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Günther Högl, Karl-Peter Ellerbrock (Hg.)Die 1920er Jahre Dortmund zwischen Moderne und Krise ... Stadion Rote Erde – Volksbad ... Das alte Stadtbür-gertum wurde zur kleinen Minderheit,

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Günther Högl, Karl-Peter Ellerbrock (Hg.)

Die 1920er Jahre Dortmund zwischen Moderne und Krise

Sonderausgabe der Zeitschrift „Heimat Dortmund“ (Doppelheft 1+2/2012) im Auftrag des Historischen Vereins für Dortmund und die Grafschaft Mark e. V.

in Verbindung mit dem Stadtarchiv Dortmund

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Heimat DortmunD Editorial | 5

Herausgeber: Historischer Verein für Dortmund und die Grafschaft Mark e. V. unter Mitwirkung des StadtarchivsGeschäftsstelle: Christel Glasen, Märkische Str. 14, Zim. 407, Tel.: 0231/50-23690; Fax: 0231/50-26011Inhaltliche Gesamtkonzeption, Koordinierung, Text- und Bildredaktion: Dr. Günther Högl, Dr. Karl-Peter EllerbrockRealisation: Achim Nöllenheidt, Klartext VerlagUmschlaggestaltung: Volker Pecher, EssenGesamtherstellung: Klartext Verlag, EssenDie Zeitschrift erscheint dreimal jährlich. Das Einzelheft kostet € 5,00; das Jahresabonnement € 15,00 inkl. Versandkosten.

© Klartext Verlag, Essen 2012ISBN 978-3-8375-0722-5ISSN 0932-9757

Umschlagbild vorne:Ausschnitt eines von Max Aurich gestalteten Plakats mit dem Titel „Die alte Stadt im neuen Kleid“. Hinter der Reinoldikirche als Symbol des historischen Dortmund tauchen mit dem Westfalenhaus, dem Lagerhaus der Union-Brauerei und dem Wasserturm am Südbahnhof die architektonischen Zeugen einer neuen Zeit auf.

Umschlagbild hinten:Familienidylle vor der Industriekulisse der Dortmunder Union, um 1928.Aus dem fotografischen Nachlass von Erich Grisar (Stadtarchiv Dortmund)

Impressum

HEIMAT DORTMUNDSTADTgEScHIcHTE IN BIlDERN UND BERIcHTEN

unsere erste Ausgabe der Heimat Dortmund im Jahr 2012 erscheint als Doppelheft in Buchform, um dem starken Umfang gerecht zu werden.

Die Herausgeber stellen in diesem Band ein breites, spannendes Themenspektrum vor, das neben bereits Be-kanntem auch neuere Forschungsergebnisse und -ansät-ze umfasst. Der Band kann wichtige Impulse für eine interdisziplinäre Geschichte der „Moderne“ in Dort-mund geben.

In den mythisierten „goldenen“ 1920er Jahren offen-barte auch die Arbeiter- und Industriestadt Dortmund zahlreiche innovative Ansätze in der Entwicklung hin zur großstädtischen Infrastruktur und entfachte gerade-zu einen Kulturboom, der für Westfalen und das Ruhr-gebiet eine Leit- und Vorbildfunktion besaß. Die Auto-rinnen und Autoren dieses Bandes haben viel Neues, Verschüttetes und auch Verlorengeglaubtes zwischen Krieg, Revolution, Inflation und Krise zutage gefördert.

Für die inhaltliche Gesamtkonzeption dieser Publika-tion möchte ich mich ganz besonders bei Herrn Dr. Günther Högl, Direktor des Stadtarchivs, und Herrn Dr. Karl-Peter Ellerbrock, Direktor des Westfälischen

Wirtschaftsarchivs, bedanken, die auch als Autoren zum Gelingen dieser Ausgabe beigetragen haben. Mein Dank gilt auch allen weiteren Autorinnen und Autoren sowie Mitarbeitern aus Archiven, Universitäten, Fach-hochschulen, Museen und städtischen Kultureinrich-tungen. In meinen Dank schließe ich gerne auch alle sonstigen mitwirkenden Historiker/Innen, darunter zahlreiche Vorstandsmitglieder des Historischen Ver-eins, mit ein, die sich tatkräftig an diesem Projekt betei-ligt haben.

Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich viele neue Erkenntnisse und Entdeckungen bei der Lektüre des breit gefächerten Panoramas der Kultur- und Sozial-geschichte Dortmunds in den spannenden 1920er Jahren.

Adolf MikschVorsitzender des Historischen Vereinsfür Dortmund und die Grafschaft Mark

liebe leserinnen, liebe leser,

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Heimat DortmunD Heimat DortmunD Inhalt | 76 | Inhalt

5 | Editorial

8 | Autorinnen und Autoren

9 | Dr. günther Högl zum 65. geburtstag

JochenGuckes10 | „Aufstieg zur großstadt“ WieDortmundsBürgertumdieZukunftderStadtsah

RenateKastorff-Viehmann17 | „Vier Städte“ ProvinzstadtundmoderneGroßstadt,halbländische industrielleRegionundmoderneIndustriestadt– dasalleswarDortmund!

PeterKroos26 | großstadtarchitektur für Dortmund DasneueGebäudederAOKamKönigswallalsBeispiel

MatthiasDudde28 | Personalpolitik in der jungen Demokratie DiebesoldetenMagistratsmitgliederinDortmund1918–1932

GüntherHögl33 | Parteien und Kommunalpolitik zwischen Revolution, Inflation und Wirtschaftskrise 1919–1929 DieStadtverordnetenwahlenunddaspolitischeGefüge inDortmund

HansBohrmann41 | Die Dortmunder Presse der 1920er Jahre

KlausWinter46 | Von der „Kieltante“ Erinnerungenandie„WestfälischeAllgemeineVolks-Zeitung“

TheoHorstmann50 | Plakate für Kommerz und Politik DortmunderPlakatkünstlerinden1920erJahren

Karl-PeterEllerbrock57 | Die gründung des Dortmunder Flughafens im Spannungsfeld regionaler Interessensgegensätze

NancyBodden64 | Kraftwagen und Flaschenbier NeueHerausforderungenfürdie DortmunderBrauwirtschaft

MatthiasDudde69 | Kraftstoffe für Automobile Zapf-undTankstellenwährendderMotorisierung inden1920erJahren

GabrieleUnverferth75 | Zwischen Krieg und Krise RationalisierungundMechanisierung imDortmunderBergbau

ChristianKleinschmidt 82 | Das „Deutsche Institut für technische Arbeitsschulung“ (Dinta) „Menschenökonomie“undWerksgemeinschaft inden1920erJahren

Karl-PeterEllerbrock 87 | Die Weltwirtschaftskrise von 1929: ein Wendepunkt in der deutschen geschichte

GüntherHögl 92 | Die Troika der Massenkultur DerDortmunderVolkspark:Westfalenhalle– StadionRoteErde–Volksbad

HermannJosefBausch 99 | „Kommunismus der Kunst“ und „die Pflege des guten im Menschen“ DasEngagementdesFreidenkersundPazifisten LotharEngelbergSchückingfürdasKulturleben inDortmund

AloisKlotzbücher108 | literarisches leben liberal-sozial: Dortmund in den 1920er Jahren

KarlLauschke114 | literatur über die Ruhrprovinz

Westfalenhalle,um1930(StadtarchivDortmund)

GabrieleToepser-Ziegert121 | Als Dortmund auf dem Weg zur Weltstadt war DerPressezeichnerEmilStumppbeim DortmunderGeneral-Anzeiger1926–1933

UlrikeGärtner127 | lichtblicke TheaterundAvantgardeinDortmund

HanneliesePalm131 | Arbeitertheater in Dortmund Bildung,UnterhaltungundAgitation

IngoGrabowsky137 | Kesse Nuditäten und philosophische Revuen MusikundVergnügenimDortmundder1920erJahre

OlgeDommer143 | Paläste der Zerstreuung KinoundUrbanitätimDortmundder1920erJahre

AndreaZupancic148 | Erich grisar – Fotografie in den „goldenen Zwanzigern“

BrigitteBuberl153 | So viele Bilder – soviel Kunst? DortmunderKünstlerder1920erJahre

160 | Neue literatur zur Dortmunder Stadtgeschichte

FotomontagealsBeispielfürdasmoderneDortmund:PädagogischeAkademieundArbeitsphysiologischesInstitut(oben)undWestfalenhauskomplex(unten)(aus:DasistDortmund,hg.vomStädtischenVerkehrs-undPresseamtDortmund,o.J.)

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Heimat DortmunD Heimat DortmunD Dr. Günther Högl zum 65. Geburtstag | 98 | Autorinnen und Autoren

Autorinnen und Autoren

Hermann Josef BauschDiplom-Archivar, Stadtarchiv Dortmund

Nancy Boddenwissenschaftliche Mitarbeiterin bei der StiftungWestfälisches Wirtschaftsarchiv, Dortmund

Dr. Hans Bohrmannehem. Direktor des Instituts für Zeitungsforschung,Prof. am Institut für Journalistik der TU Dortmund

Dr. Brigitte BuberlKunsthistorikerin, Museum für Kunst undKulturgeschichte, Dortmund

Olge Dommer, M.A.Kunsthistorikerin, wissenschaftliche Referentin am LWL-Industriemuseum, Referat Sammlung, Dortmund

Matthias DuddeFreiberuflicher Historiker, Dortmund

Dr. Karl-Peter EllerbrockDirektor der Stiftung WestfälischesWirtschaftsarchiv, Dortmund

Dr. Ulrike GärtnerKunsthistorikerin, Dortmund

Dr. Ingo Grabowskywissenschaftlicher Mitarbeiter des Lotman-Institutsder Ruhr-Universität-Bochum

Dr. Jochen GuckesHistoriker, Berlin

Dr. Günther HöglDirektor des Stadtarchivs Dortmund

Dr. Theo HorstmannHistoriker, Dortmund

Prof. Dr. Renate Kastorff-ViehmannFachhochschule Dortmund, Fachbereich Architektur

Prof. Dr. Christian KleinschmidtPhilipps-Universität Marburg, Lehrstuhl fürWirtschafts- und Sozialgeschichte

Dr. Alois KlotzbücherLeiter der Stadt- und Landesbibliothek Dortmundim Ruhestand

Dr. Peter KroosArchitekt Mitglied im Vorstand desBDA Dortmund-Hamm-Unna

PD Dr. Karl LauschkeTU Dortmund, Historisches Institut

Hanneliese PalmLeiterin des Fritz-Hüser-Instituts für Literaturund Kultur der Arbeitswelt, Dortmund

Petra SkromnyBibliothekarin des Stadtarchivs Dortmund

Dr. Gabriele Toepser-ZiegertLeiterin des Instituts für Zeitungsforschungder Stadt Dortmund

Gabriele Unverferthwissenschaftliche Mitarbeiterin bei der StiftungWestfälisches Wirtschaftsarchiv, Dortmund

Klaus WinterHistoriker, Dortmund

Dr. Andrea ZupancicKunsthistorikerin, Stadtarchiv Dortmund

Dr. günther Högl zum 65. geburtstag

Der vorliegende Band setzt die über viele Jahre gewach-sene vertrauensvolle Zusammenarbeit mit einem in dieser Zeit auch zum Freund gewordenen Kollegen erfolgreich fort. Günther Högl hat seine akademische Heimat an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, wo er 1982 bei Prof. Gerhard A. Ritter mit dem Thema „Gewerk-schaften und USPD. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung unter besonderer Berück-sichtigung des deutschen Metallarbeiter-, Textilarbeiter- und Schuhmacherverbandes“ promovierte. Im August 1978 kam Günther Högl nach Dortmund und übernahm die wissenschaftliche Leitung des Forschungs- und Aus-stellungsprojekts „Widerstand und Verfolgung in Dort-mund 1933–1945“, das vom Stadtarchiv Dortmund in enger Kooperation mit Prof. Hans Mommsen von der Ruhr-Universität Bochum initiiert wurde. Die Ausstel-lung wurde zunächst im Dortmunder Stadthaus gezeigt, zwischen 1989 und 1992 neu konzipiert und in das nach Auflagen der Denkmalbehörde renovierte und restaurier-te ehemalige Polizeigefängnis Steinwache eingebracht, seit Herbst 1992 Mahn- und Gedenkstätte und noch heute wichtiger Erinnerungsort an die nationalsozialisti-sche Schreckensherrschaft in Dortmund. Bevor Günther Högl 1987 zum stellvertretenden Leiter des Stadtarchivs Dortmund und 1992 zum wissenschaftlichen Leiter der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache in Dortmund berufen wurde, leitete er das Projekt „Dortmund im Wiederaufbau 1945–1960“. Seit 1995 ist Günther Högl Direktor des Dortmunder Stadtarchivs und, mit diesem

Amt verbunden, auch Geschäftsführer des Historischen Vereins für Dortmund und die Grafschaft Mark.

Ich selbst arbeite seit 1989, als ich zunächst die Leitung des Hoesch-Archivs und seit 1996 des Westfälischen Wirtschaftsarchivs übernahm, mit Günther Högl eng zusammen. Wir können auf eine Vielzahl gemeinsamer Projekte zurückblicken, in denen sich politische, wirt-schafts-, sozial- und kulturgeschichtliche Fragestellungen in nahezu idealer Weise ergänzten; erinnert sei nur an die Publikation zum 100-jährigen Bestehen des Dortmunder Hafens und die erste systematische Beschäftigung mit der westfälischen Luftfahrtgeschichte anlässlich des 75-jährigen Bestehens des Flughafens Dortmund.

Günther Högl hat sich in besonderer Weise um die Dortmunder Stadtgeschichte verdient gemacht, davon zeugt nicht zuletzt die vorliegende Publikation, an der sich über 20 Fachkollegen beteiligt haben. Ihre Beiträge sind allesamt Ausdruck der persönlichen Wertschätzung des scheidenden Stadtarchivdirektors.

Dortmund, im März 2012

Dr. Karl-Peter EllerbrockDirektor der Stiftung Westfälisches Wirtschaftsarchiv

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Heimat DortmunD Heimat DortmunD „Aufstieg zur Großstadt“ | 1110 | „Aufstieg zur Großstadt“

„Aufstieg zur Großstadt“Wie Dortmunds Bürgertum die Zukunft der Stadt sah

vonJochenGuckes

Die 1920er Jahre waren nicht nur die „Goldenen Zwanziger“ – für viele Zeitge-nossen waren sie auch eine Zeit der Krisen und Umbrüche, mit unübersehbar vielen Neuerungen, die Angst machten oder zu-mindest verunsicherten. Das Symbol die-ser „modernen Zeiten“ war die Großstadt. Eine häufige Reaktion der Zeitgenossen war daher die Flucht in eine ausgespro-chene Großstadtfeindschaft. Vor allem im deutschen (Bildungs-)Bürgertum hatten solche kulturkritischen Einstellungen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts an Ein-fluss gewonnen. Da diese damals relativ kleine soziale Gruppe weit mehr als ande-re mit Deutungs- und Selbstdeutungsfra-gen beschäftigt war, besaß sie eine enorme gesellschaftliche Bedeutung, die über ihre zahlenmäßige Größe weit hinausging. Das galt auch in Dortmund. Und auch in Dortmund gab es Bildungsbürger, die die vermeintlichen Auswüchse der Moderne bekämpfen wollten. Ein steingewordenes Beispiel für diese Haltung stellt das Stadi-on Rote Erde dar. Es sollte nicht etwa eine bloße Sportanlage mit Zuschauerrängen sein, sondern vielmehr eine „Kampfbahn“ im emphatischen Sinne. Anders als bei den Sechstagerennen, die kurze Zeit spä-ter in der neuen Westfalenhalle als Ver-gnügungsevents zu Kassenschlagern wer-den sollten, ging es hier um Leibesertüch-tigung im Dienste der Volksgesundheit. Diese inhaltliche Auffassung des zuständi-gen Baustadtrates Hans Strobel schlug sich auch in der dekorativen Gestaltung

nieder. In einer Vorstellung seines Werkes in der renommierten Architekturzeit-schrift „Bauwelt“ schrieb er 1926: Von al-lem überflüssigen Beiwerk wurde mit Absicht abgesehen. Nur über dem Eingang fand eine von dem Bildhauer Heinr. Bayer entworfene,

vom Eisen- und Stahlwerk Hoesch gestiftete, 3,20 m hohe Steinplastik Aufstellung, darstel-lend einen sportgestählten Jüngling, der die ihn umwindende Schlange der Krankheit, der Genußsucht und Unnatur abwehrt: ‚Sieg über den Großstadtsumpf‘.

KulturkritikinStein:WesteingangderKampfbahnRoteErde(StadtarchivDortmund)

BlickaufdenKörnerPlatzunddasneueKellerhochhausderDortmunderUnion-Brauerei,um1930(WestfälischesWirtschaftsarchiv)

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Heimat DortmunD Heimat DortmunD „Aufstieg zur Großstadt“ | 1312 | „Aufstieg zur Großstadt“

Fortschrittsorientierungim bürgerlichen Milieu

Die Voraussetzungen für eine weitere Ausbreitung solch einer kulturkritischen Haltung waren zunächst auch in Dort-mund vorhanden gewesen: Auf die mittel-alterliche Blütezeit als Reichs- und Han-sestadt war ein langanhaltender politi-scher, wirtschaftlicher und kultureller Abstieg gefolgt, und das Dortmunder Stadtbürgertum war im Großen und Gan-zen kein Hort der Innovation, sondern eher traditionsverhaftet und selbstgenüg-sam. Genau in solchen kleinstädtischen Milieus waren die Kulturkritiker beson-ders stark vertreten. Dann aber begann in der Mitte des 19. Jahrhunderts der Auf-

stieg zur Industrie-Großstadt. Das änder-te alles. Es bildete sich eine gänzlich neue Sozialstruktur heraus. Das alte Stadtbür-gertum wurde zur kleinen Minderheit, zwischen zahllosen Arbeitern mit ihren Familien einerseits und wenigen einfluss-reichen Wirtschaftsbürgern sowie haupt-sächlich technisch orientierten Bildungs-bürgern andererseits. Dadurch traten neue Deutungskulturen in den Vordergrund, andere Sichtweisen auf Kultur und Gesell-schaft. Urbanisierung und Industrialisie-rung hatten im Ruhrgebiet einen ganz ei-genen Typus von Stadt geschaffen, der sich von alten Bürgerstädten grundlegend un-terschied. Aber auch in diesem ganz und gar unbürgerlichen Umfeld einer proleta-risch geprägten Massengesellschaft mit nur wenig kulturellen Angeboten versuch-

ten die Angehörigen des kleinen bürgerli-chen Milieus den Ansprüchen bürgerli-cher Lebensführung zu genügen, insbe-sondere angesichts der regen Konkurrenz, die die deutschen Kommunen sich unter-einander machten. Ihr Ziel war es, alle At-tribute einer „bürgerlichen“ Stadt auch in Dortmund vorweisen zu können, vor al-lem Kultur- und Geselligkeitseinrichtun-gen sowie ein Stadtbild mit imposanten „Monumentalbauten“. In der aufstreben-den Industriestadt bedeutete das meist Auf- und Neubau, nur selten hingegen Bewahrung des Alten und der Traditio-nen.

