht nur der Verbrecher, sondern Alle in gewissem Umfange mitschuldig sind, auchdie unvollkommenen Christen, an welche Schleiermachers Worte sich richten. Aber einevollkommene Beruhigung scheint Schleiermacher dabei doch nicht zu empfinden. Er holtnoch den antiken Satz herbei, dass die Strafe auch etwas Gutes208 sei, und verwirft nachdieser Gedankenverbindung auch die Strafen, die den Charakter der Lieblosigkeit an sichtragen, und schwankt so zwischen der Auffassung der Strafe als

Seite 285Poena vindicativa und als Poena medicinalis, wie es früherhin schon die Kirche gethanhatte, bevor die Orthodoxie die unmittelbare Rechtfertigung der staatlichen Strafe ausgöttlichen Geboten völlig festgestellt hatte. Und dann zeigt sich auch darin der Theologe,dass Schleiermacher das Verbrechen nicht, wie Feuerbach, als Rechtsverletzung, sondernals Ungehorsam gegen Gebote des Staates betrachtet, 209 dass er die Rache als möglicherWeise sittlich nicht begreifen kann. So erscheint denn schliesslich wieder der Staat alsDeus ex machina. (nicht der Staat als That und Werk des Menschen), der den Menschenden Gefallen thut, das Böse mit dem Uebel (der Strafe) zu vergelten, damit der Christsich in Unschuld die Hände waschen könne. 210

205Es ist das freilich nicht ganz klar, da die betreffenden Stellen nur reden von der Selbstanklage und vonder Erlaubtheit oder Pflicht, die verfolgende Obrigkeit aufzurufen. Vgl. S. 254, S. 257 Anm. An derersteren Stelle heisst es: „Sich selbst als Uebertreter des Gesetzes anzugeben, fordert das Sittengesetznicht. . . . Ist Jemand . . . wirklich zur Erkenntniss seiner Sünde gekommen, so ist er auch schon aufdem Wege, die Wiederherstellung der Strafe gelbst herbeizuführen".

206Deren Consequenzen ihm allerdings nicht klar sind. — S. 246 heisst es: „ . . . Es bleibt also nur übrig,da der Mensch nur durch eigennützige Motive bewogen sein kann, den Gehorsam zu verletzen, . .. dass ihm selbstsüchtige Motive entgegengesetzter Art an die Hand gegeben werden, die ihn zumGehorsam zurückführen".

207S. 248.208S. 251 Anm. In dieser Gedankenverbindung kommt auch der falsche, an die naturrechtliche Vertrags-

theorie erinnernde Satz vor, dass die Todesstrafe deshalb unzulässig sei, weil der Christ sich nur dannbei der Strafe beruhigen könne, wenn dieselbe dem Schuldigen kein grösseres Uebel auferlege, alsJeder sich selbst auferlegen dürfe.

209S. 258.210Dass es sich in Wahrheit anders verhalte, hat der scharfsinnige Denker übrigens gelegentlich auch

nicht verkannt. So sagt er S. 251: „Das Strafgesetz darf nichts Anderes sein, als der Ausdruck desvom christlichen Geiste beseelten allgemeinen Willens", und S. 252 Anm. heisst es: „auch damit könnesich die christliche Obrigkeit nicht rechtfertigen, dass sie sage, sie habe das Gesetz (der Todesstrafe)

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K. C. Die Strafrechtstheorien der neueren Zeit

Der protestantische Theologe Daub211 verbindet die Platonische Auffassung der Strafemit der Hegel’schen Auffassung der Strafe als einer Negation des Unrechts. Die Tilgungdes Unrechts in dem Willen des Verbrechers durch die Strafe wird als eine nothwendigedargestellt, aber zugleich der Charakter der Strafe als eines Uebels geleugnet: die Strafeist, da die Quelle des Gesetzes „die Liebeïst, eine Wohlthat, ein Gut. Die blosse Sünde,bei welcher der Einzelne es nur mit sich selbst und mit Gott zu thun hat, kann durchReue und Busse, das Verbrechen, bei welchem eine Einwirkung auf Andere stattfindet,nur durch Strafe von dem Schuldigen hinweggenommen werden. So erscheint auch dieTodesstrafe als Wohlthat; die Blutschuld kann nur durch das eigene Blut des Mördersvon ihm genommen werden, freilich genau betrachtet nur dann, wenn der Verbrecherdahin gebracht wird, sich selbst das Urtheil zu sprechen, dass er überzeugt werde, ihmgeschehe Recht; wäre das nicht der Fall, erläge der Verbrecher nur der Nothwendigkeit,so würde die Hinrichtung Etwas von Ermordung an sich tragen.212

Es wird einer besonderen Kritik dieser Ansicht nicht bedürfen. Die Kritik der Plato-nischen und der Hegel’schen Ansicht enthält auch die Kritik dieser Combination. Es istindess interessant zu bemerken, dass auch Daub sich energisch gegen die dem Christent-hum widerstreitende Idee der Vergeltung (nicht durch Gott, sondern durch Menschen!)und,

Seite 286gegen das Verbrauchen des Verbrechers zu beliebigen Zwecken der Abschreckung oderder unbestimmten Besserung nach dem Gefallen einer zum Bessern privilegirten Klasseausgesprochen hat.213214

schon vorgefunden, weil jedes Gesetz geändert werden kann, mit jeder neuen Anwendung eigentlichneu gegeben wird".

211System der theologischen Moral, II. 1. besonders S. 347 ff.212Das. S. 285.213I. S. 342 ff. Anm.214Was Rothe: Theologische Ethik, III. S. 874 ff. (der ersten Auflage), über Strafe und Strafgerechtigkeit

sagt, hat keine originale Bedeutung. Es ist im Wesentlichen eine unklare Wiederholung von Hegelund Stahl, nur dass die Negation des Unrechts wieder mehr im Sinne der Kant’schen Vergeltunggenommen wird. (Vgl. z. B. S. 877, 886: „Eben darin, dass die Strafe wirklich Vergeltung ist, bestehtihre Gerechtigkeit".) Es fehlt aber auch nicht an anderen offenbaren Rückschritten. Abweichend yonHegel meint Rothe a. a. 0., es gebe noch ein principiell zu bestimmendes Vergeltungsstrafmass, unddie Todesstrafe wird u. A. auch mit den bekannten Hinweisungen auf einzelne historisch anderszu verstehende Aussprüche der heiligen Schrift gerechtfertigt (S. 887). S. 876, 877 heisst es unterBerufung auf Nitzsch gar: „Und gerade als christlicher Staat muss er (der Staat) strafen; denn aufder Basis der vollständigen Schlichtung des Conflictes zwischen den Interessen der Heiligkeit unddenen der Gnade (Wäre diese Schlichtung wirklich schon da?!), wie sie durch die Erlösung gegebenist (richtiger doch: für die wirkliche Welt vorgezeichnet, aber noch nicht erreicht ist), kann die Liebeden Arm der strafenden Gerechtigkeit nicht mehr zurückhalten, sondern sie muss ihn eben in ihremeigenen Interesse ausdrücklich bethätigen."(!) Für den Richter ist allerdings die bekannte Zwei-Seelen-Theorie richtig; wie aber der Staat die christliche Liebe sein und doch — und nun nicht etwa ausLiebe und Interesse für die bedrohten unschuldigen Unterthanen — der blinden Vergeltung wegenden Verbrecher dem Henker überliefern soll, das ist schwer begreiflich. Die Kritik dieser Ansichtliefert das unter solcher Anschauung stehende Strafrecht des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Dass dieüberall verdammte Rache (vgl. S. 877 Anm.) historisch die Wurzel des Strafrechts ist, wird natürlichübersehen. Schleiermacher hat in allen diesen Beziehungen einen tieferen Blick bewährt.

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§. 99. Am reinsten hat Trendelenburg215 die Hegel’sche Theorie gefasst und sie zu-gleich besonders plastisch umschrieben. Das Verbrechen ist ihm wesentlich gewolltesUnrecht und durch die Strafe stellt sich das Recht, da das geschehene Unrecht nicht un-geschehen gemacht werden kann, wenigstens ideell wieder her. „Die Strafe ist in ihreminneren Zweck Macht des Rechts über den Thäter, Macht des Rechts für den Gekränktenund Macht des Rechts in der Gemeinschaft."216 Indem bemerkt wird, dass die historischeEntwicklung und eine edlere Auffassung die Genugthuung des Verletzten (abgesehen vondem äusseren Schadensersatze) in der Idee der allgemeinen Wiederherstellung aufgehen(zurücktreten) lasse, wird besonders die Strafe als Macht des Rechts über den Verbrecherund als Macht in der Gemeinschaft der Menschen

Seite 287ausgeführt. „Die Strafe, die Rückwirkung gegen das Unrecht, (ist) dahin gerichtet, dassder Thäter, der das Recht böswillig durchbrochen hat, sie als nothwendige Folge sei-ner Schuld, als verdiente Strafe einsehen, und, inwiefern seine Auflehnung wider dasRecht durch die Macht des Rechts über ihn gebrochen wird, sie als Abbüssung seinesUnrechts und der göttlichen Ordnung gegenüber als Sühne empfinden könne. In diesenBeziehungen ist die Strafe das Recht des Thäters und keine Verletzung, sondern eineAnerkennung seiner Persönlichkeit. Diese Seite der Strafe ist zwar durch die unerzwing-bare freie Auffassung des Thäters mitbedingt; aber wäre die Strafe die Aufhebung einerUngerechtigkeit durch eine andere, so wäre sie unmöglich. Gerecht kann ihm nur die-jenige Strafe erscheinen, welche aus der Natur seiner eigenen That auf der einen undder Bestimmung des von ihm verletzten Gesetzes auf der andern Seite nothwendig (?)entspringt. Erst in der Gesinnung des Thäters wird das Unrecht an der Wurzel angefasst,und ihre Besserung ist der Sieg des Rechts über den ihm feindlichen Willen, daher wirdman in der Strafe, je mehr sie den Thäter ins Auge fassen kann, den Zweck der Besserungeinschliessen.ßodann217: „Das gelingende Verbrechen stachelt die Selbstsucht und denbösen Willen Anderer in heimlicher Lust auf. Das böse Beispiel verliert erst dann seineanreizende Kraft, wenn es, durch die Strafe in sich gebrochen, in das Gegentheil des An-reizes ausläuft, oder in dem psychologischen Vorgang der gewöhnlichen Ideenassociationaufgefasst, wenn die Vorspiegelungen der Lust, die sich an das Beispiel hoffnungserre-gend knüpfen, durch den Eindruck der Furcht und Unlust ein Gegengewicht erhalten.Das böswillige Unrecht entsteht selten für sich und ohne Zusammenhang, vielmehr hates seine Vorbedingungen in den verzweigten nährenden Vorstellungen der Gemeinschaft;und von dem böswilligen Unrecht in allen seinen Gestalten liegt ein Keim in jedemMenschen.Äuf dieser notwendigen Einwirkung1 der staatlichen Strafe, auf der Gemein-schaft beruht auch, wie Trendelenburg weiter bemerkt, ihr Unterschied gegenüber derpädagogischen Strafe.Nur ein wenig neigt sich die Auffassung Trendelenburg’s der alten Ansicht zu, welche

in der Strafe specifisch ein Leiden, ein Uebel für den Verbrecher erblickt, und nichtganz so scharf, wie bei Hegel, tritt der Gedanke hervor, dass Verbrechen und Strafe in

215Naturrecht auf dem Grunde der Ethik (2. Aufl. 1868), §§. 50, 56—62.216Das. §. 58.217Das. §. 61.

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K. C. Die Strafrechtstheorien der neueren Zeit

Wahrheit incommensurable Grossen sind, dass das Verdientsein einer bestimmten Strafenicht principiell, sondern nur geschichtlich bestimmt werden kann. Dagegen nimmt dieHegel’sche dialektische Reaction gegen das Unrecht mehr und mehr wieder den Sinneiner Vergeltung an bei denjenigen Juristen, welche principiell mit Hegel auf demselbenBoden stehen oder

Seite 288zu stehen scheinen. Wenn man so einerseits der alten Reste des Satzes „Malum passionisob nialum actionisßich nicht entledigen kann, und nach dieser Seite hin denn auch in neueSchwierigkeiten sich verwickelt, so ist auf der anderen Seite ein richtiges Streben dahingerichtet, die als Zeitforderungen anzuerkennenden Zwecke der Strafe als unmittelbarmitgegebene Kehrseite des absoluten Princips nachzuweisen, die Strafe darzustellen alseinen Januskopf, der mit der einen Seite nach der Vergangenheit das absolute Princip,mit der nach der Zukunft gerichteten Seite die relativen Zwecke der Strafe erkennenlasst. Und zugleich versucht man auch, wie es bei einer richtigen Theorie der Fall seinmuss, der geschichtlichen Entwickelung gerecht zu werden.Dies letztere ist zuerst von Abegg218 versucht worden. Er schildert, wie die Vernich-

tung des Unrechts von der Form der Rache zu der der Busse (Compositio), von da zurstaatlichen Strafe mit relativen Zwecken (Abschreckung, Sicherung und Besserung) über-geht, und endlich in dem Principe der Gerechtigkeit seine Vollendung findet, das zugleichdiese relativen Zwecke, aber in richtigem Maasse und Verhältnisse, in sich aufnimmt. DieHegel’sche Methode des dialektischen Gegensatzes — Unmittelbarkeit des Gefühls in derRache, bewusste Zwecke der Strafe und Verwendung des Schuldigen zu diesen, endlichAuflösung und Versöhnung in einem höheren Begriffe — ist hier befolgt, der GedankeHegels aber ist mit ganz fremdartigen Bestandtheilen vermischt. Die Hegel’sche Reactiongegen das Unrecht219 ist gleichsam an sich inhaltlos; erst in der Sphäre der Endlichkeit(d. h. in der Geschichte) nimmt sie das Colorit bestimmter, dem Schuldigen zugefügterUebel an, und zwar auch nach Massgabe der gerade herrschenden Betrachtungsweise.Bei Abegg herrscht wieder die Illusion, als könne vermöge einer ewigen oder principiellenGerechtigkeit Art und Grösse der Strafe oder richtiger, im Sinne Abegg’s, der Strafübelbestimmt werden.220 Bei dieser Auffassungsweise ist aber

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218Die verschiedenen Strafrechtstheorien in ihrem Verhältniss zu einander, 1835, S. 8 ff.219In Abegg’s Lehrbuch der Strafwissenschaft, §. 48, wird die Strafe als Beugung des Verbrechers unter

den Willen des Gesetzes aufgefasst.220Vgl. besonders S. 28: „Die Strafe wird also lediglich im Dienste der Gerechtigkeit stattfinden, und diese

wird auch die Norm für die Anwendung, die Voraussetzungen, die Art und das Maass darbieten".Allerdings wird im Lehrbuche, §. 49, wieder von einem nach nationalen und sittlichen Rücksichtenzu bestimmendem Verhältnisse zwischen Schuld und Ahndung und so herauskommender Vergeltunggesprochen. Aber im Archiv des Criminalrechts, 1845, S. 262, verwahrt sich Abegg formell gegenden Vorwurf Hepp’s, als habe er, Abegg, im Sinne Hegel’s gesagt, die Strafe sei gar kein Uebel.— Abegg will nur gesagt haben, die Strafe, die für den Verbrecher zunächst und unmittelbar einUebel sei, könne und solle (?) für diesen auch eine Wohlthat sein. Hier ist doch das so leicht nebeneinander gesetzte „Können und Sollenßu beachten. Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zumBesten dienen. Aber wenn nun diese Prämisse nicht zutrifft? Das Können ist nicht zu bezweifeln;aber das Sollen gibt der Strafe eine ganz andere Bedeutung und consequent gedacht auch eine unterUmständen ganz andere Gestaltung.

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die Vereinigung der Strafzwecke der Abschreckung, Sicherung und Besserung mit demabsoluten Principe nur eine scheinbare. Die Möglichkeit einer solchen Vereinigung existirtaus denselben Gründen nicht, welche gegen die Theorie Rossi’s geltend gemacht werdenmussten. Wenn absolute Gerechtigkeit und relativer Strafzweck zwei verschiedene Seitenderselben Sache sind, so besteht Beides in Wahrheit neben einander. Die Annahme einessolchen Nebeneinanderbestehens ist aber die Theorie Rossi’s. Ein friedliches Nebenein-anderbestehen ist auch bei Abegg’s Theorie nicht möglich, sobald man die Consequenzensich entwickelt denkt. Wer sich die Mühe gibt, die Consequenzen verschiedener Theoriengenau zu verfolgen, wie Feuerbach es gethan hat, muss auch bei solcher pragmatischenVerbindung zu Feuerbach’s Kritik gelangen, dass aus zwei zerrissenen Kleidern keinStaatskleid zusammengeflickt werden kann.Die Mangelhaftigkeit solcher Verbindung221 tritt besonders hervor in dem knappen

und klaren Ausdrucke, welchen ihr Heffter, einer ihrer Vertreter, in seinem verdienstvol-len Lehrbuche §. 109 gegeben hat. „Die Strafe, sagt Heffter, in ihrer absoluten Natur alsVernichtung der Schuld am Schuldigen ist an und für sich von der Erreichung bestimmterZwecke nicht abhängig, sondern sie ist sich selbst Zweck und hat ihrer Natur gemäss dieWirkung der Heilung. In der Sphäre des Staates und seiner Berechtigungen, wie über-haupt im Endlichen, nimmt jedoch die Strafe gewisse eigenthümliche Beziehungen an,indem sie dort lediglich für die allgemeinen rechtlichen Interessen („des gemeinen Nutzenswillen") geübt werden darf, sie wird daselbst eine Genugthuung, welche der Staat vondemjenigen fordert und nimmt, der sich einer Verletzung der gemeinrechtlichen Rechts-ordnung schuldig gemacht hat, zum Zweck der Wiederherstellung und Aufrechterhaltungderselben."Man sieht in der That

Seite 290nicht, wie in der Sphäre der Endlichkeit der absolute Zweck der Schuldvernichtung sichin die Zwecke der Abschreckung, Besserung u. s. w. umsetzt und dabei noch sich selbsttreu bleibt, und wie es noch gerecht sein kann, dass der Verbrecher zu diesen Zweckensich hergeben muss. Die Lösung des Problems wird vorausgesetzt, aber nicht gegeben;der Widerspruch nur durch die Unterscheidung der Sphäre des Princips (des Begriffs)und der Sphäre der Endlichkeit verdeckt.Darüber kommen auch Köstlin222 und Merkel ungeachtet der vielen treffenden Be-

merkungen, die wir diesen Criminalisten über Einzelheiten der Strafrechtsphilosophie zuverdanken haben, im Wesentlichen nicht hinaus. Nur fügt Köstlin hieran theilweise mehrals Heffter an Hegel anknüpfend noch eine Untersuchung über die möglichen Arten desUnrechts hinzu. Er unterscheidet unbewusstes Unrecht als Gegenstand der bürgerlichen

221Eigentümlich ist der Versuch Freytag’s (Die Concessionalgerechtigkeitstheorie, vgl. namentlich S. 46)einer Vereinigung der absoluten Theorie — im Grunde wohl der Hegel’schen Theorie — mit derVertragstheorie, der Theorie der freiwilligen Unterwerfung. Das Strafrechtsprincip ist ihm die durchUebereinkunft oder Zugeständniss erlangte Befugniss die Rechtsidee in allen den Fällen, in welchen ihroder wenigstens den sie repräsentirenden Gesetzen zuwider gehandelt wird, durch ein den Handelndenzuzufügendes Strafübel zu realisiren. Jeder Zurechnungsfähige erklärt nach F. dadurch, dass er imStaate lebt, seine Unterwerfung unter das Strafgesetz. Eine Kritik dieser Ansicht ist wohl nichterforderlich.

222Neue Revision der Grundbegriffe des Criminalrechts (1845), S. 1—53, S. 764—850; System des deut-schen Strafrechts (1855), §§. 1—8, 114—124.

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K. C. Die Strafrechtstheorien der neueren Zeit

Rechtspflege, mögliches Unrecht als Gegenstand der Sicherheitspolizei und bewusstenGegensatz des Einzelwillens gegen das allgemeine Gesetz, das Verbrechen, und die Stra-fe wird speciell als Zwang gegen den Willen des Verbrechers bezeichnet: eine allgemeineReaction gegen die Persönlichkeit des Verbrechers, meint Köstlin, dürfe die Strafe nichtsein; sie dürfe vielmehr nur in demselben Masse stattfinden, in welchem der Verbrecherselbst dem allgemeinen Willen Zwang angethan habe. So erscheint Köstlin die Strafe,wie er auch selbst sagt, äusserlich als Wiedervergeltung und als ein Uebel. Die Wie-dervergeltungstheorie tritt hier also bereits wieder stärker hervor, und die Bemerkung,dass das nur „äusserlich"der Fall sei, verschlägt hierbei in Wahrheit nichts. Sie decktnur die Schwierigkeit, zu beweisen, dass die Strafe innerlich auch für den Verbrecher ein„Gutßein soll, was sie im empirischen Zustande keineswegs immer ist. Könnte man, ohnedie nöthige Rücksicht auf das Allgemeine zu verletzen, manchem reuigen Verbrecher dieStrafe schenken: er wäre sicher besser daran, und wenn wir bedenken, wie mangelhaftdie Strafmittel in Wirklichkeit oft gewesen sind und noch sind, wie schwierig z. B. eineallen Anforderungen entsprechende Einrichtung der Strafanstalten ist, so werden wir,wie es scheint, erkennen, dass hier eine Phrase die Kluft zwischen Uebel und Gut hatüberbrücken müssen. Die Unterscheidung der drei Arten des Unrechts kann zugleichnicht befriedigen; der Unterschied des Civilunrechts und des strafbaren Unrechts ausden bereits oben (S. 279) berührten Gründen nicht. Was aber die im Anschluss an dieHegel’sche Dialektik beliebte Mittelstufe des polizeilichen Unrechts betrifft, so ist diePolizeistrafe keine juristische Präventiv-, sondern eine Regressivmass-

Seite 291regel, die gegen das Polizeigesetz verstossende Handlung ist nicht nur mögliches, sondernwirkliches Unrecht, wenngleich es nicht nöthig ist, dass sie gerade suhjectives Recht ver-letze oder einen reellen äusseren Schaden bewirke. Es ist das aber genau ebenso bei einerganzen Reihe von Criminaldelicten der Fall, und richtig ist nur so viel, dass das Polizei-gesetz sich vorzugsweise mit solchen Handlungen befasst, die nicht auf eine Verletzungvon Rechten gerichtet sind, aber allerdings eine Gefährdung derselben enthalten. DieRechtfertigung der Strafe als Recht des Verbrechers wird von Köstlin nur nebenbei insAuge gefasst. Er meint, die Strafe behandle den Verbrecher nur nach demselben Gesetze,das er selbst aufgestellt habe.In eine eigentümliche Schwierigkeit hat sich Merkel 223 verwickelt. Dass der Thatbe-

stand des strafbaren und des nicht strafbaren Unrechts nicht so unterschieden werdenkönne, wie Hegel es wollte, hat Merkel vortrefflich nachgewiesen. Aber dieser Nachweishat zu der Annahme Veranlassung gegeben, dass überhaupt kein Unterschied zwischenstrafbarem Unrecht und Civilunrecht bestehe, dass also auch Strafe und Civilzwang ih-rem Wesen nach identisch seien; beide heben das Unrecht auf, der Strafzwang in deridealen, inneren Sphäre, der Civilzwang in der äusseren, und dies hängt in seinem letz-ten Grunde damit zusammen, dass Merkel voraussetzt, dass Unrecht überhaupt nur alsschuldhaftes denkbar sei, das Recht nur in (Normen) Geboten und Verboten gerichtet

223Criminalistisehe Abhandlungen, I. (Zur Lehre von den Grundeintheilungen des Rechts und der Rechts-folgen), 1867, S. 41, S. 104 ff. Vgl. auch Merkel: Zur Reform der Strafgesetze, ein Vortrag, Prag 1869,und neuestens in der Zeitschrift für die gesammte Strafrechtswissenschaft, 1881, S. 553 ff.

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an zurechnungsfähige Personen bestehe. So scheinbar diese Annahme224 auch gemachtwird durch die Bemerkung, dass die entgegengesetzte Ansicht uns consequenter Weisezwingen müsse, auch die vernunftlose Natur als mögliches Subject einer Rechtsverlet-zung zu betrachten, so ruht sie doch in ihrem letzten Grunde auf der längst widerlegtenBegründung des Rechts durch Vertrag. Ich habe ein Recht nur, weil die Rechtsnormanderen zurechnungsfähigen Wesen verbietet, mir die Sache zu nehmen; das heisst, ichhabe ein Recht nur kraft einer freiwilligen oder durch die Rechtsordnung erzwungenenUeberlassung seitens Anderer; ich habe es nicht kraft der in den Verhältnissen immanen-ten Vernunft. Nicht weil meine Familie und ich einen Acker seit Jahrhunderten besessenund

Seite 292ertragsfällig erhalten haben, ist er mein Eigenthum, sondern weil die Rechtsordnunganderen Personen wirksame Befehle ertheilen kann, dass sie ihre Hände davon lassen.Wäre Merkel’s Annahme richtig, so würde auch der Staat kein Recht haben, sich oderseine Unterthanen gegen räuberische Angriffe barbarischer Horden und Nationen zuvertheidigen; er würde da nur ein Factum vertheidigen, und doch wird einem Jeden dasunmittelbare Gefühl hier eine andere Auffassung beibringen, nämlich die, dass es einReeht gibt, friedlichen Besitz und Cultur gegen barbarische Zerstörung zu vertheidigen,der Angreifende mag die Fähigkeit haben dies einzusehen oder nicht. Nicht einmal dasist zuzugeben, dass die Menschheit im Grossen und Ganzen kein Recht gegen die Thiereund die vernunftlose Natur habe; sie hat es, nur übt sie und verfolgt sie es in anderenFormen als der Mensch gegen den Menschen, und Thiere und leblose Gegenstände sindallerdings keine Rechtssubjecte. Nach der Consequenz der Merkel’schen Ansicht müss-te auch der Civilrichter, ehe er einen Schuldner zur Bezahlung oder einen Besitzer zurHerausgabe verurtheilt, untersuchen, ob diese Personen ihr Unrecht eingesehen haben;denn ohne diese Voraussetzung besteht ja keine Rechtsverpflichtung, und das Urtheilhat nicht den Zweck, Rechtsverpflichtungen zu schaffen, sondern nur bestehende zu de-clariren. Es wird aber auch von diesem Standpunkte aus zur Unmöglichkeit, die nachdem positiven Rechte bestehenden und durchweg als vernünftig anerkannten Differenzenvon Civilzwang (namentlich Schadensersatz) und Strafe zu construiren. Wenn der Straf-zwang sich genau gegen Dasselbe richtet wie der Civilzwang, warum folgt die Strafe inihrer positiven Ausgestaltung ganz anderen Gesetzen als der Civilzwang? Warum gehtz. B. die Strafe nicht, wohl aber die Entschädigungspflicht der Regel nach auf die Erbender ursprünglich betheiligten Person über? 225 Bei dieser völligen Verflüchtigung des Be-griffs der Strafe ist in der That auch keine Möglichkeit vorhanden zu dem Begriffe derVergeltung zu gelangen, welche Merkel doch andrerseits in der Strafjustiz verwirklicht

224Vgl. dagegen und überhaupt über den Streit, betreffend die Möglichkeiteines schuldlosen Unrechts, dievielfach treffenden Ausführungen von Thon: Rechtsnorm und subjectives Recht, 1879, S. 71 ff. Füreinen Anhänger der Normentheorie hat die Sache allerdings ihre besonderen Schwierigkeiten.

225Vgl. in dieser Beziehung namentlich Binding: Die Normen und ihre Uebertretung. Demungeachtetbleibt der von Merkel so vortrefflich durchgeführte Satz bestehen, dass in gewissem Umfange undunter gewissen Voraussetzungen der Civilzwang die Strafe vertreten, ersetzen kann, und dass derStaat nur insoweit Strafe gegen eine Handlung verhängen sollte, als er mit dem Civilzwange nichtausreicht. Vgl. auch jetzt Merkel in der Zeitschr. a. a. 0. S. 582, 583.

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K. C. Die Strafrechtstheorien der neueren Zeit

findet. Civilrecht und Civiljustiz haben doch mit dem Begriffe der Vergeltung wesentlichnichts zu thun und gleichwohl soll die Strafe ihrem Wesen nach von dem Criminalzwangenicht verschieden sein. In den Sätzen 226:

Seite 293„Es ist einem jeden Lebendigen gegeben, sich selbst und die Bedingungen seines Daseinsund seiner Wirksamkeit zu erhalten und zu sichern. Dem Kampfe um die letzteren abergehört die Reaetion an, die im gesellschaftlichen Leben dem Verbrechen antwortet, mö-gen die Einzelnen oder die Gesammtheit die Vermittlung derselben übernehmen. Denndas Verbrechen, dem keine Vergeltung folgt, stellt überall jene Bedingungen in Frage."liegt der Ansatz zu einer ausreichenden Begründung227 des Strafrechts. Die Strafe ist

in der That die Reaction gegen eine den Lebensbedingungen der Gesellschaft wider-sprechende Handlung, eine Reaction, welche eintreten muss, wenn eine Gemeinschaftals Ganzes sieh überhaupt als eine sittliche noch bezeichnen will, und in der Art undWeise, in welcher Merkel eine Vergeltung zurückweist, die losgelöst sein soll von dengesellschaftlichen Interessen, die also nicht im Stande sein würde, auch die Zwecke derrelativen Strafrechtstheorien in sich aufzunehmen, ist ihm durchaus beizustimmen. Mansieht aber nicht die Brücken, die einerseits von diesen Interessen nach jener Vergeltungund andererseits von der Vergeltung nach dem verschwimmenden Bilde des einfachenZwanges, in welchen die Strafe sich verflüchtigt, hinüberführen.Auch Hälschner228 steht auf der Hegel’schen Basis. Aber ihn befriedigt die lediglich

dialektische Notwendigkeit der Strafe nicht, und daneben steht er mehr noch in seinemneuesten Werke als früher unter dem Einflüsse der Ansicht, welche in dem Rechte nurNormen für den Willen der in concreto Nichtberechtigten erblickt, so dass das Rechtnur das Vacuum ist, welches die Nichtberechtigten den Berechtigten übrig lassen, eineAnsicht, die wir bereits bei Merkel fanden, die aber dann ihren schärfsten Ausdrucknebenbei in der Normentheorie Binding’s gefunden hat. Sehr richtig hebt Hälschner (S.13, 14) hervor, dass auch die Rechtsnorm eine sittliche sei und sehr richtig auch, dassdas Recht nicht lediglich der Compass oder allenfalls der kluge Berather der Macht sei,dass vielmehr Recht und Sitte selbst schon eine Macht seien. Aber eigentümlich genugvermag er dem Rechte an sich doch darum weder Zwang noch Activität zu vindiciren.Diese Activität und dieser Zwang

Seite 294wird, abgesehen von dem Falle der Nothwehr, erst durch den Staat gegeben, „in welchemder Organismus des Rechts sein endliches Dasein gewinnt"(S. 12) und Jede Kacheübungwird als nicht nur formell, um der Gefahr ihrer Masslosigkeit willen, sondern auch alsmateriell, als rechtswidrig, weil sittlich rechtswidrig und zweckwidrig"bezeichnet.229 Der

226Abhandlungen I. S. 113, 114.227Ich glaube nicht, dass Merkel, wenn er die im Texte wörtlich citirten Sätze aufrecht erhalten will, die

Hegel’sche Basis seiner Grundanschauung des Strafrechts wird ablehnen können, wie er es neuerdings(vgl. Zeitschr. a. a. 0. S. 555) scheint (?) thun zu wollen.