Diese Grundkonstellation des ausge-henden 19. Jahrhunderts wurde auch durch den Verlust der politischen Macht des Bürgertums an die Arbeiterparteien nach 1918 nicht wesentlich verändert und dauerte in den 1920er Jahren an. Die Mehrheit der kommunalen Eliten war ge-radezu zwangsläufig dem Fortschritt und der Großstadt gegenüber positiv einge-stellt. Die Dominanz der Industrie tat ihr Übriges dazu. Bilder von Alt-Dortmund und Alt-Westfalen wurden immer mehr zu nostalgischen Referenzen im alten Mittelstand der Händler und Handwer-ker, Gegenwart und Zukunft hingegen gehörten der Industriewelt im Ruhrgebiet, die in aller Regel den Bezugsrahmen für die Dortmunder Bürger abgab. Für die Arbeiterschaft mit ihrer klaren Fort-schrittserwartung und Moderneorientie-rung galt dies umso mehr, ebenso wie für den neuen Mittelstand der Angestellten, die von den Möglichkeiten der Großstadt am meisten profitierten. In einer städti-schen Werbeschrift schrieb Stadtbaurat Wilhelm Heinrich Delfs 1927 folgerich-tig: Die Fliegeraufnahme von Dortmund zeigt das, was Dortmund ist und sein will, die Stadt der Kohle und des Eisens. Von Hei-mat oder der Ablehnung von Großstadt und Industrie war dort keine Rede. In ei-nem Presseartikel über Dortmund schwärmte der Chef des Presseamtes, Gerhard Wagner, sogar geradezu von der Schönheit der Industrie: „Land ohne Bae-deker“ ist das Industriegebiet neulich einmal genannt worden. Tatsächlich ist es für die meisten Deutschen völliges Neuland. Viel-leicht, daß dieser oder jener einmal nachts die-se Gegend durcheilt und das gewaltige Schau-spiel des flammenden Himmels erlebt, mit je-nem inneren Schauder, den unverstandene Urgewalt auszulösen pflegt. Der unnennbare Rhythmus aber, der hier im hastigen Tag und in der nimmerruhenden Nacht ist, zieht jeden einzelnen in seinen Bann. Man kann die

Schönheit dieser Gegend, die in der Auswir-kung dieser unerhörten Arbeitsenergie einer-seits und in den monumentalen Bauwerken und in den herrlichen Parks und Wäldern an-dererseits liegt und als Gesamtheit untrenn-bar miteinander verbunden ist, nur verste-hen, wenn man innerlich im Rhythmus der Arbeit mitschwingt. Ist man aber zu diesem Gleichklang gekommen, dann muß man die grandiose Schönheit des Industriegebietes ver-stehen. Klassische Kulturkritik war in einer solchen Stadt weder sinnvoll noch wirk-lich möglich. Sie blieb die Überzeugung einer absoluten Minderheit, die in Dort-mund nur wenig Einfluss hatte. Zu deut-lich war die Notwendigkeit, sich mit den Gegebenheiten der Industriestadt positiv zu identifizieren, auch und gerade mit ih-ren negativen Seiten, die andernorts die Grundlage der Großstadtkritik bildeten. Umweltverschmutzung und Lärm etwa

wurden verklärt und zu Opfern für die Na-tion stilisiert, die proletarische Vergnü-gungskultur fand in den etwas derberen Trinkgewohnheiten des Dortmunder Bür-gertums einen Niederschlag, und die städ-tebauliche Situation wurde vor allem als Herausforderung aufgefasst: Nur ein noch mehr an Großstadt, ein mehr an Urbanität könne das Ziel sein, so der Tenor zahlrei-cher Artikel in der bürgerlichen Dort-munder Zeitung. Am 4. November 1927 etwa hieß es dort unter der Überschrift „Notwendige Wandlungen im Dortmun-der Stadtbild II“: Wir haben als größte Stadt Westfalens die Pflicht, dafür zu sorgen, daß das Äußere unserer Stadt demjenigen ent-spricht, was man sich unter dem Begriff einer wirklichen Großstadt denkt. Wir sind die Metropole Westfalens, also einer der reichs-ten und wichtigsten Provinzen des Reiches, vielleicht sogar Europas. Es kann nicht länger

geduldet werden, daß unsere Stadt einen der-artig vernachlässigten und unfertigen Ein-druck macht, wie dies an so vielen Punkten leider der Fall ist.

Urbanität durch Modernitätund Technik

Die ständige Rede vom notwendigen Auf-stieg zur Großstadt verweist zugleich dar-auf, dass die Realität häufig anders aussah: Trotz der großen Einwohnerzahl schien die „Halbmillionenstadt“, die Dortmund mit den beiden großen Eingemeindungen 1928 und 1929 geworden war, eben doch kein wirklich urbaner Ort zu sein. Das sa-hen auch schon zeitgenössische Kritiker so, etwa der Journalist Georg Schwarz oder, mit Blick auf das gesamte Revier, sein Kollege Erik Reger. Solche Zweifel, gepaart mit dem ständig manifestierten ernsten Willen zur Großstadtwerdung, ver-ließen die Stadt übrigens bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr: Auch im Wiederaufbau nach 1945 hieß es beim damaligen Presseamtschef Willy Weinauge noch programmatisch: „Von der großen Stadt zur Großstadt“.

Gleichwohl waren Urbanität und Mo-dernität schon in den 1920er Jahren im Ruhrgebiet deutlich spürbar – weniger zwar als in Metropolen oder traditionsrei-chen Zentren des Bürgertums, aber in den alten Hellwegstädten doch mehr als aus-wärts vermutet. Das augenfälligste Ele-ment war hier die moderne Massengesell-schaft, die das glatte Gegenteil zur klein-städtischen Atmosphäre der vorindustriel-len Zeit darstellte. Die Anonymität der Großstadt prägte Dortmund ganz ohne Zweifel, jedenfalls in der Innenstadt. Dort waren auch die klassischen Attribute der Moderne zu bestaunen: Licht, Lärm und Verkehr, und zwar nicht nur der Industrie-anlagen, sondern auch der Geschäfte und Vergnügungseinrichtungen.

Zusammen mit neuartigen Hochhäu-sern und einem immer schnelleren Tempo des städtischen Alltags wurden sie in der Presse gefeiert. Unter der Überschrift „Dortmund, die Stadt der Turmhäuser“ hieß es am 17. August 1929 in der Dort-munder Zeitung: Deutschland ist im Be-griff, sich zu amerikanisieren. Wir haben ein verschärftes Tempo in jeder Lebensäußerung angenommen. Schneller braust der Verkehr durch Stadt und Land. Heftiger ist der Wir-bel der Arbeit und des Genusses. Der Sportbe-trieb vollends weist eine gesteigerte Intensität auf. Gilt das vorstehende schon für unser Va-

Großstadtverkehr:AmBurgtor(aus:MaxPaulBlock,DerGigantanderRuhr,1928,S.10)

DieÜberbleibseldes„AltenDortmund“nebendemNeuen:Westfalenhaus,um1932(StadtarchivDortmund)

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Heimat DortmunD Heimat DortmunD „Aufstieg zur Großstadt“ | 1514 | „Aufstieg zur Großstadt“

terland ganz allgemein, so hat es für die Städ-te, in denen sich ein verschärfter Lebenswirbel konzentriert, erhöhte Geltung. Für die Städte unseres Industriebezirks aber, wo eiliger als sonst irgendwo Erwerb und Verkehr pulsiert, gilt dies alles in vielfach potenziertem Maße. Wohl keine Stadt aber ist so kräftig hiervon ergriffen worden wie unsere Heimatstadt, die mehr als alle anderen von diesem lebhaft ge-steigerten Impuls ergriffen ist.

Ein weiteres untrügliches Zeichen der Urbanität in Dortmund war die Dichte an Einrichtungen der Hochkultur sowie der

Vergnügungskultur. Theater, Museen und Bibliotheken gehörten ebenso dazu wie Tanzsäle, Kinos und Kneipen. Der beson-dere Charakter der Industriestadt blieb jedoch stets spürbar: Die Werksanlagen der Montanindustrie prägten den Alltag unübersehbar. Zwangsläufig schlugen sie sich auch in den bildlichen Darstellungen Dortmunds und in den künstlerischen Auseinandersetzungen mit der Stadt nie-der. Die Technik als Inbegriff der Moder-ne hatte hier einen ganz anderen, unmit-telbareren Stellenwert als andernorts. Sie

prägte die Bilder von der Stadt. In der In-dustriefotografie Erich Angenendts etwa wurde die Industrietechnik sogar zum Symbol für Dortmund. Technik war zu-gleich auch ein beherrschendes Thema der Dortmund-Literatur. Die Industrielyrik des Direktors der Stadt- und Landesbiblio-thek, Erich Schulz, ist ein Beispiel hierfür.

Ein weiterer Indikator der Urbanität Dortmunds waren Architektur und Städ-tebau. Neue monumentale Gebäude ent-standen, und zugleich waren funktionale „Verkehrsplätze“ das Ziel der Stadtplaner.

Die „Stadt der Turmhäuser“ war nicht nur ein Hirngespinst, sondern im Vergleich zu anderen ähnlich großen Städten fast schon Realität, jedenfalls für die damaligen Ver-hältnisse.

Zeitgeist und ArchitekturDie Wahl des Architekturstils repräsen-tierte meist recht genau die gesellschaftli-chen, politischen und kulturellen Vorstel-lungen der Verantwortlichen – sowohl der Architekten als auch ihrer oft kommuna-

len Auftraggeber. Ein Panorama der vor Ort präsenten Positionen ist daher sehr aufschlussreich: In der Zusammenschau wird deutlich, welche Variante des Zeit-geistes in Dortmund dominant war. Selbst letztlich nicht realisierte Projekte sprechen hier eine deutliche Sprache: Sie waren Wunschbilder von der Zukunft der Stadt, sie zeigen, wie man sein wollte und beein-flussten bereits durch die öffentliche Dis-kussion das Image der Stadt.

Die Vergangenheit als architektonischer Orientierungspunkt spielte in Dortmund nach 1918 nahezu keine Rolle mehr. Die erhaltenen wertvollen historischen Bau-werke, allen voran die vier mittelalterli-chen Kirchen, wollte man zwar weiter schützen, als Vorbild dienten sie aber nicht

einmal mehr den wenigen ausgesproche-nen Nostalgikern. Stadtarchivarin Luise von Winterfeld etwa bedauerte lediglich, dass der Zauber alter westfälischer Städte im Dortmund der Gegenwart fehle. Versuche, diesem Manko durch neue Bauten im his-torisierenden Heimatstil abzuhelfen und diese gar mit einem erzieherischen Auf-trag im Geiste der Kulturkritik zu verse-hen, waren hingegen von Vornherein zum Scheitern verurteilt. Sie passten nicht mehr in das fortschrittsorientierte Indust-riegebiet, genauso wenig wie die Bemü-

hungen der Heimatbewegung insgesamt. Das lokale Bürgertum fühlte sich von die-sem Ansatz nicht mehr repräsentiert. Die weitverbreitete konservative, autoritär-na-tionalistische Grundstimmung der Dort-munder Honoratioren stand dem nicht im Wege – sie suchte sich neue Ausdrucksfor-men.

Weitaus besser wurde die Stimmung von Pragmatikern wie den Stadtbauräten Walter Hartleb und Wilhelm Heinrich Delfs oder dem Amtsleiter Erich Kabel getroffen. Sie bauten und planten für die moderne Industrie-Großstadt, sachlich im Stil und auf der Höhe der Zeit, aber ohne große Visionen oder sozialpolitische An-sprüche. Von der Avantgarde der Neuen Sachlichkeit war das weit entfernt. Deren

Eleganz schien im Industriegebiet nicht zu passen und auch nicht den Geschmack der Menschen zu treffen. Eine gewisse Schwere und Erdverbundenheit kam im konservativen Bürgertum besser an, zumal damit ja gerade kein Verzicht auf moderne Bauten und repräsentative Projekte ver-bunden war. Ein klares Bekenntnis zu technischem Fortschritt, Modernität und Großstadt war nämlich das Hauptanlie-gen der meisten Dortmunder Bürger.

Einige zentrale Bauvorhaben der 1920er Jahre verdeutlichen dies. Sie verbanden die

Attribute und Erfordernisse der moder-nen Großstadt mit einem konservativen gemäßigt modernen Stil.

Der bekannteste Dortmunder Bau der Zwischenkriegszeit war zweifellos die Westfalenhalle, ein überregionales Symbol für die Vergnügungs- und Freizeitkultur – und zugleich für ihren Stellenwert in der Stadt. Das zweite Schlüsselthema einer modernen Großstadt, der Verkehr, war ebenfalls prominent vertreten. Die Neu-bauten auf dem Dortmunder Flughafen repräsentierten es würdig und wurden stolz als Beispiele für „Neue Stadtbau-kunst“ in Dortmund angeführt. Wesent-lich wichtiger für das Stadtbild waren al-lerdings die eigentlichen „Monumental-bauten“ in der Innenstadt, der Erweite-

Industrie-ÄsthetikinStadtbildundFotografie:dasEisen-undStahlwerkHoesch(StadtarchivDortmund)

ModerneArchitekturinDortmund:dieEmpfangshalledesFlughafens,Delfs1928(StadtarchivDortmund)

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Heimat DortmunD Heimat DortmunD „Vier Städte“ | 1716 | „Aufstieg zur Großstadt“

„Vier Städte“Provinzstadt und moderne Großstadt, halbländliche industrielle Region und moderne Industriestadt – das alles war Dortmund!

vonRenateKastorff-Viehmann

Wer während 1920er Jahre im Gebiet des heutigen Dortmunds wohnte oder die Stadt und die umgebenden Bürgermeiste-reien besuchte, der oder die konnte sehr unterschiedliche Formen städtischen bzw. industriestädtischen Lebens und damit verbunden auch verschiedene Stadt- und Siedlungsformen erfahren; außerdem fand man noch recht traditionelle ländliche Daseinsformen in Dörfern wie Brechten, Holthausen und Groß Holthausen, eben-falls im alten Ortskern der Hellwegdörfer Asseln oder Brackel. Nach den Einge-meindungen von 1928 und 1929 lagen diese Orte alle innerhalb der Stadtgren-zen. Im Ergebnis war die Stadtgesellschaft fragmentiert; man blieb vielerorts „für sich“. Aber überall, selbst in den alten Dorflagen, prägten die Kulissen von Berg-bau und Stahlindustrie den Horizont. Die Gegenwärtigkeit der Industrie war nicht zu übersehen.

Obwohl es sich um eine äußerst dyna-mische Industriestadt handelte, deren Lärm- und Rauch-Emissionen vor kei-nem Hindernis Halt machten, konnte man anscheinend in Dortmund in ver-schiedenen Welten leben und sehr unter-schiedliche Lebensformen entwickeln, egal wie nahe alles nebeneinander existier-te und wie eng es im Raum der Stadt mit-einander verschränkt war: Manche Ein-wohner des alten Dortmunds (und viel-leicht auch des alten Hördes, Lütgendort-munds oder im alten Mengede) lebten recht bürgerlich und (klein-)städtisch, we-nige waren großbürgerlich und perspekti-visch sogar an der Kultur der Metropolen orientiert. Mehrheitlich waren es proleta-rische Existenzen, fern vom idealen mo-dernen Dortmund und abseits der faszi-nierenden Kultur der „Goldenen Zwanzi-ger“. Oft waren beengte Lebensumstände in den dicht bebauten Quartieren im Schatten der Hochöfen anzutreffen, eben-

so häufig in den halbländlichen „Indust-riedörfern“ und Kolonien in den ehemali-gen Bürgermeistereien. Dort lebte man recht isoliert und selbstgenügsam; von dort aus waren es mindestens ein oder

zwei Stunden Fußwegentfernung bis ins Zentrum der Stadt. Eine in weiten Kreisen der Arbeiterbevölkerung der Vororte ver-ankerte, integrative kulturelle Orientie-rung gründete im Katholizismus; beson-

rungsbau des Stadthauses etwa und mehr noch das Westfalenhaus an der Hansastra-ße, das tatsächlich großstädtische Urbani-tät verkörperte. Nicht zufällig nahm es in einer modernitätsbetonenden Werbebro-schüre der Stadt einen zentralen Platz ein. Das galt gleichermaßen für die Beispiele sachlichen Bauens im neuen zweiten Stadtzentrum am heutigen Rheinland-damm. Die Pädagogische Akademie und das Arbeitsphysiologische Institut der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft waren der Stolz der architekturinteressierten Dort-munder. Ebenfalls von großer Bedeutung waren die Industriebauten im modernen Stil. Wegen seines zentralen Standortes besonders wirksam wurde der Hochkeller der Dortmunder Union-Brauerei am Hauptbahnhof, damals allerdings noch ohne U. Er markierte unübersehbar die enge Verbindung von Industrie und Urba-nität. Für das Selbstverständnis der inter-essierten Dortmunder Bürger ebenso auf-schlussreich sind schließlich die Debatten über die Gestaltung zahlreicher Plätze und Straßen der Innenstadt. Ob es um den Bahnhofsvorplatz, die Wälle oder den Hansaplatz ging: Stets war die Frage, wie der Großstadtcharakter der Stadt zu stei-gern sei. Zahllose letztlich nicht realisierte

Projekte der lokalen Architektenschaft, die ausführlich präsentiert und diskutiert wurden, sollten diesem Ziel dienen.

Die Diskussionen wie die Bauten zeigen deutlich, welche Spielart des Zeitgeistes in Dortmund dominierte: Anders als in ande-ren Industriestädten wie Recklinghausen war hier das Selbstbild vom Fortschritts- und Großstadtgedanken nicht zu trennen. Das einheimische Bürgertum entwickelte daher sogar seine eigene, der Industriestadt angemessene Variante von Bürgerlichkeit: Man wollte alles haben, was man brauchte, um im Vergleich mithalten zu können, aber unter Berücksichtigung der Gegebenheiten vor Ort. Damit wollte man den Anspruch Heinrich Wilhelm Delfs erfüllen, zur mit maßgebenden Industrie-Großstadt Deutsch-lands geworden zu sein.

Quellen und literatur:Aurich, Max, In Dortmund..., Dortmund 1933, Broschüre, SLB DO, Hh 94.

Delfs, [Wilhelm Heinrich], Die städtebauliche Entwicklung Dortmunds, in: J. Buddendiek (Hg.), Das Buch der alten Firmen von Groß-Dortmund im Jahre 1928, Leipzig 1928, S. 12-17.

Delfs, [Wilhelm Heinrich], Neue Stadtbau-kunst. Dortmund, 2. Aufl., Berlin 1928.

100 Jahre Dortmunder Zeitung, 4.10.1928.Reger, Erik, Ruhrprovinz [1929], in: Erhard

Schütz (Hg.), Die Ruhrprovinz – das Land der Städte. Ansichten und Einsichten in den grünen Kohlenpott. Reportagen und Berichte von den zwanziger Jahren bis heute, Köln 1987, S. 86-93.

Schulz, Erich, Mein Ruhrland, in: Stadt Dort-mund, hg. im Verein mit dem städtischen Ver-kehrs- und Presseamt vom Verkehrsverein Dort-mund e.V., Dortmund [1925], S. 94.

Schwarz, Georg, Kohlenpott: Ein Buch von der Ruhr, Berlin 1932.

Stadt Dortmund, Stadtplanungsamt (Hg.), Das Neue Dortmund. Planungen für eine Großstadt, 1926-1931. Quellen und Dokumente aus Dort-munder Zeitungen, Dortmund 1994.

Strobel, Hans, Die Dortmunder Kampfbahn „Rote Erde“, in: Bauwelt 17 (1926), S. 1-8.

Wagner, Dr. [Gerhard], Was Dortmund den Fremden bietet, in: Deutsche Luftfahrt 5 (1932), S. 15-20.

Wagner, Dr. [Gerhard]/Burchartz, [Max]/Gug-genberger, [Max], Dortmund, Dortmund o.J. [um 1932], Broschüre.

Weitere Nachweise finden sich in: Guckes, Jochen, Konstruktionen bürgerlicher Identität. Städtische Selbstbilder in Freiburg, Dresden und Dortmund, Paderborn 2011.