228Vgl. System des preussischen Strafrechts, I. (1858), S. 11—17, S. 435—443; Die Lehre vom Unrechtund seinen Formen, Gerichtssaal 1869, S. 11—36 u. S. 81—114 (auch als Specialschrift erschienen),ferner Gerichtssaal 1876, S. 401—440, und jetzt ganz besonders: Das gemeine deutsche Strafrecht,Bd. I. (1881), S. 3-36, S. 558-574. Auf das letztere Werk beziehen sich die folgenden Citate.

229S. 26, 27, 30.

248

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Zwang nun, der sich gegen eine active Auflehnung des Willens gegen das Recht, gegeneinen dem Rechte angethanen Zwang, gegen eine Macht wendet, welche in die alleinvom Staate zu beherrschende Sphäre eingedrungen ist, und der deshalb die eigenmächti-ge Ueberordnung des individuellen Willens über die rechtliche Macht des Staates wiederaufheben soll, ist die Strafe. Ihr Zweck ist es „Gerechtigkeit zu üben durch Tilgung desUnrechts und Herstellung des Rechtszustandes und der unverkürzten rechtlichen Machtdes Staates. In diesem Sinne und nicht um eines beschränkten nützlichen Zweckes wil-len zu strafen ist sittliche Nothwendigkeit". 230 Doch soll der Zwang nicht ein masslosersein, der Verbrecher der Macht des Staates „nicht als ein schlechthin rechtloser"verfallen.Der Gerechtigkeit soll genügt werden durch eine Strafe, die der Art und dem Masse derVerschuldung in Rücksieht auf alle in Betracht kommenden Momente vollkommen ent-spricht.231 Und doch sollen wiederum die verschiedenen möglichen Zwecke der Strafe(Sicherung u. s. w.) erreicht werden. Ein Conflict der verschiedenen besonderen Zweck-bestimmungen sei, meint Hälschner, nur möglich, sofern eine dieser Zweckbestimmungeneinseitig als die ausschliessliche geltend gemacht würde, oder sofern der Strafe Zweckegesetzt werden, die ihrem begrifflichen Wesen fremd sind. (?)Dass die Vereinigung der relativen Straftheorien einzeln oder gar in ihrer Gesammt-

heit nebeneinander mit einer Theorie, welche ein absolutes Gerechtigkeitsmass der Strafeglaubt aufstellen zu müssen, unmöglich sei, haben wir bereits mehrfach hervorgehoben.Die sog. innere Vereinigung einer solchen absoluten Theorie mit einer relativen ist undbleibt ein frommer Wunsch, der keine Probe im Einzelnen aushält. Man beantworte da-mit doch z. B. einfach die Frage, ob die Gesetzgebung in besonderer, oder vorübergehen-der Gefahr, z. B. in Zeiten besonderer Aufregung, das Recht hat, die Strafen für einzelneDelicte bedeutend zu verschärfen, gleichsam Exempel zu statuiren? Aber abgesehen auchhiervon kann man die Deduction nicht frei erklären von mehrfachen Widersprüchen. Eswird behauptet, das Recht schliesse keineswegs das Moment des Zwanges ein und dochalsbald gesagt, Zwang für das Recht

Seite 295sei aus anderen Gründen nicht nur sittlich-möglich, sondern auch nothwendig (S. 11).Wenn aber Etwas für das Recht nothwendig ist, so liegt dies eben auch im "Wesen desHechts. Die Betrachtung, die hier zum Grunde liegt, ist eine unrichtige: es wird ange-nommen, man könne das Recht vollkommen von den übrigen Lebensbeziehungen derMenschen lösen: dann bedürfe es keines Zwanges, und sodann wird das Recht unterdiesen Lebensbeziehungen stehend und mit ihnen wirkend gedacht und dann behaup-tet, hier sei der Zwang nothwendig. Nur diese letztere Betrachtung aber ist zulässig; einRecht, das in der Luft steht, von allen Lebensbeziehungen absteht, ist ein Chimäre. WennHälschner (S. 10) nach Thon (S. 5 ff.) darauf aufmerksam macht, dass z. B. die für denMonarchen geltenden Rechtsnormen darum nicht aufhören rechtliche zu sein, weil gegenden Monarchen nie ein Zwang stattfinden dürfe, so übersieht er eben, dass der Zwangnicht gerade der des Civil- oder des Strafprocessea zu sein braucht. Es kann ein sehrwirksamer Zwang auch durch den Druck der gesammten Verhältnisse ohne besonders

230S. 32.231S. 565.

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organisirten Zwangsapparat stattfinden, und der Zwang könnte z. B. sehr wohl darin be-stehen, dass der Monarch bei Verweigerung einer solchen Rechtspflicht auf Widerstandbei etwa sonst von ihm beabsichtigten Massregeln stiesse oder in eclatanten Fällen einenfür seine Stellung bedenklichen Verfassungsbruch nicht vermeiden könnte. Der Zwang,den das Recht ausübt, kann auch sehr wohl darin bestehen, dass das Recht Dem, derseine Vorschrift verletzt, den Beistand versagt, das Recht der Nothwehr auf Seiten einesWiderstand Leistenden dagegen anerkennt u. s. w. Der Zwang ist doch einfach deshalbnothwendig, weil das Recht das allgemein Gültige sein soll, das aber dem individuellenWillen gegenüber, eben seiner Allgemeingültigkeit wegen, nicht nachgeben darf, also ihnzwingen muss. Sodann lässt sich nicht einsehen, wie die Rache specifisch von der Strafeverschieden sein soll. Geschichtlich ist sie, wie Hälschner nicht verkennen kann, die Wur-zel des Strafrechts; daraus muss auch für die Theorie ihre Identität in der Grundsubstanzfolgen, und hat nicht auch der Staat nicht selten die Ausübung der Rache gestattet? Sieist aber auch auf den Anfangsstufen der Rechtsentwicklung gar nicht nothwendig un-sittlich, um so weniger, da sie hier von der Nothwehr kaum unterschieden werden kann.Hätte der freche Angreifer hier nur eine auf die Grenzen der heutigen Nothwehr be-schränkte Zurückweisung und niemals ein Mehreres zu befürchten gehabt, wahrlich eswäre z. B. bei den Germanen niemals zu einem sicheren Rechtsschutze gekommen. Unddasselbe lässt sich behaupten, wenn die Nothwehr begrifflich auf den Schutz des eigenenRechts des Abwehrenden beschränkt wäre. Sie ist das heut zu Tage nicht einmal. Aufden Anfangsstufen der Entwicklung, wo es an einer starken obrig

Seite 296keitlichen Macht fehlt, müsste ein solcher Egoismus jede weitere Rechtsund Staatsbildungzerstören: erkennt man doch in Zeiten der Gefahr, wenn fremdes Recht frech angegrif-fen wird, auch jetzt noch die Richtigkeit des Satzes an: „Tua res agitur". Und nichteinzusehen ist, wie die Strafe eine nothwendige Folge des strafwidrigen Unrechts seinsoll, wenn sie doch erst mit dem Staate gegeben wird. Das Alles aber ist eine Folge desunseres Wissens zuerst von Herbart geistreich, aber unrichtig und unklar angeregtenGedankens, dass mit dem Rechte noch nicht der Zwang für das Recht gegeben sei. Somuss der Zwang von aussen dem Rechte erst zugeführt werden und so denn auch dieStrafe, welche ein Zwang sein soll. Aber da die Strafe sich doch auch von Dem, was wirgewöhnlich Zwang der Civilrechtspflege nennen, unterscheiden soll, greift Hälschner zudem Mittel, der Civilrechtspflege den Charakter des Zwanges, entgegen einer jeden ein-fachen und natürlichen Auffassungsweise, abzusprechen und die Entschädigungspflichtdes Civilreehts aus einer Verfügung über das eigene Vermögen des Beschädigers abzu-leiten.232 Endlich aber ist es nicht eine Verbesserung der Hegel’schen Unterscheidungvon Civil- und strafbarem Unrecht, das letztere aufzufassen als ein Unrecht, in welchemder Verbrecher sich der allgemeinen Rechtsordnung principiell opponire. Wir kommenauf diesen Punkt noch später zurück. Macht die gewundene Theorie Hälschner’s dermannigfachen feinen Bemerkungen ungeachtet, die wir seinen Erörterungen verdanken,

232S. 21. Die civilrechtliche Entschädigungspflicht bei den Delictsobligationen wird hiernach, wie vonBinding (Normen I. S. 222, 223) bereits geschehen, auf einen Quasicontract zurückgeführt. Es isteine Art der Negotiornm gestio. Vgl. gegen Hälschner insbesondere auch Merkel in der Zeitschr. fürdie gesammte Strafrechtswissenschaft, 1881, S. 580 ff.

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keinen befriedigenden Eindruck, und ist ihre genauere Prüfung in vielfacher Beziehungeine höchst schwierige, so befriedigt schliesslich mehr die einfache Theorie Berner’s233,der besonders der J. U. Wirth’- schen speculativen Ethik234 folgend, die Hegel’sche Ver-nichtung klar und deutlich wieder in eine Vergeltung (nach dem Massstabe des in deräusseren Verletzung erschienenen Willens235) verwandelt und — dies ist eine Besonder-heit der Berner’schen Ansieht, welche unseres Erachtens sehr richtig ist — hervorhebt,dass die vergeltende Gerechtigkeit doch ein gewisses Gebiet des freien Ermessens für dasQuantum der Strafe übrig lasse (welche letztere allerdings wieder als sinnliches Leidengefasst wird). 236 Innerhalb dieses Spielraums können und sollen der

Seite 297Besserungs- und der Abschreckungszweck auf das Mass der Strafe einen Einfluss üben.„Hier sind die Grenzen, bis zu denen die Gerechtigkeit die Verwirklichung jener Zwe-cke erlaubt". Und innerhalb dieser Grenzen werden ja, wie bereits Abegg und Wirthausgeführt haben, jene beiden Zwecke ohne Weiteres schon durch die Vergeltungsstrafeerreicht. So kommt nach Berner den relativen Strafrechtstheorien doch schliesslich einebedeutende Einwirkung auf die Bestimmung des Strafmasses zu.Eine neue, wir möchten sagen, mehr subjectiv-innerliche, daher praktisch mehr in die

Besserungstheorie umschlagende, beachtenswerthe Wendung hat Kitz237 der Hegel’schenTheorie gegeben. Die unsittliche Handlung soll nicht sowohl für nichtig erklärt, als viel-mehr wieder aufgehoben, rescindirt werden (Rescissionstheorie). Der noch nicht zur Thatgewordene, noch nicht in der Aussenwelt hervorgetretene Wille wird rescindirt durch ein-fache Aufgabe, einfaches Zurücknehmen;238 bei dem That gewordenen Willen bedarf esdazu eines entgegengesetzten positiven Actes, einer entgegengesetzten Willenshandlungund zwar, da der Uebelthäter handelt, um seiner sinnlichen Natur und ihren GelüstenBefriedigung zu verschaffen, durch Uebernahme eines sinnlichen Leidens, durch Ueber-nahme der Strafe. Wie es bereits in Gratians Decrete (Causa 33 qu. 3, 1 de poenitentia)heisst (dist. 1): „Qui peccator est, et quem remordet propria conscientia, cilicio accinga-tur et plangat — propria delieta . . et cubat et dormiat in sacco, ut praeteritas delicias,per quas offenderat Deum, vitae austeritate compenset."239

Einige Einwendungen, die gegen diese Theorie erhoben werden könnten, hat Kitz sehrrichtig widerlegt. So die Einwendung, dass im wirklichen Leben eine Gleichung zwischender Lust des Verbrechens und der Unlust der Strafe sich nicht aufstellen lasse. Ein Prin-cip ist darum noch nicht werthlos, weil bei dessen Anwendung im concreten Leben eingewisser Spielraum des Ermessens sich nicht vermeiden lässt. Auch kann nicht behauptetwerden, dass eine erfolglose That nach Kitz’s Theorie unbestraft bleiben müsste, da das

233Lehrbuch des deutschen Strafrechts §§. 28—32.234Vgl. darüber Laistner, S. 153ff.235Das. Lehrbuch §. 31.236„Solchen Werth aufzufinden, ist Aufgabe der Empirie mehr, als der förmlichen Berechnung. Es sind

dabei namentlich zu beachten die gegebenen Gesellschaftszustände, so wie die durch Zeit und Orts-verhältnisse bedingten nationalen Sitten und Anschauungen. Statt der Talionsgleichheit behalten wirnur die Proportionalität und einen Erfahrungsmassstab". §. 28 a. E.

237Das Princip der Strafe in seinem Ursprunge aus der Sittlichkeit, Oldenburg 1874.238Vgl. S. 25: „In meiner Brust war meine That noch mein".239So S. 35.

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K. C. Die Strafrechtstheorien der neueren Zeit

Wesentliche in dem zu Tage getretenen Willen, nicht in dem Erfolge liegt, und ein Erz-bösewicht, hei dem ein geringer sinnlicher Reiz die Begehung eines schweren Verbrechens

Seite 298motivirt, kommt desshalb nicht mit geringerer Strafe davon; die bereits vor der Thatvorhandene und habituell gewordene sinnliche Selbstsucht ist ja mit zu berücksichtigenals Motiv und erhöht so vielmehr die Strafe. Und das strafbare Verbrechen unterschei-det sich so von der blossen Unsittlichkeit, dass die Aufgabe des Staates beschränkt istauf die Gegenwirkung gegen Beeinträchtigung der sittlichen Freiheit und dass der Staatdann innerhalb dieses Gebietes das sinnliche Leiden bestimmt und zudictirt, welches zurRescission des unsittlichen Willens nöthig erscheint. Es versteht sich aber von selbst,dass der Staat hierbei die Willensumkehr des Verbrechers (also die Besserung) zum Ziel-punkte zu nehmen hat. Aus diesem Grunde erscheinen denn Freiheitsstrafen besondersempfehlenswerth, die Todesstrafe dagegen ist verwerflich.Allein der Charakter der staatlichen Strafe ist, wie auch die Berufung auf die Buss-

strafe des kanonischen Rechts zeigt, in der Rescissionstheorie Kitz’s nicht gewahrt. Diestaatliche Strafe ist zwar um so vollkommener, je mehr sie den Verbrecher zur inne-ren Umkehr zu bringen geeignet ist; in erster Linie aber hat sie doch nicht das Subjectdes Verbrechers, sondern die Zwecke des Gemeinwesens im Auge. Die Consequenz derKitz’schen Rescissionstheorie ist eine Besserungstheorie, beschränkt einerseits durch dieRücksicht, dass das anzuwendende Besserungsmittel niemals eine Annehmlichkeit, son-dern nur ein Leiden für den Verurtheilten sein darf, aber andererseits deshalb nichtunbedenklich, weil das Besserungsmittel doch ein Leiden sein muss. Nach Kitz würdeder Staat ferner nicht mehr strafen dürfen, wenn der Schuldige das Uehel, das ihn nachAnsicht des Staates, also nach dem Gesetze, treffen musste, schon freiwillig über sich ge-nommen hat; ja es würde das eben die vollkommene Strafe sein. Dabei verflüchtigt sichder öffentliche Charakter der Strafe, und schliesslich ist es eine Fiction, dass durch einenentgegengesetzten Willen Geschehenes ungeschehen gemacht werden kann. Das Letzterekönnen, wie die Alten sagten, auch die Götter nicht vollbringen. Selbst ein böses, nur imInnern der Seele gehegtes und gepflegtes Sinnen und Trachten hinterlässt seine Spuren.Auf eine Fiction kann aber die Realität des Strafrechts nicht gegründet werden.§. 100. Complicirt und vielleicht schwer in der Bedeutung, in welcher sie gemeint, zu

erfassen ist die zum Theil wenigstens auf Hegel’scher Basis stehende besondere TheorieHeinze’s,240 der einerseits tiefgehende Blicke in das Wesen des Unrechts, des Gesetzesund der Strafe nicht abzusprechen sind, der aber andererseits auch, wie die Kritik Laist-ner’s241 bereits ausgeführt und hervorgehoben hat, ein gewisses Hin- und Her-

Seite 299schwanken zwischen verschiedenen Principien und eine gewisse Dunkelheit eignen.Heinze sieht sehr richtig ein, dass eine zutreffende Strafrechtstheorie auch der ge-

schichtlichen Entwickelung und den verschiedenen vielleicht auch unvollkommenen Er-scheinungsformen der Strafe gerecht werden müsse,242 dass also die richtige Strafrechts-

240In v. Holtzendorff’s Handbuch I. S. 321—344.241S. 169—178.242S. 329.

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theorie nicht nur, wenn auch vorzugsweise die staatliche Strafe zu beachten habe. Vondiesem Standpunkte aus bemerkt H. sehr richtig, dass die Strafe ein „Uebelöder ein„Leiden"gar nicht zu sein brauche; es wird als specifischer Inhalt der bürgerlichen Strafeeine Leistung des Verbrechers angesehen, die auch bei der Freiheitsstrafe das massge-bende Princip sein soll, daneben aber eine Ausstossungstrafe anerkannt (gänzliche odertheilweise Ausstossung aus der Rechtsgemeinschaft), und beide Strafen sind Rechtsmin-derung. Der Strafvollzug bei der Leistungs- und Schuldverbindlichkeitsstrafe befreit vonder Rechtsminderung für die Zukunft, indem er allerdings unmittelbar die Rechtsminde-rung zur unmittelbarsten thatsächliehen Geltung bringt,243 und mit dieser Auffassunghängt es wohl zusammen, wenn Heinze (S. 326) ausführt, dass es ein Irrthum sei, anzu-nehmen, es könne die Strafe nicht früher "Verwirklichung gewinnen, als mit dem Beginnder physischen Verbüssung. Niemand werde leugnen können, dass das Strafurtheil schonan sich einen Theil der Functionen der Strafe erfülle;244 ein Stück dieser Wirksamkeitgriffe Platz, auch wenn von Haus aus feststände, dass letztere nicht zum Vollzug gelangenwerde. Ja sogar vor Verübung des Verbrechens habe die Strafe eine selbständige Existenz,In dem Strafgesetze oder der gewohnheitsrechtlichen Strafnorm lassen sich zwei Seitenunterscheiden; die ideelle liege in dem Urtheile, dass die Strafe der rechtliche "Werth desVerbrechens sei, die praktische in der Anordnung, dass diese Strafe dem Urheber desVerbrechens zu Theil werde. Die Strafe ist also zugleich die Manifestation des Unwerthsdes Verbrechens.Diese beiden Auffassungsweisen der Strafe sind, so wie sie aufgestellt sind, aber mit

einander unverträglich. Es ist möglich, von der Idee einer Manifestation des Unwert-hs des Verbrechens, wenn man diese als das Primäre betrachtet, auf eine begleitendeRechtsminderung oder Strafleistung, ebenso auch auf eine Ausstossung zu gelangen. DasUmgekehrte aber ist unthunlich. "Wer ausgestossen wird aus der Gemein-

Seite 300schaft, hat für diese kein Interesse mehr,245 und Wer leistet, was er schuldig ist, brauchtnicht noch besonders für unwerth erklärt zu werden.246 Es ist doch auch klar, dass wenneine Wirkung der Strafe bleiben kann, obschon eine reelle Rechtsminderung im Ein-zelfalle unausführbar ist, nicht die reelle Rechtsminderung das Wesentliche der Strafesein kann.247 Wenn ferner die Ausstossung nach Heinze’s Auffassung das Prototyp deröffentlichen Strafe ist und erst nach und nach durch die öffentliche Strafe gemildertwird, würde da nicht der Verbrecher das Recht haben, statt der öffentlichen Leistungs-strafe die Ausstossung aus dem Staatsverbande zu wählen? Heinze kann diese für die

243S. 327.244Diesen Gedanken hatte übrigens der Verfasser dieses Buchs bereits früher in den „Grundlagen des

Strafrechtsäusgesprochen. S. 3, 84: „Keine Strafe ohne öffentliche Missbilligung der That, aber mög-licher Weise kann die Strafe einfach in öffentlicher Missbilligung bestehen".

245Praktisch betrachtet: Wie würde es sich denken lassen, dass eine Gesellschaft erst Jemanden ausstiesseund ihn dann nachher auf Grund ihrer Statuten bestrafte? Das Umgekehrte ist sehr denkbar.

246Und doch wird sich eine gewisse, die Ehre afficirende, wenn auch vielleicht gesetzlich nicht mehr zufixirende Wirkung auch verbüsster schwerer Strafen nie beseitigen lassen. Es würde das auch nichteinmal wünschenswerth sein.

247Es dürfte sich dabei doch die Richtigkeit des umgekehrten von mir in den Grundlagen des Strafrechtesbefolgten Gedankenganges zeigen, den Heinze freilich kaum beachtet hat.

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heutige Verbrecherwelt recht angenehme Consequenz nur durch eine Berufung auf diecivilisatorische Mission des Staates abschneiden: es erscheint da plötzlich der Staat alsder formell Verletzte. „Das Verbrechen im Staate ist die Verletzung des in der bürger-lichen Gesellschaft und in dem Staate wirkenden, für deren Gedeihen unentbehrlichenLebensgesetzes . . . Durch das Verbrechen am Staat wird der Verbrecher formell zumFrevler oder Verächter der Rechtsordnung des Staates, materiell zu einem Abtrünni-gen von der Civilisation, welche die Voraussetzung der Berechtigung ist.Ünd desshalb„kann dem einzelnen Verbrecher das Recht, ein freiwilliges Ausscheiden aus Staat undcivilisirtem Menschheitsverband248 dem Erstehen der Rehabilitirungsstrafe vorzuziehen,nicht zugestanden werden, weil ihm mittelbar das zugestanden würde, was das Wesendes schwersten Verbrechens ausmacht, nämlich ein völliger Abfall von der Civilisation,ausgesprochen und ausgeführt in dem Selbstausschluss aus dem Staat und der civilisirtenMenschheit."Hiernach würde Jemand, der als Einsiedler sich auf eine wüste Insel begibt,das denkbar schwerste Verbrechen begehen. Es findet hier folgende einfache Verwechs-lung statt. In dem schweren Verbrechen kann man auch einen Abfall von der Civilisationerblicken; aber nicht jeder Abfall von der Civili-

Seite 301sation ist ein schweres Verbrechen. Wenn die Strafe (Leistungsstrafe) rehabilitirt, so istsie ein Recht und nicht eine Pflicht des Verbrechers: Beneficia non obtruduntur. Willman aber philosophisch strenge zu Wege gehen, so folgt aus einer sittlichen Pflicht nochnicht ein Recht,249 aus der civilisatorischen Pflicht des Staats noch nicht sein Recht zurStrafe; man könnte sonst ja einfach aus der civilisatorischen Pflicht des Staates das Rechtfolgern, die Einzelnen, so weit es ihm gut dünkt, auch durch Strafen zu hessern.Heinze’s Theorie zeigt in der That, wie dies auch Laistner des Weiteren begründet hat,

zwei verschiedene Gedankenkreise. Dem Hegelschen250 gehört die Idee der Nichtigkeits-erklärung oder Unwerthserklärung des Verbrechens an, dem Fichte’schen der Gedanke,dass das Verbrechen das Rechtsband zwischen dem Verbrecher und dem Staate zerreisse,dass die Strafe dasselbe wieder anknüpfe,251 und „erkundigen wir uns nach dem Trägerder Strafgewalt, so wird uns von beiden Seiten der Staat genannt, der eine Staat alsSchirmherr des Rechts, der andere Staat als der Verletzte, der sich aber nicht auf seinStrafrecht„ sondern auf seine Missionspflicht beruft". Wir unterschreiben nun allerdingsnicht das strenge Urtheil, welches Laistner252 nachher über Heinze’s Theorie gefällt hat,

248Der einzelne Staat repräsentirt doch noch nicht diesen allgemeinen Verband vollständig, namentlich danicht jeder Staat gleich civilisirt ist. Siehe dagegen Laistner, S. 173, und Heinze’s eigene Bemerkungengegen Stahl, Heinze S. 300.

249Aus der sittlichen Pflicht, z. B. die Kinder zu ernähren, folgt noch nicht das Recht, das auf KostenAnderer zu thun, folgt überhaupt noch gar kein bestimmtes Recht gegen Andere.

250Vgl. auch S. 327: „Die Strafe . . . ist . . . das dem Verbrechen, immanente Recht".251„Nicht die Strafe, sondern Verbrechen und Strafe zusammen muss man betrachten als einen Januskopf,

das Gesicht mit den Zügen des Unrechts ist das Verbrechen, das Gesicht mit denen des Rechtedie Strafe", Heinze S. 327. Solche Bilder kann man am Ende der Deduction verwenden, um dieseletztere deutlicher, eindringlicher zu machen; am Anfange der Deduction verleiten sie dazu, Bild undDeduction zu verwechseln und dadurch sich selbst unklar zu werden.

252S. 175: „Und das Gewebe ist theilweise so locker, dass sich Einschlag und Kette ohne Mühe voneinander unterscheiden lassen. Wir haben also auch hier eine sogenannte gemischte Theorie vor uns,auf die das eigene Urtheil ihres Urhebers auf solche Mischlinge anzuwenden wäre".

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nachdem er anfangs den „Januskopf", den Heinze in etwas mystischer Weise an die Spit-ze gestellt hat, als den allein richtigen Ausgangspunkt gepriesen hat. Wir sind vielmehrder Ansicht, dass Fichte’s und Hegel’s Ideen sich sehr wohl in einer gewissen Einheitzusammen fassen lassen, und können Heinze für die in dieser Beziehung gegebene Anre-gung nur den Dank der Wissenschaft aussprechen. Aber die Art, in welcher eine Einheitgesucht ist, ist auch unseres Erachtens misslungen, und misslungen denn auch die Art,in welcher die relativen Zwecke der Strafe schliesslich der Heinze’-

Seite 302schen Theorie eingefügt werden. Sie werden einfach als „zufällige Strafzwecke"bezeichnet.Aber in einer Theorie kann nichts „zufälligßein. Man kann sie nicht so zufällig dem ab-soluten Zwecke anhängen, oder dem frommen Glauben hegen, dass sie friedlich untereinander und mit dem Rehabilitirungs- oder dem Ausstossungs- oder gar dem Principeder Unwürdigkeitserklärung des Verbrechens oder des Verbrechers sich vertragen wür-den. Heinze verweist hier auf die Wirkung des Gesetzes. Aber das Gesetz kann wohl denRichter, nicht aber den Gesetzgeber oder die Theorie und den Philosophen beruhigen.Und wenn S. 333 die Rechtmässigkeit der Polizeistrafe, welche doch dem Betroffenenebenso empfindlich sein kann, wie die Criminalstrafe,253 einfach darauf gegründet wird,dass der Staat das Recht habe, für die allgemeine Wohlthat auch durch Androhung vonStrafen zu wirken, was bedürfte es dann „des immanenten Rechtes des Verbrechensünddes „Januskopfes", den Verbrechen, Unrecht und Strafe zusammen darstellen sollen? Dawäre doch Bentham’s und Feuerbach’s Theorie einfacher und consequenter?Da es ein natürliches Vorrecht des Darstellers zu sein scheint, die eigene Theorie an das

Ende der Untersuchung zu setzen, wenngleich zeitlieh betrachtet, dieselbe einer andernTheorie vorangehen möchte, so beschliessen wir mit der Heinze’schen Combinationstheo-rie die Darstellung der Evolutionen des Hegel’schen Princips und wenden uns nunmehranderen neuesten Strafrechtstheorien zu. Im Grossen und Ganzen kommen sie entwederhinaus auf einen Verzicht der Erklärung, wenn sie auch zum Theil mit auf dem Glaubenberuhen, dass die Beschreibung eines Phänomens oder eines Processes seine Erklärungsei, oder aber sie enthalten eine einfache Repristination früherer Theorien. Vielleichtkann man freilich eine ganz besondere Stellung noch der Theorie Binding’s ananweisen,die am Schlusse erwähnt werden soll.§. 101. Einen Verzicht auf jede Strafrechtstheorie enthält in Wahrheit die Ansicht v.

Kirchmann’s.254 Dieser Verzicht erinnert eigenthümlicher Weise an Kant. Doch ist es,genau betrachtet, nur das Kleid, nicht der wahre Inhalt der Kantischen Philosophie,womit wir hier es zu thun haben. Nach Kant besteht die Sittlichkeit in dem motivlosenGehorsam gegen den kategorischen Imperativ, dieser unmittelbaren Thatsache unse-res Bewusstseins. Kant versteht darunter die bedingungsrücksichtslose Eingabe an dastranscendente, in Gott existirende Princip der Entwicklung oder des Daseins. Kirchmannmacht daraus den motivlosen Gehorsam gegen jede beliebige Autorität, d. h. Gehorsamgegen jede, dem Einzelnen unermesslich erscheinende Macht."255 Für diese

253Vgl. über das Verhältniss von Criminal- und Polizeistrafe unten.254Die Grundbegriffe des Rechts und der Moral, 2. Aufl., 1873.255Das. S. 62 ff., besonders S. 65.

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K. C. Die Strafrechtstheorien der neueren Zeit

Seite 303Macht (Gottes, aber auch des Fürsten, des Volkes in seiner Gesammtheit, des Vatersgegenüber dem unerwachsenen Kinde) gibt es keine Sittlichkeit, sofern sie sich eben fürsouverän erachtet oder sofern sie factisch souverän schaltet (S. 113). Das Recht nunim subjectiven Sinne besteht seinem Wesen nach in physischer Macht, welche einerseitsdurch die Autorität, andererseits aber durch einen von dieser Autorität mit zu Hülfegenommenen Zwang, und namentlich durch Androhung von Uebeln für den Fall derVerletzung jener Macht verstärkt und geschützt wird.256 Das Strafrecht sinkt also zu ei-nem einfachen Schreckmittel herab. Wir brauchen uns aber auch darüber nicht den Kopfzu zerbrechen, ob denn eine solche Auffassung nicht das Gerechtigkeits- und Sittlichkeits-gefühl verletzt oder mit anderen anerkannten Thatsachen in Widerspruch steht. Für dieBeseitigung des Streits zwischen absoluten und relativen Theorien hat Kirchmann ja demObigen zufolge ein einfaches Auskunfsmittel zur Hand: „Beide, das Nützliche und dasSittliche, sind die Grundlagen der Strafe; aber jenes nur bei den Autoritäten, dieses nurbei den Untergebenen,"257 d. h. Alles, was die Autorität bestimmt, ist für den Einzelnengerecht, die Autorität aber kann beliebig thun, was sie will. Gerechtigkeit gibt es nurinnerhalb der Sphäre des Gesetzes; aber an das Gesetz selbst kann man den Massstabder Gerechtigkeit nicht legen.258

Eine fast vollkommene Repristination der Feuerbach’sehen Lehre auf metaphysischer(Spinozistischer) Grundlage, aber ohne Feuerbach’s genaue Ausführung im Detail, gibtSehopenhauer’s Auffassung von Recht und Strafrecht. Nur bedarf Schopenhauer nachseinen allgemeinen philosophischen Grundannahmen einer besonderen Rechtfertigungder Strafe in der Richtung, dass dem zu Bestrafenden kein Unrecht geschehe, nicht.Denn nach Schopenhauer ist die Existenz des Einzelwesens nur Schein; nur, weil derSchleier der Maja den Einzelnen die volle Wahrheit nicht sehen lässt, glaubt der Ein-zelne sich verschieden von den Uebrigen. Wenn also das Einzelwesen einem anderen einLeid zufügt, thut es in Wahrheit sich selbst wehe, und so ist jede böse That in sich selbstschon vergolten, eine weitere Vergeltung also, wie auch jede Rache, vollkommen sinn-und zwecklos.259 Recht, Staat und Strafrecht sind daher nur

Seite 304äussere Mittel, um in der Welt der Erscheinungen das Wehethun, dieses Resultat des

256Das. S. 107 ff., S. 111.257Das. S. 165 ff.258Eine plattere Machtrechts- und Sittlichkeitstheorie ist kaum denkbar. Vgl. insbesondere auch S. 178:

„Es ist bereits früher dargelegt worden, dass der Stoff des Sittlichen aus zufälligen, unzusammen-hängenden, oft dunklen Geboten verschiedener Autoritäten sich bildet", v. Kirchmann hat übrigens1848 auch eine Brochüre veröffentlicht, in welcher die Werthlosigkeit der gesammten Jurisprudenznachgewiesen werden sollte (Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz, ein Vortrag, 1848).

259Vgl. namentlich: Welt als Wille und Vorstellung (2. Gesammtausgabe der Werke von Frauenstädt, Bd.2, 1877) I. S. 418. — Es ist übrigens bemerkenswerth, dass überhaupt neuestens wieder die Abschre-ckungstheorie Anhänger gewinnt. Ohne Zweifel haben dazu die Uebertreibungen und Ueberschweng-lichkeiten der Besserungstheorie, dann aber auch die scheinbare Einfachheit der Abschreckungetheoriebeigetragen, deren Schwächen und Widersprüche aus der rein philosophischen Vogelsperspective denNichtjuristen nicht bemerkbar sind. Dies gilt z. B. auch gegen die unbestimmte Furcht- und Zucht-theorie Ulrici’s (Gott und der Mensch, II., 1. bes. S. 411 ff.), der, im Gegensatze zu Schopenhauer,von der Freiheit des. Willens ausgeht (vgl. S. 12 ff.).

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jedem lebenden Wesen eingeflössten grenzenlosen Egoismus, mit einem gewissen Opferauf ein möglichst geringes Mass zu reduciren. Recht und Staat haben daher mit derwahren Moral, welche allein in dam Mitgefühle, in der Erkenntniss, dass man mit denAnderen Eins ist, nichts zu thun, obschon das Recht insofern aus der Moral entsteht,als es den Punkt bezeichnet, bis zu welchem der Wille des Einzelnen gehen kann, ohnein der eigenen Bejahung zugleich die Existenz eines anderen Willens zu verneinen, wasallerdings jedenfalls eine Verletzung der Moral ist. Der Staat geht aus von dem wohlbe-rechneten Egoismus, weil Niemand Unrecht leiden will: die Moral dagegen will NiemandUnrecht thun. Das Resultat kann bei beiden bis zu einem gewissen Punkte dasselbe sein,„ein Raubthier mit einem Maulkorb ist so unschädlich wie ein grasfressendes Thier", DasStrafgesetz, d. h. die Drohung des Strafgesetzes, ist nun nichts Anderes als der Maul-korb für den Egoismus.260 Nun könnte man, wenn dieser Maulkorb in der Vollziehung derStrafe seine Opfer fordert, im Sinne Schopenhauer’s sich einfach damit trösten und denEinwand, dass dann ja der Verbrecher als Mittel für Andere sich verbrauchen lassen müs-se, damit zurückweisen, dass man sagte, in Wahrheit treffe ja auch die Strafe nicht denEinen, sondern Alle. Und zugleich würde es ja auch aus anderen Gründen erlaubt sein,eine beliebige Anzahl köpfen zu lassen, da die Geköpften ja alle in das selige Land desunbestimmten Nichts oder Alles, in das „Nirwana"befördert werden. Gleichwohl scheintSchopenhauer doch das unbestimmte Gefühl zu haben, dass es nicht angehe, mit demleidigen Troste, dass Alles Eins und Alles daher auch in Wahrheit gleichgültig sei, dieWelt der Erscheinungen ihrer eigenen Brutalität zu überlassen.261 Er bemerkt daher —in dieser Beziehung an Rousseau erinnernd —, dass der Einzelne zur Sicherheit seinesLebens sein Leben, seine Freiheit u. s. w. zum

Seite 305Pfande gesetzt habe, erkennt aber damit an, da ein Pfand262 nur einen Sinn hat, wennes Werth besitzt, dass in der That doch dem Einzelnen ein gewisser Werth zukomme.Und so schwankt denn überhaupt Schopenhauer’s Philosophie hin und her zwischen derWelt, wie sie wirklich ist (dem Dinge oder den Dingen an sich), und der Welt der Erschei-nungen, Die Reise in die Welt der Dinge an sich, die Kant für unmöglich erklärt hatteund von der er nur ein Stück in der praktischen Vernunft, auf dem Gebiete der Ethikglaubte erkennen zu können, wird von Schopenhauer angetreten, und nach subjectiverStimmung und häufig so, dass der Leser es schwer bemerkt, wechselt die Scenerie zwi-schen der Welt der Erscheinungen und der Welt an sich: Sätze, die nach Schopenhauernur für die Welt an sich Geltung haben können, werden da plötzlich angewendet auf dieWelt der Erscheinungen. Praktisch genommen, ist dies die Philosophie der Blasirtheit:wenn es unangenehm wird, zieht der feinfühlende Philosoph sich zurück auf die Welt ansich: dann hat plötzlich die Welt der Erscheinungen keine Bedeutung mehr. Staat undRecht haben da, genau betrachtet, nur die Bedeutung, den wohlsituirten Philosophen vor

260A. a. 0. S. 408.261II. S. 687: „Der Criminalcodex soll nichts Anderes sein, als ein, Verzeichniss von Gegenmotiven zu

verbrecherischen Handlungen".262Die Theorie des Pfandes, unter welcher sich doch die Theorie der Vergeltung verkriecht, führt Scho-

penhauer, II. S.686, auch zur Empfehlung der Todesstrafe gegen Mord. Warum aber nicht auch zurEmpfehlung der Todesstrafe bei nur culposer Tödtung?

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K. C. Die Strafrechtstheorien der neueren Zeit

unangenehmen Berührungen zu schützen. Namentlich das Strafrecht kann ihn wenig in-teressiren. Er selbst wird kein Verbrechen begehen: denn der Charakter ist unwandelbarund producirt mit Notwendigkeit Handlungen und Unterlassungen, und der Philosophkennt seinen Charakter. So ist das Strafrecht in Wahrheit nur da für die brutale Mengeoder allenfalls für deren Zucht- und Kerkermeister. Nur durch das Mitgefühl hängt derPhilosoph noch mit dem Verbrecher zusammen. Dies letztere freilich lässt eine schöne,auch für das Strafrecht verwerthhare Deutung zu: wir Alle sind aus demselben Stoffgemacht, wie der Verbrecher, den wir verurtheilen, wir Alle tragen mit ihm an seinerSchuld: darum eben dürften wir ihn nicht lediglich als Mittel für andere Zwecke benutzen.Auch darin kann man Schopenhauer, dessen vielfache tiefe Blicke man zu bewundernhat, auch wenn man seine Grundauffassung für verkehrt erachtet, nur beitreten, dasser das Verbrechen leidenschaftslos und in gewissem Sinne als Naturproduct betrachtet,dass er, wie Hierokles, die Strafe in erster Linie nicht den Thäter, sondern die That263

treffen lässt, und einzelne seiner Aus-Seite 306

spräche über Recht und Strafrecht, die nicht gerade durch sein philosophisches Principbedingt sind, werden immer ihren Werth behaupten. Endlich erhebt er sich darin überFeuerbach, dass er das Verbrechen nicht lediglich aus sinnlichen Trieben erklärt, dass erRecht und Moral doch nicht so völlig trennt, wie dieser es hatte thun wollen.264 Zu einerblossen Beschreibung des Entstehungsprocesses des Strafrechts, allerdings mit der ne-gativen Tendenz den Vergeltungsgedanken abzuweisen, wird die Theorie des Strafrechtsbei Dühring,265 E. v. Hartmann266 und v. Liszt.267 Das Strafrecht entwickelt sich diesenSchriftstellern zufolge aus dem Naturtriebe der Rache, der activen Zurückweisung einerempfangenen Verletzung. Dieser Vergeltungstrieb, nach E. T. Hartmann insbesondereunmittelbar verwandt mit dem Triebe der Abwehr, der Notbwehr, dient zunächst unbe-wusst der Schaffung und Erhaltung der Rechtsordnung; er mässigt sich aber später undnimmt, indem er statt von dem Einzelnen nunmehr von dem Gemeinwesen, dem Staateausgeübt wird, bewusst verschiedene Zwecke, den Zweck der Sicherung des Gemeinwe-sens und den Zweck der Besserung des Verbrechers in sich auf. Wenn Abegg bereitsdiesen Umwandlungsprocess des Naturtriebes angedeutet, als letzte Stufe aber nicht dieVerwirklichung der einzelnen auf menschliches Wohl gerichteten Zwecke, sondern die

263Vgl. Welt als Wille und Vorstellung II. S. 685: „Dem Strafrechte sollte nach meiner Ansicht das Principzum Grunde liegen, dass eigentlich nicht der Mensch, sondern die That gestraft wird, damit sie nichtwiederkehre: der Verbrecher ist bloss der Stoff, an dem die That gestraft wird".

264Allerdings irrt eine Philosophie, welche, wie die Schopenhauer’sche, die Freiheit eines Jeden völligleugnet, die Einheit Aller dagegen behauptet, notwendig hin und her zwischen feiner Empfindung undgrober Brutalität. Man vergleiche in dieser Beziehung die Erörterung über die Thierquälerei in denGrundproblemen der Ethik (S. 238 ff.) mit den Bemerkungen in Welt als Wille II. S. 687: „Ueberhauptaber gibt der zu verhütende Schaden den richtigen Massstab für die anzudrohende Strafe; nicht abergibt ihn der moralische Unwerth der verbotenen Handlung. Daher kann das Gesetz mit Recht auf dasFallenlassen eines Blumentopfes aus dem Fenster Zuchthausstrafe, auf das Tabackrauchen im Waldewährend des Sommers Karrenstrafe setzen, dasselbe jedoch im Winter erlaubt sein lassen."

265Kursus der Philosophie, 1875, S. 219—243.266Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins, 1879, S. 196—212.267Das deutsche Reichsstrafrecht systematisch dargestellt, 1881, §§.2—6, S. 2-24.

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Verwirklichung der Gerechtigkeit bezeichnet hatte, so wird von v. Liszt268 diese letzteStufe mit Bestimmtheit abgelehnt: überall liege der Fortschritt darin, dass der Natur-trieb wie die Naturkraft dem Zwecke dienstbar gemacht werden; Klarheit des Ziels undzweckentsprechende Auswahl der Mittel seien der Massstab jeglichen Fortschritts. UndE. v. Hartmann (S. 210) bemerkt ausdrücklich: „Jede Concession an die Forderung dertalio um ihrer selbst willen muss uns als unsittlich gelten; wir strafen

Seite 307schlechterdings nicht mehr, weil gesündigt worden ist, sondern damit nicht gesündigtwerde". An eine Rechtfertigung der Strafe als Gerechtigkeit gegen den einzelnen Verbre-cher braucht diese Ansicht nicht zu denken. Der Naturtrieb ist da und hat als solcherseine Berechtigung. Gleichwohl zeigen E. v. Hartmann’s Bemerkungen über die Möglich-keit, das Unrecht nicht durch Strafe, sondern durch Vergebung unschädlich zu machen,dass hier doch noch ein gewisser Rest eines Widerspruchs obwaltet, auch wenn man dasNatürliche ohne Weiteres als gerechtfertigt betrachtet, und dass die Ansichten der ge-nannten Schriftsteller keine Theorie, sondern nur eine Beschreibung enthalten, ergibt sichganz einfach daraus, dass wir aus ihnen nicht den mindesten Aufschluss erhalten über dieAufgaben der Gesetzgebung, noch auch einen Massstab der Kritik für Geschichtlichesund Positives v. Liszt will freilich durch Betonung der Strafzwecke einen neuen Fort-schritt herbeiführen, und so lange die Theorie sich in den Akkorden einer unbestimmtenZukunftsmusik hält, macht es sieh vortrefflich, wenn gesagt wird: 269

„Die Strafe muss eine andere sein nach Inhalt und Umfang, wenn sie präveniren, eineandere, wenn sie bessern, eine andere, wenn sie sichern soll. Allerdings huldigt die moder-ne Strafgesetzgebung nur selten und meist unbewusst diesem Gedanken: sie behandeltden unverbesserlichen Gewohnheitsdieb und den reuzerknirschten Gelegenheitsverbre-cher nach derselben Schablone. Aber die scharfe Betonung des Zweckmoments im Rechtüberhaupt und in der Strafe insbesondere findet immer zahlreichere und immer bedeu-tendere Anhänger. Und die Zeit ist hoffentlich in nicht allzuferner Zukunft vorüber, inwelcher die Forderung, dass die Staatsgewalt nicht ziel- und zwecklos die Rechtsgüter derRechtsgenossen vernichte, als rationalistischer Determinismus abgefertigt werden kann".Allein sobald man beginnen würde, von solchen Allgemeinheiten auf praktische Ein-

zelnheiten überzugehen, dürfte es sich zeigen, dass die verschiedenen anscheinend sofriedlich neben einander liegenden Zweckmässigkeitsrücksichten einen harten Kampfmit einander beginnen,270 und zu welchen Dingen eine Vernachlässigung des in demgeschichtlichen Momente liegenden Gerechtigkeitsprincips führt. Ihrem letzten Grundenach beruht diese ganze, jedes absolute Princip zurückweisende Richtung, wie auch v.Liszt (§.2) nicht verkennt, vielmehr ausdrücklich hervorhebt, auf der Ansicht, dass dasRecht nur ein Product des Staats-

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268A. a. 0. S. 24 (§. 6 a. E.).269v. Liszt S. 4.270v. Hartmann sagt S. 210 z. B.: „Da die Gesellschaft als Ganzes wichtiger ist als der einzelne Verbrecher,

so ist auch der Schutz der Gesellschaft wichtiger, als die sittliche Zucht des Verbrechers, und daherletztere nur insoweit als Nebenzweck zu verfolgen, wie der Hauptzweck, der Schutz der Gesellschaft,das zulässt".

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K. C. Die Strafrechtstheorien der neueren Zeit

willens sei. Der Gegensatz dieser Theorien gegen ein absolutes Princip des Strafrechts istalso eine Fortsetzung des alten Streites über das tilxatov v6f.iü) und das dixaiov rfvatt.§. 102. Und hier ist denn auch der Verbindungspunkt mit der Theorie Binding’s,

welcher das Recht auf Strafe „als ein verwandeltes Recht auf Gehorsam gegen den De-linquenten"betrachtet."271 Das gesammte Recht ist B. nur ein Inbegriff von Normen,Verboten und Geboten, und der Staat erlässt272 und handhabt diese Normen. Er fordertfür den Ungehorsam gegen die Norm Genugthuung in der Strafe.273 Doch soll diese Ge-nugthuung bei Leibe nicht Rache oder Talion sein; 274 sie bildet aber ebenso wie etwader Schadensersatz im Privatrechte nur ein Recht des Staates, nicht eine Pflicht. Ueberden Eintritt dieser Pflicht, welche der Staat für sich selbst im Strafgesetze ausspricht,entscheidet die Rücksicht, ob das Uebel der Nichtbestrafung grösser ist für den Staat,als das Uebel der Bestrafung; denn auch die Strafe ist ein Uebel und zwar nicht nur fürden unmittelbar dadurch Getroffenen.v. Liszt, selbst ein Anhänger der Normentheorie Binding’s, „ohne welche tieferes Ver-

ständniss des Strafrechts . . kaum möglich ist",275 kritisirt diese Theorie gewiss nicht an-tipathisch. Wir dürfen daher, indem wir uns selbst der Kritik enthalten, Liszt’s Kritik,276

der allerdings noch Einiges vielleicht hinzugefügt werden könnte, hier statt der unsrigengeben: „Binding’s Ansicht ist keine Lösung, sondern eine Verschiebung des Problems.Woher der Staat das Recht nimmt, Normen aufzustellen und Gehorsam zu heischen,warum dieses staatliche Recht auf Gehorsam sich gerade in die Strafe verwandelt, wirduns nicht gesagt".Wenn wir übrigens recht zu deuten verstehen, hat Laistner’s Werk auf Binding’s Theo-

rie einigen Einfluss ausgeübt. Laistner richtet sein Augenmerk ganz besonders darauf,Recht des Staates zur Strafe und Pflicht zu strafen streng zu unterscheiden, um so, wäh-rend das Recht

Seite 309auf die Gerechtigkeit sich gründet, die Pflicht nach Zweckmässigkeitserwägungen be-stimmen und insbesondere einschränken zu können. "Wir sind nicht der Ansicht, dassRecht und Pflicht hier auf wirklich differente Gründe für den Staat zurückführen, wiedies unten weiter dargelegt werden soll. Der an Schopenhauer’s Theorie von Recht undUnrecht, wenn auch nicht gerade an Schopenhauer’s davon getrennte Strafrechtstheorie,erinnernde eigene Versuch Laistner’s, eine Theorie des Strafrechts aufzustellen, ist aberin der That absonderlich genug. „Der Verbrecher, indem er in eine fremde ’Willens- oderRechtssphäre eindringt, ist seiner Ansicht nach Herr darin; der Verletzte aber acceptirt

271Vgl. „Das Problem der Strafe in der heutigen Wissenschaftïn Grünhut’s Zeitschr. für das Privat-u. öffentl. Recht, 1877, S. 417-437, und jetzt besonders „Grundriss zur Vorlesung über gemeinesdeutsches Strafrecht", 1879 (§. 70), S. 108-115.

272Grundriss S. 109.273Inwieweit der Staat absolut frei schaltend gedacht wird, ist nicht ganz klar. Uebrigens werden sofort

im ersten Satze des Grundrisses Recht und Gesetz mit einander verwechselt: „Strafe ist Einbussevon Rechtsgütern, welche der Staat . . . auferlegt zur Genugthuung für (s)einen (des Delinquenten)irreparablen Rechtsbruch, um die Autorität des verletzten Gesetzes aufrecht zu erhalten.

274Grundriss S. 110.275v. Liszt S. 6.276v. Liszt S. 23.

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hiervon nur das Eine, dass jener in den Bereich seines eigenen Willens hereingehöre undbetrachtet ihn als einen seiner Verfügung Unterworfenen. . . Die eigentliche Strafe, alsunmittelbare Consequenz des Verbrechens, besteht daher nicht in der Execution, sondernin der Gefangenschaft unter dem Willen des Verletzten . . . So unentrinnbar aber dereben beschriebene Zustand ist, so wenig entspringt für die Execution eine Nothwendig-keit aus dem formalen Charakter der That, wie dies die absoluten Theorien behaupten:was vorliegt, ist nur ein Recht, ist eine Befugniss. Ob und wie weit und wie von diesemRechte Gebrauch zu machen sei, das ist nicht mehr eine rechtliche, sondern einestheilseine praktische, anderntheils eine sittliche Frage".277 Diese Theorie kann man sich infolgender Weise deutlich machen. Das (subjective) Recht ist ein ausgespanntes Spinnen-gewebe; der Verletzer dieses Rechts geberdet sich wie die Fliege im Netze: scheinbar Herrdarin, verstrickt er sich nur, fällt der Disposition der im Hintergrunde lauernden Spinne,des Berechtigten, anheim. Diese braucht der Fliege das Blut nicht auszusaugen, aber siekann es; ob sie es thut, das hängt von Zweckmässigkeitsrücksichten, von ihrem Hungeru. s. w. ab. Und wenn nun Laistner das „Recht"nicht ausschliesslich auf das subjectiveRecht Einzelner wird beschränken, wenn Laistner als Rechtsverletzung auch z. B. diegrobe Verletzung der allgemeinen Sittlichkeit, ja die Verletzung beliebiger Gebote undVerbote des Staates wird auffassen wollen und müssen, was bedeutet denn die ganzeTheorie anders als: mit dem Verbrecher, mit dem Uebertreter einer Norm kann manrechtlich machen, was man will? Es sind nur Rücksichten der Zweckmässigkeit oder Sitt-lichkeit, die hier eine Beschränkung auferlegen, oder mit anderen Worten: Recht ist, wasder omnipotente Staat will; die Beschränkungen, die er sich dabei auferlegt, kümmerndas Recht und folgeweise auch die Reehtsphilosophie nicht; d. h. mit anderen Worten: esgibt keine Rechtsphilosophie, und kann es überhaupt wohl eine Rechtsphilosophie geben,

Seite 310wenn es wahr ist, was Binding278 behauptet, dass die Rechtswissenschaft, statt auf diein der Gesammtheit wie in den einzelnen Individuen (?) stets auf und nieder gehenden"Wellen der sittlichen Anschauungen, allein auf die stattlichen Quaderfundamente dieRechtssätze zu bauen habe? Bedeutet Philosophie nicht die Betrachtung der Dinge, derWissenschaften im Zusammenhange mit einander?

277Laistner S. 196, 197.278Normen I. S. 184.

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K. C. Die Strafrechtstheorien der neueren Zeit

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L. D. Die Ergebnisse. Die Theorie dersittlichen Missbiligung (Reprobation).

Seite 311§. 103. Die Betrachtung der sämmtlichen bis jetzt aufgestellten Strafrechtstheorien er-gibt, dass weder eine der absoluten noch eine der relativen Theorien befriedigt hat. Denabsoluten Theorien mangelte das Zweckmoment und die Möglichkeit, das Strafrecht indem erforderlichen Masse dienen zu lassen als Mittel für das Wohl der Gesammtheit;mit den relativen Theorien dagegen wird doch die überwiegende Mehrzahl1 und wirdnamentlich auch das Gewissen des Volkes sich deshalb nicht befreunden können, weilso, wie sie aufgestellt sind, sie die Gerechtigkeit verleugnen: ein unbefangener Sinn wirdimmer fordern, dass das Verbrechen und nicht ein ausserhalb desselben liegender Zweckdie Strafe auf den Verbrecher herabziehe. Aber auch die Vereinigungstheorien musstenals misslungen bezeichnet werden, weil absolute Begründung des Strafrechts in seinemvollen Umfange kein Pactiren mit relativen Zwecken gestattet, und dass hier Combi-nation und sog. pragmatische Vereinigung genau betrachtet an demselben Fehler derUnvereinbarkeit leiden, haben wir oben schon darzulegen unternommen.Nur eine einzige der bisherigen absoluten Theorien ist, wenn sie nämlich consequent

durchgeführt und von fehlerhaften Zusätzen befreit, richtig verstanden wird, eine sowohlmit der Bewegung der Geschichte als mit den Wohlzwecken vollkommen verträgliche. Esist dies die Theorie Hegels,2 die ausserdem schon deshalb eine gewisse Präsumtion derRichtigkeit für sich hat, weil eine ganz erhebliche Anzahl der bedeutendsten Criminalis-ten Deutschlands sie mit mehr oder weniger Modifikationen

Seite 312angenommen hat. Freilich klebt bei Hegel daran noch ein Rest der alten Vergeltungs-theorie, und so, wie Hegel es gethan hat, kann aus dem Begriffe des Rechts die Strafenicht deducirt worden. Die Kluft zwischen Unrecht und Strafe ist durch die Definitionder letzteren als einer Negation des Unrechts und dadurch Bejahung des Rechts nichtüberbrückt worden. Das Unrecht könnte möglicher Weise in ganz anderer Weise ausder Welt geschafft werden, als durch Das, was wir Strafe nennen, z. B. durch Vergebendes Unrechts und Erweisung von Wohlthaten an den Uebelthater: mit Recht sagt E. v.Hartmann,3 dass die Ausgleichung des Uebels mit dem Uebel einem herabgedrückten,die Vergebung aber erst dem früheren, d. h. vor der Uebelthat stattgehabten sittlichenNiveau entspreche. Aber auch, wie wir bereits früher bemerkten, in dem Begriffe des

1Vgl. jetzt auch Sontag in der Zeitschr. für die gesammte Rechtswissenschaft, 1881, S. 486 ff.2In dieser Beziehung dürfte doch Hälschner (Deutsches Strafrecht, S. 4) gegen Merkel (Zeitschr. für dieges. Strafrechtswissenschaft, 1881, S. 566) Recht behalten.

3Phänomonologie des sittlichen Bewusstseins, S. 208.

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L. D. Die Ergebnisse. Die Theorie der sittlichen Missbiligung (Reprobation).

Rechts liegt nichts von jenem activen Vorgehen gegen den Verbrecher.4Activ ist dagegen die Moral — wenigstens in gewissem Umfange. Das Recht kann

Jemandem die Befugniss geben, einen Anderen zu tödten, z. B. dem Herrn die Befug-niss geben, den Sclaven zu tödten. Was dazu treibt, von dieser Befugniss Gebrauch zumachen, ist nicht das Recht, sondern eine richtig oder falsch verstandene Moral, nachwelcher wir, wir mögen wollen oder nicht, alle unsere Handlungen, soweit sie uns über-haupt zum deutlichen Bewusstsein kommen, messen. Da nun das nicht der Sinn desabsoluten Princips ist, dass Jemandem das Recht gegeben werde, und zwar ein Rechtganz nach Belieben auszuüben, den Verbrecher zur Strafe zu ziehen oder nicht, vielmehrder Sinn des absoluten Princips der ist, dass das Recht auch dem Principe nach — wennauch Ausnahmen denkbar erscheinen — eine Pflicht ist, so kann das Princip des Straf-rechts nur gefunden werden, wenn wir in dem Rechte die moralische Wurzel aufdecken.Der Beweis nun, dass das Recht nichts Anderes als die Moral des Gemeinwesens ist, dieeben deshalb dem Einzelnen gegenüber zwingend auftreten muss, wird man vollständighier nicht erwarten. 5 Allerdings gibt es eine grosse Masse von

Seite 313Rechtssätzen, die direct mit der Moral nichts zu thun haben, vielmehr auf Zweckmäs-sigkeitsgründen oder auf der historischen Tradition beruhen. Allein auch diese dienender Moral, indem sie dem Einzelnen ein sicheres Gebiet des freien Schaltens,6 also dermöglichen Sittlichkeit gewährleisten und die Ordnung, mag sie so oder so gestaltet sein,kann daher als solche schon einen sittlichen Werth in Anspruch nehmen. Es ergibt sichdaher, dass eine Handlung, welche die Rechtsordnung missachtet, als solche schon mehroder minder, direct oder indirect unsittlich ist.§. 104. Und nun liegt es im Wesen der Sittlichkeit, dass sie über die Sittlichkeit oder

Unsittlichkeit jedweder Handlung, auch der Anderer ein Urtheil sieh bildet oder sichzu bilden sucht. Man könnte hier auch im Sinne Herbart’s sagen, unwillkürlich suchtman zu ergründen, ob die Handlung Grand gebe, zu gefallen oder zu missfallen. Mitdiesem Urtheile wird der Gebildete freilich, der erfahren hat, dass die Motive menschli-cher Handlungen oft complicirter Art, die Umstände, unter welchen gehandelt wird, oftschwer übersehbar sind, häufig zurückhalten, und einem gehässigen Aburtheilen überfremde Handlungen, bei welchem auf vermeintlichen fremden Fehlern der eigene Egois-mus sich glänzend abzuheben liebt, tritt ja das bekannte „Eichtet nicht, auf dass Ihr nicht

4Der Vorwurf, Hegel verleihe den Begriffen eine Realität, welche jene nicht besitzen (v. Liszt, Reichss-trafr. §. 6, S. 22) beruht auf einem Missverständniss. Hegel dachte nicht daran, dass der Begriff denVerbrecher in’s Zuchthaus sperren oder zum Tode bringen könne, wohl aber daran, dass die Machtder Begriffe über die Menschen diese Wirkung habe.

5Auch Schopenhauer sagt (Grundprobleme der Ethik S. 218), die Rechtslehre (ist) ein Theil der Moral,welche die Handlungen feststellt, die man nicht begehen darf, wenn man nicht Andere verletzen. . will. In der Welt als Wille und Vorstellung (I. S. 407) wird die Rechtslehre als „umgewandteMoral"bezeichnet. Man vergleiche die wenig beachtete, aber beachtenswerthe kleine Schrift von FelixEberty: Versuche auf dem Gebiete des Naturrechts, 1852, und neuerdings die gehaltreiche Schrift vonJellinek: Die socialistische Bedeutung von Recht, Staat und Strafe, Wien 1878, bes. S. 42: „das Rechtist das ethische Minimum".

6Daher schützt in gewissem Umfange das Recht selbst die Unsittlichkeit, z. B. die unsittliche Ausbeu-tung eines Rechts zu eigenem Vortheil und zum Nachtheil eines Anderen. Die Erschöpfung der Moraldurch das Recht würde die Freiheit und damit die Sittlichkeit selbst zerstören.