HortderMassenkultur:diealteWestfalenhalle(StadtarchivDortmund)

BlickindieBrückstraßeunddieReinoldistraßeum1928(StadtarchivDortmund)

„BeiMengede“(aus:MaxPaulBlock,DerGigantanderRuhr,1928,S.38)

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Heimat DortmunD Heimat DortmunD „Vier Städte“ | 1918 | „Vier Städte“

ders Frauen in den berg bau lich geprägten Vororten und in den peripheren Arbeiter-kolonien gewannen darüber ihre kulturelle Identität. Daneben trugen viele Menschen noch selbst erlebte oder erzählte Erinne-rungen an vorindustrielle Lebensformen mit sich. Der Journalist Georg Schwarz, der die Realität an der Ruhr farbig und kritisch kommentierte – und gleichzeitig ohne ironische Nebentöne vom „neuen Typus des Industriemenschen“ schreiben konnte –, gab 1931 in seinem Buch über den „Kohlenpott“ folgende Lagebeschrei-bung ab: „Der provinzielle Charakter der Menschen erschlägt den technischen Fort schritt der Stadt und erschwert die Überwindung klassenfeindlicher Bin-dungen und An schauun gen. Die kirchli-che Propaganda macht sich in ihrer Schein heiligkeit diese Zustände zunutze. Der katholischen Bevormundung gelingt es, das kulturelle Niveau, die Moralauffas-sung, das Privat- und Familienleben eines Landes auf den Standard von 1850 zu-rückzuschrauben.“

Dortmund musste dringend moderni-siert werden, kulturell, architektonisch, in den städtebaulichen Bezügen, in den Ver-kehrsverhältnissen, was das Wohnungswe-

sen betraf und hinsichtlich des Freizeitan-gebots. Es genügte nicht, dass es in der Stadt ein vielfältiges Angebot an Garten-wirtschaften, Tanzlokalen und anderen Vergnügungs-Etablissements gab. Ähn-lich differenziert wie die soziale, stadt-räumliche und stadtkulturelle Realität wa-ren die Vorstellungen hinsichtlich der möglichen Entwicklung von Stadt und städtischem Raum. Die industriestädti-sche Zukunft schien offen – und vielver-sprechend, vorausgesetzt es wurde der richtige Weg eingeschlagen. Dabei wirk-ten mächtige Interessen; es waren vor al-lem die Sachwalter der Industrie und die privaten Grundbesitzer, welche die Verfü-gung über den Raum der Stadt bean-spruchten und ausübten. Maßgeblichen politischen Einfluss besaßen ab 1919 auch die Sozialdemokratie und die ihr naheste-henden Gewerkschaften. Fertige, abge-stimmte Entwicklungsvorstellungen hatte aber niemand zur Hand. Modellhaft wa-ren es „vier Städte“, die für Dortmund während der Jahre der Weimarer Republik zu Auswahl zu stehen schienen, und die mehr oder weniger offensiv von Architek-ten, Städtebauern und leitenden Verwal-tungsleuten zur Diskussion gestellt wurden:

einmal die moderne Großstadt mit Hoch-häusern und prägnanter Großstadtarchi-tektur in der City, daneben die in den Bau-gebieten und in der Fläche funktional ge-gliederte zeitgemäße Stadt, drittens die in der Realität zwar hoch problematische, in der Fiktion jedoch fast als futuristisch zu bezeichnende Industriestadt, die noch der städtebaulichen Ordnung bedurfte, und nicht zuletzt die Stadt Dortmund als er-neuerte „deutsche Heimat“ mit umfängli-chem Traditionsbestand. Das Eine schloss das Andere nicht generell aus; Koexistenz schien möglich. Unabhängig davon tauch-ten mit den konkurrierenden Stadtmodel-len sehr unterschiedliche Vorstellungen hinsichtlich der Ökonomie, des Machtge-füges und des Gesellschaftsbildes im da-mals zukünftigen Dortmund auf.

Die city einer großstadtIm Umkreis der Altstadt waren seit der Mitte des 19. Jahrhunderts große, dicht bebaute Quartiere entstanden: die West-stadt, die Nordstadt, das Ostviertel und südlich der Altstadt das Kreuzviertel. Ur-banität, Dichte und Gedränge herrschten vor allem auf dem oberen Westenhellweg,

auf der Brückstraße, am Steinplatz und in der Münsterstraße, der alten Hauptstraße der Nordstadt. Dortmund befand sich auf dem Weg zu einer „richtigen“ Großstadt, besaß jedoch kein großstädtisches Zent-rum. Aber schon kurz nach 1900 und dann erneut während der 1920er und beginnen-den 1930er Jahre wurden in der Altstadt eine Reihe bemerkenswerter Projekte an-gegangen und erste moderne Bauten er-richtet: darunter die beiden Bauabschnitte vom Warenhaus Karstadt, der „Löwenhof“ und der „Fürstenhof“ im Umfeld des neu errichteten Hauptbahnhofes, weitere Ge-schäftshäuser und Bürohäuser am Hell-weg, der Neubau der Sparkasse, das West-falenhaus als erstes „richtiges“ Hochhaus,

das Reinoldihaus, das Kaufhaus C&A, das Hochhaus der Stadtverwaltung an der Be-tenstraße, der Hochkeller der Union-Brauerei („Ein Riesenbau“ hieß es am 17. Nov. 1926 dazu in der Zeitung „Tremo-nia“), das Gebäude der Handwerkskam-mer, die Verwaltung der Allgemeinen Ortskrankenkasse am Wall oder das Ge-bäude der Commerz-Bank am Hansa-platz.

Die „City-Bildung“ war voll im Gange. Aber das vorindustrielle Dortmund – trotz mächtiger Stadtkirchen und einzelner re-präsentativer Steinhäuser am Hellweg wahrlich keine schöne Stadt – hinterließ weiterhin seine Spuren: Abbildungen in Luise von Winterfelds „Geschichte der

freien Reichs- und Hansestadt Dort-mund“ zeigen Überbleibsel einer verwin-kelten, kleinstädtischen Bebauung in der Altstadt, verschieferte zwei- und zweiein-halbstöckige Häuser am oberen Westen-hellweg (wo um 1900 schon Straßenbahn-schienen lagen), ein mittelalterlich wir-kendes Haus in der Wißstraße, das erst 1930 abgebrochen wurde, oder einen ma-lerischen Häuserwinkel Ecke Hansastraße und Schwarze-Brüder-Straße, der bis 1907 /1908 stand. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Trotz detaillierter Flucht-linienbereinigungen, mancher Abbrüche und vieler vier- bis fünfstöckiger Neubau-ten aus der Gründerzeit mit Fassaden in der pompösen Stilarchitektur des Histo-rismus bewahrte die Altstadt von Dort-mund bis weit in die 1920er Jahre ihren provinziellen Charakter. Als ambitionier-ter Journalist oder Architekt sah man sich weit entfernt von dem, was man unter ei-ner modernen Großstadt verstand. Freige-legte Bauflächen, die der Neubebauung harrten, verstärkten zudem den Eindruck einer Stadt im Aufbruch.

Der Hansaplatz, heute ein repräsentati-ver Stadtraum, entstand ab 1911 im Zuge des Straßendurchbruchs der Hansastraße. Damals wurde dort auch der zweite Bau-abschnitt des Warenhauses Karstadt reali-siert. Die planerischen Maßnahmen hatte der damalige Tiefbaudezernent Hermann Bovermann vorbereitet, dem man großes Geschick bei diskreten Grundstückskäu-fen zwecks Umlegung nachsagte. Bover-mann hatte von Verwaltungsseite aus auch 1910 /1912 die Hochlegung der Bahntras-sen (der Neubau des Empfangsgebäudes am Hauptbahnhof stammt von 1912), die planerischen Vorarbeiten für die Ausge-staltung des dortigen Abschnitts des Walls sowie die Anfänge der städtebaulichen Umgestaltung der Umgebung von St. Rei-noldi koordiniert. Der Abbruch der soge-nannten „Reinoldi-Insel“, der südlichen Randbebauung von St. Reinoldi begann um 1910; die dortige „Friedhofsinsel“ ver-schwand erst 1928. Wie gesagt, die Pro-jekte brauchten Zeit; das Zentrum von Dortmund wirkte über Jahrzehnte recht provinziell und provisorisch.

Verständlich, dass die Architektenschaft mehr wollte: neu bauen und modern sein. War doch Berlin, das „Forum des Dezen-niums“, ein großes Vorbild und „Haupt-stadt“ der Neuen Sach lichkeit. Sachlich und dynamisch handelte man fraglos auch in Dortmund; die Neue Sachlichkeit, ab 1926 für einige Jahre eine Art „Staatspro-gramm“, hatte jedoch vor allem in der

SituationamOstenhellweginden1930erJahren(StadtarchivDortmund)

MarktaufdemHansaplatz,um1928(aus:MaxPaulBlock,DerGigantanderRuhr,1928,S.13)

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Heimat DortmunD Heimat DortmunD „Vier Städte“ | 2120 | „Vier Städte“

Hauptstadt ihren Ausdruck gefunden. Vor diesem Hintergrund wurde Mitte der 1920er Jahre in den Dortmunder Tages-zeitungen eine Debatte über den Umbau der Altstadt losgetreten: „Wer des öfteren Fremde vom Hauptbahnhof abholt, wel-che noch nicht in Dortmund waren, dem wird der überaus peinliche Eindruck nicht entgehen, welcher die Umgebung des Hauptbahnhofes auf jeden Besucher macht“, konnten die Dortmunderinnen und Dortmunder am 11. Januar 1925 in der Dortmunder Zeitung lesen. Die Re-dakteure schrieben von Missgriffen und über Schandflecke; Architekten lancierten Alternativ-Entwürfe und Mitglieder des B.D.A. (Bund Deutscher Architekten) holten sich Ende 1926 mit Cornelius Gurlitt einen renommierten Städtebauer als Zeugen gegen eine ihres Erachtens ver-fehlte Entwicklung in der Altstadt. Die Kritik galt ganz konkret Hans Strobel als zuständigem Dezernenten und den von ihm zu verantwortenden Planungen. Im Herbst 1927 endete seine Amtszeit in ei-ner Art Coup. Die Schleusen schienen ge-öffnet, alle Widerstände erledigt; das Um-bautempo in der „Halbmillionenstadt“ konnte nach Strobels erzwungener De-mission schier „atemlos“ machen – glaubt man der Berichterstattung in der Presse.

Am 29. Januar 1931, also mitten in der Weltwirtschaftskrise, bemerkte die Dort-munder Zeitung, „daß ein überaus energi-scher Zug zu modernen Bauformen im besten Sinne des Wortes durch unsere Stadt geht, die stellenweise, wie dies ja von

auswärtigen Besuchern gerne anerkannt wird, ein völlig neues, modernes Antlitz bekommen hat.“ In der Tat waren ver-schiedene Bauvorhaben zum Abschluss gebracht worden (darunter das Westfalen-haus) und endlich die letzten Altbauten („Schandflecke!“) am Hansaplatz gefallen.

Die funktionale StadtDer Enthusiasmus, der in der kurzen Zeit-spanne von 1927 bis 1931 wirkte, war nicht zuletzt der Zustimmung und der Energie zu verdanken, mit der Wilhelm Delfs, der Amtsnachfolger von Hans Stro-bel, ans Werk ging. Als Stadtbaurat zu-ständig seit 1925 für den Hochbau, ab Ende 1927 auch für die Stadterweiterung (und 1931-1937 für alle Technischen Äm-ter), hatte Delfs sich besondere Meriten beim Bau der Westfalenhalle verdient. 1928 gab er in der Reihe „Neue Stadtbau-kunst“ einen Band mit dem Titel „Neue Bauten in Dortmund“ heraus. Es war eine Art Programmschrift, in der er Planungs-erfordernisse klar benannte. Delfs war ein Realist, der die Machtverhältnisse akzep-tierte und die stadträumliche Wirklichkeit nicht ignorierte: Er versprach eine plan-mäßige Stadterweiterung und Sanierung unter den Aspekten Verkehrsstätten, Ar-

beitsstätten, Wohnstätten und Erholungs-stätten anzugehen – denn genau in diesen Bereichen sah er Defizite. Sein Programm für die funktionale Stadt formulierte er übrigens fünf Jahre bevor 1933 die im CIAM (Congrès international du ar-chitecture moderne) versammelten avant-gardistischen Architekten für die funktio-nale Stadt warben.

Gleichzeitig zog Wilhelm Delfs mit dem Buch über „Neue Bauten in Dort-mund“ eine bemerkenswerte Bilanz: Schulbauten und Krankenhäuser (reali-siert wie auch geplant), das Museum am Ostwall, Flughafen, Volkspark, Sportanla-gen, Westfalenhalle und die Siedlung „Zur Sonnenseite“ in Eving (von der Dortmun-der Gemeinnützigen Siedlungsgesell-schaft errichtet) schienen endlich das Bild der Stadt zu prägen, nicht mehr die wind-schiefen Reste vorindustrieller Behausun-gen in Alt-Dortmund oder die engen Ar-beiterquartiere des 19. Jahrhunderts. (Es sei am Rande bemerkt, dass die meisten von Delfs publizierten Projekte noch aus der „Ära Strobel“ stammten). Delfs be-schrieb eine moderne Stadt, deren Antlitz in den „Zügen geglättet“ und im „Aus-druck gemildert“ werden sollte. Dies be-

traf nicht allein den Umbau der Altstadt oder zeitgemäße Siedlungen an der Peri-pherie. Im Rahmen des stückweisen Aus-baus von Westfalendamm und Rheinland-damm betrieb er gemeinsam mit dem Lie-genschaftsdezernenten Eduard Cremer zielstrebig die Entwicklung eines zweiten,

linear aufgebauten Standorts für Einrich-tungen des Sports und Freizeitanlagen, Institute und Verwaltungen. Als Reichs-straße 1 war diese „Dortmunder Achse“ Teil der neuen Ost-West-Magistrale im Ruhrgebiet. Bis 1930 wurden dort die Westfalenhalle, die Pädagogische Akade-

HansastraßeundWestfalenhausum1930(StadtarchivDortmund)

Dr.-Ing.WilhelmDelfs(1885-1958)(StadtarchivDortmund)

DieWestfalenhalle(aus:MaxPaulBlock,DerGigantanderRuhr,1928,S.19)

DiePädagogischeAkademie(heuteFachbereichDesignderFachhochschule)um1930(StadtarchivDortmund)

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Heimat DortmunD Heimat DortmunD „Vier Städte“ | 2322 | „Vier Städte“

mie, das Arbeitsphysiologische Institut der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft, das neue Stadion, der Volkspark, eine große Kaser-ne und der Hauptfriedhof errichtet, noch ergänzt um Villen und um Verwaltungs-gebäude der Privatwirtschaft. Nahe der Kreuzung mit der Lindemannstraße wur-de ebenfalls um 1930 das Versorgungsamt gebaut und ein neues Polizeipräsidium geplant. Alles im architektonischen Aus-druck ganz sachlich, gut erschlossen und mit dem Kraftwagen, dem modernen Transportmittel, zu erreichen. Es war

Stadtentwicklung in großen Zügen, ohne jegliche Romantik (sieht man von der vierreihigen Allee mit Promenade ab) ent-lang einer Au to straße von fast amerikani-schem Zuschnitt. Die Westfalenhalle, eine Ingenieurkonstruktion aus Holz, da mals die größte Veranstaltungs-Halle im Wes-ten, stieg zum Symbol der neuen Freizeit-kultur auf. Fördertürme und Hochöfen, die das alte Revier repräsentieren, sah man nur in der Ferne. Was aber fehlte, das war der General-Bebauungsplan für die funk-tional gegliederte Industriestadt.

Die Industriestadt:real und futuristisch

Und in der Tat war die räumliche Struktur der Stadt äußerst problematisch: In den Außenbereichen gab es eine Vielzahl von Dörfern, Kolonien, Industriedörfern und ehemals selbstständigen Gemeinden in ehemaligen Bürgermeistereien, die funkti-onal und verkehrlich nur unzureichend auf Alt-Dortmund mit seinen großen Stadt-erweiterungsgebieten bezogen waren. Im

Zentrum lagen die Altstadt und die umge-benden Innenstadtbereiche, eingeklemmt zwischen den drei großen Stahlstandorten, der Union im Westen, dem Eisen- und Stahlwerk Hoesch im Nordwesten und dem Werk Phönix und dem Hörder Ver-ein im Süden. Außerdem schnürten aus-gedehnte Bahnanlagen, der Hafen im Nordwesten und die Zechen Fürst Har-denberg und Minister Stein im Norden die Innenstadtbezirke weiter ein. In der Nordstadt lebte man ähnlich wie auf einer Halbinsel, aber nicht von Wasser umgeben

sondern von Industrieanlagen und Glei-sen. Hinzu kam ein ausgedehntes System von schier unüberwindlichen Mauern und Zäunen, die diese Anlagen umgaben und jeglichen Zutritt verhinderten. Wollte Mann oder Frau aus den nördlichen Landgebieten und Vororten zu Fuß in die Stadt gehen oder dorthin mit dem Fuhr-werk oder dem Kraftwagen fahren, musste er oder sie zunächst einen ausgedehnten Industriegürtel durchqueren – um 1900 ebenso wie 1930. Nördlich des Hellwegs fanden sich nur sechs oder sieben Straßen-zugänge, die in die Innenstadtbezirke führten. Ähnlich dunklen Korridoren durchschnitten drei oder vier von ihnen die Werksgelände (welche Gefühle eine solche Straße während der Durchfahrt zu erzeugen vermag, das lässt sich heute noch auf der unteren Huckarder Straße erleben, wo diese das Gelände der „Union“ quert).

Da die Flächennutzungen über Rechts-titel seit der Mitte des 19. Jahrhunderts weitgehend vorgegeben waren, konzent-rierte sich die planende Verwaltung wäh-rend der 1920er Jahre auf städtische Bau-maßnahmen sowie auf eine Verbesserung der Verkehrsverhältnisse, um eine belast-bare Vernetzung sowohl der Industries-tandorte als auch der Siedlungsbereiche herzustellen und um perspektivisch die fehlenden Nord-Süd- und West-Ost-Ver-bindungen auszubauen. Es war insofern konsequent, dass der bis 1928 amtierende Tiefbaudezernent Walter Hartleb als Nachfolger von Hermann Bovermann eng mit den Verkehrsplanern des Siedlungs-verbandes Ruhrkohlenbezirk zusammen-arbeitete und besondere Erfolge hinsicht-lich der Asphaltierung von vorhandenen Stadtstraßen aufweisen konnte.

Aber egal wie wichtig die asphaltierte Straße für den wachsenden Kraftwagen-verkehr war, so ließ sich allein über ein Straßennetz die Stadt nicht als ein aufein-ander bezogenes funktionales Gefüge be-greifen. In diese Lücke stieß der Architekt und Stadtplaner Ernst Kabel, der als Lei-ter der Baupolizei seit 1927 im Dezernat von Wilhelm Delfs arbeitete. Unter dem Eindruck der Eingemeindungen von 1928 legte Kabel 1929 sowohl ein „Stadtsche-ma“ vor, das die räumliche Realität in ih-ren funktionalen Bezüge darstellte, als auch einen daraus abgeleiteten Baustufen-plan (Beides wurde bis 1932 unter Be-rücksichtigung des 1929 eingemeindeten Landkreises Hörde überarbeitet). Das „Stadtschema“ von 1929 traf folgende Aussagen zum funktionalen Gefüge Dort-munds: In der Mitte die vom Grundsatz

her konzentrisch aufgebaute innere Stadt (die Altstadt und die umgebenden Innen-stadtbezirke), in die sich von Norden her die mächtigen Keile der Industrie scho-ben. Letztere konnten sich potenziell in die nördlich anschließenden Landgebiete weiter ausdehnen. Als relativ kleines Un-terzentrum war Hörde gekennzeichnet; daneben vermerkte das „Stadtschema“ im Außenbereich eine Vielzahl von Vororten, die mit Bergbau und Industrie gewachsen waren. Noch nicht Stadt, aber auch nicht mehr Land, im Raumbild eher chaotisch denn malerisch, waren sie charakteristisch für die damalige polyzentrische Raum-struktur. Die Verbindungen der Vororte untereinander und zur inneren Stadt soll-ten mittels eines Netzes von Verkehrswe-gen funktionieren.