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gerichtet werdet"der christlichen Moral entgegen. Aber an und für sich liegt in dem Urt-heilen über fremde Handlungen nichts Moralwidriges; es wird sogar für die Bildung dessittlichen Charakters für nothwendig erachtet werden können. Aus den fremden Hand-lungen und ihren Folgen entnimmt man die eigene Moral und die Lehre für das eigeneLeben, und da, wo eine fremde Handlung eine besonders starke der Moral entsprechen-de oder widersprechende Seite zeigt, macht das moralische Urtheil mit der Kraft einerNaturgewalt unwiderstehlich sich Luft. Die Entdeckung eines besonders schweren Ver-brechens, ein Attentat gegen einen hochgeachteten Fürsten z. B. lässt dieses Urtheil mitder Gewalt eines unwiderstehlichen Naturtriebes hervortreten, und keine noch so spitz-findige Betrachtung7 wird dieses

Seite 314moralische Urtheil je dem Einzelnen wie der Gesammtheit rauben oder schmälern kön-nen. Auch Dühring und v. Hartmann erkennen dies an durch ihre Theorie des Ressenti-ment oder des moralischen Gegengefühls; sie fassen es nur zu egoistisch. Allerdings machtdas moralische Urtheil bei dem natürlichen Menschen besonders stark sich geltend, wenner selbst bei der der Moral widersprechenden Handlung der leidende Theil war; alleinnothwendig ist diese Beschränkung auf die eigene Verletzung doch nicht, vielmehr wirddas Urtheil, da der Mensch von Natur auf eine gewisse Gemeinschaft angewiesen ist,da er ein Zwo» nokatxov ist, auch, wenngleich mit mehr Reserve, provocirt und gefälltbei frevelhafter Verletzung Anderer. Das missbilligende Urtheil gilt zunächst der That;aber es richtet sich mit Notwendigkeit auch gegen den Thäter; denn eine That kannohne Thäter nicht gedacht werden. Mag man den Thäter auch nicht individuell kennen,

7Bind in g, Normen I. S. 184, sagt, wir dürfen das Recht nicht aus der Sittlichkeit begreifen, und fuhrtdaher zum Beweise an, dass in dem Gebiete der Sittlichkeit es einerseits unbedingt verpflichtendeNormen nicht geben könne — „der nicht prüfende Gehorsam gegenüber den sog. sittlichen Anschau-ungen der öffentlichen Meinung steht auf einer sehr geringen Stufe des sittlichen Werths"—, weil dieSittlichkeit einer Handlung in ihrer Uebereinstimmung mit dem Gewissen des Handelnden bestehe,und weil andererseits die Normen der Sittlichkeit viel zu schwankende seien. Dagegen ist zu erwidern:kein Verständiger kann wohl die „öffentliche Meinung", d. h. im Sinne Binding’s die „Tagesmeinungder grossen Masse", mit der feststehenden Moral, z. B. mit der im Grossen und Ganzen in ihrenConsequenzen doch anerkannten christlichen Moral verwechseln. Eine derartige Verschiebung derAusdrücke und Begriffe darf bei wissenschaftlichen Untersuchungen nicht vorkommen und ist ein be-denkliches Mittel der Polemik. Dann aber, um bei dem letzten Punkte anzufangen, ist es nicht wahr,dass die sittlichen Anschauungen so schnell wechseln, wie die „Wellen auf- und abgehen", wie Bindingmeint. Gerade umgekehrt: sie sind weit stabiler als die Rechtssätze. Die excessive pecuniäre Ausbeu-tung der Nothlage oder des besonderen Bedürfnisses Anderer hält man z. B. schon lange für moralischrecht verwerflich, während bekanntlich die Gesetzgebung über den Wucher vielfachen Schwankungenunterlegen hat. Binding verwechselt hier die sittliche Norm selbst mit der Subsumtion des einzelnenFalles unter dieselbe. Diese Subsumtion ist häufig schwieriger und unterliegt grösseren Schwankungenin der „Tagesmeinung", als die Subsumtion einer Handlung unter einen Rechtssatz — warum, wirdsich unten ergeben. Was aber die von Binding verfochtene Souveränetät des Einzelgewissens betrifft,so ist diese Repristination der Fichte’schen Moraltheorie nach den neueren bekannten Forschungenunhaltbar. Das Gewissen des Einzelnen ist auch ein Product der Geschichte und der Sittlichkeit dergesammten Nation. — Vgl. schon Hegel: Philosophie des Rechts, 3. Aufl., S. 192ff.; Lotze: Mikrokos-mos, 3. Aufl., II. S. 308ff.; Alaux: Ueber die Wandlungen der Moral im Menschengeschlechte (Vortrag,Basel 1876); Baumann: Handbuch der Moral und Abriss der Rechtsphilosophie, 1879; v. Ihering inSchmoller’s Jahrb. f. Gesetzgebung u. s. w. N. F. Bd. 6 (1882) S. 1 ff.; und speciell gegen Binding:Jellinek, S. 123.

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L. D. Die Ergebnisse. Die Theorie der sittlichen Missbiligung (Reprobation).

immer zeigt sich, wenn auch in nebelhaften, ver-Seite 315

schwommenen Umrissen bei der That das Bild ihres Urhebers. Und mögen wir nun aus-gehen von der Annahme weitgehender Freiheit menschlicher Handlungen oder von demvollständigsten Determinismus, dem „Operari sequitur esse"der Scholastiker und Scho-penhauer’s. die That erscheint als Product des Wesens oder Charakters des Thäters.Indem wir daher die That missbilligen, sprechen wir in gewissem Umfange8 immer auchein missbilligendes Urtheil über die Persönlichkeit des Thäters aus.Mit der Missbilligung in abstracto9 ist aber noch die Art ihrer concreten Aeusse-

rung nicht gegeben, Sie könnte möglicher Weise selbst auf einen inneren Vorgang desMissbilligenden beschränkt bleiben; sie könnte andererseits auch in der sonst zwecklosenVernichtung des Thäters bestehen, denn die Vernichtung eines Gegenstandes ohne wei-tere Zwecke ist der nothwendig stärkste Ausdruck dafür, dass er nicht zu existiren hat,dass er nichts tauge, also der stärkste Ausdruck absoluter Missbilligung. Untersuchenwir, indem wir die verschiedensten Ausdrucksarten der Missbilligung offen erhalten, zu-nächst die Grenzen der Berechtigung dieser Möglichkeiten des Ausdruckes.10

Seite 316Je zweifelhafter die moralische Beurtheilung der That ist, um so zurückhaltender, inner-licher wird die Missbilligung sein müssen. Umgekehrt bei unzweifelhaften groben Ver-letzungen der Moral wird, sofern überhaupt eine sittliche Gemeinschaft existirt, diesesUrtheil nothwendig zu einem öffentlichen werden. Denn die Moral ist nichts, wie freilichnoch Kant meinte, für alle Zeiten Fertiges, in sich Abgeschlossenes; sie ist eben auchein Product der Geschichte der Menschheit, also der Gemeinschaft und das moralischeUrtheil des Einzelnen bildet sich an der Tradition, an dem moralischen Urtheile der Ue-brigen. Dies setzt nothwendig aber eine gewisse Mittheilung der moralischen Urtheile

8Damit erledigt sich der Vorwurf, den Hugo Meyer (Lehrbuch d. deutschen Strafrechts, 2. Aufl., §. 5 a.E.) gegen die Reprobationstheorie erhebt, dass die Missbilligung der Person des Thäters fern bleibe.Dass dagegen die Strafe zunächst der That, und erst per consequentiam dem Thäter gelte, haben seitdem Alterthume eine Anzahl der tiefsten Denker behauptet.

9Seber: Gründe und Zwecke der Strafe, 1876, S. 11, erachtet das Princip der Missbilligung nicht fürausreichend; er meint, es hätte, wenn auch zugegeben werden könne, dass die Heiligkeit gewisserGrundsätze der Sittlichkeit fortwährend eingeschärft werden müsse, noch des Nachweises bedurft,dass nur durch die Strafe diese Einschärfung geschehen könne. Allein dieser Nachweis fehlt jedenfallsauch bei Seber’s eigenen Ausführungen, welche (S. 19) in der That auf eine Paraphrase der meinigenhinauslaufen, jedoch (vgl. namentlich S. 29) mit der Unklarheit, dass dem Grundprincipe des Straf-rechts — Einschärfung gewisser sittlicher Grundsätze — das Abschreckungs- und Besserungsprincipcoordinirt werden, wonach denn in Wahrheit das an die Spitze gestellte Princip seine wahre Bedeu-tung verliert und schwer nur von einem gemässigten Abschreckungsprincipe unterschieden werdenkann. Der von Seber verlangte Nachweis ist übrigens schon dann erbracht, wenn dargethan wird,dass im Allgemeinen nicht ohne Strafe auszukommen sei; dass in jedem einzelnen Falle Strafe absolutnothwendig sei, braucht nicht bewiesen zu werden, da das Recht überhaupt in gewissem Umfangedie Individualität des einzelnen Falles unberücksichtigt lassen muss. Und das ist sicher, dass wenndie Strafjustiz ihre Functionen gegenwärtig (und für unabsehbare Zeiträume dürfte dasselbe gelten!)einstellen wollte, damit der Sittlichkeit der Todesstoss versetzt werden würde.

10Nach unserer Ansicht ist Das, was man jetzt (vgl. über die sprachliche Abstammung und frühereBedeutung des Wortes Strafe) Strafe zu nennen pflegt (also z. B. Entziehung der Freiheit, Entziehungeines Vermögensstückes u. s. w.) nur das Strafmaass.

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voraus, ohne welche eine Tradition auch unmöglich sein würde, mit anderen Worten einegewisse Oeffentlichkeit des moralischen Urtheils. Und der Logik entspricht hier wieder dieThatsache. Bei gröblichen Verletzungen der Moral, bei schweren Verbrechen drängt, wiebemerkt, die öffentliche Missbilligung unaufhaltsam sich hervor. Die öffentliche Missbil-ligung, in mehr oder weniger förmlicher oder unförmlicher Weise, ist daher in gewissemUmfange oder in gewissen Fällen, das Recht der Moral, oder da ohne Moral, wie ohneWeiteres zugegeben werden muss, ein menschliches Gemeinwesen nicht bestehen könn-te, überhaupt der Fortbestand der Menschheit unmöglich sein würde: die öffentlicheMissbilligung gewisser der Moral widersprechender Handlungen ist unbedingtes Recht.Jede Missbilligung der That oder, was dasselbe ist, des Thäters muss aber für diesenwenigstens die Folge haben, dass er in der moralischen Wertlischätzung des Missbilli-genden sinkt. Man kann ihn doch nicht ganz so behandeln, als ob er nicht einen Grundzur Missbilligung gegeben hätte: wollte man das ohne Weiteres thun, so würde man dieMissbilligung durch ein Factum contrarium aufheben. Das vollkommene Vergeben, ohnedass die Missbilligung der schlechten That irgend einen reellen Ausdruck gefunden hätte— und wäre es auch etwa nur das Entziehen eines sonst vorhanden gewesenen Vertrau-ens — würde als allgemeine Maxime angewendet die Moral aufheben: es würde ja nichtsanderes besagen, als die der Moral widerstrebende Handlung beeinträchtigt den Werthihres Urhebers nicht. Wenn die Gebote des Stifters der christlichen Religion ein Ande-res empfehlen, so ist nicht zu vergessen, dass sie zum Theil in rednerisch-hyperbolischerForm abgefasst sind, dass dem Egoismus gegenüber gerade diese hyperbolische Formberechtigt erscheinen kann, und dass sie zunächst auf den Privatverkehr des kleinenKreises berechnet sind, der sich Jünger des Herrn nannte, und dass die Anwendung derchristlichen Moralvorschriften auf einen christlichen

Seite 317Staat der Zukunft überlassen blieb. Aber selbst bei dem vollständigsten Vergeben in demSinne, dass den Thäter nicht das geringste besonders beabsichtigte Uebel in Folge seinerThat treffen sollte, würde doch immer auf seinem Charakter in Folge der Uebelthat einSchatten haften bleiben, der, wenn er auf volle Gemeinschaft mit uns Anspruch machte,für ihn einen Nachtheil enthielte, den wir, auch wenn wir wollten, nicht ohne Weitereszu tilgen im Stande wären.Ist nun die Verletzung der Moral eine ganz grobe, so dass der Thäter als ein principi-

eller Gegner der moralischen Ordnung erscheint, welche die Normen für die Handlungs-weise der Einzelnen als Bedingungen der Existenz und der weiteren Fortentwicklung andie Hand gibt, so folgt, dass eben die moralische Gemeinschaft mit dem Thäter als aufge-hoben betrachtet wird. Jede Gemeinschaft hat gegen Denjenigen, der ihren Satzungen,dem, was sie als Bedingung ihrer Existenz betrachtet, nicht gehorcht, das Recht desAusschlusses. Selbst Christus sagt in solchem Falle: „So halte ihn als einen Heiden undZöllner". Und wenn nun in den Urzeiten des Menschengeschlechtes Recht und Moral einssind, so folgt, dass die grobe Verletzung des Rechts, der Moral den Ausschluss aus derRechtsgemeinschaft, d. h. die Rechtlosigkeit des Schuldigen bewirkt. Die ursprünglicheStrafe ist daher überall die Rechtlosigkeit — hierin hat Fichte ganz recht gesehen —mag diese Rechtlosigkeit, wie es bei dem an sich losen Verbände der germanischen Edel-und Freihöfe der Fall und natürlich war, nur dem Verletzten gegenüber eintreten, der

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L. D. Die Ergebnisse. Die Theorie der sittlichen Missbiligung (Reprobation).

dadurch ein an sich unbeschränktes Recht der Rache erhält, oder mag, wie es in demstädtischen Rom bei der dicht zusammengedrängten Bevölkerung war, die Rechtlosigkeitunmittelbar gegenüber Allen (als Sacertät) eingetreten sein.Hiernach ist denn principiell jeder Ausdruck der Missbilligung bis zur völligen Ver-

nichtung, ja jede denkbare Schädigung als Ausdruck dieser Missbilligung dem Schuldi-gen gegenüber Recht11: Jus laesi infinitum. Jener kann sich nicht beschweren, da er dasBand der Moral und des Rechts seinerseits zuerst zerschnitten hat. Es ist der wahre undrichtige Sinn des Satzes, den Hegel freilich selbst noch nicht völlig

Seite 318verstanden hat, dass Strafmittel und Strafmass dem Gebiete des Zufälligen angehören. Erübersieht dabei aber allerdings, dass die Geschichte auch hierin ein gewisses Gerechtig-keitsprincip hervortreten lässt. Ein Rest der ursprünglichen Auffassungsweise bleibt aberimmer bestehen. Auch der strengste Vertheidiger des Gerechtigkeitsprincips im gewöhn-lichen Sinne, welcher die Gerechtigkeit der Strafe sofort auf Strafmittel und Strafmassübertragen will, kann heut zu Tage nicht umhin einzusehen, dass in gewissem Umfangeder Verbrecher mit seiner Rechtssphäre zur Disposition der Gesellschaft gestellt wird.Sonst würde es ja überhaupt unmöglich sein, den Zwecken der Besserung des Verbre-chers u. s. w. irgend wie Rechnung zu tragen; jede Anerkennung eines relativen Zweckesder Strafe involvirt nothwendig den Satz, dass der Verbrecher in gewissem Umfange derdiscretionären Disposition der Gesellschaft anheimgefallen sei.Die Geschichte des Strafrechts12 bestätigt übrigens das Gesagte Schritt für Schritt.

Die Rache ist anfangs masslos. Ein naheliegendes Mass für gewisse Fälle (keineswegsfür alle), freilich ein recht unvollkommenes, immerhin aber ein Mass, welches sich durcheine gewisse ideale Symmetrie auszeichnet, ist hier die Vergeltung, Talion. Diese ist garkein Grundprincip, sondern ein Beschränkungsprincip gegenüber dem beliebigen Vernich-tungsprincip, wie die Geschichte zeigt. Nur eine freilich leicht begreifliche Verwechslunghat die Idee der Vergeltung zum selbständigen Principe erheben können. Es ist ganz un-möglich für Denjenigen, der die Geschichte des Strafrechts genau betrachtet, überhauptnoch von der Möglichkeit eines Vergeltungsprincips zu reden. Es hat Sinn zu sagen, dasSchlechte und der Schlechte müssen vernichtet werden. Aber „Ich schädige, weil das Bö-se mit dem Bösen vergolten werden muss", das kann nur Jemand sagen, der sich als11Vgl. auch Haller: Restauration der Staatswissenschaften II. c. 34. — In diesem Punkte modificire ich

meine frühere Ansicht. Ich hatte (Grundl. S. 76) die Rechtfertigung einer Verletzung der Rechtssphäredes Schuldigen auch darin gefunden, dass auch ja in anderen Fällen (z. B. im Kriege) der Einzelne alsMittel für die Gesammtheit geopfert werden könne. Allein diese Fälle Bind different Geopfert werdenkann der Einzelne und sein Gut nur soweit, als freiwillige Hingabe Verdienst sein würde. Strafe aberist wesentlich Zwang. Dies gilt namentlich auch gegen den Versuch einer Rechtfertigung der Strafebei Hertz: Das Unrecht, S. 48.

12Ulrici (Gott und der Mensch, II. 1, 1873, S. 393) will meinen Beweis, ungeachtet er anerkennt, dassdas einzige allen Strafen gemeinsame Moment die Missbilligung sei, doch deshalb nicht gelten las-sen, weil die reine Missbilligung historisch erst verhältnissmässig spät auftrete und die öffentlicheStrafe hauptsächlich zur Beseitigung der Privatrache eingeführt sei. Allein dag Erste entspricht jalediglich dem Gesetze der Entwicklung und was den zweiten Punkt betrifft, so darf man wohl fragen:enthält denn die Rache nicht auch das Moment der Missbilligung? Ulrici will die Bache nur als Ver-geltung betrachten und verwirft beide absolut. Dann wäre die staatliche Strafe ein unvermittelt inder Geschichte auftretendes, völlig neues Princip, was historisch falsch ist.

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Vollstrecker der göttlichen Gerechtigkeit betrachtet, und diese letztere Idee ist einerseitsspäteren Ursprungs, andererseits als durchaus unzutreffend für das staatliche Strafrechtlängst nachgewiesen.Nur wenn man die Vergeltung nicht als Uebel- und Wehethun,

Seite 319sondern einfach als Minderung des Gedeihens, Hinderung der Entwicklung ansieht, hatsie einen vernünftigen, dann aber wiederum mit der Missbilligung übereinkommendenSinn. Wenn moralisch leben und handeln der allgemeinen Ordnung des Seins entspricht,so muss das Gegentheil den Urheber der moralwidrigen Handlung anstossen machen,ihn hindern;13 genau so wie Derjenige, der gegen die Regeln der Gesundheit lebt, denSchaden davon empfindet. Die moralische Ordnung kehrt sich von dem Uebertreter ab,oder sie wendet sich gegen ihn, was genau betrachtet, Dasselbe ist; aber ihr Principdarin finden, den Uebelthäter zu quälen, das lässt sich nicht von ihr beweisen, das istdas Gegentheil der Moral.Je besser aber die moralische Ordnung befestigt ist, um so weniger stark braucht der

Ausdruck der Missbilligung zu sein: die natürliche Reaction der moralischen Ordnungkann ihn da in vielfacher Beziehung ersetzen. Wenn der Dieb nur schwer auf Abnehmerder gestohlenen Sachen rechnen kann, weil allgemein verbreitete Redlichkeit in scrupulö-ser Weise die Berechtigung eines Verkäufers prüfen lässt, so erscheint der Diebstahl schondadurch als Etwas, was den Thäter in den meisten Fällen nur hindert, ihm nicht nützt,und wenn dem Betrüger oder Schwindler und gewissenlosen Speculanten sich von selbstdie Thüren der ehrenwerthen Leute schliessen und diese die ganz überwiegende Mehrzahlbilden, so ist der Ausdruck einer formellen Missbilligung hier vielleicht in vielen Fällenüberflüssig. Daraus ergibt sich denn, dass mit fortschreitender Cultur, d. h. aber einerCultur, welche nicht nur einen Fortschritt im Wissen und im Raffinement des Genusses,sondern auch einen Fortschritt in der allgemeinen Moralität bedeutet, die Strafen mil-der werden.14 Bei einem idealen Zustande der Gesellschaft könnte man einen einzelnenVerbrecher möglicher Weise einfach den von selbst sich ergebenden Folgen seines Ver-brechens überlassen oder die Moral anwenden, Böses nicht mit dem Uebel, sondern mitdem Guten zu überwinden. So ist in der That die Strafe als Missbilligung gedacht mitdem Christenthume zu vereinigen; als Vergeltung durch Menschen steht sie mit diesem

Seite 320in einem fundamentalen Gegensatze; denn das Vergeltungsprincip lässt, wie ja auch Kantehrlich und muthig diese Consequenz gezogen hat, niemals ein Vergeben zu.Die Missbilligung der Handlung und folgeweise auch ihres Urhebers setzt aber, um

jenen idealen Erfolg einer Bethätigung der eigenen Moralität des Missbilligenden zur

13Dieser Gedanke ist von Merkel angedeutet Vgl. oben §. 99.14Es gibt sogar eine im deutschen Strafgesetzbuche anerkannte (in England auch häufig angewendete)

Strafe, die nur in einer öffentlichen Missbilligung besteht: der Verweis. Dass der Verweis nicht wesent-lich Missbilligung der That, sondern Demüthigung des Thäters (d. h. also gelinde Peinigung) seinemWesen (Zwecke) nach sei, wird zwar von Hugo Meyer, §. 5 a. E., behauptet; indess diese Behauptungist an sich eine Petitio principii, und wenn der Verweis eine „Demüthigung des Schuldigen"nicht erstper consequentiam sein sollte, warum sind denn alle besonderen äusseren Formen der Demüthigungdabei beseitigt? Warum ist der Pranger nicht heut zu Tage noch eine empfehlenswerthe Strafe?

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Folge zu haben, eine möglichst genaue Festsetzung der That und desshalb auch desThäters voraus. Daher hat eine Strafe, die gegen einen Unschuldigen oder nach derallgemeinen Ueberzeugung vielleicht Unschuldigen sich richtet, gar nicht die sittlichenWirkungen der Strafe. Schrecken könnte man auch durch Wüthen gegen Unschuldigeverbreiten. Aber die Folgen des Schreckens müssen sich bei einem noch nicht völligentnervten Volke schliesslich gegen die Urheber des Schreckens richten, während gerechteStrafe die Rechtsordnung befestigt.Und auch das entspricht dem Charakter der Strafe als einer Missbilligung, dass bei

mehr entwickelter Cultur und feinerem Gefühle, der Process und das Urtheil über denVerbrecher schon einen Theil der Strafe, nicht selten den wichtigsten Theil der Strafedarstellt.15 Wäre die Strafe nothwendig ein äusseres Uebel, so wäre dafür keine Erklärungvorhanden, namentlich wenn das Strafübel im concreten Falle vielleicht nur in Geldstrafe,in einigen Wochen Gefängniss besteht.In dem Charakter der Strafe als einer Missbilligung, principaliter der That und erst

per consequentiam des Thäters, liegt aber andererseits auch, dass der Ausdruck derMissbilligung unmittelbar an das in der Untersuchung hervortretende Bild der That sichanschliessen muss, dass mit anderen Worten das richterliche Urtheil, welches nichts An-deres ist, als die dauernde Fixirung der That in allgemeinen und allgemein anerkanntenBegriffen, die Strafe wesentlich bestimmen muss, und dass es dem Wesen des Strafrechtswiderspricht, die Strafe hinterher etwa nach der Beobachtung des Charakters des Ver-urtheilen wesentlich bestimmen zu wollen. Wir wollen hier nicht von den Heucheleiender Gefangenen, den Täuschungen der Gefängnissbeamten und der menschenunwürdigenBehandlung der ersteren reden, Uebelstände, welche auch aus dem neuerdings gemach-ten tollen und geschichtswidrigen Vorschlage sich ergeben würden, die Bestimmung desStrafmasses im richterlichen Urtheile ganz zu beseitigen und die Strafdauer erst hin-terher nach den Beobachtungen im Gefängnisse zu bestimmen oder einstweilen auchunbestimmt zu lassen. Das strafrichterliche Urtheil könnte, wie hervor-

Seite 321gehoben, auch ohne eine besondere Straffolge, eine ideale Bedeutung behaupten; danndürfte aber auch doch die reale Folge der bösen That, öffentlich und allgemein gültig,wenigstens durch nichts Anderes hinzugefügt werden. Mit der Verknüpfung der realenFolge an etwas Anderes, hieran das öffentlich gar nicht hervortretende und öffentlich garnicht zu controlirende Ermessen der Gefängnissbehörden, würde aber das richterlicheUrtheil seinen Eindruck auf die Masse der Bevölkerung verlieren, und nun bessere manden einzelnen Verbrecher nach Herzenslust: bei der Masse der Bevölkerung würde dasVerbrechen um so üppigere Blüthen treiben. Allerdings, wäre die Strafe wirklich Ver-geltung des Bösen, d. h. der Bosheit des Verbrechers, so Hesse sich, da in der That dieBosheit des Verbrechers nicht genau zu ermessen ist, nichts dagegen einwenden, überdiese Bosheit erst langdauernde Beobachtungen anzustellen.Ferner aber kann die Strafe der Missbilligung nie ersetzt werden durch ein zufällig

den Verbrecher treffendes Leiden, sollte dasselbe auch eine Folge des Verbrechens sein,

15Dieser von mir in den „Grundlagen des Strafrechts", S. 4, angedeutete Gedanke ist jetzt von Heinze,S. 326, wie oben bemerkt wurde, ausgeführt worden.

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in demselben sich „der Finger Gottes", wie man sagt, zeigen. Wenn der einbrechendeDieb von der Leiter fällt und in Folge des Sturzes Zeit Lebens ein Krüppel wird, werdenwir ihn deshalb doch nicht mit Strafe verschonen wollen, ebensowenig Denjenigen, derbei räuberischem Anfalle durch energische Verteidigung des Gegners den Arm oder dasAugenlicht verliert. Wäre die staatliche Strafe nur eine Vertretung der göttlichen, sowäre es Vermessenheit, in solchen Fällen noch strafen zu wollen; wäre die Strafe eineVergeltung des Bösen mit dem Bösen, so wäre sie hier sinnlos.Denn nicht der Schmerz des Verbrechers ist das Wesentliche, sondern die active Miss-

billigung. Daher ist es denn auch ganz gleichgültig, ob im einzelnen Falle der Verbrecherdie Strafe als ein Uebel empfindet. Er könnte sie sogar als eine Wohlthat betrachten— z. B. heut zu Tage etwa ein noch nicht ganz verdorbener Verbrecher die Zellenhaft,die ihn vor weiteren Schlechtigkeiten bewahrt, ihm Unterricht gewährt u. s. w. — undwir würden doch die Strafe deshalb nicht ändern wollen, um ihn zu peinigen. Soll dochnach Plato’s idealer Auffassung der Schuldige die Strafe immer als Wohlthat betrachten.Wäre überhaupt der Schmerz das Wesentliche, warum denn sollten wir heut zu Tageeinen solchen Abscheu empfinden vor Peinigungen und Martern des Verurtheilten? Daswäre wirklich nur missverstandene Humanität, und es würde sich noch fragen, ob demlangjährigen Gefängnisse nicht eine kürzere peinigende oder auch eine verstümmelndeStrafe, sofern diese nicht eben erwerbsunfähig macht (z. B. Ohrenabschneiden !), vor-zuziehen wäre. Dass wir selbst an der physischen Vernichtung des Verbrechers, an derTodesstrafe, keinen Anstoss nehmen, wohl aber an durch keine andere Rück-

Seite 322sicht gebotenen Quälereien und Peinigungen, das hat in der That seinen tiefen, von kei-ner der bisherigen Strafrechtstheorien erklärten Grund. Freilich muss die Behandlungdes Schuldigen immer eine Missbilligung ausdrücken, und insoweit, aber auch nur in-soweit, ist es richtig, dass die Strafe einen Nachtheil für den Verurtheilten enthaltenmüsse. Eine bevorzugte, verhätschelte Klasse dürfen die Verbrecher nicht bilden — ei-ne Betrachtung, die den extremen Consequenzen der Besserungstheorie von selbst sichentgegenstellt — auch wenn durch solche gute Behandlung andere löbliche Zwecke sichbesser erreichen Hessen. Der Unterschied muss immer bleiben, dass es im Allgemeinendoch ein Vorzug sei, nicht bestraft zu werden, und niemals kann die Strafanstalt auf denStandpunkt eines Pädagogiums sich stellen. Eine so grosse Rücksicht mau auch dem Bes-serungszwecke und folgeweise dem einzelnen Verbrecher schenken möge, immer ist dieseRücksicht nur eine secundäre, die Rücksicht auf die Notwendigkeit der öffentlichen Miss-billigung (oder wenn man lieber will Repression) die primäre. So sagt denn auch Krohne16 im Hinblick auf den letzten internationalen, die Verbesserung des Gefängnisswesensbetreffenden Congress und die dabei beobachteten Tendenzen:„Bei allem Mitleid, welches jedes menschliche Herabsinken einflösst, mag es auf physi-

schem, intellectuellem oder moralischem Gebiete liegen, werden die Männer, welche sichheute mit der Reform des Gefängnisswesens beschäftigen, zunächst getragen von demGedanken, dass es sich handelt um die Vertheidigung der Gesellschaft."

16Krohne: Der gegenwärtige Stand der Gefängnisswissenschaft, in Dochow’s und v. Liszt’s Zeitschriftfür die gesammte Strafrechtswissenschaft (I.), 1881, S. 58.

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Es ist denn insofern auch, wie Hälschner und Andere sehr richtig hervorheben, dieStrafe in erster Linie und principiell aufzufassen als ein Leiden des Verbrechers, alsein gegen ihn ausgeübter Zwang, Leiden in dem Sinne genommen, dass der Verbrecherdabei passiv sich verhält, nicht in dem Sinne, dass er gequält werden müsste — dennbei der Missbilligung tritt der Missbilligende activ hervor. Die Strafe kann nicht, wieHeinze17 es will, principaliter als eine Leistung des Verbrechers an das Gemeinwesenaufgefasst werden. Wäre sie das, so müsste die freiwillige Uebernahme des vom Staate fürden fraglichen Fall bestimmten äusseren Strafmittels die vollkommenste Strafverbüssungsein, so müsste der Selbstmord des zum Tode Verurtheilten, statt, wie es jetzt geschieht,gehindert, vielmehr befördert werden. Nur insofern der Verbrecher sich selbst wieder alsein Mittel zur Beförderung der Zwecke

Seite 323der Menschheit betrachtet, insofern er selbst die Strafe als vernünftig betrachten gelernt,kann die Strafe als Leistung aufgefasst werden und nur in diesem Sinne habe auch ichfrüher gesagt, dass der Verbrecher zu vergelten habe. Es verhält sich hiermit wie mit derBesserung; die ideale Strafe soll zugleich die Besserung des Schuldigen bewirken; aberder Hauptzweck der Strafe ist gleichwohl nicht die Besserung.18

§. 105. Wir haben oben bemerkt, dass die ursprüngliche Strafe das Zerreissen desRechtsverbandes, sei es zwischen dem Verletzten oder beziehungsweise dem Gemeinwe-sen, und dem Verbrecher sei. Demnach würde jede an die Stelle tretende Strafe eineWohlthat oder ein dem Verbrecher historisch erst gewährtes Recht sein, würde der Aus-spruch Fichte’s über das wichtige Recht des Bürgers, abgestraft zu werden, nicht soparadox sein, wie er klingt. Die Entwicklung der Bussstrafen, die wir im germanischenRechte besonders verfolgen können, bestätigt dies genau. Nur scheint damit im Wider-spruch zu stehen, dass später und heut zu Tage insbesondere es dem Verbrecher nichtmehr erlaubt ist, durch Exil sich der Strafe zu entziehen.Allein das Exil hat später und hat heut zu Tage keineswegs mehr die Bedeutung der

alten Rechtlosigkeit oder Friedlosigkeit, wenn wir uns in der Sprache des nordischenoder germanischen Rechts ausdrücken wollen. Es kommt aber noch ein Anderes dabei inBetracht.Die Missbilligung als Strafe, gehandhabt durch den Einzelnen, entbehrt nicht nur, wie

auf der Hand liegt, eines gewissen objectiven Hasses; sie entbehrt auch der allgemeingeltenden Anerkennung, dass die Veranlassung ihres Eintretens eine gerechte war. Soist sie oft von dem einfach widerrechtlichen Angriffe schwer untorscheidbar, oder derVerbrecher kann doch leicht, um sich mit Hülfe Anderer zur Wehre zu setzen, den Vor-wand gebrauchen, dass der Angriff ein widerrechtlicher sei. So wird die Privatrache zueinem fortgesetzten Vernichtungskampf zwischen verschiedenen Familien, und so siehtdenn die Vereinigung der Volksgenossen oder der König sich veranlasst, zu vermitteln,und aus der Vermittlung wird später, je mehr die Rechtssicherheit des Einzelnen auchals Rechtssicherheit der Uebrigen und umgekehrt auf die Rechtsunsicherheit solidarisch17Heinze a. a. 0. S. 322ff.18Aus dem angeführten Grunde kann auch eine freiwillige Unterwerfung unter eine staatliche Strafe

nicht zulässig sein. Die öffentliche Missbilligung käme ohne Urtheil gar nicht zum Ausdruck. Daherkann auch dem Verzichte im Strafprocesse nur eine sehr untergeordnete Bedeutung zukommen.

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empfunden wird, die Uebernahme der Privatrache auf den Staat: die Rache wird Strafe.Aus der nur subjectiv gehandhabten Missbilligung wird nunmehr eine allgemein aner-kannte. Sie wird befreit von dem an-

Seite 324klebenden Egoismus, und diese Befreiung ist nicht eine zufällige; sie liegt im Wesen derEntwicklung begründet.19

Mit dem Uebergange des Strafrechts auf das Gemeinwesen20 wird aber aus dem Rechteder Strafe zugleich eine Pflicht. Der Staat empfängt Das, was die Einzelnen bis dahinals Recht besassen, gewissermassen zu treuen Händen, zu sorgsamer Verwaltung, nichtzu willkürlicher Ausübung oder Unterlassung. In der Hand des Staats wird das Rechteine Pflicht, eine Pflicht nicht nur gegen den Staat selbst, sondern eine Pflicht gegen dieGesellschaft. Und daraus folgt denn auch, dass der Staat nicht wie der Einzelne beliebigverzeihen kann.21 Daraus folgt aber auch, dass der Staat, soweit er kann, activ eingreifenmuss, dass es sich mit ihm gerade so verhält, wie mit dem Einzelnen, der der Sitte nachden Mörder seines Angehörigen nicht entweichen lassen, wenn er ihn in seiner Gewalt hat,und nicht etwa dem Zufalle oder Dritten das Werk der Bache der Sitte nach überlassendarf: das Exil ist nicht ein Recht,22 sondern eine factische Möglichkeit für den Verbrecher,und je mehr die Erinnerung an den ursprünglichen Zustand schwindet, in welchem dasStrafrecht ein Recht des Einzelnen, möglicher Weise Aller war, um so weniger kannder Staat daran denken oder darauf sich verlassen, dass die blosse Erlaubniss, einenVerbrecher zu verletzen, für diesen eine reelle Folge haben werde, auch abgesehen davon,dass damit ein Versinken in die alte Roheit der Rache theilweise verbunden wäre.Eine gewisse Erinnerung aber daran, dass das Strafrecht dem Staate wesentlich nur

übertragen23 ist, ihm nicht ursprünglich angehört, bleibt immer noch. Eine Begnadigung,ein Straferlass in einem Falle, in welchem die Volksmeinung das Recht einer Privatpersonzunächst, und erst folgeweise das öffentliche Recht des Staates auf Strafe als be-

Seite 325theiligt betrachtet, z. B. im Falle einer Beleidigung, hat, wenn nicht irgend dem Belei-digten privatim auch Genugthuung gegeben oder die Verzeihung oder Zustimmung zurBegnadigung gewonnen ist, etwas Verletzendes. Und gut ist es auch, wenn die Staats-gewalt daran erinnert wird, dass das Strafrecht, wenn auch in roherer Form, älter ist,als sie selbst, dass sie nicht das Strafrecht gebrauche, um beliebiger vorübergehender

19Dieser Uebergangsprocess ist vortrefflich beschrieben und motivirt schon von C. L. v. Haller: Restau-ration der Staatswissenschaften, II. S. 241 ff. (c. 34).

20Insofern das Gemeinwesen sieh selbst unmittelbar als angegriffen betrachtet, rächt es von Anfangan den Angriff und die Verletzung selbst: daher insoweit auch bei den Germanen von Anfang anöffentliche Strafe.

21Der Einzelne stand aber auch unter dem oft nicht minder wirksamen Zwange der Sitte.22Dass es eine Zeit lang bei den Römern anders sich verhielt, ist oben bemerkt worden, beweist aber

nicht gegen die Ausführung des Textes; denn dieses Recht des Exils gehört erst der späteren Zeitan, als der Stolz des römischen Bürgers kein actives Eingreifen der Strafgewalt mehr gestattete. Vgl.oben §. 9.

23E. v. Hartmann, Phänomenologie S. 202, macht mit Recht darauf aufmerksam, dass dieser Uebertra-gungsprocess bei uns noch gar nicht vollkommen beendet ist, z. B. für Beleidigungen. Darauf ruhtauch auch zum Theil die Fortexistenz des Duellwesens trotz aller Strafgesetze.

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Zwecke willen, z. B. nicht dazu gebrauche oder missbrauche, etwa die Anhänger einerbestimmten Richtung möglichst mit Strafen hoimzusuchen, die Anhänger einer andernRichtung möglichst damit zu verschonen. Wäre das Strafrecht in aller und jeder Bezie-hung ein ursprüngliches Attribut der Staatsgewalt, so könnte in solchem Verfahren garnichts so Verletzendes, Demoralisirendes liegen. Daher ist es denn ein ganz richtiges Cor-rectiv gegen die leicht mögliche Ansicht, dass die Vortrefflichkeiten der Regierungsparteikleinere, aber doch, wenn wiederholt, schwer wiegende Verstösse gegen das Strafgesetzwieder gut machen dass dem Publicum oder doch dem Verletzton noch die Möglichkeiteiner aushülfsweisen Strafverfolgung selbst gegen den Willen der Regierung oder desStaates gewahrt werde. So sagt auch der berühmte französische Jurist Faustin Hélie,24

dass die Strafverfolgung theilweise auf der Gesellschaft und nicht ausschliesslich auf demStaat ruhe. Die subsidiäre Privatanklage ist daher (wenn auch mit genügenden Cautelenzu umgeben) doch ein selbst geschichts-philosophisch zu begründendes Postulat.Bei gröblichen Verletzungen der Pflicht Verbrechen zu verfolgen, würde übrigens die

Idee, dass hier willkürliches Schalten der Inhaber der Staatsgewalt eine Verletzung derGesellschaft sei, sich in elementarer Weise geltend machen durch Lynchjustiz und Ge-waltacte, und eben auf diesem Zusammenhange beruht es auch, dass selbst die Strafge-setzgebung sieh nicht allzuweit von der allgemeinen Volksmeinung entfernen darf, dassgerade die Strafgesetzgebung ganz besonders ein Spiegel der Cultur des Volkes genanntwerden kann.Man könnte nun noch immer einwenden — und es ist dieser Einwand in der That auch

erhoben worden — in dem Wesen der Missbilligung liege es nicht, dass sie im einzelnenFalle praktisch werden müsse, wenigstens nicht in der Form des Strafprocosses, nochweniger in der Form wirklicher Strafvollstreckung. Man könne ja, wenn es nur auf Miss-billigung ankomme, auf Aufstellung allgemeiner Sätze, welche diese und jene Handlungenmissbilligen, etwa in der Gesetzgebung sich beschränken. Dabei ist aber tibersehen, dasses dabei an einer erkenn-

Seite 326baren Subsumtion der Handlung unter jene allgemeinen Begriffe und Sätze fehlen wür-de. Erst die Rache des Verletzten sprach aus, erst die staatliche Strafe spricht aus, dassdiese concrete Handlung Missbilligung verdiene, absolut verwerflich sei; sofort klar wirddies, wenn man bedenkt, dass für Handlungen, die äusserlich sich als Verbrechen quali-ficiren, sich die verschiedenartigsten Entschuldigungsgründe aufstellen lassen. Dass eineconcrete Handlung wirklich ein Verbrechen sei, das wird ihr erst durch das richterlicheUrtheil endgültig gleichsam aufgestempelt. Wenn man auch jetzt zur Zeit sich denkenkönnte, dass, um gewisse Handlungen als Verbrechen allgemein im Publicum betrachten,verabscheuen zu lassen, z. B. schwere Mordthaten u. s. w., es eines richterlichen Urtheilsgar nicht bedürfte, so vergisst man dabei die langdauernde Tradition der richterlichenUrtheile, welche sich unmittelbar für die Beurtheilung eines einzelnen Falles als Vorweg-nahme des Urtheils geltend macht. Damit würde es aber bald anders werden, wenn dieAbgabe von richterlichen Urtheilen über die einzelnen Criminalfälle überhaupt aufhören

24Traite de l’instruction criminelle II. N. 473. Auch der französische Cassationshof hat erklärt: „L’actionpublique appartient à la société et non au fonctionnaire public chargé par la loi de l’exercer".

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würde. Man braucht, um sich dies deutlich zu machen, nur daran zu denken, wie falschnicht selten die Frage der Zurechnungsfähigkeit, der besonderen Entschuldigungsgrün-de (Zwang, Irrthum, Nothwehr u. s. w.) vom Publicum ohne die beständige Norm undCorrectur der richterlichen Urtheile beurtheilt werden würde.§. 106. Fassen wir das Gesagte zusammen, so ist der Zweck der Strafrechtspflege der:„Es sollen gewisse Grundsätze der Sittlichkeit als unverbrüchliche vom Gemeinwesen

dadurch öffentlich und allgemein bemerklich bezeichnet werden, dass Handlungen, welchediesen Grundsätzen zuwider laufen, mit einem eindringlichen Zeichen der öffentlichenMissbilligung versehen werden, einem Zeichen, welches, da That und Thäter nicht voneinander getrennt gedacht werden können, nothwendiger Weise auch den Thäter trifft.Und dies ist eine einfache Consequenz davon, dass das Gemeinwesen sich selbst praktischzu den Grundsätzen der Sittlichkeit bekennen muss."Es ist davon wohl nicht mehr sehr verschieden, wenn mein verehrter Freund Hugo

Meyer, der sich freilich noch nicht völlig losmachen kann von der überlieferten Ansicht,auch Umfang des Strafrechts und Mass der Strafe in gewissem Umfange aus der absolutenGerechtigkeit ableiten zu sollen, und der desshalb auch noch vielfach von Vergeltungspricht, und die Strafe noch im Sinne des Hugo Grotius als Malura passionis ob maluraactionis auffasst, doch neuerdings in der 3. Auflage seines Lehrbuchs (1881) §. 2, S. 9,sagt:„Der Rechtsgrund der Strafe besteht einfach darin, dass

Seite 327es dem Wesen des Staates entspricht, die Unzulässigkeit der dem Gemeinwesen wider-streitenden Handlungen nöthigenfalls auch durch Verhängung von Strafen zum Ausdruckzu bringen."Und es kommt ebenfalls auf die Idee der Missbilligung heraus, wenn Montesquieu25

sagt, dass in dem Staate, welcher seinem Ideal entspricht: „La plus grande peine d’unemauvaise action sera d’en etre convaincu", wie denn auch der oben (S. 230) mitget-heilte Ausspruch des grossen Leibnitz die Idee des auf der Missbilligung beruhendenAusschlusses von der Gesellschaft als idealen Kern der Strafe ausdrückt.26

Sobald man nur den Zweck der Strafe nicht wesentlich in die Person des Verbrechersverlegt, vielmehr die Gesellschaft oder das Gemeinwesen als Dasjenige betrachtet, wasin der Strafe gefördert oder geschützt werden soll, den einzelnen Verbrecher als Neben-

25Esprit des lois VI. eh. 9. Vgl. das. auch eh. 21: „ .. les formalités des jugements y sont des puniti-ons". Dass Missbilligung und eine künstliche „Infamieëtwas Verschiedenes sind, braucht wohl kaumhervorgehoben zu werden.

26Auch der tiefblickende und zugleich höchst praktische Francis Lieber (Franz Lieber) sagt (in seinemAufsatze „On penal law", jetzt abgedruckt in den „Miscellaneus writingsÏI. [Philadelphia 1881] S.464—494) S. 478: „A society in which every sort of wrong might be committed with impunity wouldnecessarily lose its ethical character . . . The expression of public disapproval of wrong would bemissing". — Vgl. auch die neueste System. Rechtsphilosophie von Lasson, 1882 (namentlich S. 533§. 46), wo die Strafe als Sieg der Vernunft über die Unvernunft bezeichnet wird. Indess schillert dieStrafe bei Lasson bedenklich in die „Vergeltung"hinüber, da anscheinend auch das Mass der Strafeaus der absoluten Gerechtigkeit abgeleitet werden soll. Das ganze Problem ist übrigens bei Lasson,wie es bei den meisten Philosophen üblich, überhaupt viel zu sehr von oben herab und aus derVogelperspective behandelte

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sache, — was er ja entschieden der Gesellschaft gegenüber ist — muss man von selbstdieser Theorie sich zuwenden. Die Besserungstheorie behandelt den einzelnen Verbrecherals Hauptpunkt, auf welchen der Zweck der Strafe zielt; ebenso aber auch die Vergel-tungstheorie: der Verbrecher soll ja ihr zufolge durch die Strafe den Lohn seiner Thatenerhalten. Nur die Abschreckungstheorie kommt in jenem Punkte, nicht den Verbrecher,sondern die Gesellschaft als die Hauptsache anzusehen, mit unserer Ansicht überein; nurfasst sie das Verhältniss zwischen Verbrecher und Gesellschaft einerseits zu mechanischund niedrig und andererseits zu wenig historisch auf. Es ist denn auch ganz richtig, dassunter den relativen Einzelzwecken, wie Hugo Meyer ebenfalls hervorhebt, der Zweck derAbschreckung oder sagen wir lieber der der Abwendung des Publicums vom Verbrechendie erste Stelle einnimmt. Mit einer Strafgesetzgebung, die, was die Strafmittel betrifft,auf dem Abschreckungs-

Seite 328principe beruht, lässt sich, wie die Geschichte zeigt, immerhin existiren; eine Gesetz-gebung, die ausschliesslich und consequent auf dem Besserungszwecke beruht, würdealsbald sich selbst unmöglich machen. Man darf übrigens auch nicht, was die Abschre-ckungstheorie bei ihrer zu niedrigen Auffassung des Zweckes des Strafrechts freilich thut,glauben, dass die Hauptwirkung des Strafrechts sich auf die Verbrecherwelt oder Dieje-nigen bezieht, welche überwiegend schon zum Verbrechen disponirt sind, durch schlechteErziehung, Verwilderung u. s. w., oder dass man ganz stark und übermächtig geworde-ne Leidenschaften durch das Bestehen und "Wirken des Strafgesetzes im Zaume haltenkönne. In dieser Beziehung sind vielmehr die gegen die Abschreckungstheorie gerichtetenEinwendungen richtig; die Furcht vor einem, wenn auch schweren, aber Ungewissen, inder Zukunft liegenden Uebel kann hier den Reiz zum Verbrechen nur selten neutralisi-ren, und daher ist es ein grober Irrthum, wenn in Zeiten überhand nehmender schwererVerbrechen von häufig angewendeter Todesstrafe, Prügelstrafe u. s. w. ein bedeutenderErfolg erwartet wird; welchen Erfolg ein hartes, das Gefühl verrohendes Strafensystemhat, zeigt die Geschichte früherer Jahrhunderte. Es ist vielmehr, wie Schopenhauer mitdem von ihm in so vielen Einzelnheiten bewährten Scharfblicke sehr richtig bemerkt,das vielleicht die Hauptwirkung der Strafgesetzgebung, dass sie die besseren Elementeder Bevölkerung im Grossen und Ganzen moralisch hält, dass die eigentliche Criminal-strafe27 „die Ausstossung aus der grossen Freimaurerloge der ehrlichen Leute"28 bewirkt,und dass die öffentliche Meinung hier einen einzigen Fehltritt mit grosser, vielleicht zuunerbittlicher Strenge beurtheilt. Desshalb macht es denn, wie die Criminalstatistik ver-schiedener Länder zeigt, keinen sehr bedeutenden Unterschied, ob man für die ganzschweren Verbrechen die Strafen innerhalb gewisser Grenzen so oder so abmisst. Dage-

27Von den Polizeistrafen wird unten die Rede sein.28Grundprobleme der Ethik, 2. Aufl., S. 190, 187. — Nicht die Unsicherheit, sagt Lieber a. a. 0. S.

479, ist das schwerste Uebel, das aus der öfteren Nichtbestrafung schwerer Verbrechen oder, wiewir hinzufügen dürfen, strafwürdiger Handlungen folgt, sondern die Herabsetzung des allgemeinen(durchschnittlichen) Niveaus der Moralität der Gesellschaft (The lowering of the moral Standard). —Aus diesem Grunde auch, wenn auch nicht allein aus diesem Grunde, kommt mehr auf die Gewissheitder Strafe, als auf ihre Grösse an. Das „dass gestraft werdeïst im Ganzen wichtiger, als das „wiegestraft werde". Natürlich ist der Satz cum grano salis zu verstehen.

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gen sind gerade bei den minder schweren Straffällen Fehlgriffe der Gesetzgebung weitverhängnissvoller. "Wenn hier die Grenze zwischen Ehrlichkeit und Unehrlichkeit nichtrichtig gezogen wird, wenn z. B. in allgemeiner Achtung stehende Personen, die blossen

Seite 329Ordnungsvorschriften des Staats nicht genügt haben — vielleicht selbst aus Gewissens-bedenken nicht genügt haben, — wie gemeine Verbrecher behandelt werden, so kannman des Bedenkens sich nicht erwehren, ob hier nicht Axthiebe gethan werden gegen dieWurzeln der Moral und Rechtsordnung, Axthiebe, deren Widerhall in der gemeinen Ver-brecherwelt dahin interpretirt wird, dass ja nun zwischen ihr und den ehrlichen Leutenkein wesentlicher Unterschied mehr bestehe.29 Desshalb sollte die Gesetzgebung mit denauch auf Polizeidelicte jetzt so freigebig, wenigstens alternativ (nach dem Ermessen desRichters) gesetzten Freiheitsstrafen doch etwas zurückhaltender sein. „Nicht der Unge-horsam, sondern der Verstoss gegen die Lebensbedingungen,"wie v. Ihering30 sehr richtigsagt, „der Gesellschaft macht das Wesen des Verbrechens aus, und wo daher nur ein Un-gehorsam zu brechen ist, darf man nur mit Strafen operiren, die eine Verwechslung desFalles mit Verbrechensstraffällen möglichst ausser Frage stellen."Gerade im Gegensatzezu der Ungehorsamsauffassung sagt Lieber:31

„man vermeide jeden Schein, als ob man strafe, weil der Uebertreter, weil der Schuldigegewagt hat, ungehorsam zu sein, d. h. man strafe, weil die Autorität die Zwecke desgemeinen Besten vertritt und desshalb ein Ungehorsam gegen die Autorität ein Vergehen— unmoralisch ist."Als Strafmittel erscheint nach dem oben Dargelegten in abstracto Alles verwendbar,

was eine Benachtheiligung des zu Bestrafenden enhält. Denn jede Benachtheiligung desUrhebers einer Handlung wegen dieser drückt eine Missbilligung der Handlung aus, undes kann hier nicht nur Das genommen und geschmälert werden, was man wesentlich alseine Gabe der Rechtsordnung zu betrachten gewohnt wäre — da das Recht hier ja äus-sersten Falls bis zur Vernichtung geht. Die vollkommenste Art der Strafe ist aber die,durch welche erreicht wird, dass der Verbrecher selbst die begangene That missbilligt,sich von ihr innerlich lossagt, sich bessert; die objective Missbilligung der That wird hierauch zu einer subjectiven. Das Wesentliche bleibt aber immer, eben wegen des zunächstobjectiven Charakters der Missbilligung, dass die gemeine Meinung die Massregel füreine genügende Missbilligung32 erachte, dass letztere

Seite 330nicht allzu sehr die Individualität des einzelnen Verbrechers beachten wolle, eine Beach-tung, durch welche die Justiz in Gefahr geräth, ihre Hoheit, Sicherheit und Würde zuverlieren und auszuarten in ein den mannigfachsten Missgriffen unterliegendes Dressur-

29Aus diesem Grunde auch wirkt das jetzt so beliebt gewordene Bevormundungssystem, welches überallnach Zwang, d. h. auch nach Strafen verlangt, schliesslich demoralisirend.

30Der Zweck im Rechte, L, 1879, S. 481. Vgl. auch schon Schulze oben S. 259.31A. a.. 0. S. 493.32Es ist deshalb auch kein Grund gegen eine Strafart, dass einzelne schon völlig verkommene Individuen

sie nicht mehr als Strafe betrachten, wie auch der Mörder zum Tode verurtheilt werden muss, der ausLebensüberdruss, um auf dem Schaffot zu sterben, gemordet hätte — wenn das Gesetz auf den MordTodesstrafe setzt. — Der Staat darf, indem er straft, nicht zu tief zu dem Verbrecher herabsteigen.

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oder Peinigungssystem. Peinigende Strafen, welche den Stempel individueller Rachsuchttragen, widerstreiten der ruhig reflectirenden Missbilligung durch die öffentliche Gewalt;ebenso Strafen, die man wesentlich gegen Thiere anwendet, weil Missbilligung nur gegenActe vernünftiger Wesen einen Sinn hat, und weil der Ausdruck solcher Missbilligunggewahrt werden muss; ferner Strafen, die so excessiv sind, dass sie das Mitleid sofortwachrufen, weil unter dem Mitleide die Missbilligung verschwindet; endlich Strafen, dienur bei ganz exceptionellen Verhältnissen am Platze sein würden. Die letztere Rück-sicht spricht neben anderen auch gegen die jetzt wieder mit so viel Wärme empfohlenePrügelstrafe. Umgekehrt ist die Vermögensstrafe nicht desshalb eine unzulässige Strafe,weil Einzelne sie vielleicht weniger empfinden oder weil sie bei Anderen, die keine Zah-lungsmittel haben, sich in eine andere Strafe verwandeln muss. Sie kann nur aus beidenGründen nicht die höheren, schärferen Grade der Missbilligung vertreten. Dass die To-desstrafe nicht absolut unzulässig sein kann, folgt unmittelbar aus dem ursprünglichenRecht der Vernichtung. Ob sie nicht relativ, d. h. für einen gegebenen Zeitpunkt und beieiner bestimmten Culturstufe unzulässig sei, ist eine andere Frage; denn eine absoluteethische Forderung ist sie keinenfalls; das Strafmittel ist, wie wir bemerkten, schon einTheil der Frage des Strafmasses, und dass dieses von Zeit und Umständen abhängt, istvon selbst klar.§. 107. Wenn aber unserer Ansicht nach der Verbrecher, was den Ausdruck der Miss-

billigung betrifft, zur Disposition des Gemeinwesens gestellt wird, wo bleibt da die nachunserem Gefühle doch zu fordernde Gerechtigkeit des Strafmasses?Die einfache Antwort hierauf ist, dass diese Gerechtigkeit allein durch die Beachtung

des geschichtlichen Momentes in das Strafrecht kommt, dass sie dem Principe des Straf-rechts an sich fremd ist. Strafe und Unrecht oder unmoralische, die Lebensbedingungender Gesellschaft (und damit auch des Staates) verletzende Handlungen sind incommen-surable Grössen. Wären sie commensurabel, so müsste die Vergeltungstheorie, wenn auchnicht praktisch, doch theoretisch wenigstens sich durchführen lassen. Wie kann man aberz. B. wohl das diebische Wegnehmen einer Geldbörse mit einer einjährigen Freiheitss-trafe auf gleiche

Seite 331Linie stellen? Und selbst bei der so gern herangezogenen Todesstrafe hinkt die Gleich-stellung vollständig oder sie kann es doch in einer sehr grossen Anzahl von Fällen; wennder Mörder seinem Opfer autlauert und dieses durch einen einzigen wohlgezielten Schusssofort todt dahin streckt, steht solchem Tode wohl der lange vorher angekündigte, qual-voll vorbereitete Tod auf dem Schaffot physisch gleich? Von Gerechtigkeit kann erst dieRede sein, wenn wir mehrere Straffälle aburtheilen, oder wenn wir unbewusst die Strafean der geschichtlichen Tradition messen. So wenig die Nationalökonomie für äussere Gü-ter und Arbeitsleistungen einen absolut gerechten Werth hat feststellen können, so wenigkann das Strafrecht dies auch für Verbrechen. Gerechtigkeit ist aber immer vorhanden,wenn Gleiches gleich behandelt wird oder Gleiches die gleichen Resultate hat; bei Ver-brechensstrafen ist daher die Tradition die Gerechtigkeit. Man könnte auch sagen dasPositive; nur darf man nicht das Positive mit v. Kirchmann lediglich in einem beliebigabgefassten, möglicher Weise ganz fehlerhaften Gesetze sehen.Indess da die Werthschätzung des Verbrechens zunächst arbiträr ist, lässt die Tradi-

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tion hier einen nicht unbedeutenden Spielraum des Ermessens. Es wird Niemand sagenkönnen, wenn er nicht etwa die detaillirten Vorschriften eines bestimmten Gesetzbuchszur Vergleichung heranzieht, ob für ein Verbrechen 2’/2 oder 3 Jahre Zuchthaus diegerechte Strafe seien, und ebensowenig von einer absoluten Gerechtigkeit oder Unge-rechtigkeit sprechen wollen, wenn von der Frage der Einzelbezw. der gemeinsamen Haftder Sträflinge die Rede ist, oder von der Frage der einen oder anderen Beschäftigungderselben. Innerhalb dieses nicht unbedeutenden Spielraumes hat der Staat freie Hand,da ja auch die Strafrechtspflege schliesslich mit zum Wohle der Gesammtheit dienen soll,beliebige Zwecke des Gemeinwohls nach seinem Ermessen mitzuverfolgen; und hier wirdsich denn ganz besonders segensreich der Zweck der Besserung, der Zweck erweisen, dieVerbrecher wieder zu nützlichen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft zu erziehen.§. 108. Aus dem angenommenen Principe der Missbilligung folgt aber nur, dass über-

haupt die Stimme der öffentlichen Missbilligung sich bei gewissen groben Verletzungender Moral hören lasse, folgt nicht, dass bei jeder Verletzung der Moral diese Missbil-ligung sich geltend mache. Der Staat ist nicht das blinde Instrument eines absolutenPrincips. Für ihn gilt nicht das: „Fiat justitia pereat mundus", sondern der Grundsatz,die Gerechtigkeit gilt, damit die Welt bestehen bleibe.33 Nur in dem

Seite 332ersteren Sinne ist unser Princip absolut, Wie der Einzelne Grund haben kann mit seinemmoralischen Urtheile zurückzuhalten, so auch der Staat und zwar in noch weit höheremGrade. Die Missbilligung des Staates ist eine autoritative; sie setzt daher einerseits ei-ne möglichst genaue oder sichere Beurtheilung der Handlung voraus und andererseitstritt sie dem Einzelnen gegenüber zwingend auf. Sie kann sich aus letzterem Grunde,wenn sie nicht die Freiheit der Einzelnen und damit auch den Quell der Sittlichkeit, derfreien Hingebung, ebenso aber auch den schliesslich auch zum Besten der Gesammtheitwirkenden gemässigten und berechtigten Egoismus, diese enorme Triebkraft menschli-chen Fortschrittes, aufheben will, nur auf die Missbilligung einer verhältnissmassigenkleinen Anzahl von Handlungen erstrecken, und naturgemäss werden dies vorzugsweisesolche Handlungen sein — dies folgt schon historisch aus der Entstehung des staatlichenStrafrechts aus der Privatrache —, welche Rechte Anderer verletzen. Handlungen, derennachtheilige Folgen fast nur den Handelnden selbst oder ihn selbst doch ganz vorzugswei-se treffen, sind dagegen, oben weil sie das Interesse Anderer und das gemeine Interessenur sehr entfernt afficiren, nicht Gegenstand der staatlichen Missbilligung, der Strafe.Es sprechen dafür auch die mannigfachsten praktischen Gründe: Schwierigkeit der Fest-stellung des Thatbestandes, der Schuld; mangelnde Unterstützung des Publicums beider Entdeckung u. s. w. Ueberhaupt ist die staatliche Missbilligung, da sie dem da-

33Hierdurch unterscheidet sich das hier angenommene Princip sehr wesentlich von allen bisher aufge-stellten absoluten Principien, bei denen es eben unmöglich ist, der Zweckmässigkeitserwägung ohneeinen Principienbruch Raum zu gewähren. Auch Hegel scheint diesen Punkt verkannt zu haben.In diesem Sinne habe ich (Grundlagen des Strafr.. S. 9) gesagt, die Strafe sei, für den einzelnenFall, eine absichtliche und künstliche Massregel. Heinze (S. 298 Anm.), der im Uebrigen freilich eineReprobationstheorie als die consequente Entwicklung des Hegel’schen Princips anerkennt, hat michdaher missverstanden, wenn er „in der absichtlichen und künstlichen Massregelëinen Abfall von demabsoluten Strafprincip zu erblicken scheint.

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durch Betroffenen einen Nachtheil bereitet, da sie (im Strafprocesse) mit mannigfachenZwangsmitteln und unter Aufwendung selbst vielfacher Kosten, wenigstens aber Zeit-verlust für die Betheiligten arbeitet, da sie häufig sogar dorn unschuldig Verdächtigtensehr schwere provisorische Hebel — z. B. einstweilige Schädigung des Vertrauens, Haft— auferlegen muss, immer an sich ein Uebel, und finden rechtswidrige oder unsittlicheHandlungen anderweit schon eine genügende Missbilligung oder auch Zurückweisung inihrem Erfolge (namentlich durch die mit milderen Mitteln arbeitende Civilrechtspfle-ge), so muss rationoller Weise die staatliche Strafe unterbleiben. Die Strafjustiz hat einewichtige nationalökonomische Seite; in früherer Zeit gieng sie oft mit Menschenunglückund Pein recht verschwenderisch um. Es ist Beccaria’s Verdienst auf den Grundsatz mög-lichster Sparsamkeit, auf die Ueberflüssigkeit vieler Be-

Seite 333strafungen zuerst in umfassender Weise aufmerksam gemacht zu haben.34 Wo die sons-tigen Mittel zur Verwirklichung des Rechts ausreichen, wäre die Anwendung der Strafeunverantwortlich, weil sie auf die Gesellschaft selber zurückfallen würde, sagt v. Ihering35

sehr richtig, und Thibaut36 hat bereits das Strafrecht ein Testimonium paupertatis ge-nannt, welches die Regierungen der Staaten sich selbst ausstellen. Wir würden wenigstensbehaupten, jedes neue Strafgesetz ist ein Armuthszeugniss für den sittlichen Zustand derGesellschaft: die staatliche Missbilligung ist die künstlich organisirte Missbilligung derThat, welche nur da nöthig ist, wo die unwillkürliche Missbilligung durch die nicht orga-nisirte Gesellschaft nicht ausreicht.37 Zu beachten ist aber auch hier die Tradition oderGeschichte; denn wenn ein absolutes Gerechtigkeitsprincip ebenso wie bei den Strafmit-teln auch für die Auswahl der mit Strafe zu belegenden Handlungen nicht besteht, sobesteht doch ein relatives Gerechtigkeitsprincip in der Art, dass Handlungen, welchedieselben Momente unsittlicher und gemeinschädlicher Bedeutung besitzen, nicht ver-schieden behandelt werden dürfen, und dass der Staat nicht einen Principienbruch mitder Geschichte des Volkes in Ansehung der Auswahl der strafbaren Handlungen bege-he. Bei einem derartigen Bruche würde die Ansicht erweckt werden, dass die Strafjustiznicht der unabweislichen Nothwendigkeit, sondern der Willkür und möglicher Weise demIrrthum folge, dass sie eben nicht der Ausdruck sittlicher Missbilligung sei; denn die sitt-lichen Anschauungen modificiren sich nur sehr langsam. Allerdings gibt es auch verkehrteTraditionen, wie es verkehrte Bildungen im physischen Dasein gibt. Aber man erkenntsie, wenn man längere Perioden des Volkslebens, der Geschichte ins Auge fasst, oderunbefangen genug ist, in den belehrenden Spiegel des Rechtslebens anderer Völker hin-einzusehen. Jndess kann die Bedeutung einer Handlung auch nach Zeit und Umständeneine verschiedene sein. Ebenso wie bei Individuen in vorgerückteren Jahren haben bei

34Dieser Gesichtspunkt findet selbstverständlich auch Anwendung auf Strafmittel und Strafmass. Vgl.neuerdings Wahlberg: Criminalistische und national-ökonomische Gesichtspunkte mit Rücksicht aufdas deutsche Reichsstrafrecht, 1872, S. 96 ff.