Wer sich weder um funktionale Defizite noch um gravierende Umweltbelastungen scherte, den interessierten die stadträumli-chen Gegebenheiten und die funktionalen Defizite wenig. Er konnte stattdessen ver-sucht sein, die Industrie und die Industrie-stadt in ihren riesigen Dimensionen zu preisen: „Schon vom Zuge aus sieht man die Riesensilhouette des Eisen- und Stahl-werks Hoesch in seinen gigantischen Hochöfen, Walzwerken und Gießereien“, bemerkte der bereits zitierte Georg Schwarz. Die Anlagen der Industrie konn-ten gleichzeitig beeindrucken und ängsti-gen, denn im Revier erlebte man den real gewordenen Futurismus. Felix Beielstein nahm den Topos im Buch „Rauch an der Ruhr“ auf, das 1932 als bester Ruhr-Ro-man preis gekrönt wurde. Der Text erzählt von gigantischer Technik und vom Futu-rismus in der Industrieprovinz. Die Prota-gonisten, die Industrie-Erben Paul und Annemi erleben beides auf einer rasenden Autofahrt durch das nächtliche Revier und werden mit dem Schauspiel der in-dustriellen Produktion konfrontiert: „Plötzlich knallt glühendes Licht gegen den Himmel – Signale schießen auf, Pfiffe – stoßende Lastzüge rangieren in einem riesi gen Werksbahnhof. Hinter den Schie-nen wachsen ́ Winderhitzer´, drei, vier rie-sige Türme aus Stahl; dahinter der eisen-gepanzerte Hochofen. Turbinen schicken brausenden Ton in die Nacht, die zittert von der nebeligen Glut ihrer tausend Feu-er“. Eine vollständig mechanisierte Welt, wie sie zwanzig Jahre zuvor in den Visio-nen der Futuristen der ersten Generation aufgeleuchtet hatte, die war offenbar im Ruhrgebiet zu besichtigen. Zechen-Seil-bahnen, Fördertürme mit rotierenden Seil scheiben, großvolumige Gichtgas-

DieDortmunderUnioninHöhederDorstfelderBrücke(StadtarchivDortmund)

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Heimat DortmunD Heimat DortmunD „Vier Städte“ | 2524 | „Vier Städte“

Rohre und das Netz der Werksbahnen machten auch in Dortmund ständige Be-wegung im Raum sichtbar und hörbar. Diese neue Welt bot nicht nur Eindrücke von gigantischer Technik und Mechanik; sie betörte auch die Sinne: aber nicht mit lieblichen Düften und sanf ten Gesängen, son dern mit Rauschen, Dröhnen und Si-renengeheul, mit der Musik des Eisens, mit den zischenden Flammen der Gicht-gase am Nachthimmel und mit den bizar-ren Löschwasser-Dampfpilzen.

Dortmund – eine neue HeimatDie reale Industriestadt war fern vom Le-bensgefühl der Futuristen. Die Lebensfor-men der Arbeiterbevölkerung im Industri-alismus wurden als ´entfremdet´ bezeich-net; kulturelle Verwahrlosung wurde diagnostiziert. Und noch mehr: Die In-dustriestadt galt Konservativen als poli-tisch instabil. Ihr Stadtbild war in weiten Teilen ungeformt. Der Gigantismus der Industrie konnte aus der Ferne betrachtet

faszinierend wirken, in der Nähe erlebt war er oftmals belastend. Die Bewohner der Quartiere in der Nachbarschaft der Hochofenwerke und Kokereien litten un-ter dem Nebel und dem Gestank der Ab-gase. Verständlich, dass viele Zeitgenossen den provozierenden Bildern von der me-chanisierten Welt in der Industriestadt äußerst distanziert gegenüber standen – auch in Dortmund. Sie wollten in einer friedlichen, ruhigen Welt leben und fan-den einen wichtigen Verbündeten in Hans Strobel, der von 1915 bis 1927 als Stadt-baurat für die Stadtentwicklung bzw. die „Stadterweiterung“ zuständig war. Strobel sah sich im Einklang mit der Stadtspitze und den Volksparteien und versprach, Dortmund dem Industrialismus zum Trotz zur Heimat aller Bewohner und Be-wohnerinnen zu machen.

Hans Strobel zählte 1914, als er nach Dortmund kam, zu den jungen, ehrgeizi-gen Städtebauern, deren Entwürfe viel beachtet und häufig publiziert wurden. Er trat für Reformen ein. Mit den Mitteln

des Architekten und des Städtebauers wollte er harmonisieren und fürs „Volk“ arbeiten: Deshalb gab er den Anstoß zur Gründung der Dortmunder Gemeinnüt-zigen Siedlungsgesellschaft, deshalb plante er den Volkspark mit dem benach-barten Schwimmbad und der „Kampfbahn Rote Erde“, deshalb wies er Flächen für Kleingärten aus und entwarf die Sozial-siedlung „Zur Sonnenseite“ in Eving mit Torbau, Turm und Haussprüchen, ähnlich einer idealen kleinen Stadt. Obwohl er als Städtebauer zeitgemäß arbeitete, besaß Strobel eine große Neigung zur Bautradi-tion, zu deutscher Geschichte und zum bodenständigen Bauen. Dortmund als his-torischer Stadt erwies er immer wieder seine Referenz. Seine Ideen und seine Bauten überforderten niemanden; seine Projekte wurden von vielen Menschen in Dortmund verstanden. Denn funktionale Modernität bedeutete für Hans Strobel nicht zwingend avantgardistische oder fu-turistische Bauform; die Berücksichtigung der „Volksgesundheit“ hieß für ihn nicht

Sanierung und Abbruch rückständiger Viertel; die industriestädtische Realität verleitete ihn nicht dazu, für wirtschaftli-chem Städtebau oder rationalistischer Pla-nung einzutreten. Er liebte das schöne, handwerkliche Detail und das bodenstän-dige Bauen.

Hans Strobel erzählte mit seinen Projek-ten und Bauten von Harmonie und Hei-mat, von Gemeinschaft, Geschichte und Zufriedenheit. Verständlich, dass ihm dies im anschaulich illustrierten Entwurf und im realisierten Einzelprojekt weitaus besser gelang als im abstrakten städtebaulichen Plan. Einen Vorschlag zur sachlichen Ord-nung des gesamtstädtischen Gefüges legte Hans Strobel nicht vor, obwohl dies im Zu-sammenhang mit den anstehenden Einge-meindungen von 1928 besonders dringlich gewesen wäre. Ein General-Bebauungsplan für Dortmund wurde zwar mehrfach ange-kündigt, wurde aber während seiner Amts-zeit genauso wenig fertig gestellt wie eine abgestimmte Verkehrsplanung; selbst ein Freiflächen vernetzender Plan für ganz Dortmund wurde nicht erarbeitet. Die In-teressenvertreter von Industrie und Grund-besitzen im Rat der Stadt schnaubten; Strobels Dezernenten-Kollegen Hartleb und Delfs machten Politik gegen ihn. Was um 1914/1915 und wieder nach dem Ende des Ersten Weltkrieges für ihn gesprochen hatte, nämlich die versöhnlichen, am Volks-

begriff orientierten integrativen Projekte aus seiner Feder, das schien um 1926/1927 nur noch ein Planungshindernis – und viel zu teuer angesichts der anstehenden Aufga-ben. Auch manche Architekten hatte sich Hans Strobel zu Feinden gemacht, da er,

ausgestattet mit den Kompetenzen der Stadtgestaltung, nicht nur mehrmals kriti-sierend und korrigierend in ihre Entwürfe eingegriffen hatte sondern auch als Kon-kurrent aufgetreten war.

Trotzdem war Hans Strobel äußerst überrascht, als auf der Ratssitzung am 20. Juni 1927 ohne weitere Debatte der An-trag der bürgerlichen Arbeitsgemein-schaft, die dritte Stadtbauratsstelle – also seine Stelle – einzusparen, mit Unterstüt-zung des Zentrums und der „Rechtskom-munisten“ aber gegen die Stimmen der Sozialdemokraten angenommen wurde. Strobel kämpfte um sein Amt, musste aber schließlich aufgeben. Seiner Popularität in der Stadt tat der Rauswurf keinen Ab-bruch. Auf Seiten der Auftraggeber waren Strobels Ideen zur Stadterweiterung je-doch kaum mehr gefragt: Das moderne Dortmund um 1930 sollte eine gut funk-tionierende Industriestadt mit leistungs-fähigem Zentrum, gutem Verkehrsnetz, angemessenen Wohnsiedlungen, gut er-reichbaren Freizeiteinrichtungen und neuen Bauten in der Haltung der Neuen Sachlichkeit sein, ganz und gar dem Tat-sächlichen zugewandt und nicht der Uto-pie von „Land und Leuten“ verbunden.

Quellen und literatur:Max Paul Block, Der Gigant an der Ruhr, 1928

Wilhelm Delfs, Neue Bauten in Dortmund, Ber-lin, Leipzig, Wien 1928

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Renate Kastorff-Viehmann und Manfred Walz, Die Stadt, der Stahl und der leere Raum, in: Karl-Peter Ellerbrock, Gisela Framke und Alfred Heese, Stahlzeit in Dortmund, Münster 2005

Karl Neuhoff, Das „sündige“ Dortmund. Ein Streifzug durch das Dortmunder Vergnügungsle-ben vergangener Jahrzehnte, Dortmund o. J.

Georg Schwarz, Kohlenpott. Ein Buch von der Ruhr, Berlin 1931

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Luise v. Winterfeld, Geschichte der Freien Reichs- und Hansestadt Dortmund, Dortmund 1981 (1. ed. 1934)

AufdemGeländedesEisen-undStahlwerksHoesch(aus:MaxPaulBlock,DerGigantanderRuhr,1928,S.302)

HansStrobel(1881-1953)(StadtarchivDortmund)

EntwurfzurBebauungentlangderStraßeLangeReihe,1919,ArchitektHansStrobel(aus:HansStrobel,Dortmund–BilderundWorteüberSeinundWerdenderStadt,Dortmund1929,S.115)

Page 14: Günther Högl, Karl-Peter Ellerbrock (Hg.)Die 1920er Jahre Dortmund zwischen Moderne und Krise ... Stadion Rote Erde – Volksbad ... Das alte Stadtbür-gertum wurde zur kleinen Minderheit,

Großstadtarchitektur für DortmundDas neue AOK-Gebäude am Königswall als Beispiel

vonPeterKroos

Mit Einführung der Sozialversicherungs-gesetze 1883 durch Otto von Bismarck kam es im Deutschen Reich zur Grün-dung von Krankenkassen. Die Allgemeine Ortskrankenkasse ist eine der ältesten Krankenkassen Deutschlands. Damals wie heute verstand man sich nicht nur als Krankenversicherung, sondern schrieb auch den Aspekt der Gesundheitsfürsorge groß. Dies hatte unmittelbaren Einfluss auf das Raumprogramm für einen Archi-tektenwettbewerb zum Neubau der AOK am Dortmunder Königswall.

An dem 1928 ausgelobten Wettbewerb unter Dortmunder Architekten beteiligte sich die Architektensozietät Flerus und Konert gleich mit zwei Entwürfen, was damals nicht unüblich war. Im Preisge-richt saßen u.a. Fritz Becker aus Düssel-dorf und Stadtbaurat Delfs. Neben dem Siegerentwurf errang das Team noch einen dritten Rang. Die Arbeit von Franz und Franzius kam auf den zweiten Platz, der Entwurf von Pinno und Grund wurde angekauft. Jean Flerus (1885-1975) und Josef Konert gehörten lange Zeit zu den bekanntesten und einflussreichsten Archi-tekten in Dortmund. Das Büro realisierte zahlreiche Wohnungsbauten, Kirchen und Verwaltungsbauten. Einige Dortmunder Architekten der jüngeren Generation (u.a. Herwarth Schulte) fanden hier ihre Erstanstellung. Nach dem 2. Weltkrieg trennten sich die Wege der beiden Archi-tekten. Jean Flerus baute weiterhin viel für die Kirche, aber auch Verwaltungsbauten und Geschäftshäuser, die Spur von Josef Konert verliert sich hingegen rasch.

Das schließlich im Mai 1931 einge-weihte Gebäude der Allgemeinen Orts-krankenkasse war eines der größten, das in den 1920er Jahren in der Dortmunder In-nenstadt realisiert wurde. Zahlreiche Dis-kussionen in den zeitgenössischen Dort-munder Zeitungen belegen, dass die Dort-munder Architektenschaft, vor allem die

Mitglieder des BDA, Bund Deutscher Ar-chitekten, ab den späten 1920er Jahren eine zusammenhängende städtebauliche Planung für die Dortmunder Innenstadt einforderten. Jedoch wurden vorwiegend Einzelprojekte realisiert, wie beispielswei-se das Westfalenhaus von Jacob Koerfer (1928-29) oder das Reinoldihaus von Emil Pohle (1930-31). In den frühen 1920er Jahren war an dem damals noch Schmiedingstraße genannten Abschnitt des heutigen Walls neben dem Bauplatz für die AOK ein Verwaltungsgebäude für die Emschergenossenschaft errichtet wor-den (Alfred Fischer, um 1923). Das Ge-lände war zuvor großflächig weitgehend abgeräumt worden, um für die städtebauli-

che Neuordnung und die großen Einzel-bauten Platz zu schaffen. Der Neubau für das EPA-Kaufhaus am Körner Platz (um 1930) lag nicht weit von dem Baugrund-stück für die Krankenkasse entfernt.

Der mit Muschelkalk verkleidete Bau der Krankenkasse zeichnet bis heute ele-gant den Schwung der anliegenden Straße nach. Alle Fenster sind als Lochfenster hart aus der Fassade geschnitten. Durch eine schmale Ausbildung der Fensterpfei-ler wirken die Fenster jedoch zu horizon-talen Bändern zusammengefasst. Die hochrechteckigen Öffnungen der Regel-geschosse waren durch schlanke, stählerne Fensterprofile einfach senkrecht geteilt. Als kompositorisches Gegengewicht wirkte

das komplett mit Glasbausteinen verklei-dete Haupttreppenhaus, das ab dem ersten Obergeschoss über dem Haupteingang etwa einen Meter vor die Fassade trat. Den oberen Abschluss bildete hier ein Fahnen-mast. Im hoch gelegenen Erdgeschoss la-gen zwei große Kassenhallen getrennt für Arbeitgeber und Arbeitnehmer, im Sou-terrain befanden sich ausgedehnte Bäder-anlagen. Neben Verwaltungsräumen wa-ren in den Obergeschossen ursprünglich Untersuchungs- und Behandlungszimmer untergebracht.

Die großen, hallenartigen Räume, in de-nen einst Trinkbrunnen und medizinische Geräte zur Behandlung und Prophylaxe standen, ließen sich in der Nachkriegszeit hervorragend zu großen Beratungsberei-chen für die Krankenkasse umgestalten. Schade, dass die einst Licht durchfluteten Hallen heute kaum ohne Kunstlicht aus-kommen. Die Existenz der ehemaligen Oberlichter ist durch viele Lagen von Dachpappe bei einem Blick aus den obe-ren Etagen in die Höfe immer noch er-kennbar. Es überrascht dennoch, dass das Gebäude noch viel originale Bausubstanz auch im Inneren zeigt. In den Treppen-häusern finden sich als zeittypische Innen-raumgestaltungen bunte Majolika-Fliesen und Messinghandläufe.

Der elegante Schwung und die exakte Traufhöhe des AOK-Gebäudes wurden in den 1990er Jahren von Eckhard Gerbers Harenberg City-Center aufgenommen und fortgeführt. Insofern stellt diese Partie des heutigen Königswalls eine bemerkens-wert harmonische Abfolge von Bauten unterschiedlicher Architekturauffassun-gen und Bauzeiten dar. Bis der Neubau für die AOK NordWest auf der Stadtkrone Ost bezogen werden kann, fristet das Ge-bäude nach dem Auslaufen eines Erb-pachtvertrages noch ein Gnadendasein. Zugegeben: Die rückwärtigen Gebäude-teile zur heutigen Brinkhoffstraße können heute nicht mehr überzeugen. Spätestens das Aufbringen einer cremefarbenen Plat-tenverkleidung in den 1980er Jahren hat hier letzte Qualitäten zerstört. Aber die ehemals vorhandenen, großstädtischen Qualitäten des AOK-Gebäudes zum Wall könnten mit nur wenigen, behutsamen Retuschen wieder herausgearbeitet wer-den. Hierin wird in den kommenden Jah-ren nach Auszug der AOK eine große Chance und Herausforderung liegen. Eine städtebaulich einfache Arrondierung des gesamten Ensembles unter Würdigung der beiden 1920er Jahre Bauten wäre für Dortmund ein wunderbares Signal.

Hauptansicht(alleBilderaus:PaulJosephCremers,JeanFlerus,JosefKonert(Hg.):FlerusundKonert,Berlin/Leipzig/Wien,1931)

InnenhofmitBlickaufGlasdachSchalterhalle

Rückansicht HaupttreppenhausmitMajoliken

SchalterhallemitBrunnen

Großstadtarchitektur für Dortmund | 27Heimat DortmunDHeimat DortmunD26 | Großstadtarchitektur für Dortmund

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Heimat DortmunD Heimat DortmunD Personalpolitik in der jungen Demokratie | 2928 | Personalpolitik in der jungen Demokratie

Personalpolitik in der jungen DemokratieDie besoldeten Magistratsmitglieder in Dortmund 1918–1932

vonMatthiasDudde

Die Stadt Dortmund verfügte am Ende der preußischen Monarchie 1918 über eine ausdifferenzierte Leistungsverwal-tung mit einem hierarchischen Amtsauf-bau in einer Dezernatsstruktur. An ihrer Spitze stand als kollegialer Gemeindevor-stand der Magistrat, dem zwei grundsätz-lich unterschiedliche Aufgaben bei der Verwaltung der Stadt oblagen. Er führte die Gesetze, Verordnungen und Verfügun-gen der vorgesetzten Behörden aus und war im hierarchischen preußischen Staats-aufbau das ausführende Organ der unters-ten Staatsebene. Zugleich bereitete er die Beschlüsse der Stadtverordnetenversamm-lung vor und führte sie aus. Er erfüllte da-mit die Aufgaben aus der kommunalen Selbstverwaltung. Als „primus inter pares“ leitete und beaufsichtigte der Bürgermeis-ter den Geschäftsgang der Verwaltung und repräsentierte die Stadt. Auch wäh-rend der Weimarer Republik blieb die Ge-meindeverfassung Ländersache. Initiati-ven zur Vereinheitlichung auf Landes- und Reichsebene scheiterten, sodass in Dortmund die „Städteordnung für die Provinz Westfalen“ vom 19. März 1856 in Kraft blieb. In der Zusammensetzung des Magistrats unterschied die Städteordnung zwischen dem Ehrenamt und den Berufs-beamten. Neben dem Bürgermeister wa-ren ein ehrenamtlicher Beigeordneter und eine Anzahl an ehrenamtlichen Stadträten vorgesehen. Nach Bedarf konnte der Ma-gistrat um einen oder mehrere besoldete Mitglieder, wie zum Beispiel um den Kämmerer, den Baurat oder den Rechtsrat, erweitert werden. Im Zuge der Ausbil-dung der Leistungsverwaltung während

der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs die Zahl der besoldeten Magistrats-mitglieder. Um im Sinne der kommunalen Selbstverwaltung das Ehrenamt nicht zu schwächen, stieg parallel dazu auch die Zahl der unbesoldeten Mitglieder. Darü-ber hinaus konnte sich die Zahl der Magistratsmitglieder auch nach kommu-nalpolitischen Entscheidungen erhöhen, beispielsweise um Vertreter von einge-meindeten Orten in die städtischen Re-präsentationsgremien zu integrieren. Die Einrichtung einer Magistratsstelle und ihre personelle Besetzung nahm die Stadt-verordnetenversammlung vor. Die Wahl-periode der Bürgermeister und der besol-deten Mitglieder umfasste zwölf Jahre, die der unbesoldeten Mitglieder sechs Jahre. Formale Vorgaben für die berufliche Qua-lifikation gab es nicht, jedoch mussten die Gewählten staatlich bestätigt werden. In Dortmund umfasste der Magistrat im No-vember 1918 zehn besoldete und siebzehn unbesoldete Mitglieder.

Im revolutionären Wechsel zur Repub-lik hatte auch in Dortmund ein Arbeiter- und Soldatenrat die Macht übernommen, der aber im besoldeten Magistrat keine personellen Veränderungen vornahm. Mit der „Verordnung über die anderweitige Regelung des Gemeindewahlrechts“ vom 24. Januar 1919 änderte die neue Regie-rung des jetzt republikanischen Freistaats Preußen die Städteordnung. Demnach sollten bis zum 2. März 1919 Kommunal-wahlen nach dem Grundsatz der Verhält-niswahl abgehalten werden. Frauen und Männer, die das 20. Lebensjahr vollendet hatten, waren berechtigt an den ersten all-gemeinen, unmittelbaren und geheimen Wahlen in Dortmund teilzunehmen. Die Kommunalwahl veränderte die Mehr-heitsverhältnisse im Stadtparlament von Grund auf. Die rechten Parteien, die zuvor unter den Bedingungen des Dreiklassen-wahlrechts nahezu Zweidrittel der Sitze errungen hatten, verloren ihre Macht. Die

Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) mit gut 40 Prozent der Stimmen gefolgt von der Zentrumspartei mit gut 30 Prozent der Stimmen wurden die mit Ab-stand stärksten Fraktionen. Dieses Macht-gefüge blieb bei kleineren prozentualen Einbußen auch bei den folgenden Kom-munalwahlen erhalten. Damit waren in der Dortmunder Kommunalpolitik die le-gitimen Interessen aller Bevölkerungs-gruppen entsprechend ihrer Größe reprä-sentiert. Dies bedeutete eine Chance, die gleichwertige Berücksichtigung dieser In-teressen im Verwaltungshandeln zu instal-lieren. In diesem lokalen Demokratisie-rungsprozess hatte der besoldete Magist-rat eine zentrale Stellung. Die lange Wahlperiode von zwölf Jahren und beam-tenrechtliche Bestimmungen verhinderten einen unmittelbaren personellen Wechsel. SPD und Zentrum mussten somit über einen längeren Zeitraum ihre Macht- und Repräsentationsansprüche im besoldeten Magistrat umsetzen. Diese Zeit war be-gleitet von einer Ausweitung der kommu-nalen Aufgaben und des Verwaltungsap-parates. Vor allem die sozialen Aufgaben nach dem Ersten Weltkrieg brachten neue städtische Ämter mit starker Bürgerfre-quentierung. Welche Antworten fanden die Dortmunder Parteien mit der perso-nellen Besetzung des besoldeten Magist-rats auf diese Prozesse? Welche personal-politischen Charakteristika sind in der Auswahl und Zusammensetzung des Dortmunder besoldeten Magistrats zu er-kennen?

Der besoldete Magistrat 1918: akademisch, bürgerlich,preußisch und evangelisch

Zu Beginn des Jahres 1919 bestand der besoldete Magistrat aus Oberbürgermeis-ter Dr. Ernst Eichhoff, Bürgermeister Dr. Emil Köttgen, den Stadträten Dr. Walter

Boldt, Dr. Eduard Cremer, Dr. Wilhelm Fluhme, Dr. Albert Ruben und Gerhard Tschackert sowie den Stadtbauräten Her-mann Bovermann, Friedrich Kullrich und Hans Strobel. Diese Zusammensetzung von acht Juristen und drei Ingenieuren verdeutlicht, dass sich in Dortmund die universitäre Ausbildung als ein Qualifika-tionsmerkmal durchgesetzt hatte. Der all-gemeine Ausbau der Leistungsverwaltun-gen im Kaiserreich, in den Ländern und in den Kommunen brachte vor allem für die Juristen neue Karrierewege. Die Zahl der Jurastudenten an den preußischen Univer-sitäten war von rund 1.300 im Sommerse-mester 1870 auf über 6.200 im Winterse-mester 1904/05 gestiegen. Die ersten acht Jurastudentinnen begannen erst im Win-tersemester 1908/09. Das Studium der Rechts- und Staatswissenschaften endete nach mindestens drei Jahren mit der ersten juristischen Staatsprüfung, dem „Referen-darexamen“. Dem schloss sich eine Refe-rendarausbildung an, in der die jungen Gerichtsreferendare in den verschiedens-ten gerichtlichen Einrichtungen, bei-spielsweise Amtsgericht, Landgericht und Staatsanwaltschaft arbeiteten, und die sie mit der zweiten juristischen Staatsprü-fung, dem „Assessorenexamen“, abschlos-sen. Als Gerichtsassessoren strebten sie nun auf die neu entstehenden Verwal-tungsstellen. Eine Promotion gehörte nicht zum Anforderungs- und Ausbil-dungsprofil, verbesserte jedoch die Positi-on gegenüber den Konkurrenten. Ge-burtsständische Beschränkungen für ein Studium gab es nicht mehr. Die Gerichts-assessoren, die sich ihr Studium finanziert hatten, konnten verstärkt aus der mittleren und auch vereinzelt aus der unteren Sozi-alschicht stammen. Mit einem Großteil der sie wählenden Stadtverordneten, die unter den Bedingungen des Dreiklassen-wahlrechts ihre Mandate erhalten hatten, verband sie die gleiche soziale Stellung. Neben der dominierenden Gruppe der Ju-risten umfasste der besoldete Magistrat mit den Stadtbauräten auch Ingenieure, die nach dem Besuch einer Technischen Universität die Prüfungen zum Regie-rungsbaumeister ablegten. Bei der regio-nalen Herkunft der Mitglieder des Dort-munder besoldeten Magistrats dominierte Preußen: Köttgen, Fluhme und Bover-mann waren bezogen auf das heutige Stadtgebiet, gebürtige Dortmunder. Der Essener Eichhoff kam ebenfalls aus dem „Ruhrgebiet“. Von den weiteren Stadträ-ten stammten je einer aus den preußischen Provinzen Rheinland, Westfalen, Bran-

denburg, Sachsen und Berlin. Nur Stadt-baurat Strobel war in der Oberpfalz im Königreich Bayern geboren worden. Nach der Ausbildung fanden die Juristen und Ingenieure bei den Stadtverwaltungen eine Anstellung. Der Weg in den Dort-munder Magistrat führte oft über Stadt-ratsstellen in kleineren Städten. Mit Blick auf die letzte Stelle vor dem Wechsel nach Dortmund dominierte auch bei dieser re-gionalen, beruflichen Herkunft Preußen. Darüber hinaus war der Dortmunder be-soldete Magistrat evangelisch, nur Stadtrat Cremer bildete hier eine katholische Aus-nahme.

Stärkung der kommunal-politischen Erfahrung

Diese personelle Konstellation blieb je-doch nicht lange erhalten. Schon im Janu-ar 1919 reichte Stadtrat Boldt sein Pensi-onsgesuch ein und wechselte im Herbst als Regierungsrat zum Finanzamt Göttingen. Die Wiederbesetzung dieser Stadtratsstel-le war der Auftakt für insgesamt sechs-zehn Personalentscheidungen für den be-soldeten Magistrat bis 1932: Elfmal be-setzten die Stadtverordneten eine Stelle mit einer neuen Person und fünfmal wur-de ein Stadtrat am Ende seiner Wahlperi-ode wiedergewählt. In dieser Zeit verän-derte sich auch die Anzahl der Stellen. Aufgrund der gestiegenen Aufgaben in-folge des Krieges erweiterte die Stadtver-ordnetenversammlung 1919 den besolde-ten Magistrat um zwei auf zwölf Stellen. Ab 1927 wurden Einsparungen getätigt, sodass die Stelle des dritten Stadtbaurates wegfiel und die zwischen 1931 und Januar 1933 frei gewordenen Stellen nicht wie-derbesetzt wurden. Auf diese Weise ver-kleinerte sich der besoldete Magistrat auf sieben Stadtratsstellen.

Die Neubesetzung der durch Boldt frei-gewordenen Stelle folgte in weiten Teilen dem alten Auswahlmuster. Der am 2. Juni 1919 gewählte Dr. Hans Neikes war Jurist und hatte als Beigeordneter der Stadt Oberhausen seit 1910 kommunale Ver-waltungserfahrungen gesammelt. Als ge-bürtiger Kölner war er jedoch katholisch. Da er parteilos war, wurde er, wie auch Cremer, nicht als Dezernent der Zent-rumspartei angesehen. Die Entscheidung aufgrund der gestiegenen Arbeitsbelas-tungen vor allem im Dezernat für Armen-wesen eine weitere besoldete Magistrats-stelle einzurichten, eröffnete die Möglich-keit neue Auswahlkriterien einzuführen.

Am 4. Juli 1919 entschied der Wahlaus-schuss der Stadtverordnetenversammlung diese Stelle mit dem offenen Qualifikati-onshinweis, dass die Bewerber schon län-gere Zeit in einer größeren Kommunal-verwaltung tätig gewesen sein sollten, aus-zuschreiben. Die Anzeige erschien in ju-ristischen und kommunalpolitischen Fachzeitungen, wie das Preußische Ver-waltungsblatt und die Deutsche Gemein-dezeitung, und in den überregionalen deutschen Tageszeitungen. Dabei wurden die Parteiinteressen berücksichtigt: Die Kölnische Zeitung und die Frankfurter Zeitung standen der liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) nahe, die Kölnische Volkszeitung dem Zentrum, die Tägliche Rundschau der Deutschen Volkspartei (DVP) und der Vorwärts der SPD. Einen Monat später konnte der Wahlausschuss schließlich 64 Bewerbun-gen sichten. Die beiden stärksten Fraktio-nen SPD und Zentrum, die bisher keinen Vertreter im besoldeten Magistrat hatten, erhoben ihren Anspruch auf einen Beset-zungsvorschlag. Angesichts der gestiege-nen Arbeitsbelastung schlug der Aus-schuss der Stadtverordnetenversammlung vor, eine weitere Stelle zu schaffen und die beiden neuen Stellen mit dem Sozialde-mokraten Anton Bredenbeck und dem Zentrumsmann Wilhelm Kaiser zu beset-zen. Gegen die heftige Kritik der Deut-schen Volkspartei (DVP) wurden beide am 22. September 1919 gewählt. Die An-griffe wandten sich hauptsächlich gegen Bredenbeck, der keine höheren Bildungs-abschlüsse vorweisen konnte und damit für die DVP als fachlich ungeeignet galt. In der Debatte machte vor allem die SPD-Fraktion, aber auch das Zentrum, die ver-änderten Auswahlgrundsätze deutlich. Gegen die Festigung des formalen Bil-dungsprivilegs setzten sie als Stellenanfor-derung die Vorstellung, dass nicht allein juristisches Fachwissen, sondern auch praktisches Wissen und große Erfahrung wichtige Voraussetzungen seien. Auf die-ser Grundlage war Bredenbeck in die en-gere Wahl gekommen. Im katholischen Nottuln geboren, war er zunächst Berg-mann. Als Zeitungsredakteur hat er später die Dortmunder Kommunalpolitik ken-nengelernt und begleitet. 1909 gehörte er zu den ersten drei SPD-Abgeordneten im Dortmunder Stadtparlament. Nach dem Krieg war er Mitglied des Dortmunder Arbeiter- und Soldatenrats. Bedeutend geringer fiel die Kritik der DVP an Kaiser aus. Kaiser stammte aus Medebach im Kreis Brilon und hatte sein philologisches

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Studium mit der Promotion abgeschlos-sen. Seit 1911 war der Katholik als Stadt-schulrat in der Dortmunder Verwaltung tätig. Bredenbeck und Kaiser wurden mit den Stimmen von SPD und Zentrum ge-wählt.

Als Bürgermeister Köttgen im Oktober 1919 die Wahl zum Oberbürgermeister der Stadt Düsseldorf annahm, war die symbolhafte Stelle des Zweiten Bürger-meisters neu zu besetzen. Bei dieser Wahl arbeitete das bürgerliche Lager zusammen und entschied sich für den erfahrenen Verwaltungsbeamten und Juristen Dr. Maximilian Fischer. Fischer war evange-lisch, stammte aus dem rheinischen Vel-bert und war Mitglied der DDP. Nach seinem Assessorexamen 1911 hatte er kur-ze Anstellungen beim Hagener Oberbür-germeister und späteren DDP Mitglieds Willi Cuno in Hagen und bei der Stadt-verwaltung in Charlottenburg. 1914 wur-de er zweiter Beigeordneter in der Stadt Buer und war zwei Jahre später als Stadtrat zurück nach Charlottenburg gewechselt. Auch bei den Wiederwahlen der Stadträte Cremer und Ruben 1921 sowie des Ober-bürgermeisters Eichhoff 1922 kam die Mehrheit der bürgerlichen Parteien zum Tragen.

Im Mai 1921 gelang Neikes der Sprung auf die Oberbürgermeisterstelle in Saar-brücken. Für seine Nachfolge akzeptierten alle Fraktionen das Vorschlagsrecht der SPD. Aus dem Auswahlverfahren ging dann je ein Kandidat der SPD, des Zent-rums und der DVP hervor. Alle drei Kan-didaten waren studierte Juristen und er-füllten damit das Kriterium eines hohen Bildungsabschlusses. Gegen die erfolgrei-che Wahl des SPD-Kandidaten im Sep-tember 1921 legten die DVP und das Zentrum wegen formaler Fehler bei der Durchführung der Wahl Einspruch ein. Die Angelegenheit wurde lange und stark diskutiert. Diese Zeit nutzte die SPD-Fraktion, um einen alternativen Kandida-ten zu suchen. In der Sitzung der Stadt-verordnetenversammlung am 19. Dezem-ber 1921 schlug sie den erst 31-jährigen Dr. jur. Walter Dudek vor, der anschlie-ßend mit sehr großer Mehrheit gewählt wurde. Dudek stammte aus der Stadt Al-tenburg, die im staatlich eigenständigen Herzogtum Sachsen-Altenburg lag. Seit 1915 hatte er in kleinen Kommunen lei-tende Verwaltungsstellen innegehabt, zu-letzt als Erster Beigeordneter der Stadt Fürstenwalde an der Spree. Dortmund sollte jedoch nur eine Station auf seinem Karriereweg werden. Zum 1. Januar 1925

ging er als Oberbürgermeister nach Har-burg. Beide SPD-Vorschläge für die Nachfolge Neikes zeigten die zahlreichen Optionen der Partei auf. Neben den erfah-renen, älteren Kommunalpolitikern ver-fügte sie jetzt auch über junge, auswärtige Akademiker, die während des Krieges und im Laufe der Jahre 1919/20 Verwaltungs-erfahrungen in besoldeten Stadtratsstellen in Kleinstädten gesammelt hatten.

Im besoldeten Magistrat waren 1918 die beiden Stadtbauräte Kullrich und Bover-mann die ältesten Mitglieder. Bovermann war bis 1924 gewählt, ging jedoch auf ei-genen Wunsch mit 65 Jahren zum 1. Juli 1922 in den Ruhestand. Sein Nachfolger im Tiefbauamt wurde der gebürtige Dort-munder, Dipl. Ing. Walter Hartleb, der seit 1913 in der Dortmunder Verwaltung tätig war. 1923 scheiterte die Wiederwahl des 64 Jahre alten Kullrichs in der Stadtver-ordnetenversammlung. In dieser Zeit der Besetzung Dortmunds durch französische Truppen wurde die Stelle im Hochbauamt nicht wiederbesetzt. Vertretungsweise wurde Dr.-Ing. Wilhelm Delfs tätig. Delfs stammte aus dem schleswig-holsteini-schen Lauenburg und war seit 1921 städti-scher Baurat in Krefeld. Im Jahr darauf wechselte er nach Dortmund, wo er im März 1923 als Magistratsbaurat auf Le-benszeit angestellt wurde. Die Stadtver-ordneten wählten ihn am 20. April 1925 zum Stadtbaurat. Mit Hartleb und Delfs entschieden sich die Stadtverordneten für Kandidaten, die bereits über praktische Arbeitserfahrungen in der Dortmunder Bauverwaltung verfügten.

Am Wahltag von Delfs 1925 führten die Stadtverordneten zwei weitere Wahlen durch. Nach dem Tod von Stadtrat Tsch-ackert im Dezember 1923 und dem Weg-gang von Stadtrat Dudek mussten zwei offene Stellen neu besetzt werden. Nach-dem mit Delfs ein Mitglied der Deutsch-nationalen Volkspartei (DNVP) in den besoldeten Magistrat gewählt wurde, fan-den in den beiden anderen Wahlen die SPD und das Zentrum wieder zusammen: Der gewählte Zentrumskandidat war der Jurist Dr. Hermann Ostrop. Der Katholik Ostrop stammte aus dem münsterländi-schen Buldern und war seit Sommer 1921 Magistratsassessor bei der Stadt Bochum. Der gewählte SPD-Kandidat Gottlieb Levermann war in (Dortmund-)Barop ge-boren und, wie Bredenbeck, Bergmann. Als Bürovorsteher des Konsum- und Sparvereins Dortmund-Hamm hatte er begonnen, einen anderen beruflichen Weg einzuschlagen. Seit 1908 war er Gemein-

devertreter in Barop und ab 1911 hatte er einen Sitz im Dortmunder Stadtparla-ment.

SPD gewinnt die Positiondes Zweiten Bürgermeisters

Im April 1925 wechselte Bürgermeister Fischer als Geschäftsführer zur Vereinigte Elektrizitätswerke Westfalen GmbH, an der die Stadt Dortmund beteiligt und Oberbürgermeister Eichhoff Vorsitzender des Aufsichtsrats war. Damit stand wieder die symbolhafte Neubesetzung der Zwei-ten Bürgermeisterstelle an. Der Vorstand der Stadtverordnetenversammlung be-schloss, die Stelle nicht öffentlich auszu-schreiben. Die Fraktionsgemeinschaft von DVP und DNVP brachten den Katholi-ken Stadtrat Cremer vermutlich mit der Hoffnung ins Gespräch, mit dem Vor-schlag das Zentrum auf die bürgerliche Seite zu ziehen. Sie zogen den Vorschlag jedoch zurück und unterstützten stattdes-sen den Zentrumskandidaten Stadtrat Kaiser. Die SPD gab ihren Kandidaten Paul Hirsch erst mit der Versendung der Tagesordnung zur Stadtverordnetenver-sammlung bekannt. Hirsch besaß ein ho-hes Ansehen. In Prenzlau in der Ucker-mark geboren hatte er in Berlin Medizin, Sozialwissenschaften und Nationalökono-mie studiert. Fachlich wandte er sich der Kommunalpolitik zu und konnte hier zahlreiche Fachpublikationen vorweisen. Politisch war er seit 1899 Stadtverordneter der SPD in Charlottenburg und gehörte 1908 der ersten sozialdemokratischen Fraktion im preußischen Abgeordneten-haus an. Als Fraktionsvorsitzender über-nahm er in der revolutionären Umbruch-phase den geteilten Vorsitz im Rat der Volksbeauftragten des Landes Preußen. Nach den ersten demokratischen Wahlen zum Abgeordnetenhaus wurde er im März 1919 erster Ministerpräsident des Frei-staats Preußen. Ein Jahr später trat er zu-rück und blieb bis 1921 parlamentarischer Staatssekretär im preußischen Ministeri-um für Wohlfahrt. Ab April 1921 war er Zweiter Bürgermeister in Charlottenburg. Politisch hatte er sich stark für die Zusam-menlegung der Städte zu Groß-Berlin eingesetzt. Dies machte ihn wichtig für Dortmund und den anstehenden Einge-meindungsprozess im Rahmen der gesetz-lichen kommunalen Neuordnung des rheinisch-westfälischen Industriegebiets. Mit der Benennung von Hirsch gelang der SPD eine Überraschung. Zusammen mit

Dr. Paul Hirschgehörte1908zurerstenSPD-FraktionimpreußischenAbgeordnetenhaus.1919/20warerpreußischerMinisterpräsidentundvon1925bis1932ZweiterBürgermeisterinDortmund.

Dr. jur. Maximilian Fischerwurde1920ZweiterBürgermeister.Von1925bis1930warerGeschäfts-führerderVereinigtenElektrizitätswerkeWestfalenGmbH,Dortmund.