35Der Zweck im Rechte, I. S. 477, vgl. S. 362.36Beiträge zur Kritik der Feuerbach’schen Theorie, 1802, S. 103.37v. Ihering, a. a. 0. S. 478, 479, führt treffend aus, dass z. B. die Unreellität im Geschäftsverkehre

derartige Dimensionen annehmen könne, dass dagegen mit den Mitteln des Civilrechts ohne schwereSchädigung des Gemeinwesens nicht mehr anzukämpfen sei.

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Völkern mit alter und fester Cultur z. B. ganz allgemeine Theorien recht wenig Einflussauf das praktische, schon unter festeren als unverbrüchlich betrachteten Detailregeln ste-hende Handeln. Verkehrte philosophische Theorien, Pessimismus

Seite 334oder extreme religiöse Grundsätze, z. B. die Doctrin von der Unfehlbarkeit des Pabstes,sind daher heut zu Tage bei Weitem nicht so gefährlich, als sie es vor einigen Jahrhunder-ten oder im Mittelalter gewesen wären. Bestrafungen, die nicht einen gewissen Anschlussan die Tradition besitzen, haben etwas Gehässiges, auch wenn sie von dem Geiste wohl-meinender Sittenbesserung dictirt sein sollten — ganz einfach, weil das Volk die Strafedoch immer nur als das Echo seiner eigenen Missbilligung betrachtet. Sie erscheinen alsActe der Willkür und untergraben die Wirksamkeit der Strafjustiz in anderen Fällen.Allzu vieles Strafen macht unempfindlich, und man kann sich nicht einbilden, dass manjede Roheit oder Gemeinheit, jede kleine Rechtsverletzung durch Strafen hintanzulialtenden Beruf habe. Wie der Einzelne so muss auch der Staat in dem Bewusstsein, dass denndoch die Welt noch nicht sogleich untergeht oder dass dafür gesorgt ist, dass die Bäumenicht in den Himmel wachsen, in dem Vertrauen der eigenen sicheren Stellung, im Ver-trauen auf die gleichsam natürlich wirkende Kraft der sittlichen Anschauungen, manchekleine Unbill ertragen lernen. Wo es fortwährend Strafgesetze regnet, wo im Publicumetwa gar bei jeder Gelegenheit ein allgemeines Geschrei sich erhebt, durch Strafgesetzezu helfen oder die Strafgesetze zu schärfen, da steht es mit der Freiheit nicht zum Bes-ten — denn jedes Strafgesetz ist ein recht empfindlicher Eingriff in die Freiheit, dessenConsequenzen auch Denen recht fühlbar werden können, die am lautesten ihn verlangthaben — da kann man an den Taciteischen Satz denken: „Pessima respublica, plurimaeleges".38

Wenn nach dem oben Dargelegten die mannigfachsten Gründe der Zweckmässigkeites sind, welche die Auswahl der staatlich strafbaren Handlungen bestimmen, so tretenZweckmässigkeit und Gerechtigkeit doch hier in keinen feindlichen Gegensatz, vielmehrist vom Standpunkte des

Seite 335Staates aus die Zweckmässigkeit zugleich die Gerechtigkeit; nur darf nicht eine Hand-lung1 bestraft werden, die das sittliche Bewusstsein des Volkes nicht missbilligt. Prak-tisch genommen ist also der Standpunkt, den Rossi und Mittermaier eingenommen ha-ben, indem sie die absolute Gerechtigkeit durch Gründe der Zweckmässigkeit beschränkt

38Thibaut, Beiträge zur Kritik der Feuerbachschen Theorie, sagt S. 100, der Regent stehe nicht sohoch oder sei nicht in dem Sinne Stellvertreter Gottes auf Erden in der Art, dass er gegen die Mei-nung seiner Unterthanen Strafgesetze geben dürfe. Gegen die herrschende Meinung strafen, sei nichtWohlthat, sondern eine der Nation zugefügte Strafe. Von diesem Falle kann nun in constitutionellenStaaten allerdings keine Rede mehr sein, wohl aber können augenblickliche Stimmungen und Aufre-gungen benutzt werden, um gegen den Geist der Geschichte oder des gesammten Rechtssystems derVolksvertretung die Zustimmung zu verkehrten Strafgesetzen abzupressen. Ein rühmliches Beispielder umgekehrten Art — des Widerstandes gegen eine augenblickliche Stimmung - hat der niederlän-dische Justizminister Moddermann am 26. October 1880 gegeben, als er in längerer Rede die Gründefür Wiedereinführung der Todesstrafe zu widerlegen unternahm. Vgl. die Uebersetzung dieser Redein der Münchener kritischen Vierteljahrsschr. für Gesetzgebung u. Rechtswissenschaft (1881), Bd. 23,S. 96 ff.

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wissen wollten, der richtige und deshalb theilen ihn auch thatsächlich die Motive der le-gislativen Vorlagen und die legislativen Versammlungen. Aber theoretisch ist es falschabsolute Gerechtigkeit oder Vergeltung und Zweckmässigkeit in solcher Weise mit einan-der verschweissen zu wollen. Absolute Gerechtigkeit übt der Staat nicht aus;39 er übt nurrelative, und diese ist vorhanden, wenn er die verschiedenen Fälle, in denen die schwer-wiegende Massregel der öffentlich organisirten Missbilligung eintreten soll oder nichteintreten soll, nach denselben sieh gleichbleibenden Zweckmässigkeitsgründen abgrenzt.Es ist nicht ein Abbruch an der Gerechtigkeit aus Zweckmässigkeitsgründen, sondern ge-rade und genau Gerechtigkeit, wenn der Staat den Versuch in geringerem Masse straft,als die Vollendung, wenn er überhaupt dem Erfolge einen so weitgehenden Einfluss aufdie Straffrage einräumt, wenn er eine schändliche Verführung nicht, wohl aber eine mög-licher Weise moralisch nicht so schändliche Gewalthat bestraft, wenn manche raffinirteUnredlichkeit im Geschäftsverkehr frei ausgeht, während Wer eine Wurst aus dem Ladenentwendet, dem Strafrichter anheimfällt. Die Sache verhält sich einfach

Seite 336so, dass der Staat (das Recht) die Stärke der rechts- oder moralwidrigen Willensstim-mung in gewissem Umfange an dem äusseren Erfolge misst. Dasselbe Princip, welchesden Willen, der nicht irgend äusserlich bestimmt erkennbar als Thatbestrebung zu Tagegetreten ist, ignoriren lässt (Cogitationis poenam nemo patitur!), heisst schliesslich auchden Versuch milder als die vollendete That bestrafen, und die Rücksicht auf eine sichere,die Willkür und rein individuelle Meinung ausschliessende Anwendung führt auch da-zu, eine etwas gröbere moralische Richtschnur anzuwenden, die zu wenig biegsam ist,als dass sie manchen Verhältnissen, die der Einzelne noch sicher glaubt beurtheilen zukönnen, angelegt werden könnte. Die Moral, die der Staat im Strafrechte handhabt, isteine etwas grobdräthige, wenn auch ihre allmählige Verfeinerung im Laufe der Zeit nichtausgeschlossen, vielmehr, wenn wir z. B. den Gegensatz des älteren deutschen und desheutigen Strafrechts vergleichen, entschieden eingetreten ist. Nur entwickelt sich mit derZwangsmoral des Staats auch die Moral im engeren Sinne feiner, und so bleibt auf un-übersehbare Zeiten hin die Differenz zwischen beiden bestehen, und über die Anwendung

39Ich kann daher dem neuerdings von Hugo Meyer (Die Gerechtigkeit im Strafrecht, Gerichtssaal 1881[Bd. 33], S. 101—153 u. S. 161—188, auch als Specialschrift erschienen) gemachten Versuche, Ge-rechtigkeit und Nützlichkeit oder Zweckmässigkeit im Strafrechte zu trennen, nicht beitreten. Es istdas nur eine Folge davon, dass Hugo Meyer die Strafe als einen Act der Vergeltung auffaast. Dieconsequente Anwendung des von Meyer angewendeten Scheidungsprocesses würde zeigen, dass fürdie Gerechtigkeit schliesslich so gut wie nichts übrig bleibt (Selbst die Gerechtigkeit des „Cogitationispoenam nemo patitur"Hesse sich angreifen!) oder dass die von Meyer proponirten gerechten Bestim-mungen eben so sehr auf Zweckmässigkeitsgründen beruhen, als diejenigen, welche er als Zweckmäs-sigkeitsabgrenzungen bezeichnet. Der praktische Erfolg der Ansicht Hugo Meyer’s würde übrigensdie Tendenz sein, das Strafrecht auf eine Menge jetzt noch strafloser Handlungen auszudehnen. Denndie Gerechtigkeit — d. h. wenn man genau zusieht nach Hugo Meyer die innere Moralwidrigkeit— wird auf den ersten Anblick bei vielen der jetzt straflosen oder mit geringerer Strafe belegtenFällen dieselbe sein, als bei den jetzt bestraften oder mit höheren Strafen belegten Handlungen: eskann eben ein reiner Zufall sein, dass aus der unternommenen Versuchshandlung nicht auch der dieVollendung darstellende Erfolg sich entwickelt u. s. w. Diese bedenkliche Tendenz tritt denn auch indem Aufsatze Hugo Meyer’s deutlich hervor. — Vgl. gegen Hugo Meyer auch Merkel, Zeitschrift f.die ges. Strafrechtswissenschaft, 1881, S. 556—558.

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der Principien auf einzelne Detailfragen der Grenzbestimmungen kann man streiten undzweifeln.Eben weil nun die Moral des Staates in der Gestaltung und Handhabung des Straf-

rechts eine etwas „grobdräthigeïst (die denn freilich auch den Vorzug hat, dass mauetwas sicherer sich auf sie verlassen kann, als auf die feinere moralische Beurtheilung,die der Einzelne vorzunehmen im Stande ist oder im Stande zu sein glaubt) und weiles ja auch möglich ist, dass der Staat, der auch nicht unfehlbar ist, einmal eine ganzverkehrte Strafbestimmung erlässt, kann es vorkommen, dass das sittliche Bewusstseindes Einzelnen, möglicher Weise selbst einer ganzen Bevölkerungsmasse mit einem Straf-gesetze in Collision kommt,40 ist es möglich, dass eine den Strafgesetzen widerstreitendeHandlung möglicher Weise nach der freien, durch positive Norm nicht beengten morali-schen Beurtheilung erlaubt oder gar geboten erscheint.41 Indess

Seite 337ist dies nur eine Ausnahme, die auf die allgemeine Unvollkommenheit der menschli-chen Einrichtungen zurückzuführen und keineswegs geeignet ist, gegen die Ansicht alsEinwand benutzt zu werden, welche in dem Verbrechen eine unsittliche Handlung er-blickt. Es ist übrigens genau betrachtet ganz gleich, ob wir sagen und gesagt haben:das Verbrechen ist eine der Moral widersprechende Handlung, welche der Staat, weilsie ihm besonders schwerwiegend (oder nachtheilig) erscheint für das Gemeinwohl, mit

40Aber freilich werden solche Collisionen häufig auf Täuschung beruhen: der Egoismus, der sich derallgemeinen Moral nicht unterwerfen will, schmeichelt sich damit, dass seine Stellung, sein Fall einerganz exceptionellen Beurtheilung bedürfen solle.

41Damit und mit dem oben (S. 314 Anm.) Gesagten erledigt sich der Einwand Hugo Meyer’s, Lehrb.§.4, dass man von keiner Handlung im Voraus sagen könne, sie sei moralwidrig. Ich meine, wenn manes nicht im Voraus sagen könnte, so könnte man es auch nicht nachher: der Grund, weshalb maneine Beurtheilung nach den Grundsätzen der Moral unterlassen müsste, kann doch nur darin liegen,dass man die genaueren Umstände der That, objective und subjective, nicht kennt. Es läsat eich nunnicht einsehen, weshalb nicht die Phantasie im Stande sein sollte, sich das Bild einer Handlung imVoraus genau genügend auszumalen. Kommen nicht in Romanen z. B. viele Handlungen vor, die denLeser sittlich empören? Die Moral ist gar nicht so individuell, wie Hugo Meyer annimmt, sonst würdees mit dem Zusammenleben der Menschen und ihrer Fortentwicklung übel bestellt sein. Auch kannman fragen, da Hugo Meyer doch die Ableitung des Strafrechts lediglich aus der Zweckmässigkeitverwirft, worauf denn seine vergeltende Gerechtigkeit anders als auf der Moral beruhen solle? —Vielleicht (?) ist der von Hugo Meyer citirte geistreiche Aufsatz von Rümelin: Ueber die Idee derGerechtigkeit (Rümelin: Reden und Aufsätze, II., 1881, S. 176—202) auf H. Meyer’s Ansicht vonEinfluss gewesen. Hier wird nämlich die Idee der Vergeltung dem Strafrechte zum Grunde gelegt,dieselbe aber eigenthümlicher Weise nicht aus dem Postulat sittlicher Vergeltung, sondern aus derIdee der Gleichheit abgeleitet, wonach denn die strengste oder möglichst strenge Talion die Seeledes Strafrechts bilden würde. Dieses Princip der Gerechtigkeit Hesse sich allerdings von der Moralvollständig trennen, wie dies auch Rümelin, S. 192, sagt („Verzeihung erlittenen Unrechts kann vonder Moral und Religion empfohlen, aber niemals kann ein Princip rechtliche Ordnung werden, was dieFrevler zu Herren der Gesellschaft machen müsste".) Es ist aber Rümelin’s Princip schon historischdurchaus unhaltbar. Die Talion ist nie das Grundprincip des Strafrechts gewesen, sondern nur einmoderirendes Princip. Es würde sich ausserdem noch fragen, ob diese Idee der Gleichheit, welchegenau betrachtet, nur eine Idee der Bosheit wäre, überhaupt Anspruch auf Conservirung hätte. In demangeführten Satze Rümelin’s wird übrigens nebenbei unbemerkt schon die Idee der Abschreckung derder Vergeltung untergeschoben, da die Strafe, das Nichtvergeben ja mit der Bemerkung gerechtfertigtwird, dass sonst die Frevler Herren der Gesellschaft werden würden.

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einer besonderen Missbilligung zu belegen sich veranlasst findet, oder man mit v. Ihe-ring42 sagt: „Verbrechen ist die von Seiten der Gesetzgebung constatirte Gefährdungder Lebensbedingungen der Gesellschaftöder mit Hugo Meyer: Verbrechen sind die vomStaate mit Strafe bedrohten Handlungen, welche den Bedingungen des Gemeinwesensund seiner Portentwicklung widersprechen. Die scheinbare Differenz beruht nur auf demvon der heutigen Philosophie längst widerlegten, aber bei den Juristen noch vielfachfortwuchernden Irrthume, als ob die Moral etwas rein Individuelles wäre, und Jeder seinGewissen sich selbst machte, während Moral und Gewissen doch die Producte der Jahr-tausende alten

Seite 338Entwicklung des Menschengeschlechts sind, Producte, welche, ebenso wie das Recht, zuverschiedenen Zeiten verschiedene Entwicklungsphasen zeigen. Die der Moral widerspre-chende Handlung ist eben keine andere als die, welche nach der bei dem betreffendenVolke zur Zeit herrschenden Ansicht den endlichen Zielen der Menschheit, ihrer Fort-entwicklung, ihren Lebensbedingungen mehr oder weniger nicht entspricht oder wider-spricht.§. 109. Hiernach ist denn auch der Unterschied des Civilunrechts und des strafbaren

Unrechts zu bestimmen. Das Civilunrecht stellt dar einen dem Rechte widersprechendenZustand ohne Rücksicht darauf, ob derselbe seinen Grund in einer der Moral wider-sprechenden Handlung hat oder nicht; das strafbare Unrecht ist eben eine besondersqualificirte der Moral widersprechende Handlung, die meistens, indess nicht nothwendig,auch als Verletzung oder doch als Gefährdung 43 eines subjectiven Rechtes erscheintDie Grenze zwischen dem civilen und dem strafbaren Unrechte ist, da der Begriff desVerbrechens a priori dem Vorstehenden nach für ein bestimmtes positives Recht und füreine bestimmte Zeitperiode nicht vollkommen bestimmbar ist, selbstverständlich eben-falls nicht weiter a priori zu bestimmen. Es ist insbesondere unrichtig, den Unterschiedmit Hegel dahin zu fassen, dass das straf bare Unrecht das absichtliche, das Civilunrechtdas nicht absicht- oder schuldlose Unrecht sei. Das positive Recht zeigt, dass es culposes

42Der Zweck im Rechte, I. S. 480, 481.43Die Verwendbarkeit des Begriffs der „Gefahr"wird allem positiven Recht zum Trotz geleugnet von

Ed. Hertz: Das Unrecht und seine Formen, I. (1880) S. 72ff. Allein die Argumentation Hertz’s istverfehlt; sie beruht auf einer Verwechslung des absoluten Standpunktes mit dem für das Strafrechtallein möglichen und praktischen Standpunkte des beschränkten menschlichen Wissens. Absolut be-trachtet gibt es (wenn man zugleich die Freiheit des menschlichen Willens leugnet, die doch nochdie Nothwendigkeit durchkreuzen konnte) keine Gefahr, sondern nur Nothwendigkeit. Wüssten wirden Zusammenhang aller Dinge in jedem Augenblick, so würde es eben so wenig culpose Delicte,wie einen Versuch des Verbrechens geben können. Aber vom praktisch-menschlichen Standpunkteaus werden wir nie den Gesichtspunkt der „Regelmässigkeit der Erscheinungenäufgeben. In dieserallerdings vom abstracten Standpunkte aus als Ungenauigkeit zu bezeichnenden Erscheinung unseresDenkens beruht auch die Möglichkeit allgemeiner Begriffe, welche die Bedingung jeden Fortschrittsist. Die Thiere denken, wenn man jenen abstracten Massstab anlegt, genauer als wir, indem sie we-sentlich nur Individual-Erscheinungen kennen, machen darum aber auch keinen Fortschritt. Genauerkann dies gegen Hertz wie gegen Binding freilich erst unten bei der Lehre vom Causalzusammenhangedargelegt werden. Hertz’s Polemik gegen Binding, der von „Regelmässigkeit"nichts wissen will, dafüraber vom „Gleichgewicht der Bedingungen einer Erscheinung, eines Erfolgesßpricht, ist allerdingsvollkommen richtig.

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strafbares Unrecht, und dass es andererseits sehr absichtlich zugefügtes Unrecht gibt,welches

Seite 339gleichwohl nur Civilunrecht bleibt, wie wenn Jemand offen und mit bewusster Wider-rechtlichkeit, aber ohne weitere Gewaltthätigkeit gegen Personen oder Sachen, ein einemAnderen gehöriges Grundstück occupirt, wenn Jemand frech sich weigert eine zweifellosübernommene Schuldverbindlichkeit zu erfüllen, und es ist unzulässig darin eine Verir-rung des Rechts zu erblicken oder es etwa als einen wünschenswerthen Rechtszustandzu bezeichnen, in welchem die Culpa völlig aus dem Gebiete des Strafrechts gestrichen,dagegen jedes absichtliche Unrecht der Reaction der Strafjustiz zugewiesen würde. DieBedeutung des individuellen Willensactes für das Gemeinwesen ist nicht lediglich danachzu bemessen, ob er direct causal wird für eine Handlung, einen Erfolg, welche oder wel-cher vom Rechte reprobirt wird, sondern auch mit und zwar sehr wesentlich mit nach denRechten und Interessen, welche sie objectiv verletzt oder gefährdet. Nicht mit Unrechtspricht man ja auch von „kleinen Bosheiten". „Unbedeutendünd „böswilligßind nichtBegriffe, die sich in concreto ausschliessen. Wenn aber Etwas objectiv ganz unbedeu-tend oder recht ungefährlich ist, so wäre dagegen den schweren und nationalökonomischkostspieligen Apparat der Strafjustiz in Bewegung zu setzen, nach dem eben über dieBestimmung der strafbaren Handlungen durch den Staat Gesagten, verkehrt. Anderer-seits müssen da, wo der Einzelne besonders wichtigen Rechten und Interessen Andereroder des Gemeinwesens gegenübersteht, diese auch nach rein moralischer Betrachtungeine Mahnung für ihn sein, selbst nicht unabsichtlich solche Rechte und Interessen zuverletzen, also vorsichtig zu sein. So rechtfertigt sich in der That in gewissem Umfangeauch die Bestrafung culposer Verletzungen. Allerdings nur in gewissem, beschränktemUmfange; einerseits müssen es besonders wichtige Rechte und Interessen sein, um diees sich handelt, und andererseits müssen diese Rechte und Interessen auch solche sein,deren Gefährdung in concreto leicht erkennbar ist. So sind z. B. die allgemeinen Staats-interessen entschieden wichtig; aber ihre wirkliche Gefährdung ist nicht leicht erkennbar,oder es können doch darüber sehr verschiedene Ansichten im concreten Falle aufgestelltwerden; daher würde das Delict eines culposen Hoch-oder Staatsverraths ein juristischesMonstrum sein, während man es sehr natürlich und gerecht findet, die culpose Tödtungeines Menschen zu bestrafen. Doch kann man der Hegel’schen Ansicht zugestehen, dassdie absichtlichen Handlungen, diejenigen, bei denen auch der rechtlich in Betracht kom-mende Erfolg gewollt ist, den wichtigsten Theil des strafbaren Unrechts ausmachen, undim Civilrechte tritt die Frage der Schuld zurück. Das Civilrecht ist das Recht als äussereOrdnung, das Strafrecht das Recht als Moralität. Ebenso aber wie das Strafrecht nichtan den Willen allein sich hält, sondern auch mitberücksichtigt den äusseren Eindruckder That, so wird in.

Seite 340gewissem Umfange das Civilrecht mit dem Schuldlosen oft glimpflicher verfahren, alsmit Demjenigen, dem auch eine Schuld oder gar ein Dolus nachgewiesen werden kann.Die Strafjustiz muss den schuldhaften Willen zum Grunde legen, die Civiljustiz braucht

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es nicht.44

Noch weniger haltbar als Hegel’s Unterscheidungsmerkmal scheint dasjenige, welchesHälschner45 vertritt. Nach Hälschner soll das Verbrechen Angriff auf die allgemeineRechtsordnung, principielle Verletzung des Rechts, das Civilunrecht nur Verletzung einesconcreten Rechts bei principieller Anerkennung des Rechts sein.46 Allein diese Auffassungist vom Standpunkte des Handelnden aus unzweifelhaft in den bei weitem meisten Fällenunrichtig. Der Dieb negirt, indem er stiehlt, nicht das Eigentumsrecht schlechthin;47 imGegentheil er will Eigenthümer sein oder doch den Eigenthümer factisch vorstellen; waser von seinem Standpunkte aus negirt, ist nur das concrete Recht des Bestohlenen. Frei-lich betrachtet das objective Recht den Diebstahl als principiell mit der Eigenthumsord-nung unvereinbar. Indess trifft genau betrachtet dies auch bei anderen Eigentumsverlet-zungen zu, die nicht bestraft werden. Hälschner hat früher diesen angeblich principiellenGegensatz des Verbrecherwillens und nicht principiellen Gegensatz des Civilunrechts ge-gen das Recht in anderer Weise gefasst als neuerdings.48 Früher legte er den Nachdruckdarauf, dass das Civilunrecht nur verzichtbare Vermögensrechte treffe, und nur dannzum strafbaren Unrecht werde, wenn der Wille des Verletzten sich gegen die Handlungerklärt habe, später aber darauf, dass der Wille des Unrechtthuenden beim Civilunrechtkein dauernd dem Rechte entgegengesetzter sei, Durch diese Nuancirung wird der ansich nebelhafte Unterschied aber nicht richtiger. Das Civilunrecht wird Unrecht nichterst durch eine Erklärung des Verletzten, wie Binding49 richtig ausgeführt hat, und dieAnnahme eines

Seite 341dauernden Gegensatzes des Verbrechers gegen das Recht ist nicht besser als die falschePräsumtion der Grolmann’schen Specialpräventionstheorie, und wie der von Hälschnerangenommene Unterschied einerseits mit dem positiven Rechte nicht übereinstimmt, soist er auch andererseits nicht geeignet, irgend praktisch verwerthet zu werden. Man den-ke sich z. B., dass eine gesetzgebende Versammlung nach Hälschner’s Theorie irgend eineconcrete Frage der Gesetzgebung, z. B. die Frage der Bestrafung des Wuchers, des Con-tractbruches entscheiden wollte. Sie würde sich in der That gar nichts Bestimmtes dabeizu denken vermögen. Praktisch besser verwerthbar ist die Wendung, welche Hälschnerseiner Ansicht nebenbei auch dahin gibt, dass das Civilunrecht ein nur negatives Verhal-ten, das Verbrechen einen positiven Angriff gegen das Recht darstelle. Im genauen und

44Vgl. Bar: Grundlagen des Strafrechts, S. 44.45„Die Lehre vom Unrechte und seinen verschiedenen Formen", im Gerichtssaal 1869, S. 1—36, S. 81—114

(auch als Specialschrift erschienen). Vgl. dagegen auch Merkel, Zeitschr. 1881, S. 586ff.46Stahl: Die Philosophie des Rechts, II. 2. §. 185, hatte bereits eine ähnliche Ansicht aufgestellt: Hand-

lungen, welche die Rechtsordnung verletzen, sind nur dann Verbrechen, wenn sie der Herrschaft unddem Angehen des Staats Trotz bieten. Doch ist Stahl’s Auffassung realistischer und liefert bessergreifbare Resultate. In der von ihm betonten positiven Natur des Verbrechens, in der Behauptung,dass dasselbe schon in thesi (also unter allen Umständen) sich als rechtswidrig manifestiren müsse,liegt der Satz, dass das Verbrechen sich leicht unterscheiden lassen müsse von den nicht strafbarenHandlungen.

47Vgl. auch das gemeine deutsche Strafrecht I. S. 33 ff.48Gerichtssaal 1876, S. 401 ff., besonders S. 417.49Normen I. S. 154 ff.

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strengen Sinne genommen ist dieser Satz freilich auch unrichtig; denn blosse Unthätigkeitkann sehr wohl zum Verbrechen werden. Allein in dem Sinne ist er verwendbar, dass eineHandlung, die strafbar sein soll, sich durch bestimmte, im Ganzen leicht feststellbare,greifbare Merkmale unterscheiden muss von denjenigen Handlungen, welche das Gesetzstraffrei lassen muss; dass sie also gewissermassen „positiv"hervortreten muss gegen dieerlaubten Handlungen des alltäglichen Lebens. So aufgefasst leitet dies Kriterium hin-über zu der allein zweckentsprechenden realistischen Betrachtung,50 welche Hälschner51

mit den Worten ablehnt, dass sie zu wenig festen und greifbaren Resultaten führe.Einen richtigen Gesichtspunkt berührte entschieden Merkel,52 wenn er die Strafe nur

da für nothwendig erklärte, wo der Civilzwang zur Repression des Unrechts nicht aus-reiche. Indess die Grundlage, von welcher er ausgieng, war, wie oben bereits ausgeführtwurde, insofern •eine verfehlte, als er Straf- und Civilzwang für principiell gleichartig,und nur dem Grade oder der Intensität nach verschieden erklärte. Dem gegenüber warBinding53 im Rechte mit dem Hinweise, dass das positive Recht Schadensersatz undStrafe nach total differenten Grundsätzen behandle: die Strafe will den Schuldigen undnur diesen treffen, der Schadensersatz dem Beschädigten äusserlich Das wiedergeben,was er eingebüsst hat. Nur eine verkünstelte Beweisführung kann behaupten, dass dieSchadensersatzpflicht immer nur eine wirklich schuldige Person, nie eine andere treffen

Seite 342solle. Das sog. Haftpflichtgesetz des deutschen Reichs vom 7. Juni 1871 wäre nach dieserTheorie ja ein völliger Widersinn, und im englischen Rechte z. B. ist der Gesichtspunktder Schuld für Haftung von Unternehmern in sehr weitem Sinne (z. B. des Herrn fürden Dienstboten u. s. w.) jedenfalls erst in zweiter Linie massgebend. Wie reimt es sichauch, um nur Eins noch hervorzuheben, mit Merkel’s Theorie, dass die Strafe die Erbennicht, wohl aber der Schadensersatz dieselben trifft?Gleichwohl darf man aus dem Allen nicht, wie von Binding geschehen, den Schluss

ziehen, dass die Grenze zwischen Civilunrecht und strafbarem Unrecht eine rein posi-tive sei, es bestimmte Principien oder auch nur Gesichtspunkte für diese Abgrenzungnicht gebe, vielmehr in jedem Unrechte das Delictsmoment schon enthalten sei. Aller-dings trägt jedes auch das geringste nur einen Civilzwang nach sich ziehende schuldhafteUnrecht ein Moment an sich, welches dasselbe möglicher Weise zum strafbaren Unrechtqualificiren könnte, aber oft auch nur eins, und sachlich hat Merkel insofern Recht, alsdie Pflicht des Schadensersatzes im gegebenen Falle ebenso wirken54 kann für die Re-pression des Unrechts, wie die Strafe. Der Gesetzgeber, der jedes Unrecht mit Strafebelegen wollte, würde damit der Menschheit und seiner eigenen Autorität einen üblen50Bar: Grundlagen des Strafrechts, S. 50ff. Was die Beachtung dieser realen Entscheidungsgründe für

Recht und Gesetzgebung betrifft, befinde ich mich in der für mich erfreulichen Uebereinstimmungmit den öfter citirten neuen Aufsätzen Hugo Meyer’s und Merkel’s. Vgl. namentlich die Anm. H.Meyer’s im Gerichtssaal Bd. 33, S. 105.