DerSozialdemokratDr. jur. Walter Dudekgehörteab1922dembesoldetenMagistratinDortmundanundwechselte1925alsOberbürgermeisternachHarburg.

DerFraktionsvorsitzendederSPD-FraktioninderStadtverordnetenversammlungAnton Bredenbeckwurde1919indenbesoldetenMagistratgewählt.NachseinerzwölfjährigenAmtszeitgingerindenRuhestand.

Dr. jur. Eduard cremerwar24JahrelangMitglieddesbesoldetenMagistratsinDortmund.ImJanuar1933wechselteeralsGeneraldirektorzuDortmunderVersorgungsunternehmen.

Dr. phil. Wilhelm Kaiserwurde1919alsMitgliedderZentrumsparteiindenbesoldetenMagistratinDortmundgewählt.(alleFotos:StadtarchivDortmund)

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der DDP und den Stadtverordneten der Kommunistischen Partei Deutschlands wurde Hirsch am 22. Juli 1925 knapp mit 36 Stimmen zu 31 Stimmen für Kaiser ge-wählt. In der Öffentlichkeit wurde die Ent-scheidung emotional debattiert. Vor allem die Entscheidung der DDP aus dem bür-gerlichen Lager auszuscheren, wurde von der bürgerlichen Dortmunder Zeitung und dem Zentrumsblatt Tremonia scharf kriti-siert. An der Person kritisierten sie vor al-lem sein Alter. Hirsch war zum Zeitpunkt der Wahl 56 Jahre alt. Sein jüdischer Glau-be spielte in der Debatte keine Rolle.

Reduzierung der besoldetenMagistratsstellen

1927 strichen die Stadtverordneten die dritte Stadtbauratsstelle aus finanziellen Gründen. Strobel schied am Ende seiner Wahlperiode aus und siedelte sich als frei-beruflicher Städtebauer und Architekt in Dortmund an. 1928 nahm Stadtbaurat Hartleb den Ruf auf den Lehrstuhl für Städtebau und städtischen Tiefbau an der Technischen Universität Breslau an. Sein Nachfolger wurde der Sozialdemokrat Emil Bronner, der in Karlsruhe im Groß-herzogtum Baden geboren worden war. Er studierte an der dortigen Technischen Universität und kam 1906 in der Stadtver-waltung Karlsruhe unter, wo er zum Leiter des Tiefbauamtes aufstieg. Schon 1931 verstarb Bronner. Angesichts der Wirt-schaftskrise blieb seine Stelle unbesetzt. 1931 gingen die zwölfjährigen Wahlperio-

den von Bredenbeck und Kaiser zu Ende. Während der 54-jährige Kaiser wiederge-wählt wurde, ging der 63 Jahre alte Bre-denbeck in den Ruhestand. Seine Stelle blieb genauso offen, wie diejenige von Bürgermeister Hirsch, der 1932 aus ge-sundheitlichen Gründen vorzeitig um sei-ne Versetzung in den Ruhestand bat. Schließlich endete im Januar 1933 die Wahlperiode von Cremer. Er stellte sich nicht der Wiederwahl, sondern wechselte als Generaldirektor zur Dortmunder Was-serwerke GmbH und zur Dortmunder Gaswerk AG. Unter nationalsozialisti-scher Herrschaft mussten Oberbürger-meister Eichhoff im August 1933 und Stadtrat Ruben, dessen Amtszeit im Mai 1933 auslief, in den Ruhestand gehen. Stadtrat Levermann wurde aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Be-rufsbeamtentums aus dem Amt entlassen. Die Stadträte Delfs, Fluhme, Kaiser und Ostrop verblieben in ihren Ämtern. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Lever-mann, Kaiser und Delfs wieder besoldete Dezernenten, die schließlich in den Jahren 1951/52 in den Ruhestand gingen.

Die Jahre 1925 bis 1927 waren die letz-ten Jahre, in denen der besoldete Magist-rat zwölf Mitglieder umfasste. Bei fünf Mitgliedern fiel die erste Berufung in das Gremium noch in die Zeit der preußi-schen Monarchie. Von ihnen und von Stadtbaurat Hartleb liegen keine Informa-tionen über eine Parteimitgliedschaft vor. Von der anderen Hälfte des Magistrats ge-hörten drei der SPD, zwei dem Zentrum und einer der DNVP an. Dieses Verhältnis

verbesserte sich 1927/28 weiter zugunsten der SPD. Von den jetzt elf besoldeten Magistratsmitgliedern waren vier Sozial-demokraten. Hatte sich damit bei den Neuberufungen das demokratische Aus-wahlverfahren durchgesetzt, so hatte gleichzeitig die kirchliche Konfession als Auswahlkriterium an Bedeutung verloren. Die christlichen Konfessionen teilten sich in fünf evangelische und vier katholische Mitglieder auf, wobei über ein Magistrats-mitglied keine religiösen Informationen vorliegen. Vor allem die SPD war in religi-öser Hinsicht ungebunden und benannte neben einem Katholiken auch einen Juden und einen Freidenker. Mit Stadtrat Dudek und Stadtbaurat Bronner war die SPD auch die einzige Partei, die Kandidaten durchsetzte, die außerhalb von Preußen aufgewachsen und erste Verwaltungser-fahrungen gesammelt hatten. Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal hatte sie in Dort-mund, in dem sie mit den Stadträten Bre-denbeck und Levermann erfahrene Kom-munalpolitiker für den besoldeten Magist-rat stellte. Im Vergleich mit anderen Städ-ten zum Beispiel Bochum ist auffallend, dass die Zentrumspartei ihrerseits nicht auf Vertreter aus der katholischen Arbei-terbewegung zurückgriff. Dieser Verzicht kann als ein Signal in das evangelische Dortmunder Bürgertum angesehen wer-den, das bei der Bürgermeisterwahl 1925 hätte belohnt werden können. Hier sorgte jedoch die DDP dafür, dass der fachlich qualifiziertere Paul Hirsch gewählt wurde und damit auch dieses symbolhafte Amt an die SPD ging.

Parteien und Kommunalpolitik zwischen Demokrati-

sierung, Inflation und Weltwirtschaftskrise 1919–1929Die Stadtverordnetenwahlen und das politische Gefüge in Dortmund

vonGüntherHögl

Die sich an die Revolution von 1918/19 und die Demokratisierung des Deutschen Reiches anschließenden nachrevolutionä-ren 1920er Jahre der Weimarer Republik lassen sich unterteilen in Zeiten der politi-schen und wirtschaftlichen Krisen der Jahre 1920 bis 1923/24 sowie der schein-baren wirtschaftlichen Prosperität und po-litischen Stabilität der Jahre 1924/25 bis 1929, die als die „Goldenen Zwanziger“ Jahre in die deutsche Geschichte einge-gangen sind. Die Stadtverordnetenwahlen und das politische Gefüge Dortmunds in der Weimarer Zeit werden auf dem Hin-tergrund der wirtschaftlichen und politi-schen Gesamtrahmenbedingungen unter Einbeziehung des politischen Handelns des Magistrats (vgl. den Beitrag von Mat-thias Dudde in diesem Heft) sowie der jeweiligen parteipolitischen Konstellation der Stadtverordnetenversammlung skiz-ziert.

Vom Kaiserreich zurWeimarer Republik

Der mit der Revolution von 1918/19 ver-bundene tiefe politische und wirtschaftli-che Einschnitt war für das Dortmunder Parteiengefüge zunächst von relativ gerin-ger Bedeutung, da im Großen und Gan-zen die Parteienstruktur der Kaiserzeit, abgesehen von kleineren Modifikationen, in die Anfangsphase der Weimarer Repu-blik übernommen worden war. Von nach-haltiger Bedeutung war dagegen die 1919 mit den Nationalversammlungswahlen beginnende Wählerdemokratie mit der Einführung des Allgemeinen Wahlrechtes SitzordnungStadtverordnete1919

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und des damit verbundenen Frauenwahl-rechtes, was dazu führte, dass sich nicht nur die Zahl der Wahlberechtigten erheb-lich steigerte, sondern auch die politischen Mehrheitsverhältnisse entscheidend ver-änderten.

Bei den Wahlen zur Nationalversamm-lung am 19. Januar 1919 waren in Dort-mund für die SPD 46,5 %, für die Zent-rumspartei 25,4 % der Stimmen abgege-ben worden. Das Wahlbündnis DVP/DNVP (Deutsche Volkspartei/ Deutsch-nationale Volkspartei) erreichte in Dort-mund 15,8 %, die liberale DDP (Deutsche Demokratische Partei) 9,0 % der Stim-men. Die links von der SPD stehende USPD (Unabhängige Sozialdemokrati-sche Partei) verzeichnete in Dortmund nur schwache 3,3 %. Die ersten demokra-tischen Stadtverordnetenwahlen vom 2. März 1919 in Dortmund, die auf Anord-nung der seit Anfang 1919 amtierenden (sozialdemokratischen) Preußischen Re-gierung durchgeführt wurden, markieren mit dem Beginn der Wählerdemokratie einen der wichtigsten Abschnitte der Poli-tik- und Sozialgeschichte der Städte und Gemeinden. Die damals relativ geringe Wahlbeteiligung in Dortmund von 50 Prozent mag für 1919 etwas überraschen, wird aber verständlich, wenn man die 1918/19 noch aktuellen und turbulenten Auseinandersetzungen zwischen Wähler-demokratie und Rätebewegung mit einbe-zieht, die bei Anhängern der sozialisti-schen Rätebewegung und der soeben ge-gründeten Kommunistischen Partei (KPD) zur Wahlenthaltung geführt hat-ten. Die Kommunalwahlen vom 2. März 1919 ergaben für die Mehrheitssozialde-mokratie 41,6 %, trotz oder wegen des Wahlboykotts ihrer Schwester- und Kon-kurrenzpartei USPD, während das katho-lische Zentrum seine ohnehin starke Posi-tion in Dortmund auf 30,2 % der Stim-men auszubauen vermochte und damit das Wahlbündnis DVP/DNVP (16,8 %) und der DDP (6,3 %) klar auf Distanz hielt.

Hauptverlierer dieser ersten demokrati-schen Wahl in Dortmund war die DVP, die kaisertreue Partei der Unternehmer und Industriellen, die von über 50 Manda-ten aus der Kaiserzeit nur mehr 11 Sitze in die erste Republik retten konnte. Nur 23 Stadtverordnete aus der Kaiserzeit konn-ten sich im Stadtparlament behaupten, während zusätzlich 55 neue Mitglieder in das neue Gremium gewählt worden waren, darunter erstmals 8 Frauen.

Die 78 Sitze der ersten demokratische gewählten Stadtverordnetenversammlung

verteilten sich demnach wie folgt: SPD 33, Zentrum 24, DVP 11, DDP 4, Partei der Angestelltenverbände 4 sowie DNVP 2. In der ersten Sitzung der neu gewählten Stadtverordnetenversammlung wurden Ernst Mehlich zum Vorsteher und Lam-bert Lensing (Zentrum) zu dessen Stell-vertreter gewählt.

Der Sozialdemokrat Ernst Mehlich (1881-1926), von Beruf selbständiger Buchdrucker, ab 1910 Redakteur bei der Dortmunder „Arbeiter-Zeitung“, hatte sich als klassischer Vertreter der „Arbeite-raristokratie“ (Buchdrucker, Schriftsetzer, Redakteure) des ausgehenden 19, Jahr-hunderts gemäß des Leitbildes „Wissen ist Macht“ seines Vorbildes Wilhelm Lieb-knecht für eine verstärkte sozialdemokra-tische Arbeiterbildung in Partei und Ge-werkschaften eingesetzt, bevor er 1918/19 Vorsitzender des Dortmunder Arbeiter- und Soldatenrates geworden war.

Politisches FührungspersonalOberbürgermeister von Dortmund und da-mit Vorsitzender des Magistrats blieb wei-terhin in der gesamten Zeitphase der Wei-marer Republik der bürgerlich-konservati-ve, der DVP nahe stehende evangelische Verwaltungsjurist Dr. Ernst Eichhoff, weil der bürgerliche Block in der Stadtverordne-tenversammlung noch über eine winzige Mehrheit verfügte. Mit dieser kleinen Mehrheit von einer Stimme wurde Ernst Eichhoff bei der turnusgemäßen Neuwahl – nach 12 Jahren Amtszeit – im März 1922

gegenüber seinem Gegenkandidaten, dem Sozialdemokraten Ernst Mehlich, als Oberbürgermeister bestätigt.

An der Spitze der Dortmunder Stadt-verwaltung prägte Eichhoff die Kommu-nalpolitik Dortmunds in den Jahren 1919 bis 1929 entscheidend und gilt als Vorrei-ter für zahlreiche kommunale Großpro-jekte in dieser Zeit. Unter seiner umsichti-gen und von allen demokratischen Politi-kern geschätzten Amtsleitung entwickelte sich die Stadt nach der politischen und wirtschaftlichen Krisenzeit der Jahre 1919 bis 1924 zu einer urbanen, gleichzeitig in-dustriegeprägten Großstadt, die wiederum durch eine stringent vorangetriebene Ge-meindereform und Eingemeindungspoli-tik in den Jahren 1927 bis 1929 seine Grenzen erheblich ausdehnte. So zählte Groß-Dortmund 1929 schon 540.000 Einwohner (1907: 193.000).

Als wichtige Persönlichkeiten der Sozi-aldemokratie, zumeist in Personalunion mit der in Dortmund sehr starken gewerk-schaftlich organisierten Bergarbeiter- und Metallarbeiterbewegung sowie der „Ar-beiterpresse“ verbunden, sind für die Zeit nach 1919 u.a. aufzuführen: Konrad Hae-nisch, Ernst Mehlich, Franz Klupsch, Max König, Heinrich und Wilhelm Hans-mann, Fritz Husemann sowie insbesonde-re die langjährige Symbolfigur für die Weimarer Zeit, Fritz Henßler (1886-1953). Letzterer, wie Ernst Mehlich ge-lernter Schriftsetzer und seit 1911 Redak-teur bei der Dortmunder „Arbeiter-Zei-tung“, war im Zuge der Revolution von

1918/19 innerhalb der Parteiorganisation zu einer der Leitfiguren der jungen De-mokratie in Dortmund geworden. Seit Ende 1924 Stadtverordnetenvorsteher und ab 1930 Reichstagsabgeordneter stand er auch nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten für die freiheitli-che Demokratie und den Parlamentaris-mus ein, wofür ihn die Nationalsozialisten mit über acht Jahren Gefängnis- und Konzentrationslagerhaft bestraften. Als 1946 gewählter Oberbürgermeister von Dortmund galt er bis zu seinem Tod im Jahr 1953 über alle Parteigrenzen hinweg als der „Parlamentarier“ schlechthin. Lam-bert Lensing jun. (1889-1965), alteinge-sessener Verleger des Dortmunder Presse-organs „Tremonia“ und wie sein Vater führendes Mitglied der Zentrumspartei, nach 1945 Mitbegründer der westfäli-schen CDU und Mitglied des Parlamen-tarischen Rates, bestimmte nach dem Tod des Parteivorsitzenden August Bickhoff (1922) die Richtlinien der Dortmunder Zentrumspartei, die auch von später pro-minent werdenden Politikerinnen und Po-litikern wie Helene Wessel (von 1915-1928 Sekretärin der Zentrumspartei in Hörde) und Johannes Gronowski (ab 1921, später westfälischer Oberpräsident) getragen wurde. Unter der Führung eines bürgerlich konservativen Stadtoberhaup-tes dominierten SPD und Zentrum, so-wohl in er Stadtverordnetenversammlung als auch im Magistrat die kommunalpoli-tischen Entscheidungsprozesse der Jahre 1919 bis 1929/30.

Die Stadtverordnetenwahlen vom 4. Mai1924 im Zeichen der politischen und wirtschaftlichen Krisenanfälligkeit Dortmunds

Die politische und wirtschaftliche Krise hatte die Weimarer Republik in den Jah-ren 1919 bis 1923/24 ständig begleitet. Nach der Revolutionszeit von 1918/19 hatten sich in weiten Bevölkerungskreisen die Hoffnung auf eine durchgreifende De-mokratisierung von Gesellschaft und Mi-litär sowie Sozialisierung der Wirtschaft nicht erfüllt. Die Abwehrhaltung der alten Eliten des Kaiserreichs gegenüber der jun-gen Republik und der mangelnde Konsens der politischen Parteien bildeten eine schwere Hypothek für die nächsten Jahre. So führten die turbulenten Krisenjahre von 1919 bis 1923/24, geprägt vom Kapp-Putsch, den Märzunruhen und bürger-kriegsähnlichen Auseinandersetzungen von 1920/21 sowie die Begleiterscheinun-gen der Französischen Besetzung Dort-munds 1923/24 („Ruhrkampf“) zu einer Hyperinflation, an deren Ende 1924 fast 90 Prozent der erwerbstätigen Bevölke-rung Dortmunds arbeitslos waren. Um die politische Stabilität im Inneren des Rei-ches zu gewährleisten, war die Inflation in Kauf genommen und die Notenpresse an-gekurbelt worden, zumal die Reparations-leistungen der Alliierten – ein Relikt des Versailler Vertrages von 1919 – auf astro-nomische 123 Milliarden Goldmark, Sachleistungen nicht inbegriffen, festge-

setzt worden waren. Verlierer der rasenden Geldentwertung waren alle, die über keine größeren Sachwerte, sondern nur über Er-sparnisse verfügten: Mittelstand, Hand-werker, Beamte, Angestellte und Arbeiter.

In diesem Zusammenhang hat der Poli-tikwissenschaftler Hans Graf in einer Stu-die von 1958 auf die prinzipielle Krisen-empfindlichkeit der Dortmunder Partei-enstruktur im Vergleich zu anderen Groß-städten im Deutschen Reich hingewiesen. Er behauptet mit Recht, dass Krisenwah-len zu einem „Linksrutsch“ und damit zu einem Anschwellen der äußersten Linken, ab 1924 zu einem Anschwellen der KPD auf Kosten der SPD geführt haben. Ist die katholische Zentrumspartei in Dortmund von 1919 bis 1929 immer ein stabiler de-mokratischer Faktor im Stadtparlament geblieben, so lässt sich das Wechselspiel zwischen radikalen und gemäßigten Par-teien im rechten Parteienspektrum schwieriger ausloten, zumal der Rechtsra-dikalismus bis etwa 1930, dem ersten Auf-treten der NSDAP auf lokalpolitischer Bühne, aus Krisenzeiten wenig Wählerpo-tential requirieren konnte.

Wie sehr sich die politischen und wirt-schaftlichen Krisen der Jahre 1923/24 auf das politische Gefüge der Stadt auswirk-ten und im Wesentlichen den radikalen Parteien zugute kamen, offenbarte sich in den Dortmunder Stadtverordnetenwahlen vom 4. Mai 1924, die noch ganz im Zei-chen der Krise standen.

Für die Dortmunder SPD als stärkste „Regierungspartei“ im Stadtparlament en-deten diese Wahlen mit dem Fiasko von 17,2 % (11 Sitze), während die erstmals bei Stadtverordnetenwahlen kandidieren-de KPD mit 29,4 % (20 Sitze) zum einzi-gen Mal in der Geschichte Dortmunds vorübergehend die stärkste Fraktion in der Stadtverordnetenversammlung stellen konnte. Das Zentrum war mit 20,7 % (14 Sitze) zweitstärkste Fraktion im Stadtpar-lament geblieben, während DNVP, Christlich Soziale Reichspartei und DVP zusammen 17 Sitze auf sich vereinigen konnten. Aufgrund von Agitationspolitik und einiger antiparlamentarischer „Hap-penings“ der erstarkten KPD-Fraktion boykottierten SPD, Zentrum und die an-deren bürgerlichen Parteien die Sitzungen des Stadtparlamentes, wodurch sich der preußische Innenminister veranlasst sah, die Stadtverordnetenversammlung aufzu-lösen und Neuwahlen anzuordnen. Diese erfolgten unter anderen wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen als die Wahlen vom Mai 1924.

ErnstMehlich(1882-1926),Stadtverordnetenvorstehervon1919bis1924,OberbürgermeisterkandidatderSPD1922

Dr.ErnstEichhoff(1873-1941),OberbürgermeisterinDortmundvon1910-1933

FritzHenßler(1886-1953),Stadtverordnetenvorsteherseit1924,MitglieddesDeutschenReichstagesab1931

LambertLensing(1889-1965),stellv.Stadtverordneten-vorsteher,FraktionsvorsitzenderderZentrumspartei,VerlegerderZeitung„Tremonia“

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Ein Neubeginn: Die Stadtverordne-tenwahlen vom 7. Dezember 1924 im Zeichen des Aufschwungs?

Den Stadtverordnetenwahlen vom 7. De-zember 1924 lagen verbesserte Konditio-nen zugrunde als bei den vorausgegange-nen Krisenwahlen. Seit Oktober 1924 waren Dortmund und Umgebung von der Besetzung durch französische Truppen geräumt. Auf Reichsebene hatte ein inter-nationales Abkommen – der Dawes Plan vom 16. August 1924 – zur Anpassung der Reparationszahlungen des Deutschen Reiches geführt. Mit einer in dem Ab-kommen festgelegten amerikanischen Ka-pitalanleihe von 800 Millionen RM wur-den die negativen inflationären und politi-schen Auswirkungen der Jahre 1923/24 weitgehend verbessert, wenn sich das auch nicht besonders auf die Arbeitslosenzah-len der monostrukturierten Industriestadt Dortmund ausgewirkt hatte.

Die neuen politischen und wirtschaftli-chen Rahmenbedingungen ergaben de

facto bei den Wahlen zur Stadtverordne-tenversammlung dennoch eine völlig an-dere Ausgangsituation. Die Dezember-wahlen 1924 waren außerdem im Vorfeld von einem bisher nie gekannten aktiven Wahlkampf geprägt. Noch in den letzten Stunden vor dem Schließen der Wahllo-kale fuhren Lastkraftwagen der nun stär-ker auftrumpfenden radikalen Parteien durch die Stadt und verteilten stoßweise Propagandamaterial unter die Passanten. Motorradfahrer- und Radfahrerkonvois warben für die jeweils favorisierten Par-teien. Die Sozialdemokratie in Verbin-dung mit dem Reichsbanner, einer Schutzformation der Weimarer Republik, schickte in Dreierreihen geordnet „leben-de Plakatsäulen“ durch die Stadt, wäh-rend die KPD insbesondere im Dort-munder Norden einen klassenkämpferi-schen Wahlkampf mit Agitationstheater und anderen populären Aktionen wie beispielsweise „Rollerbrigaden“ von Kin-dern führte.

Durch diese unterschiedliche, kreative Form eines erstmals modern geführten

Wahlkampfes, der auch auf Schlepper-dienste für Wähler nicht verzichtete, wur-de eine hohe Wahlbeteiligung von rund 80 % erreicht (Kommunalwahl vom 4. Mai 1924 ca. 50 %), die letzten Endes wieder den Regierungsparteien der „Weimarer Koalition“, der SPD und der Zentrums-partei, zugute kam.

Auf dem Hintergrund der Verbesserung der wirtschaftlichen Gesamtlage hatten sich mit der Dezemberwahl von 1924 wie-der die politischen Verhältnisse stabilisiert und der Sozialdemokratie und dem Zent-rum die absolute Mehrheit der Sitze im Stadtparlament eingebracht. Mit 27,9 % wurde die SPD vor dem Zentrum (23,5 %) wieder zur stärksten Partei in Dort-mund und stellte mit Fritz Henßler auch den Stadtverordnetenvorsteher. Die KPD, traditionell überdurchschnittlich stark im Dortmunder Norden, erzielte 17,7 %, die DNVP 13,3 %, die DNVP 5,9 % und die liberale Deutsche Demokratische Partei (DDP) 5,3 % der abgegebenen Stimmen. Die erstmals in Dortmund kandidierende „Nationalsozialistische Freiheitspartei“ –

die Vorläuferin der NSDAP – erhielt mit knapp über 1.000 (0,8 %) Stimmen noch kein Mandat im Stadtparlament.

Mit dem Ergebnis der Stadtverordne-tenwahlen vom Dezember 1924 waren die Voraussetzungen für eine künftige stabile und seriöse Kommunalpolitik ge-währleistet, zumal Sozialdemokratie und Zentrumspartei in Dortmund besser ko-operierten als auf Reichsebene.

Auf dem Weg zu groß-Dort-mund: Die Stadtverordneten-wahlen vom 20. Mai 1928

Zu Beginn des Jahres 1925 war auch in Dortmund eine politische und wirtschaft-liche Konsolidierungs- und Stabilisie-rungsphase eingetreten, wobei Oberbür-germeister Eichhoff als Vorsitzender des Magistrats gemeinsam mit der Stadtver-ordnetenversammlung, bestehend aus der „Weimarer Koalition“ – SPD, Zentrum und Demokratische Partei – dafür sorgte, dass ab 1925 in Dortmund zahlreiche spektakuläre Bauvorhaben und Weichen-stellungen für den späteren Wirtschafts-standort Dortmund realisiert wurden. Dazu zählten neben der Westfalenhalle,

dem Volkspark mit der Kampfbahn Rote Erde und dem Volksbad, dem Flughafen zahlreiche Behörden- und Wohnungsbau-ten, wissenschaftliche Institute wie das Kaiser-Wilhelm Institut für Arbeitsphy-siologie und die Pädagogische Akademie sowie als Landmarke der Moderne, 1929 das „Westfalenhaus“.

Ausdruck der politischen und wirt-schaftlichen Konsolidierung waren die Reichstagswahlen und Stadtverordneten-wahlen vom 20. Mai 1928. In Dortmund konstatierte man die bisher friedlichste Reichstagswahl, die gleichzeitig mit Landtagswahlen und – aufgrund der 1928 erfolgten Eingemeindungen nach Dort-mund – mit neuen Stadtverordnetenwah-len verknüpft war. Mit der Stadt Dort-mund waren im April 1928 die Stadt Hör-de und die Gemeinden Oespel, Kley, Lüt-gendortmund, Bövinghausen, Kirchlinde, Marten, Westerfilde, Bodelschwingh, Brü-ninghausen, Mengede, Nette, Ellinghau-sen, Holthausen, Brechten, Kirchderne, Derne, Grevel, Lanstrop, Kurl, Husen As-seln und Wickede des Landkreises Dort-mund vereinigt worden. Damit hatte sich Dortmund um 135.000 auf 465.000 Ein-wohner vergrößert. Nicht zuletzt aufgrund des neuen Eingemeindungspotentials fiel

bei den ebenfalls am 20. Mai 1928 stattge-fundenen Stadtverordnetenwahlen in Groß-Dortmund das Bekenntnis zu den demokratischen Regierungsparteien noch wesentlich deutlicher aus als bisher. Die Sozialdemokratie erreichte 35,0 % der Wählerstimmen und führte damit das po-litische Spektrum vor der Zentrumspartei (19,1%) an. Als dritte Kraft hatte sich – eine Dortmunder Besonderheit – mit 13,6 % eine „Kommunale Einheitsliste“, beste-hend aus DVP, DNVP, DDP und Volks-rechtspartei etabliert und damit die KPD (13,3 %) überflügelt. Die extreme Rechte, repräsentiert durch die NSDAP, spielte mit 0,6 % in Dortmund 1928 noch keine Rolle.

Zu den 1928 eingemeindeten neuen Stadtteilen gesellten sich am 1. August 1929 bei der Integration des Landkreises Hörde nach Dortmund noch neun Ge-meinden im Süden von Dortmund: Apler-beck, Barop, Berghofen, Kirchhörde, Schüren, Sölde, Somborn, Syburg und Wellinghofen. Dortmund war damit nach Groß-Berlin zur flächengrößten Stadt des Deutschen Reichs geworden und verkör-perte quasi den neuen Typus einer „aufge-lockerten Industriegroßstadt“. Das neue Groß-Dortmund umfasste jetzt 27.152

Wahlkämpfe:SPD-Lautsprecherwagen1928...

...undKPD-RollerbrigadeamBorsigplatz,um1930

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Hektar und die Rekordeinwohnerzahl von 541.667 Personen.

Die große Eingemeindungswelle von 1928 und 19929 waren für die Großstadt-werdung Dortmunds von grundsätzlicher Bedeutung, kommunalpolitisch getragen insbesondere durch Oberbürgermeister Ernst Eichhoff und den seit 1925 (bis 1932) in Dortmund agierenden Bürger-meister Paul Hirsch. Dr. Paul Hirsch (1886-1940) war bereits vor dem Ersten Weltkrieg einer der produktivsten kom-munalpolitischen Autoren der Sozialde-mokratie gewesen und galt zudem und als Fachmann für kommunale Gebietsrefor-men. Als Abgeordneter des Preußischen Landtages, ehemaliger Preußischer Minis-terpräsident, bis 1924 Bürgermeister von Berlin-Charlottenburg, machte Hirsch seine vielfältigen Beziehungen zur Preußi-schen Regierung in Berlin für die Stadt Dortmund nutzbar. Es wird seiner Initia-tive und seinen guten Kontakten zuge-rechnet, dass die Pädagogische Akademie, das Arbeitsphysiologische Institut und die Augenklinik nach Dortmund geholt wer-den konnten. Im Zuge der massiven Ein-gemeindungen, die, was die Stadt und den Landkreis Hörde anbetrafen, gegen den erbitterten Widerstand des „roten Land-rats“ von Hörde, des Sozialdemokraten

Wilhelm Hansmann (1886-1963), durch-gesetzt werden mussten, hatte sich neben der Sozialstruktur auch die politische Landschaft der neuen Westfalenmetropo-le etwas verschoben. Somit wurden am 17. November 1929 neue Stadtverordneten-wahlen notwendig.

Die Stadtverordnetenwahlen vom 17. November 1929 im neuen groß-Dortmund

Die Wahlen vom 17. November 1929 gel-ten in der Politik- und Stadtgeschichte Dortmunds als die einzigen demokrati-schen Wahlen, die auf dem Gebiet der heutigen Stadt Dortmund vor 1945 statt-gefunden haben. Das politische Kräftever-hältnis der Parteien in der Stadtverordne-tenversammlung hat sich nach dieser Wahl über die gesamte Endphase der Weimarer Republik nicht mehr verändert und ist nach 1945 von der britischen Militärregie-rung als politisch proportionaler Demo-kratisierungsmaßstab angesehen worden. Die erste von der Militärregierung einge-setzte Stadtverordnetenvertretung nach dem Krieg vom 14. Dezember 1945 orien-tierte sich an dem politischen Kräftever-hältnis der Parteien von 1929.

Die Wahlen zur Stadtverordnetenver-sammlung vom 17. November 1929 selbst waren in Dortmund recht ruhig verlaufen. Die Wahlbeteiligung von 65 Prozent war nicht gerade überdurchschnittlich ausge-fallen. Der Dortmunder General-Anzei-ger (Ausgabe 18.11.1929) berichtete von erheblicher Wahlmüdigkeit der Bevölke-rung an einem regnerischen, trüben Sonn-tag und vom ersten Schneefall des Jahres. Abgesehen, dass es im Dortmunder Nor-den etwas lebhafter zugegangen sei, ist in den Kommentaren lediglich von einer „Krise der Selbstverwaltung“ und von einer „Schönwetterdemokratie“ die Rede. Die SPD blieb auch bei dieser Wahl nach wie vor mit 33,3 % der Stimmen und 30 Ratssitzen stärkste Stadtverordneten-fraktion. Das Zentrum hielt sich mit 22,5 % stabil und erhielt 19 Sitze im Stadtpar-lament. Die Kommunisten, die in ihren Wahlkampf hauptsächlich gegen den Youngplan (Reparationsverhandlungen bzw. Reparationszahlungsplan betr. das Deutsche Reich 1929/1930) auf Reichse-bene agitiert hatten und lokalpolitische Akzente vernachlässigten, kamen auf 11,6 % (10 Mandate), während die „Kommu-nale Einheitsliste“, bestehend aus DVP, DNVP, DDP und Volksrechtspartei – mit Ausnahme der von dem Dortmunder

Großindustriellen Albert Vögler ange-führten DVP (13,6 %) – ein wahres De-saster erlebte. Die Deutsche Demokrati-sche Partei (DDP), die eine langjährige, zum Teil starke linksliberale Tradition in Dortmund aufzuweisen hatte, verabschie-dete sich mit 1,8 % in Dortmund quasi aus der Parteienlandschaft, was besonders in der linksliberalen Presse und hier im Dortmunder General-Anzeiger diskutiert wurde. Zum ersten Mal machten die bürgerlich rechts orientierte Reichspartei des deutschen Mittelstandes (Wirt-schaftspartei: 5,1 %) und der ebenfalls politisch rechts angesiedelte Evangelische Volksdienst (3,5%) auf sich aufmerksam. Die NSDAP (Nationalsozialistische Deut-sche Arbeiterpartei) zog im November 1929 mit 1,8 % der Wählerstimmen erst-mals mit einem Stadtverordneten, dem Schlosser Heinrich König, in das Dort-munder Stadtparlament ein. Die „Haken-kreuzler“ tauchen in der Dortmunder Presse noch nicht nachhaltig auf, außer in einem Stimmungsbild vom Wahltag im General-Anzeiger (18.11.1929), in dem es heißt:Hakenkreuzplakate wurden an allen Ecken und Enden vor allem in der Nähe von Wahl-lokalen angepinkelt. Hakenkreuzler in voller Ausrüstung mit Sturmriemen und Patronen-

taschen umgürtet taten sich sehr wichtig – wurden aber von besonnenen Elementen er-freulicher Weise über die Schulter angesehen!

Im Vergleich zu anderen Städten des Ruhrgebiets scheint das Spektrum der klassischen Weimarer Parteien – mit Aus-nahme vielleicht der relativ zunehmenden Schwäche der ursprünglich linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei – bis 1933 der Weimarer Republik überdurch-schnittlich stark die Treue gehalten zu ha-ben. Die politische Präsenz insbesondere der Sozialdemokratie, des Zentrums und des Linksliberalismus drückt sich nicht zuletzt durch die für eine Großstadt wie Dortmund nie mehr erreichte Vielfalt und Qualität von Presserzeugnissen, wenn auch vorwiegend der jeweiligen politisch orientierten Klientel verpflichtet, aus, die von der „Westfälischen Allgemeinen Volks-Zeitung“ (SPD), der „Tremonia“ (Zentrum), der „Dortmunder Zeitung“ (DVP), dem „Westfälischer Kämpfer“ (KPD) bis hin zum parteiunabhängigen, tendenziell linksliberalen Dortmunder „General-Anzeiger“, der größten Tages-zeitung außerhalb Berlins, reichten.

Die sich infolge des Börsencrashs vom 24. Oktober 1929 in den Vereinigten Staa-ten zuspitzende Weltwirtschaftskrise, die

WahlkampfveranstaltungundletztekirchlicheGroßveranstaltungvorderMachtergreifungmitEx-ReichskanzlerHeinrichBrüning,Juli1932inDortmund,StadionRoteErde

bis Ende des Jahres auch das Deutsche Reich erfasste, führte bis 1931 zu einer faktischen Aufhebung der kommunalen Selbstverwaltung. Die schlechte konjunk-turelle und krisenhafte Entwicklung hatte ohnehin schon die finanziellen Möglich-keiten der Städte und Gemeinden einge-schränkt. Infolge der verringerten Steuer-einnahmen des Reiches fielen die Zuwen-dungen an die Kommunen immer niedri-ger aus. Die seit 1929 immens steigende Zahl der aus der Arbeitslosenversicherung Ausgesteuerten bürdete den Städten und Gemeinden Fürsorgelasten auf, die ihre Finanzquellen bei weitem überstiegen.

Mit dem Regierungsantritt des Zent-rumspolitikers und neuen Reichskanzlers Heinrich Brüning vom 28. März 1930, der ein bürgerliches Kabinett ohne parlamen-tarische Mehrheit anführte, wurden die Gemeinden immer mehr unter die Kuratel der Länder gestellt. Brüning reagierte auf den 1929 erfolgten Zusammenbruch von Wirtschaft und Staatshaushalt mit Steu-ererhöhungen, Gehaltskürzungen, Entlas-sungen im öffentlichen Dienst, Renten-kürzungen, Kürzung von Arbeitslosenhilfe und extremer Sparpolitik.

Die von ihm durchgesetzten „Notver-ordnungen“ von 1930/1931gelten heute als mitverantwortlich für das Ende der

GroßkundgebungderKPDinderWestfalenhalle,Ende1932

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Die Dortmunder Presse in den 1920er Jahren

vonHansBohrmann

Die Geschichte der periodischen Presse geht insgesamt mehr als 400 Jahre zurück. Die ältesten Erscheinungen sind von 1609 überliefert, beide in deutscher Sprache. Überblickt man die Entwicklung seitdem, sind unschwer verschiedene Stufen zu un-terscheiden. Ganz grob gesprochen kann die vorindustrielle von der industriellen und der postindustriellen Phase unter-schieden werden. Diese Dreiteilung passt auf die Presse in Dortmund ganz gut, de-ren Vorgeschichte wenig vielfältig ist und erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun-derts beginnt. Ursache für das späte Auf-tauchen von Zeitungen in Dortmund war die geringe Bevölkerungszahl von wenigen Tausend Einwohnern und die damit ein-hergehende geringe wirtschaftliche Po-tenz. Die Dortmunder Pressegeschichte nimmt erst mit der Industrialisierung

Fahrt auf. In der Bismarck-Zeit sind dann bis zum Ersten Weltkrieg die auch für die nächsten Jahrzehnte wichtigsten Blätter entstanden.

Blütezeit der Dortmunder Presselandschaft:Die 1920er und 1930er Jahre

Wenn in der Pressegeschichtsschreibung Dortmunds nach einer Achsenzeit gefragt wird, in der sich die positiven Attribute klassisch zusammen präsentieren, dann kommen als Antwort nur die 1920er Jahre und der Anfang 1930er Jahre in Frage. Die Pressestruktur Dortmunds und seiner Umgebung war in dieser Zeit ungewöhn-lich stark ausgeprägt. Neben den großen Zeitungstiteln, welche die Gesamtstadt auch mit entsprechenden Anzeigen abde-cken und das politische Spektrum abbil-den, steht eine erhebliche Anzahl kleinerer Lokalblätter, die teilweise vom Münster-

land und vom Märkischen Kreis mit Ne-benausgaben für Dortmunder Bezirke ein-pendelten und so Insertionsmöglichkeiten für die Geschäfte vor Ort boten, die für die kleinen Inserenten bezahlbar waren. Die regional, teilweise auch weit über Dort-mund hinaus verbreiteten Titel unterhiel-ten gegliederte Redaktionen, die gemessen an Redaktionsgrößen in der zweiten Hälf-te des 20. Jahrhunderts eher klein, aber für die Weimarer Zeit beachtlich waren. Sie wurden lediglich in den reichsweit von Berlin aus verbreiteten Zeitungen über-troffen. In den Dortmunder Redaktionen arbeiteten ständig mehr als ein Dutzend fest angestellter Mitarbeiter.

Die Dortmunder Zeitung (Verlag C.L. Krüger, gegr. 1874, mit Vorläufern 1828) im Verlag Krüger, artikuliert sich als „bür-gerlich“. Chefredakteur war Robert Roh-de. Das Blatt steht politisch der DVP nahe, vorübergehend auch nationalliberal orientiert, d.h. mit der DNVP sympathi-sierend. Überliefert ist bisher nur eine An-

Weimarer Republik. Die finanzielle Aus-trocknung der Kommunen und die Zer-schlagung ihrer Selbstverwaltung in der Endphase der Weimarer Republik führten dazu, dass sich auf dem Hintergrund der weltweiten Konjunkturkrise die Massen-arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit der Menschen verschärften. Allein die radikalen politischen Parteien und deren Exponenten gewannen in dieser Phase zu-nehmend an Anhängerschaft. Diese ver-heerende Entwicklung machte nach ei-nem relativ politisch stabilen Jahr 1929 die Wahlerfolge der NSDAP ab 1930 erst möglich.