51Das gemeine deutsche Strafrecht, S. 15.52Criminalistische Abhandlungen I., S. 57 ff.53Normen I., S. 166 ff.54Es ist doch gar nicht zu leugnen, dass eine strenge Schadensersatzpflicht z. B. eine abschreckende,

erziehende Wirkung ausüben kann. Vgl. Zink: Die Ermittlung des Sachverhalts im französischenCivilprocesse I. 18S0, S. 591 ff.; Bar: Recht und Beweis im Civilprocesse, 1867, S. 241 ff.

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Dienst leisten. Eine derartige Freiheit und Omnipotenz besitzt der Gesetzgeber nicht; womit gelinderen Mitteln präsurativ auszukommen ist, da begeht der Gesetzgeber schweresUnrecht, wenn er Strafe anwendet. Deshalb ist es vollkommen richtig, dass da, wo derCivilzwang ausreicht, Strafe keinen Sinn hat. Dies ist aber auch der einzige Punkt, wo esvon unserem Standpunkte aus nöthig ist, auf das Verhältniss des Civilunrechts und desstrafbaren Unrechts einzugehen. Wir haben die Strafe gar nicht aus dem Rechte, sondernunmittelbar aus dem Moralprincipe abgeleitet. Das Problem, wie das Rechtsprincip balddie Gestalt der Strafe, bald die des Civilzwangs annehmen könne, existirt für uns garnicht. Die Sache liegt einfach so, dass wegen der Existenz einer sicheren Civiljustiz man-che rechtswidrige und deshalb auch moralwidrige Handlungen einen wenig gefährlichenCharakter annehmen, und daraus erklärt es sich denn auch, dass auf früheren Stufen derRechtsentwicklung manche Handlungen und speciell auch Unterlassungen Strafe nachsich ziehen, bei denen man später mit dem einfachen Civilzwange sich begnügt; dasist z. B. nach der deutschen Rechtsentwicklung bei dem einfachen Contractsbruche derFall.55 „Wenn die Idee des

Seite 343Rechts wächst, nehmen die Strafen ab; der Aufwand von Strafmitteln steht im um-gekehrten Verhältnisse zu der Vollkommenheit der Rechtsordnung und der Reife derVölker.56 Der Zwang der Civiljustiz aber kann deshalb niemals allgemein — wenn auchvielleicht zu verschiedenen Zeiten bei verschiedenen Fällen — als sittliche Reprobationausreichen, weil er allerdings, wie wir sehen, auch stattfindet hei vollkommen schuldloser,rein objectiver Verletzung des Rechts. Man hat dieser mit dem gewöhnlichen Sprachge-brauche harmonirenden Annahme57 einer möglicher Weise schuldlosen Verletzung desRechts entgegengehalten, dass dann auch ein Civilzwang gegen die vernunftlose Naturstattfinden müsse. Drastisch drückt Merkel dies aus: bei solcher Annahme könne nurdas Factum der Insolvenz uns hindern, auch die Mäuse, die unser Feld verwüsten, fürersatzpflichtig zu erklären. Allein gegen die Mäuse brauchen wir deshalb keine Civiljus-tiz, weil dieselben uns gegenüber nicht Rechtssubjecte sind, und auch nicht davon dieRede ist, dass sie durch den Schutz eines Rechtssubjects gedeckt seien. Gegen die Mäusedes Feldes verfolgen, vertheidigen wir unser Recht daher ohne Richterspruch mit allenuns passend erscheinenden Mitteln. Haben wir es dagegen zu thun mit einem wenn auchwillenlosen Rechtssubject, z. B. mit einem Zurechnungsunfähigen, so ist es die Achtungvor diesem Subjecte des Rechts oder anders ausgedrückt die Möglichkeit einer rechts-widrigen Schädigung des Subjects (beziehungsweise seiner Rechtssphäre) bei formloserRechtsverfolgung, welche das Verbot unbeschränkter Selbsthülfe begründet. Den that-sächlichen Verhältnissen entspricht es doch, wenn man Wesen und Zweck der Civiljustizeinfach in die Entwirrung und Auseinandersetzung angeblich oder wirklich in einandergerathener Privatrechtssphären zweier oder mehrerer Rechtssubjecte setzt. Das Schuld-moment ist zwar für das Privatrecht sehr erheblich, aber es spielt in demselben dochnur eine secundäre Rolle. Nur verkünstelte und deshalb verfehlte Beweisführungen wer-

55Vgl. E. Löning: Der Vertragsbruch und seine Rechtsfolgen, Bd. 1.56v. Ihering: Das Schuldmoment im römischen Privatrechte, S. 67.57Für dieselbe erklärt sich mit v. Ihering, a. a. 0. S. 5, 6, auch Thon: Rechtsnorm S. 84 ff.

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den es möglich erscheinen lassen, selbst im römischen Rechte überall da, wo von einerSchadensersatzpflicht die Rede ist, diese auf eine Schuld zu gründen. Noch weit wenigertrifft dies in anderen positiven Rechten, z. B. im französischen oder gar im 1876, und W.Sickel: Die Bestrafung des Vertragsbruchs und analoger Rechtsverletzungen in Deutsch-land, 1876. Diese Schriftsteller scheinen allerdings mit der oft vorkommenden Vorliebeder Autoren für den Gegenstand ihrer Forschungen eine Wiedereinführung derartigerRechtssätze für wünschenswerth zu erachten.

Seite 344englischen Rechte zu.58 Es ist wenigstens keine absolute Unbilligkeit, wenn das Hechtden Zurechnungsunfähigen vermögensrechtlich haften lässt für den Schaden, den er kör-perlich anrichtet59 und das ältere deutsche Recht60 hat diese Haftung bekanntlich jaauch eintreten lassen. Eben weil das Schuldmoment aber in der Civiljustiz zurücktritt,ist letztere auch nicht geeignet, den nothwendig auch moralischen Charakter des Rech-tes für sich allein genügend zu wahren. Das moralisch indifferente Verhalten wird imGrossen und Ganzen, wenn auch immerhin wichtige Modificationen im Einzelnen z. B.durch die bona oder mala fides bedingt sein mögen, ebenso getroffen wie das der Moralwidersprechende. Der unbefugte Besitzer muss die Sache, wenn er z. B. noch alle Früchtemit in Händen hat, ebenso herausgeben, er mag bona oder mala fide besitzen. Es wirdim Civilzwange nicht darauf das Augenmerk gerichtet, das Moralwidrige zu treffen, zureprobiren; vielmehr liegt die Sache so, dass in erster Linie das objectiv Rechtswidrige,seine Quelle sei, welche sie wolle, beseitigt werden soll, und dass vielmehr erst in zweiterLinie der Civilzwang sich Demjenigen gegenüber mildert, der nicht moralwidrig sich ver-hält, z. B. bona fide eine fremde Sache erworben hat. Die Reaction des Civilrechts gegendas schuldhafte Unrecht ist also eine in vielen Fällen nur schwer erkennbare, gleichsameine mehr verschleierte.Die Schwierigkeit endlich, dass an denselben Thatbestand, z. B. an eine Körperverlet-

zung, Sachbeschädigung sich unter Umständen sowohl civilrechtliche als strafrechtlicheFolgen knüpfen können, während es andererseits selbst strafbares Unrecht gibt, welcheskeine civilrechtlichen Folgen nach sich zieht — z. B. eine strafbare Handlung, deren ci-vilrechtliche Folgen durch den Satz „Volenti non fit injuriaäusgeschlossen sein könnten— diese Schwierigkeit existirt für unsere Auffassung gar nicht. Die strafbare Handlungkommt nach unserer Auffassung principiell nicht als eine subjectives Recht verletzende,sondern als eine moralwidrige in Betracht; eine Beziehung auf das subjective Recht er-hält sie nur dadurch, dass freilich das Gemeinwesen meistens nur diejenigen Handlungenmit sittlicher Reprobation verfolgt oder belegt, welche aus dem

Seite 34558Vgl. darüber Bar in Grünhut’s Zeitschrift, 1877, S. 74ff. und z. B. Code civil 1385: „Le propriétaire

d’ un animal ou celui qui s’en sert pendant qu’il est a son usage, est responsable du dommage quel’animal a causé, soit que l’animal fut sous sa garde, soit qu’il fut égaré ou échappé", und Pfaff: ZurLehre vom Schadenersatz .. nach österr. E. 1880.

59Vgl. dafür auch Thon: Rechtsnorm, S. 106. Damit soll freilich nicht dafür eingetreten werden, dass z. B.,wie Thon es für angemessen zu erachten scheint, eine allgemeine Ersatzpflicht zurechnungsunfähigerPersonen für den von ihnen angerichteten Schaden wieder in unser Recht eingeführt würde. Vgl. auchUnger in Grünhut’s Zeitschr. 1881 S. 209 ff.

60Vgl. Sächsisches Landrecht II. G5 §. 1 III. 3.

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Grunde moralwidrig sind, weil sie subjectives Recht verletzen oder gefährden. Heyssler61

und Binding62 sind also ganz im Rechte, wenn sie aus dem die Ersatzpflicht begründen-den Civilunrechte das Moment der Verschuldung zu eliminiren suchen, um das so ausge-schiedene Delictsmoment als Grund der Strafbarkeit zu behandeln. Beide Schriftstellerhaben sich aber die Möglichkeit dieser richtigen Auffassung genommen; Heyssler dadurch,dass er für den Unterschied zwischen Civil- und strafbarem Unrecht nicht auch Gründeder Zweckmässigkeit anerkennen will, vielmehr dafür aprioristische und abstracto Unter-scheidungsmerkmale aufstellt,63 Binding dadurch, dass er die Schuld ausschliesslich alsDelictsmoment, nicht auch als möglichen Grund einer Schadenersatzpflicht glaubt auf-stellen zu dürfen. Da nun die von Heyssler aufgestellten aprioristischen Gründe einerseitsnicht ausreichen, andererseits aber das Civilunrecht zu eng als eine Folge menschlichenThuns aufgefasst wird, von dem Begriffe des Thuns (d. h. als des Wirkens in der äusserenWelt) mit Rücksicht auf den Erfolg der Begriff der Verschuldung aber nicht abgetrennt

Seite 346werden kann, so verwickelt Heyssler sich schliesslich in den vollkommen unverständli-chen, widerspruchsvollen Satz: Zurechenbare Schuld ist Delict, schuldbares Civilunrechtaber das zwar mit Schuld, jedoch nicht mit zurechenbarer Schuld behaftete Unrecht.64

Binding dagegen, indem er behauptet, mit dem Schuldbegriffe habe das Civilrecht nichtszu thun, kommt zu dem sonderbaren Satze, dass die civilrechtliche Schadensersatzpflichtin einem Quasicontract, einer ungeschickten oder dolosen Negotiorum gestio ihren Grundhabe.65 Eine einfache, ungekünstelte und richtige Auffassung wird aber sagen, dass die

61Das Civilunrecht und seine Folgen, Wien 1870. Heyssler sagt S. 15 richtig: „Constitutiv für das Civi-lunrecht ist nur das äusserliche reale Moment: tatsächliche Verrückung des thatsächlichen Rechtsbe-standes. Ohne diese kein Civilunrecht. Die Willensstimmung hat in diesem Begriff nur eine zufällige(qualificirende) Bedeutung . . . Constitutiv für das Delict ist nur das Schuldmoment: Zurückbeziehungder That auf den Willen als ihren ursächlichen Grund. Ohne diese kein Delict". Dasselbe hatte ichbereits (Grundlagen S. 44) ausgesprochen, wenn ich sagte und des Weiteren ausführte, die Strafjustizmüsse den schuldhaften Willen zum Grunde legen, die Civiljustiz brauche es nicht (könne es aberunter Umständen). Die von Heyssler, S. 11 Anm. 6, an meinen Grundlagen des Strafrechts dahingeübte Kritik, daas sie deshalb von vornherein gleich von näherer Betrachtung ausscheiden, weil siezu denjenigen Theorien gehören, welche „lediglich ihren Erfindern ein persönliches Genügen verschaf-fen", scheint sich also an Heyssler selbst nicht bewährt zu haben. Einer neueren Polemik Heyssler’sgegen Binding’s Theorie (Grünhut’s Zeitschr. für das Privat- und öffentliche Recht, 1879, S. 357 ff.)dürfte im Wesentlichen zuzustimmen sein.

62Normen I. S. 142 ff., S. 172 ff.63Als solche werden in verkünstelter Weise für das Civilrecht aufgestellt: Bestreitbarkeit der rechtlichen

Qualification der That und Negativität des rechtswidrigen Thatbestandes, S. 22 ff., und dabei (ohneallen Nachweis) noch behauptet, dass auf diesem Boden so ziemlich alle Culturvölker Gegenwartstehen. Das Ableugnen einer durch klaren Brief und Siegel nachzuweisenden, von dem Beklagtenpersönlich übernommenen Schuldverbindlichkeit müsste dann doch mindestens ein ziemlich schweresVerbrechen sein! Andererseits würde keine Möglichkeit vorhanden sein, Betrügereien und Fälschungenzu bestrafen, weil der Anspruch der Hintergangenen, wenn der Betrüger, der Fälscher seine Sacheeinigermassen geschickt gemacht hat, immer auf den ersten Anblick bestreitbar ist oder war!

64Vgl. gegen diesen unbestreitbar vollkommenen Widerspruch auch Binding, Nonnen I. S. 233 undHälschner, a. a. 0. S. 418.

65Normen I. S. 222, 223. Nebenbei wolle Binding sich doch überzeugen, dass Das, was er S. 227 überSchadenstragung sagte, genau mit Demjenigen übereinstimmt, was ich in meinen so rückhaltlos vonihm verurtheilten Grundlagen des Strafrechts, S. 41, 42, gesagt habe über „Schadensersatzünd „Scha-

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Schadensersatzpflicht an das civile Unrecht, z. B. an eine vielleicht gar nicht strafbarefahrlässige Körperverletzung,66 genau ebenso ohne Rücksicht auf den Willen und meis-tens gegen den concreten Willen des Verpflichteten geknüpft ist, wie die Strafe ohneRücksicht auf den Willen des Handelnden an das strafbare Unrecht sich heftet. Diesesletztere Problem aber, die Ableitung der Schadensersatzpflicht aus der Schuld, existirt,wie gesagt, nur für eine Theorie, welche die Ableitung des Strafrechts unmittelbar ausder Moral verwirft und deshalb wohl oder übel (eigentlich aber nicht, wie bei Bindinggeschieht, hintennach, sondern gleich) zu Anfang der Untersuchung den Civilzwang be-gründen müsste, da sie ja das strafbare

Seite 347Unrecht als „Rechtsgüterbeschädigungäuffasst. Für eine Theorie, welche das Strafrechtunmittelbar auf die Moral gründet, kommt der Civilzwang einfach als Factum in Be-tracht, als ein Factum, welches möglicher Weise die Folge haben kann, dass der Staatvon einer Bestrafung absieht.§. 110. Es erübrigt noch von unserem Standpunkte die Erklärung der sog. Polizeidelic-

te. Hiermit dürfte es sich einfach so verhalten. Wir bemerkten oben, dass nicht nur diewirkliche Beschädigung, sondern auch die Gefährdung eines Rechtsobjectes oder auchrechtlichen Verhältnisses eine unsittliche, der Strafjustiz anheimfallende Handlung seinkönne. Möglicher Weise ist nun die Absicht der Handelnden gar nicht auf die Gefahr,sondern auf einen anderweiten äusseren Erfolg oder ein anderweites äusseres Gebahrengerichtet; gleichwohl ist aber mit diesem Benehmen Gefahr in den meisten oder in vielenFällen verknüpft, z. B. mit dem Bauchen einer Cigarre in der Nähe eines Explosivstof-fes die Gefahr der Explosion. Bei sorgfältigerem Nachdenken müsste das Individuumsich das selbst klar machen; es handelt sich also um eine culpose Gefährdung und einesolche kann man jedenfalls auch als eine Unsittlichkeit (weit minderen Grades) bezeich-nen, also auch mit Fug und Recht bestrafen. Indess wird man in solchen Fällen es imAllgemeinen für richtig halten müssen, dass durch die Autorität die fragliche Handlungals eine derartig gefährliche bezeichnet werde; der Widerspruch der Handlung gegen dieMoral ist ja nur ein sehr entfernter und braucht desshalb dem Einzelnen noch nichtohne Weiteres klar zu sein. Ferner wird es nothwendig sein, dass in gewissem Umfangeund unter gewissen Voraussetzungen der Einzelne im Interesse der Gesammtheit Opfer

denstragung". Hier stimmen sogar die Worte.66Hälschner a. a. 0. bemerkt gegen Binding, des Letzteren Quasicontracts-Theorie enthalte einen kaum

minder starken Widerspruch, als Heyssler’s oben angeführter Satz, da nach Binding dieselbe Hand-lung vom Civilrichter als eine rechtliche, ein Rechtsgeschäft begründende, vom Strafrichter als einerechtswidrige und strafbare angesehen werde. Allein Hälschner, dessen neueste Darstellung durch die„Normentheorie"überhaupt entschieden beeinflusst ist, begründet (Gem. deutsches Strafr. S. 21) dieVerbindlichkeit zum Schadensersatze selbst in einer vom Quasicontract nicht gar so stark abweichen-den Weise, wenn er in der Beschädigung eines Anderen (d. h. seines Vermögens) eine „Verfügung überdas eigene Vermögen des Beschädigersërblickt. Natürlich verwahrt sich Hälschner dagegen, dass derBeschädiger diesen Willen in concreto zu haben brauche. Aber das Recht legt seiner Handlung den„Werthßolchen Willens bei. Da ist doch der Satz einfacher, das Recht legt, wenn es denn doch denwirklichen Willen nicht beachtet, der Handlung zwangsweise die Entschädigungsfolge auf. Hälschnerwiederholt hier einfach den alten Trugschluss, dass das (aus anderen Gründen) Vernünftige von demdarunter Leidenden auch stets gewollt werde. Nach dieser Logik will der zum Tode Verurtheilte auchstets hingerichtet werden.

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bringe, positiv etwas leiste. Geschieht das schuldhafter Weise nicht, so liegt darin aucheine moralwidrige Handlung; jedoch nur, wenn die Notwendigkeit derartige besondereLeistungen klar gestellt, d. h, durch die Autorität, welcher das Gemeinwesen die Wah-rung derartiger gemeiner Interessen anvertraut hat, festgestellt ist. Endlich können aberauch wirkliche Rechtsverletzungen durch ihre quantitative Geringfügigkeit einen andernCharakter annehmen: es ist doch etwas Anderes, ob Jemand einen Apfel rechtswidrignimmt und verzehrt, oder ob er ein Goldstück stiehlt. Eine moralwidrige Handlung istauch die geringfügigste Rechtsverletzung; aber man kann sie in gewissem Umfange aufgleiche Linie stellen mit denjenigen Handlungen, deren Moralwidrigkeit dem eben Ge-sagten zufolge erst mehr mittelbar einleuchtet. Mit diesen drei Arten: gefahrbringendeHandlung, Nichtleistung dessen, was geleistet werden muss — und auch z. B. eine Anzei-ge, eine Mittheilung an die Obrigkeit ist eine Leistung, wenn auch vielleicht keine solche,die einen Geldwerth

Seite 348hat — und ganz geringfügige Rechtsverletzung, dürfte der Kreis der sog. Polizeivergehenbeschlossen sein.Der wahre Grund der Zulässigkeit einer Bestrafung liegt auch hier in der Moralwidrig-

keit der Handlung, und um sich das klar zu machen, braucht man nur zu erwägen, dassdie Aufrechterhaltung einer gewissen äusseren Ordnung,67 einerlei, wie dieselbe materi-ell auch beschaffen sein möge, mittelbar als Moralprincip betrachtet werden darf; da dieäussere Ordnung es ist, welche einen geregelten Verkehr gestattet, also den Fortbestandund die Fortentwicklung der Menschheit mitsichert. An sich scheint es ja freilich mit derMoral nichts zu thun zu haben, ob Jemand auf einer Brücke rechts oder links geht; aberes kann des Verkehrs wegen nothwendig werden, zu bestimmen, dass die Passanten vonder einen Seite rechts, von der andern Seite des Flusses links gehen, und die Verletzungeiner solchen Vorschrift kann sogar recht grosse Unglücksfälle zur Folge haben. So istes frivol, moralwidrig, sich einer solchen Ordnung nicht zu fügen; ja man kann sagen,in gewissem Umfange muss die Autorität als solche, mögen ihre Gebote oder Verbotemateriell selbst zweckwidrig sein, respectirt werden, da der Ungehorsam als solcher leichtansteckend wirkt, und die äussere Ordnung (ohne Rücksicht dabei auf deren materielleBeschaffenheit) auf dem Principe der Unterordnung, also der Autorität beruht. Auch derUngehorsam als solcher kann daher möglicher Weise strafwürdig sein.Aus allem Diesen folgt, dass a priori ein principieller Unterschied zwischen Criminal-

und Polizeidelict gar nicht besteht, wie denn auch geschichtlich der Unterschied einschwankender und fliessender ist. Er reducirt sich darauf, dass die sog. Polizeidelicte ineinem allerdings weit geringeren Grade als moralwidrig und darum auch in einem weitgeringeren Grade als strafwürdig gelten. Nicht einmal das lässt sich behaupten, dassder reine Ungehorsam gegen obrigkeitliche Befehle immer nur ein Polizeidelict enthal-te; in einer orientalischen Despotie verhält es sich damit anders, und selbst bei uns ist67Hierüber enthält manche treffende Bemerkung E. v. Hartmann’s Phänomenologie des sittlichen Be-

wusstseins, S. 485ff.: Das Moralprincip der Ordnung. Auch L. v. Stein, Verwaltungslehre (1867), IV.8. 36, sagt: „Ist das, was die Polizeiverfügung vorschreibt, eine wirkliche Bedingung der Gesammt-entwicklung, so ist eine Nichterfüllung derselben von Seiten der Einzelnen ein Vergehen gegenüberder Gesammtheit".

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der Ungehorsam im militärischen Dienstverhältniss ein recht schweres Delict. Ueber denmehr oder minder schweren Charakter einer Moralwidrigkeit kann nur nach Zeit undUmständen entschieden werden. Bei manchen Handlungen kann

Seite 349man darnach denn auch sehr zweifelhaft sein, ob man sie als Criminaloder als Polizeide-licte zu behandeln habe.68

Es ergibt sich aber ferner, da die Zulässigkeit der Strafe bei den Polizeidelicten eben-so wie bei den Verbrechen auf die Moralwidrigkeit der Handlung sich gründet, dass dieSchuld bei ihnen principiell ebenso vorhanden sein muss, wie bei den Verbrechensstrafen.Rein willkürliche Bestrafungen Einzelner69 sind hier ebenso ausgeschlossen und würdeneintretenden Falles ebenso wirken, wie bei Criminaldelicten. Daher ist es denn auch einentschiedener Fortschritt, wenn die neuere Rechtsentwicklung die allgemeinen Grundsät-ze wesentlich ebenso für die Polizei- wie für die Criminaldelicte aufstellt,70 und wenn hierauch die ersteren zur Abhandlung ebenfalls den Gerichten überlassen sind, also denjeni-gen Behörden, denen vorzugsweise der Rechtsschutz des Einzelnen anvertraut ist-, fühltdoch auch der Einzelne eine gleich grosse Strafe oft ebenso, mag sie ihm als Polizei- oderals Criminalstrafe zuerkannt sein. Der oft benutzte Ausweg einer verfahrenen Theorieoder einer Ansicht, die nicht den Muth hat, sich offen für die Strafbarkeit oder Straflosig-keit einer Handlung auszusprechen, und dann eine tüchtige Polizeistrafe für angemessenerachtet, ist daher nicht selten ein einfaches Sophisma.Eine Handlung, die z. B. desshalb nicht der staatlichen Strafjustiz anheimfallen soll,

weil sie sehr schwer feststellbar ist, oder aber in ihren schädlichen Wirkungen sich wesent-lich auf den Handelnden selbst beschränkt, kann ebenso wenig polizeilich wie criminellstrafbar sein.Gleichwohl darf man nicht verkennen, dass der a priori gar nicht durchführbare Ge-

gensatz zwischen Polizei- und Criminaldelict vom Standpunkt des positiven Rechtes ausseine sehr grosse Bedeutung hat, insofern die allgemeine Meinung in einer Anzahl vonDelicten die Moralwidrigkeit nur schwer erkennen wird. Sie führt dieselben desshalb auchnicht zurück auf einen Fehler des Charakters, sondern betrachtet sie gewissermassen alsEtwas, das Jedem hin und wieder passiren könne, ohne dass dadurch seine sociale oderrechtliche Stellung irgend erschüttert werden dürfte. Der Gesetzgeber, der ja der sittli-chen Ueber-

Seite 350zeugung des Volkes im Grossen und Ganzen nur einen bestimmten Ausdruck geben soll,muss diesen Unterschied beachten, und nicht zweifelhaft kann es sein, dass darauf wesent-lich mitberuht der Unterschied des Polizeidelicts und des Criminaldelicts im positivenRechte. 71 Die Zusammenstellung der Polizeideliete und Criminaldelicte kann daher nur68Z. B. bestraft §. 322 des deutschen Strafgesetzbuchs unter Anderem auch das Anzünden von Feuer

auf der Strandhöhe, welches geeignet ist die Schifffahrt zu gefährden, mit Zuchthaus bis zu zehnJahren, also mit bedeutender Criminalstrafe. Vgl. auch z. B. deutsches Reichsgesetz vom 21. Mai1878, betreffend Zuwiderhandlungen gegen die zur Abwehr der Rinderpest erlassenen Verbote.

69Z.B. auch Bestrafung Unschuldiger, um im Publicum Schrecken zu erregen.70So namentlich auch das deutsche Strafgesetzbuch, dessen erster oder allgemeiner Theil auch auf alle

irgend aufstellbaren Polizeidelicte sich der Regel nach bezieht.71Eine genaue Uebereinstimmung dieser Kategorie von Delicten mit den sog. Polizeidelicten oder Ue-

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verwirrend wirken; sie ist ein Fehler, den die neueste Gesetzgebung mit Recht vermeidet,und um so mehr vermeidet, als Handlungen, deren Moralwidrigkeit erst durch längeresReflectiren, möglicher Weise erst auf Grund eines Ausspruchs der Autorität erkannt wer-den kann, nicht zu denjenigen gehören können, welche die dauernden Grundlagen desmenschlichen Zusammenlebens angreifen, und als daher ihre Zulassung und andererseitsihr Verbotensein weit mehr von vorübergehenden Umständen, möglicher Weise von reinlocalen Bedürfnissen und Verhältnissen abhängt, Punkte, die einen rascheren Wechseldes Rechts bedingen; der mehr unentbehrliche und mehr stabile Theil des Strafrechtsmuss getrennt werden von dem mehr entbehrlichen und mehr fluctuirenden Theile. Undda die Moralwidrigkeit der Polizeideliete nur eine mittelbare ist, so muss die Repressi-on auch hier eine mildere sein; schwere Strafmittel dürfen nicht angewandt werden —sie würden den Sinn des Volkes irre leiten und insbesondere leicht zu der Auflassungführen, als beruhe überhaupt das Recht auf mehr wechselnden und selbst willkürlichenOrdnungen und Geboten —, insbesondere nicht solche, welche die Ehre angreifen; undaus der Geringfügigkeit der Strafen folgt dann auch die Zulässigkeit oder gar praktischeNotwendigkeit eines einfacheren Verfahrens; das Verfahren als Mittel muss immerhinin einem gewissen Verhältnisse zum Zweck, zur Strafe stehen; eine Untersuchung, dienur mit einer Verurtheilung zu einigen Mark Geldbusse endigen könnte, mit dem gan-zen Apparat, der bei einem Mordproeesse am Platze ist, wäre eine Ungeheuerlichkeit,die den Eindruck der wirklich wichtigeren Strafverhandlungen nur herabsetzen könnte.Aus dem weniger gründlichen Verfahren folgt allerdings auch, dass möglicher Weise imPolizeidelicts-

Seite 351verfahren auch eher ein Unschuldiger verurtheilt werden kann, als im Criminalverfah-ren, während die geringere Wichtigkeit der Fälle es begreiflich erscheinen lässt, dass nichtmit der vollen Rigorosität allen und jeden kleinen Polizeidelicten nachgeforscht wird. Jader Gesetzgeber kann sich bewogen finden, weil das Resultat schliesslich die genauereUntersuchung nicht lohnen würde, culpose und dolose Zuwiderhandlung gar nicht zuunterscheiden und möglicher Weise die Strafe haften zu lassen auf einer nur präsumtivschuldigen Person, z. B. auf dem Eigenthümer, dem Besitzer eines Grundstücks.Die abweichenden Meinungen über das Wesen des Polizeidelicts sind darnach unschwer

zu beurtheilen.Eine sachliche Differenz zwischen der von Hugo Meyer und der hier vertretenen Auf-

fassung besteht wohl kaum. Hugo Meyer (Lehrbuch §. 24) sagt: „Der wahre Unterschiedzwischen den beiden Arten des strafbaren Unrechts liegt . . darin, dass durch das Crimi-nalunrecht die notwendigen, durch das Polizeiunrecht die nützlichen Bestand - theile der

bertretungen findet aber deshalb nicht statt, weil die objective Schwere der Strafe, z. B. Höhe derGeldstrafe, auch mitentscheidend sein muss für die Gestaltung des Strafverfahrens, und möglicherWeise die Strafe selbst bei einer an sich wenig oder doch nur sehr mittelbar moralwidrigen Hand-lung hoch sein muss, weil z. B. die Vortheile aus der Uebertretung oder doch der leicht wiederholtenUebertretung (z. B. Stempeldefraude) zu bedeutend sind, oder weil das Delict z. B. regelnlässig nurvon wohlhabenden Personen begangen wird. Möglicher Weise kann aber auch ein anderer Grunddafür sprechen, eine Handlung, welche die Volksmeinung als nicht ehrenrührig betrachtet, mit rechtbedeutender Strafe zu belegen, z. B. das Duell.

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Rechtsordnung verletzt werden. Wie aber die Begriffe des Nothwendigen und des Nützli-chen in einander übergehen, so wird man auch von mancher Delictsart nur in ungefährerWeise sagen können, ob sie dem Kreise des Criminalunrechts angehöre oder zum Poli-zeiunrecht zu rechnen sei."Die dauernden, sich mehr gleichbleibenden Grundregeln desmenschlichen Zusammenlebens sind eben auch die nothwendigen, die vorübergehendenoder mehr wechselnden, mehr local verschiedenen die bloss nützlichen.72

Dagegen betonen andere Meinungen ein Moment, welches mit in Betracht kommt,unrichtig als ein ausschliesslich entscheidendes. So die ältere, von Feuerbach besondersvertretene Ansicht, welche als criminelles Unrecht nur dasjenige betrachtet, durch wel-ches ein subjectives Recht verletzt wird. Allerdings ist damit gewissermassen über denKern der Sache richtig entschieden, allein ein sehr erheblicher Rand reicht noch hübenund drüben weiter. Dasselbe gilt von der Ansicht, 73

Seite 352welche das criminelle Unrecht als Rechtsverletzung, das Polizeiunrecht als Rechtsgefähr-dung auffasst, und endlich von der Ansicht, welche in dem criminellen Delicte materielles,in dem Polizeidelicte nur formelles Unrecht erblickt;74 die letztere Ansicht hebt zu starkdas von uns auch mitberücksichtigte Moment des Gehorsams gegen die äussere, formelleOrdnung, gegen die Autorität hervor. Aber durchaus muss man sich gegen die Abart derletzteren Ansicht erklären, welche in der Polizeistrafe nicht eine Strafe im eigentlichenSinne, sondern eine „Züchtigung"findet.75 Erzogen werden soll der Einzelne durch diePolizeistrafe so wenig oder eben so viel, wenn man diesen letzteren Ausdruck vorzieht,wie durch die Criminalstrafe, vielleicht, wenn man auf die reelle Natur der wirklich ver-hängten Polizeistrafen (Geldstrafen, kurze Freiheitsstrafen) sieht, gewiss noch weniger.Mit Erziehungsstrafen (Schulstrafen oder gar elterlichen Strafen) kann die Polizeistra-fe nicht auf gleiche Linie gestellt werden; die wirkliche Erziehungsstrafe, Züchtigungbetrachtet als den ersten, wenn nicht möglicher Weise ausschliesslichen Zweck die Bes-serung und das wahre Wohl des Gezüchtigten; das thut die staatliche Strafe nicht, amallerwenigsten gewiss die Polizeistrafe. Diese Auffassung muss um so mehr zurückgewie-72Nur mit der Bemerkung kann ich nicht völlig einverstanden mich erklären, dass für die Gesetzgebung

die Unterscheidung der Delicte nach ihrer Schwere ausreichend sei, d. h. also wohl nach der Schwereder Strafen. Man sollte wenigstens die Competenz der Strafbehörden nicht ausschliesslich nach derHöhe der Strafen, sondern auch mit Rücksicht auf die sittliche Bedeutung des Delicts abstufen. Vgl.Grundlagen S. 31.

73So Grolmann, Lehrb. §.365. Vgl. auch Seeger in Goltdammer’s Archiv 1870, S. 245. — Die AnsichtKöstlin’s, System §. 18, dass das Criminalunrecht das wirkliche, das Polizeidelict das mögliche Un-recht darstelle, ist nur ein ungeeigneter Ausdruck dieser Ansicht. Richtiger war es jedenfalls noch,wenn Pichte, Naturr. S. 294, sagte, Polizeigesetze verbieten die mögliche, Civilgesetze die wirklicheVerletzung der Rechte Anderer.

74So z. B. Merkel, Abhandlungen I. S. 95ff.; Binding, Normen I. S. 179ff., S. 204ff. (der das polizeilichstrafbare Delict als reinen Ungehorsam bezeichnet) und übereinstimmend mit Binding auch Hälsch-ner, Gem. deutsches Strafr. I. S. 35 und früher System d. preuss. Strafrechts I. S. 2, Gerichtssaal 1876S. 429.

75So eigenthümlicher Weise Hälschner, Gem. deutsches Strafrecht I. S. 36, wo auch gesagt wird, dassdie Polizeistrafe dem Bestraften zur Mahnung dienen solle. Soll das die Criminalstrafe etwa nicht?Auch die Mahnungen zur Vorsicht und zum Gehorsam sind gewiss nichts Besonderes gerade für diePolizeidelicte. Man denke z. B. an die culposen Delicte einer- und an das Delict der Widersetzunggegen Beamte andererseits.

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sen werden, weil sie geeignet ist, ein gewisses Moment der Willkür der Verhängung oderNichtverhängung der Strafe nach rein individuellen Rücksichten in die Polizeistrafjus-tiz zu bringen, welches bei der Bedeutung, welche Polizeistrafen für die Rechtssphäreder Einzelnen annehmen können, ganz unzulässig erscheinen muss und dem Begriffe des„Rechtsstaates"vollkommen widerstreitet.§. 111. Die Disciplinarstrafe76 anlangend, deren in gegen

Seite 353wärtiger Zeit höchst bedeutsame Theorie hier nicht zu erschöpfen, deren Stellung zurstaatlichen Strafe aber hier zu erörtern ist, so ist zu unterscheiden die sog. Ordnungs-strafe im eigentlichen Sinne,77 d. h. die zur Erzwingung einer einzelnen Handlung (odermehrerer einzelner Handlungen) im einzelnen Falle besonders angedrohte Strafe. DieseDisciplinarstrafe ist wesentlich Zwangsmittel. Wenn der Zweck, welchen die vorgesetzteBehörde oder die Obrigkeit mit der Androhung dieser Strafe verfolgte, auf irgend eineWeise erreicht ist, so kann die Vollziehung der Strafe häufig ohne Nachtheil unterbleiben;denn die sittliche Reprobation der Handlung tritt bei diesen Strafen, obwohl der Gedan-ke derselben, der in dem auch hier geltenden Principe der Verschuldung reflectirt wird,nicht ganz fehlt, doch stark in den Hintergrund. Deshalb wird bei diesen Zwangsstrafenauch meist angenommen, dass die Behörden oder Beamten, welche diese Strafen, sei esgegen einen Unterbeamten, sei es gegen eine Privatperson, verhängten, das Recht haben,dieselben, wenn der Zwangsaufforderung genügt ist, nachträglich niederzuschlagen oderzu erlassen.Im Uebrigen ist das Disciplinarstrafrecht eine Nachbildung des Strafrechts für einen en-

geren, durch eine besondere Lebensordnung zusammengehaltenen Kreis von Personen imStaate, freilich mit der Modification, dass der besondere Zweck der Vereinigung auch vonEinfluss sein muss auf dieses besondere Strafrecht. Da wo die Erziehung z. B. den Zweckder Vereinigung bildet, tritt die Rücksicht auf den Einzelnen mehr in den Vordergrund,als z. B. bei dem öffentlichen Strafrechte oder dem Disciplinarrechte der Staatsbeamtender Fall sein kann, wo die Besserung jedenfalls nur einen Nebenpunkt bildet.78 Das hiergeforderte Minimum von Sittlichkeit geht hinaus über die Minimumsforderung, welchein den staatlichen Strafgesetzen ihren Ausdruck findet. Von den Beamten des Staates,von Denjenigen, welche höhere öffentliche Lehranstalten besuchen, möglicher Weise vonMilitärpersonen u. s. w. wird wenigstens in einigen Beziehungen mehr verlangt, als vonden Mitgliedern des Staats im Allgemeinen. Neben ihren ganz besonderen Ver-

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76Vgl. namentlich Heffter, N. Archiv des Criminalrechts (Bd. 13), 1832, S. 48.ff.; Mittermaier zu Feuer-bach’s Lehrb., 14. Aufl., §. 477, Anm. I. u. IV.; Bülau in Bluntschli’s und Brater’s Staatslexicon, Bd.III., S. 140; Pözl das. Bd. IX., S. 696ff.; Meves in v. Holtzendorffs Handbuch des deutschen Straf-rechts, III., S. 939 ff. und neuerdings Laband: Das Staatsrecht des deutschen Reiches, L, S. 447—459.Besonders wichtig ist einerseits die Heffter’sche Arbeit, andererseits die Ausführung Laband’s.

77Im uneigentlichen Sinne nennt man Ordnungsstrafen auch wohl ganz geringfügige, auf Nichtbeobach-tung insbesondere von Formvorschriften gesetzte Strafen.

78Daher kann denn bei Disciplinarstrafen in Erziehungsanstalten z. B. auch die Strafe in gewissemUmfange erlassen werden, wenn sie der Erziehung, dem Fortkommen des Bestraften ganz besondersschädlich sein würde. Je kleiner die Anstalt ist, um so eher wird diese Rücksicht auf den Einzelnenmassgebend sein können.

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pflichtungen haben sie die Verpflichtung, ein Benehmen zu betrachten, welches mit ih-rer in der einen oder andern Weise ausgezeichneten Stellung 79 harmonirt. In gewissemUmfange kann, was unter solchem Benehmen zu verstellen sei, durch Gesetz und Her-kommen genau fixirt sein; meist wird aber hier zugleich eine allgemeine Vorschrift nichtumgangen werden können, welche ausspricht, dass der dem Disciplinarrecht Unterwor-fene sich nicht der besonderen Stellung, die er einnimmt, unwürdig zeigen dürfe,80 oderdass er sich so zu verhalten habe (wie es in älteren Diensteiden heisst), wie es einem„wohlanständigen u. s. w. sich gebührt", Diese Unbestimmheit erklärt sich daraus, dassbezüglich ihres Umfanges die Steigerung der Pflichten dieselben den rein moralischennähert, welche letztere mit genügender Bestimmtheit sich schwer durch einzelne Sätzeerschöpfen lassen. Eben desshalb ist dann aber auch dieser Uebelstand der Unbestimmt-heit nie ganz zu vermeiden, und kommt es daher ganz besonders im Disciplinarstrafrechtauf die Zusammensetzung des Disciplinargerichtshofes an, ein Punkt, der hier allerdingsnicht weiter interessirt.Zu dem öffentlichen Strafrechte kann das Disciplinarstrafrecht möglicher Weise in ei-

nem verschiedenartigen Verhältnisse stehen.81 Man kann von dem Gesichtspunkte ausge-hen, dass jedes öffentliche Delict, welches eine in dem Disciplinarkreise stehende Personbetrifft, nur als Disciplinardelict in Betracht komme, wenngleich die Normen der Beurt-heilung wesentlich dem öffentlichen Strafrechte entnommen werden können. Denn dieDisciplin, welche ja die allgemeinen Gesetze des Staates zur Voraussetzung hat, verletztder unter der Disciplin Stehende

Seite 355auch. Diese Auffassung des Verhältnisses von Disciplin und öffentlichem Strafrecht wirdda leicht Eingang finden, wo man den Einzelnen gewissermassen als ganz in dem Disci-plinarkreise aufgehend betrachtet, der Angehörigkeit zu dem Disciplinaikreise eine ganzüberwiegende Bedeutung zuschreibt. So verhielt es sich nach dem Rechte des Mittelalters(dem kanonischen Rechte) mit den Verbrechen der Cleriker; so verhält es sich aber auchheut zu Tage nach dem Rechte des deutschen Reichs,82 überhaupt wohl nach dem Rechteder continentalen europäischen Monarchien, mit den Verbrechen der Militairpersonen.Man kann möglicher Weise aber auch von dem entgegengesetzten Standpunkte ausge-

79Die Stellung kann auch eine „nachtheiligäusgezeichnete sein, ein Privilegium odiosum, wie z. B. dieStellung der Sträflinge in den Strafanstalten. Der Sträfling hat in der That auch mehr zu erzwin-gende Pflichten, als der in der Freiheit Befindliche. Er hat die Pflicht des Fleisses, der Ordnung, derEhrerbietung, des Gehorsams gegen die Gefängnissbeamten.

80Vgl. z. B. preussisches Gesetz vom 21. Juli 1852, betreffend die Dienstvergehen der nichtrichterlichenBeamten, §. 2: „Ein Beamter, welcher 1) die Pflichten verletzt, die ihm sein Amt auferlegt, oder 2)sich durch sein Verhalten in oder ausser dem Amte der Achtung, des Ansehens oder des Vertrauens,die sein Beruf erfordert, unwürdig zeigt, unterliegt den Vorschriften dieses Gesetzes.ünd §§. 72 und10 des deutschen Reichsgesetzes, betreffend die Rechtsverhältnisse der Reichsbeamten, vom 31. März1873.

81Es ist übrigens möglich, dass eine Verletzung der Dienstpflicht, wegen der besonderen Wichtigkeit desAmtes, ein criminelles Delict bildet, so namentlich die schwereren Fälle der Verletzung richterlicherAmtspflichten.

82Wenngleich die nichtmilitärischen Delicte der Militärpersonen nach §. 3 des Militär-Strafgesetzbuchsfür das deutsche Reich vom 20. Juni 1872 nach den allgemeinen Strafgesetzen beurtheilt werden, sosteht die Cognition darüber doch den militärischen Behörden, d. h. also den Disciplinarbehörden zu.

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hen und den Verstoss gegen die allgemeinen Strafrechte gesondert beurtheilen von dem inderselben Handlung liegenden Verstosse gegen das Disciplinarrecht. Diesen Standpunktnimmt das gemeine Recht schon ein in Bezug auf die Verbrechen der Staatsdiener undneuerdings, nach Beseitigung der sog. akademischen Gerichtsbarkeit durch die Einfüh-rung der Reichsjustizgebung,83 vollständig auch in Bezug auf Delicte der Studirenden anden Universitäten des deutschen Reichs. Hiernach ist denn principiell die Disciplinarjus-tiz vollkommen unabhängig von der allgemeinen Strafjustiz. Es steht principiell nichts imWege, dieselbe Handlung öffentlich und disciplinarisch zu strafen; denn möglicher Weisekann die Handlung öffentlich nur eine geringfügige oder vielleicht gar keine Strafe nachsich ziehen, während vom disciplinaren Standpunkte, vom Standpunkte der zu wahren-denWürde und Sitte des Standes aus die Handlung die allerschwerste Ahndung verdienenkann. Z. B. könnte eine Beleidigung nach §. 199 des deutschen Strafgesetzbuchs wegenCompensation beziehungsweise Retorsion vom öffentlichen Strafrichter straffrei gelassenwerden, während dieselbe — z. B. eine öffentliche Schlägerei unter Beamten und Stu-direnden — vom disciplinaren Gesichtspunkte aus eine sehr scharfe Ahndung verdienenwürde. Indess darf man es doch mit dieser Unabhängigkeit der Disciplinarstrafe vonder öffentlichen Strafe nicht zu scharf nehmen. Im Allgemeinen muss man, wenn nichtgewissennassen der betreffende Stand einen Staat im Staate bilden soll, von der Auffas-sung ausgehen, dass die öffentliche Strafe für die Mitglieder aller Stände im Staate diegenügende Repression enthalte, zumal der Strafrichter, soweit sein Ermessen

Seite 356reicht, auch nicht gehindert ist, die besonderen Standes- und Pflichtverhältnisse desSchuldigen mit in Betracht zu ziehen. Man fühlt die Unbilligkeit doch, wenn in jedemFalle z. B. ein Angestellter des Staates, ein Studirender doppelt bestraft werden sollte,obwohl die strafprocessuale Regel „Ne bis in idemßchon deshalb nicht mit stringenterKraft angerufen werden kann, weil abgeurtheilt worden ist nur immer Das, worüber derbetreffende Richter überhaupt urtheilen kann.84 (Die rein disciplinare Seite der Sachekann der öffentliche Strafrichter nicht mitaburtheilen.) Es hat aber auch der Inhaber derDisciplinargewalt häufig gar kein Interesse noch besonders zu strafen, weil die öffentlicheStrafe zugleich für die Interessen der Disciplin mitsorgt. Bei einer Freisprechung durchden öffentlichen Strafrichter wird es auf die Gründe ankommen.85 Spricht der öffentli-che Strafrichter deshalb frei, weil Das, was dem Angeschuldigten nachgewiesen wordenist, für den Thatbestand des öffentlichen Delicts nicht genügt, so kann sehr wohl einThatbestand übrig bleiben, der selbst eine schwere Disciplinarstrafe rechtfertigen wür-de, z. B. kann der Strafrichter annehmen, dass eine Beleidigung im juristischen Sinne, ein

83Deutsches Gerichtsverfassungsgesetz §. 13. Preuss. Gesetz vom 29. Mai 1879, betr. die Rechtsverhält-nisse der Studirenden u. s. w.

84Ich kann es daher nicht einsehen, wie die Kegel „Ne bis in idem"hier Schwierigkeiten mache, die sichnur in der gezwungensten Weise beseitigen lassen, wie Laband, a. a. 0. S. 448, meint.

85Vgl. z.B. auch § 5 des preussischen Gesetzes vom 21. Juli 1852: „Wenn von den gewöhnlichen Gerich-ten auf Freisprechung erkannt ist, so findet wegen derjenigen Thatsachen, welche in der gerichtlichenUntersuchung zur Erörterung gekommen sind, ein Disciplinarverfahren nur noch insofern statt, alsdieselben an sich und ohne ihre Beziehung zu dem gesetzlichen Thatbestande der Uebertretung desVergehens oder des Verbrechens, welche den Gegenstand der Untersuchung bildeten, ein Dienstver-gehen enthaltenünd (übereinstimmend) §. 78 Abs. 1 des citirten Reichsgesetzes.

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Betrug u. s. w. nicht vorliege86; es kann aber übrig bleiben ein Mangel des nothwendi-gen Respects vor einem Vorgesetzten, ein höchst unehrenhaftes Uebervortheilen n. s. w.In diesem Falle kann also die Freisprechung nicht das mindeste Hinderniss disciplinarerAhndung bilden. Anders steht es, wenn der öffentliche Strafrichter den Thatbestand, derirgend unter den Gesichtspunkt der disciplinaren Ahndung fallen könnte, in Ansehungdes Angeschuldigten verneint, z. B. ausspricht, es sei nicht erwiesen, dass der Angeschul-digte überhaupt an der Sache, an der Schlägerei u. s. w. betheiligt sei. In diesem Falleist es der Natur der Sache entsprechend, dass die Disciplinarbehörde die Freisprechungrespectire. Wenn der Strafrichter, den der Staat jedenfalls mit mindestens so scharfenMitteln (rationell betrachtet, in den bei weitem meisten Fällen mit weit schärferen Mit-teln) der Unter-

Seite 357suchung ausstattet, zu einem verurteilenden Resultate nicht gelangen konnte, so darfdie Disciplinarbehörde ihrerseits nicht den Anspruch erheben, schärfer sehen zu können,und am allerwenigsten kann das Disciplinarverfahren die Bestimmung haben, Lücken derErgebnisse der öffentlichen Strafverhandlung in mehr oder minder willkürlicher Weiseauszufüllen.Eine Verurtheilung durch den öffentlichen Strafrichter wird für den Disciplinarrichter

nicht als Ausspruch über die Schuld des Verurtheilten in Betracht kommen — dennwenn das Gesetz nicht speciell ein Anderes besagt, kann die Bildung einer positivenUeberzeugung, wie solche zu einem Schuldig auch des Disciplinarrichters gehört, nureine freie sein — und weshalb soll ein möglicher Weise Unschuldiger deshalb, weil ereinmal formell verurtheilt ist, einen doppelten Nachtheil erleiden? Dagegen wird sehroft die Verurtheilung als Thatsache entscheidend sein. Man wird z. B. bei Verurtheilungwegen ehrenrühriger Verbrechen oder zu schweren Strafen ohne Weiteres sagen, einenMenschen, der eine derartige Verurtheilung, eine derartige Strafe erleidet, können wir indiesem Kreise nicht dulden.87 Die Strafe der Ausstossung (Relegation von öffentlichenLehranstalten, Dienstentsetzung oder Entlassung bei Staatsdienern) wird also eintreten,dies aber wird dann auch rationell die einzige Strafe sein können.Dies führt auf einen Punkt, in welchem das Disciplinarstrafrecht von dem öffentlichen

Strafrechte sich erheblich unterscheidet. Während in der Grundauffassung öffentlichesund disciplinares Strafrecht sich nicht unterscheiden, insbesondere, wie die Praxis ei-nes jeden Disciplinarhofes bestätigen müsste, der Gesichtspunkt der Schuld ebenso fürdas Disciplinar- wie für das öffentliche Strafrecht massgebend ist, kann nebenbei einer-seits das Disciplinarstrafrecht erweiternd und andererseits dasselbe beschränkend derGesichtspunkt der Unbrauchbarkeit, beziehungsweise Unwürdigkeit des Individuums in86Vgl. in dieser Beziehung schon Leyser, Spec. 650 n. 50.87Vgl. z. B. das angeführte preussische Gesetz §. 7. Aus dem im Texte angegebenen Grunde wird man

auch nicht selten, wenn eine gerichtliche Untersuchung eröffnet wird, die Ergebnisse der letzterenabwarten. Vgl. das angeführte preuss. Gesetz §. 4 Abs. 2; §. 78 Abs. 2 des d. Reichsges. v. 1873.Es kommt aber auf den Charakter des betreffenden Disciplinarkreises an. So sagt, während die vor-hin angeführten Gesetze die Disciplinaruntersuchung zur Zeit ausschliessen, §. 14 des preussischenGesetzes v. 29. Mai 1879, betreffend die Rechtsverhältnisse der Studirenden: „Das disciplinarischeEinschreiten der Univeraitätsbehörde ist unabhängig von einer wegen derselben Handlung eingelei-teten strafgerichtlichen Untersuchung".

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Betracht kommen, wenigstens in allen denjenigen Fällen, in welchen die Zugehörigkeitzu dem betreffenden Disciplinarkreise noch irgend eine besondere Fähigkeit oder Wür-digkeit voraussetzt. In dieser Beziehung hat das Disciplinarstrafrecht eine privat-

Seite 358rechtliche Seite.88 Der Staat kann nicht verpflichtet sein, einen Beamten im Dienstezu belassen und ihm sämmtliche Vortheile seiner Stellung zu gewähren, den er nichtgebrauchen kann, entweder weil der Beamte körperlich oder geistig unfähig ist,89 seinAmt zu versehen, oder weil er durch seine Handlungsweise das nöthige Vertrauen oderdie erforderliche Achtung völlig verloren hat; die Akademie kann nicht verbunden sein,Jemanden als Schüler oder Mitglied zu behalten, der ein ehrenrühriges Verbrechen be-gangen hat. Diese privatrechtliche Seite des Verhältnisses tritt um so mehr hervor, jemehr der Eintritt in den betreffenden Kreis einerseits als ein Vorzug und andererseitsals ein Act des freien Willens des Individuums erscheint; daher z. B. ganz besonders indem Beamten- Verhältnisse.90 Man könnte möglicher Weise die Frage der Ausschliessungoder Unbrauchbarkeit auch einem Civilgerichte überlassen.91 Wenn das aus anderweitenGründen nicht geschieht, vielmehr eine Disciplinarbehörde92 entscheidet, so bleibt diematerielle Frage darum doch die-

Seite 359selbe; es liegt hierin eine Verbindung des eigentlichen Disciplinarstrafrechts mit einemihm an sich nicht homogenen, wenngleich verwandten Bestandteile des Rechts durchpositive Rechtsvorschrift.Das Disciplinarstrafrecht kann aber in eben den genannten Fällen durch diesen Ge-

sichtspunkt auch eine Beschränkung erleiden. Wenn der Einzelne auf seine Zugehörigkeit

88Diese Seite der Sache, welche auch Heffter, a. a. 0. namentlich S. 178, berücksichtigte, wird wohlzu einseitig hervorgehoben von Laband, a, a. 0. S. 449 ff., welcher in der Disciplinargewalt desStaates gegenüber dem Beamten nur einen Ersatz für die Contractsklage erblickt. Allein die Frageder Würdigkeit, von welcher auch nach Laband die Möglichkeit der Contractserfüllung abhängen soll,schliesst nothwendig eine moralische, d. h. also annähernd strafrechtliche Beurtheilung in sich. GegenLaband’s zu einseitige Auffassung erklärt sich auch Hugo Meyer, Strafrecht §. 1. Anm. 3. — Pözl inBluntschli-Brater’s Staatslexicon IX., S. 696, geht allerdings zu weit, wenn er im Zweifel die analogeAnwendung der Grundsätze des öffentlichen Strafrechts will.

89Diese Seite der Sache — Unfähigkeit der Erfüllung der Amtspflichten wegen geistiger oder körper-licher Gebrechen — wird in Bezug auf die Mitglieder des deutschen Reichsgerichts ausschliesslichberücksichtigt vom deutschen Gerichtsverfassungsgesetze §. 130.

90Bei der Frage der Unwürdigkeit kommt übrigens sehr wesentlich mit in Betracht, ob die Handlungswei-se des Beamten öffentliches Aufsehen erregt hat. Dinge, die nicht offen besprochen werden, kümmernden Staat hier nicht. Eine genaue Inquisition über die Sittlichkeit seiner Beamten würde mehr scha-den als nützen. Die „Infamia", aufweiche der frühere kanonische Process so grosses Gewicht legte,hat in dieser Beziehung noch immer ihre Bedeutung oder sollte sie doch haben, desgleichen das„Aergerniss". Aus diesem Grunde schon kann auch principiell eine Uebertragung aller Zwangsmitteldes öffentlichen Strafprocesses auf das Disciplinarverfahren nicht gebilligt und nicht ohne Weiteresgefolgert werden, dass der Disciplinarbehörde, abgesehen von specieller gesetzlicher Bestimmung, dieRechte des öffentlichen Strafrichters zustehen.

91Vgl. darüber Heffter a. a. 0. S. 178 und Pfeiffer prakt. Ausführungen III. S. 411 ff.92Allerdings müsste in vielen Fällen, in welchen Jemand, ohne ein schwereres Verbrechen begangen zu

haben, disciplinarisch seines Amtes entsetzt wird, ihm ein Theil seines Gehaltes verbleiben. Vgl. dafürauch Herrn. Schulze, d. preuss. Staatsr. I, S. 344, und schon Leyser, Spec. 650. n. 31 a. E.

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zu dem betreffenden Bevorzugten Kreise und alle daraus resultirenden Vortheile, z. B.auch auf Titel u. s. w. verzichtet, so muss jede Disciplinarstrafe gegen ihn zwecklosund unvernünftig erscheinen: der Betreffende existirt ja in Folge seines Austritts für denDisciplinarkreis gar nicht mehr. Eine Repression wegen eines vorher begangenen Dis-ciplinardelictes würde letzteres als ein öffentliches Delict erscheinen lassen,93 und nurDas lässt sich rechtfertigen, dass vorher bereits bestimmte Disciplinar-Geldstrafen auchnach dem Austritte des Schuldigen noch eingezogen oder eingefordert werden, weil siezugleich ein Jus quaesitum, ein Vermögensrecht des Inhabers der Disciplinargewalt, be-gründen, und letzteres würde wieder zurückzuführen sein auf einen Act der Zustimmungdes Betheiligten zu den allgemeinen Dienstbedingungen.Möglicherweise kann endlich überhaupt eine Art Disciplinarstrafrecht begründet wer-

den in Privatverhältnissen durch Vertrag; z. B. die Arbeiter einer Fabrik unterwerfen sichder vom Inhaber der letzteren festgesetzten Fabrikordnung und den darin für Verstössebestimmten Strafen. Dieses Disciplinarstrafrecht fällt juristisch ganz unter den Begriffdes Vertrages. Wenn der Fabrikarbeiter z. B. den als Strafe vom Fabrikherrn festge-setzten Lohnabzug sich nicht gefallen lassen will, so entscheiden darüber im Mangelanderweiter Bestimmung die Civilgerichte. Es sind daher auch als Strafe alle Nachtheileausgeschlossen, über welche Jemand durch Vertrag nicht im Voraus in Bezug auf sichverfügen kann. Daher sind z. B. alle Freiheitsstrafen ausgeschlossen;

Seite 360wenigstens würde die Freiheitsberaubung in dem Augenblicke widerrechtlich und strafbarwerden, wo der Eingesperrte erklären würde, er wolle nicht mehr seiner Freiheit beraubtsein.Da wo Staat und Kirche wirklich getrennt sind, würde das auch von Strafen zu gelten

haben, welche die Kirchengewalt gegen Diener der Kirche erkennt.94 Die Erlaubnisswirkliche Freiheitsstrafen zu vollstrecken, ist sonach immer eine, sich nicht von selbstverstehende, Concossion des Staates an die Kirche.Eine allgemein gültige und genügend bestimmte Theorie der Disciplinarstrafe kann

nicht aufgestellt werden. Es kommt zu sehr an auf die Zwecke des einzelnen Kreises, fürwelchen das Disciplinarstrafrecht besteht. Nur die Umrisse lassen im Allgemeinen sichangeben und das Verhältniss zur allgemeinen staatlichen Strafgewalt.§. 112. Zum Schlüsse wollen wir noch unsere Theorie des Strafrechts in folgenden

kurzen Sätzen zusammenfassen.Das Strafrecht beruht auf der in gewissem Umfange notwendigen sittlichen Missbil-

ligung unsittlicher, d. h. den Bedingungen der Existenz und der Fortentwicklung dermenschlichen Gesellschaft schädlicher (bezw. gefährlicher) Handlungen. Diese Missbilli-93Indess kann ein vorher begangenes Delict einen Grund der Ausschliessung aus dem betreffenden Krei-

se bilden. Deshalb bestimmt §. 64 der deutschen Rechtsanwaltsordnung v. 1. Juli 1878 sehr rich-tig:„Wegen Handlungen, welche ein Rechtsanwalt vor seiner Zulassung begangen hat, ist ein ehren-gerichtliches Verfahren nur dann zulässig, wenn jene Handlungen die Ausschliessuug von der Rechts-anwaltschaft begründen". Deshalb kann denn z. B. auch die Disciplinarbehörde einer deutschen Uni-versität selbst gegen solche Personen auf Relegation erkennen, die die Inscription auf der Universitätnur erschlichen und z. B. vorher gemeine Verbrechen begangen haben.

94Vgl. Richter, Lehrbuch d. katholischen u. evangelischen Kirchenrechts, herausgeg. von Dove, 7. Aufl.,S. 690.

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gung ist insofern nothwendig, als die Sittlichkeit überhaupt auf einer gewissen Solidaritätdes sittlichen Urtheils Aller beruht und sich fortbildet. Dagegen folgt aus diesem allge-meinen Principe nach nichts für die Frage, welche einzelne Handlungen der staatlichorganisirten Reprobation anheimfallen sollen. Darüber entscheiden mannigfache Rück-sichten der Zweckmässigkeit; diese sind aber identisch mit der im Strafrechte allein mög-lichen relativen, historischen Gerechtigkeit, sofern sie nur unter sich harmoniren. Das,was wir gewöhnlich Strafe nennen, ist nur ein äusseres Nachdrucksmittel der sittlichenReprobation: das Strafmittel ist seinem Wesen nach Strafquantum.Eine Bestätigung unserer Ansicht, dass die Strafe nichts Anderes ist, als sittliche Miss-

billigung liefert die deutsche Sprache selbst.Der Ausdruck Strafe für die öffentliche Strafe kommt erst verhältnissmässig spät vor;

er kommt erst auf zu einer Zeit, wo die alte Privatrache und Busse einer- und die mehrwillkürliche Züchtigung der Unfreien andererseits völlig im Verschwinden begriffen istund bedeutet ursprünglich nichts Anderes als Tadel, Missbilligung. Die Bedeutung vonpeinigen, quälen hat das Wort strafen ursprünglich gar nicht.95 Als das Straf-

Seite 361recht die alten mehr privatrechtlichen Beziehungen abstreifte und die sittliche Idee inihm zu einem schärferen Ausdrucke gelangte, hat die Sprache mit feinem Tacte geradean jenes Wort sich gehalten.

95Vgl. Grimm, deutsche Rechtsalterthümer, S. 680, 681; Weigand, deutsches Wörterbuch; Lexer, mit-telhochdeutsches Wörterbuch; Schiller und Lübben, mittelniederdeutsches Wörterbuch; Schmeller,bayerisches Wörterbuch, unter „Strafeünd „Strafen". Strafen heisst wohl eigentlich und ursprünglich:Etwas mit einer Regel, mit einem massgebenden Gegenstande vergleichen und danach denn einerseitsmissbilligen, andererseits in Ordnung bringen: „der Zimmermann strafft das Holz", „eine Abschriftnach dein Original straffen", „in guter Straff halten".

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