Im Verhältnis zu vielen Städten im Deutschen Reich verschlechterten sich in Dortmund aufgrund der wirtschaftlichen Monostruktur die wirtschaftlichen und sozialpolitischen Rahmenbedingungen nach 1930/1931 zunehmend. Für die wirt-schaftlich monostrukturierte Stadt Dort-mund kam erschwerend dazu, dass das Gros der Arbeitslosen aus Männern be-stand, da sich Schwerindustrie und Berg-bau vorwiegend aus männlichen Arbeits-kräften rekrutierten. Bei einer Gesamtbe-völkerung von 525.000 (1932) ergab sich für Dortmund, dass zeitweilig 40 % der Bevölkerung aus öffentlichen Mitteln un-terstützt werden mussten, was für die Stadt zum sozialpolitischen Kollaps führen

musste. Die Stadtführung verlor im Ver-lauf der Wirtschaftskrise mangels finanzi-eller Ressourcen vollends jeglichen Hand-lungsspielraum, während die KPD und nun auch die Nationalsozialisten in Dort-mund stärkeren Zulauf erhielten. Ende 1932 nahmen beispielsweise über 50.000 Besucher an einer Großkundgebung der KPD in der Westfalenhalle mit dem Hauptredner Ernst Thälmann (MdR) teil.

Im Zuge der anhaltenden Wirtschafts-krise mündete die politische Krise in die Machtergreifung Adolf Hitlers, der sich auf einer NSDAP-Großkundgebung am 17. Februar 1933 in der Dortmunder Westfalenhalle seiner begeisterten Anhän-gerschaft präsentierte.

Die letzte große Massenkundgebung der SPD und der „Eisernen Front“ fand vor etwa 30.000 bis 40.000 Anhängern der sozialen Demokratie am 26. Februar 1933 in und um die Westfalenhalle statt. Im Vorfeld der letzten Reichstags- und Stadtverordnetenwahlen der Weimarer Republik stand die Veranstaltung unter dem Motto „Volksrecht über Herrenrecht – gegen Hitler“. Versammlungsleiter war der führende SPD-Vertreter Dortmunds und Reichstagsabgeordnete Fritz Henß-ler.

Bei den wegen der zunehmenden Terror- und Gewaltakte der Nationalsozialisten

NSDAP-GroßkundgebungmitAdolfHitler,Westfalenhalle,17.Februar1933

sowie Verhaftungen von gewählten Stadt-verordneten nicht mehr als demokratisch zu bezeichnenden Reichstagswahlen vom 5. März 1933 und den darauf folgenden Stadtverordnetenwahlen in Dortmund vom 12. März 1933 gelang es der NSDAP zwar mit 27,0 % (Reichsdurchschnitt: 43,9 %) bzw. bei den Kommunalwahlen mit 30,2 % zur stärksten politischen Kraft in Dort-mund zu werden, aber der rechtsradikalen Partei standen hier immer noch der Block der SPD (19,8 %) und des Zentrums (19,4 %) gegenüber, während die KPD (18,2 %) und deren Funktionsträger bereits national-sozialistischen Verfolgungen und Terror-maßnahmen ausgesetzt waren. Das Ende der Weimarer Republik, das Ende Demo-kratie und der Beginn der nationalsozialis-tischen Diktatur waren damit, wenn es auch viele Zeitgenossen und Parlamentari-er noch nicht wahrhaben wollten, besiegelt.

Quellen und literatur:Graf, Hans, Die Entwicklung der Wahlen und poli-tischen Parteien in Groß-Dortmund, 1958

Högl, Günther, Das 20. Jahrhundert. Urbanität und Demokratie, in: Geschichte der Stadt Dort-mund, hrsg. v. Stadtarchiv, Dortmund 1994.

Sämtliche Abbildungen dieses Beitrags:Stadtarchiv Dortmund

General-Anzeiger,Werbung1928:250.000Auflage(StadtarchivDortmund)

Werbeschilddes„DortmunderGeneral-Anzeigers“(StadtarchivDortmund)

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gabe über die Höhe der Auflagenzahlen: 1930 waren dies 36.500 Exemplare.

Der General-Anzeiger (gegr. 1887) er-zielt durchgängig die höchste Auflage aller Dortmunder Blätter und wirbt damit, die höchste Auflage der Zeitungen außerhalb Berlins zu erzielen. Er erreicht bereits vor dem Ersten Weltkrieg mehr als 100.000 Exemplare, die nach dessen Ende rasch wieder erreicht und schon Mitte der zwan-ziger Jahre deutlich übertroffen werden, Ab 1929 wird von 250.000 Stück gespro-chen. Der General – Anzeiger, an dessen Verlag Krüger und überwiegend der Blatt-macher Karl Richter (1880–1931) betei-ligt sind, hat keine Parteibindung und nennt sich demokratisch und republika-nisch).

Die Tremonia (gegr. 1875) im Verlag Lensing ist seit Gründung im Kultur-kampf gegen Bismarck ein Zentrumsblatt. Ihre Auflage stieg von 30.000 vor dem Ersten Weltkrieg bis auf 50.000 Exempla-re an. Chefredakteur war Dr. Joseph Hoff-mann. Die publizistische Wirksamkeit war aber entscheidend größer, weil die zahlreichen kleinen Zentrumszeitungen im Münsterland ihren Mantel übernah-men (Zeno-Zeitungsgruppe). Die Westfä-lische Allgemeine Volks Zeitung (WAVZ) der Sozialdemokratie konnte ab 1890 (mit Vorläufern 1878, dann verboten; Verlag Gehrisch), als das Sozialistengesetz nicht verlängert wurde, erscheinen. Chefredak-teur war in der Weimarer Zeit der promi-nente Dortmunder Sozialdemokrat Fritz Henßler, der die NS-Verfolgungen und langjährige Konzentrationslagerhaft über-lebte und nach dem Zweiten Weltkrieg Oberbürgermeister der Stadt Dortmund wurde.

Die Auflage der WAVZ wird seit der Vorweltkriegszeit mit 25.000 Exemplaren angegeben, sinkt bis zur Mitte der 1920er Jahre wohl auf unter 20.000, um gegen Ende der Weimarer Republik mit 30.000 Exemplaren wieder deutlich anzusteigen.

Die politischen Flügelparteien, die we-der auf Reichsebene, noch im Dortmunder Rat kooperationsfähig waren – NSDAP und KPD – gaben in Dortmund keine selbstständigen Blätter heraus. Für die NSDAP in Dortmund gilt, dass Sie bei den Kommunalwahlen von 1920 bis 1929 ohnehin keine Rolle spielte. Die Zeitun-gen der beiden Parteien pendelten mit Ne-benausgaben von außerhalb ein: National-Zeitung (gegr. 1931, NSDAP-nahe, von Essen), die Rote Erde (NSDAP-Gaublatt für Westfalen Süd von Bochum) und des Westfälischen Kämpfers (gegr. 1923, KPD,

ebenfalls von Essen). In den Handbüchern wird lediglich für den ab 1930 in Dort-mund populären Westfälischen Kämpfer (KPD) eine Auflage angegeben, die jedoch deutlich unter 20.000 Exemplaren lag.

Kleinere Zeitungen inDortmund und Hörde

Die kleinen Dortmunder Zeitungen wa-ren Vorortzeitungen, die überwiegend von Alleinredakteuren gestaltet wurden. Die

Funktionen von Verleger, Drucker und Redakteur waren oft nicht getrennt, wie es noch für die Geschichte der Presse vor 1848 typisch war. Der Derner Lokalanzei-ger, die Lütgendortmunder Amtszeitung (Druckerei Wulff ), der Dortmund-Men-geder Lokal-Anzeiger (Verlags Arnold), der Martener Anzeiger, die Martener Zei-tung, Martener Anzeiger, das Barop-Hombrucher Volksblatt (Verlag May), das Hellweg – Märkische Volksblatt (Verlag May) in Wickede und die beiden Hörder Zeitungen: Hörder Volksblatt und Hörder Volksfreund (Verlag Lensing).Deren Ver-lage waren teilweise untereinander ver-bunden, erschienen in Weimarer Zeit ge-legentlich mit leicht modifizierten Titeln. Sie bezeichneten sich bis auf den Hörder Volksfreund, der politisch dem Zentrum verpflichtet war (und zur Tremonia Grup-pe gehörte), als neutral oder parteilos. Nach der Eingemeindung 1929 erzielten die Hörder Blätter dabei die höchsten Auflagen der Vorortzeitungen und lagen bei 10.000 Stück; die anderen lagen deut-lich unter 5.000 Exemplaren. Das ent-sprach dem Bild, das die Zeitungen überall in Deutschland, auf dem Lande und in den kleinen Städten boten. Es war jene Kleinpresse, die allein durch die Zuliefe-rung des (politischen) Mantels, oft zu be-sonders günstigen Konditionen – aus durchsichtigen Gründen – von dem natio-nalkonservativen Hugenberg-Pressekon-zern bedient wurde. Der nationalsozialisti-schen Politik entstand damit ein einfluss-reicher Vorreiter. Eine Konkurrenz zu den großen Zeitungen auf dem Dortmunder

Markt stellten diese Presserzeugnisse zu-nächst nicht dar, sondern bildeten viel-mehr die lokale Ergänzung zur weit gefä-cherten Presselandschaft der Weimarer Zeit, auf die viele Bürger wert legten.

Für die regional und überregional gut nachgefragten Zeitungstitel, die, wie im Deutschen Reich üblich, überwiegend im Abonnement verkauft wurden, kann fest-gestellt werden, dass der Umfang des An-zeigenteils ertragreich war und sich die jeweiligen Redaktionen deshalb mehr und gut bezahlte Mitarbeiter leisten konnten. In den 1920er Jahren war die Verbreitung dieser Blätter über Dortmund hinaus be-achtlich. Der General-Anzeiger war ein Blatt für Westdeutschland, das bis ins Rheinland und über das Münsterland bis zur holländischen Grenze gekauft wurde. Chefredakteure waren Carl von der Heydt

und ab 1929 Dr. Jakob Stöcker (1886-1969). Der Mitverleger Karl Richter und Stöcker waren über Dortmund hinaus be-kannte Journalisten.

Die Tremonia lieferte den überregiona-len politischen Mantel für die zahlreichen kleinen Zeitungen (Zentrumsblätter der ZENO Gruppe) im Münsterland, die dort unter eigenen Titeln erschienen. Auch sie beschäftigten profilierte Journalisten, de-ren Ruf über Dortmunds Grenzen hinaus reichte. Die Zentrumspartei war im Dort-munder Rat und Magistrat sehr gut ver-netzt und stützte Oberbürgermeister Eichhoff (DVP), der von 1910 bis 1933 amtierte. Die Sozialdemokratie stellte in der Arbeiter- und Industriestadt Dort-mund in ständiger Konkurrenz mit der KPD bei den Kommunalwahlen – ausge-nommen die Krisenwahl vom Mai 1924 –

immer die stärkste Fraktion im Stadtpar-lament. Zur Durchsetzung kommunalpo-litischer Ziele war sie jedoch in der Regel auf die Unterstützung der Zentrumsfrak-tion und in den meisten Fällen auch auf die des Oberbürgermeisters angewiesen. Die sich im Besitz der SPD befindliche Westfälische Allgemeine Volkszeitung war stark bis in die letzten Tage der Wei-marer Republik hinein in Dortmund prä-sent. Der linksliberale General-Anzeiger war weit auflagenstärker und populärer, sogar bei vielen Anhängern der SPD. Er entwickelte zunehmend ein linksliberales, pazifistisches und sogar sozialpolitisch

links von der SPD positioniertes Profil, grenzte sich aber eindeutig von der KPD ab. Der General-Anzeiger zog prominente Journalisten und Autoren (Helmut von Gerlach, Alfons Goldschmidt, Otto Leh-mann-Rußbüldt, Prof. Ludwig Quidde, Erik Reger u. a.) aus ganz Deutschland an, die regelmäßig für Beiträge – auch Leitar-tikel – gewonnen werden konnten. Sie be-trachteten das Blatt als wichtiges, auch überregional gehörtes Forum. Darunter auch der Pressezeichner Emil Stumpp (1886-1941), dessen Atelier die ganze Zeit in Berlin blieb, der aber Dortmund als seine Zeitungs- Heimat ansah, was die zahlreichen Dortmunder Stadtansichten und Zeichnungen zu Dortmunder Ereig-nissen aus seiner Feder belegen (vgl. den Beitrag von G. Toepser-Ziegert in diesem Heft).

FritzHenßler,inden1920erJahrenChefredakteurderWAVZ,nach1945LizenzträgerderWestfälischenRundschau(StadtarchivDortmund)

WerbeaktionfürdieZeitung„DerKämpfer“inDortmund-Wellinghofen,1932(StadtarchivDortmund)

„DerKämpfer“,letzteAusgabevom20.Februar1933(InstitutfürZeitungsforschung) Dr.JakobStöcker,ChefredakteurdesGeneral-Anzeigersbis1933(StadtarchivDortmund)

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Das Feuilleton im General-Anzeiger (Redaktion „Frl. Dr. Karoline Urstadt“) konnte breiten Raum beanspruchen und gerade weil die Kernredaktionen viel klei-ner waren, als wir es heute gewohnt sind, wurden Fachkenner aus der Stadt von au-ßerhalb der Redaktion zur Mitarbeit her-angeholt, die das Profil des ganzen Blattes so bestimmten, wie es heute bei überregio-nal verbreiteten Blättern üblich ist. Für Dortmund ist das für die Bauberichter-stattung (Hochbau, Tiefbau) und archi-tekturbetonte Stadtentwicklung, insbe-sondere was die Bauten der Moderne an-betrifft, nachzuweisen.

Im April 1933 fiel mit dem Diebstahl des Dortmunder General-Anzeigers die letzte Bastion der freien Presse. Die Nati-onalsozialisten „beschlagnahmten“ in ei-ner Nacht- und Nebelaktion des populärs-te Presseorgan der Weimarer Zeit in Dort-mund und fusionierten die Zeitung mit dem NSDAP-Blatt „Rote Erde“ (später Westfälische Landeszeitung Rote Erde).

Die Zwangsübernahme der Zeitung hatte neben ideologischen Gründen auch wirtschaftliche Hintergründe, zumal der General-Anzeiger mit einer Auflage von 250.000 Exemplaren, hergestellt auf zwei modernen Rotationsmaschinen, dem NS-DAP-Parteiblatt Rote Erde mit einer Auflage von 30.000 klar den Rang abge-laufen hatte.

Zum Ende der Weimarer Zeit hatten die großen Blätter kaum Einbußen zu ver-zeichnen. Infolge der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden sukzessive

alle Zeitungen sozialistischer und demo-kratischer Prägung verboten. Nach 1933 und vor allem ab Kriegsbeginn 1939 wur-den die lokalen Blätter fusioniert oder ver-schwanden ganz vom Markt. Die natio-nalsozialistische Pressepolitik ließ mit ih-ren Presseanweisungen keine Zeitung un-kontrolliert. Ziel war es, vor allem die überregionale Presse im Sinne der Partei auszurichten und, wenn möglich, in wirt-schaftliche Abhängigkeit des Parteikon-zerns Eher Verlag (München, Berlin) und seiner unter anderen Namen firmierenden Töchter zu bringen.

In den 1920er Jahren stand Dortmund für eine ganz klare Zeitungssignatur, die

weite Teile Westfalens und sogar des Rheinlands mit abdeckte. Nicht von unge-fähr hieß der Berufsverband der Zeitungs-verleger (mit Vorort in Bochum) Nieder-rheinisch – Westfälischer Zeitungsverle-ger Verein. Die Zwischenkriegszeit war deutschland- und europaweit eine Medie-nepoche, in der unbestreitbar die Zeitun-gen publizistisch den Ton angaben. In Weltstädten wie Frankfurt, Berlin und Zürich erschienen Zeitungen drei Mal am Tag. Auch in Dortmund gab es, u.a. beim General-Anzeiger, Morgen- und Abend- und Sonntagausgaben.

Das Radio (Hörfunk) war erst in den Kinderschuhen und die Wochenschau, die seit dem Ersten Weltkrieg als visuelle und Anfang der dreißiger Jahre audiovisuelle Nachrichtenübermittlerin auftrat (geknüpft an Vorführungen von Spielfilmen im Kino) stellte keine effektive Konkurrenz zur Presse dar.

Wendepunkt in der Presseland-schaft Dortmunds nach 1945

Darüber, wann die industrielle Periode in Dortmund endete, kann gestritten werden. War es mit dem Ende von Kohle, Stahl und Bier? Wenn man auf den Zeitungss-tandort Dortmund schaut, liegt der Wen-depunkt in der frühen Nachkriegszeit. Die Alliierten haben beim Wiederaufbau der Presse Strukturentscheidungen getroffen, die sich als dauerhaft erwiesen und zu-nächst das vorrangige Ziel hatten, die

Presseversorgung in Dortmund wieder in Gang zu setzen. Die Folgen der Zeitungs-politik der Nationalsozialisten einerseits und die für Zeitungsverlage desaströsen Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs ande-rerseits erzwangen rasche Entscheidun-gen. 1933 war die Westfälische Allgemei-ne Volks Zeitung von den Nationalsozia-listen verboten und deren Redaktionsräume geschlossen worden. Im April 1934 war das (sehr kleine) NSDAP Gaublatt (des Gaus Westfalen Süd, Rote Erde) von Bo-chum nach Dortmund verlegt und mit dem beschlagnahmten General-Anzeiger zur (nationalsozialistischen) Westfälische Landeszeitung Rote Erde vereinigt wor-den. Den bisherigen Lesern von WAVZ und General-Anzeiger konnte das neue „braune“ Blatt nicht gefallen. Das Verbrei-tungsgebiet der Westfälischen Landeszei-tung blieb begrenzt, weil das Dortmunder Gau-Blatt (gemäß der lokal begrenzten Einteilung der NS-Gaue) schnell an die Verbreitungsgebiete anderer Gaublätter stieß.

Während des Zweiten Weltkriegs waren auch die Dortmunder Blätter kriegsbe-dingt im Umfang ausgedünnt und zusam-mengefasst worden. Die Zeitungsrotati-onsmaschinen waren fast alle dem Bom-benkrieg zum Opfer gefallen. Lediglich aus dem Druckhaus Bremer Straße konn-ten einige Maschinen des General-Anzei-gers unter den Trümmern geborgen und wiederhergestellt werden.

Da aber hatten die Besatzungsmächte schon in Oelde, wo das Druckhaus der „Glocke“ erhalten geblieben war, den Westfälischen Kurier in vielen Lokalsaus-gaben auf den Weg gebracht. In Bochum, später in Essen, erschien bereits die Ruhr

Zeitung, die auch in Dortmund verbreitet wurde. Bereits bevor es in Dortmund zur Lizenzierung der Westfälischen Rund-schau kam, war in Münster unter dem Titel Westfälische Nachrichten ein Nach-folgeblatt des dortigen Westfälischen Anzeigers (Zentrum) im Traditionsverlag Aschendorff erschienen. Die Westfäli-schen Nachrichten waren mit ihrem Man-tel zur Stelle, als nach der Lizenzfreigabe (1949) die münsterländischen Zeno-Zei-tungen wieder erschienen. Die Ruhr Nachrichten als Nachfolger der Tremonia hatten in Dortmund das Nachsehen. Sie waren angesichts des sehr späten Lizen-zierungstermins damals noch mit der Konsolidierung des Dortmunder Marktes

und seines unmittelbaren Umlandes be-schäftigt. Die Westfälische Rundschau, die in die Fußstapfen des 1933 verbotenen General-Anzeigers hätte treten können, wurde zwar vom Münsterland bis ins Sie-gerland mit Nebenausgaben verbreitet, aber das Rheinland, wo man den General-Anzeiger früher auch gern gelesen hatte, wurde nun bereits von anderen Lizenzzei-tungen bedient. Selbst in Dortmund konnte die Westfälische Rundschau bis heute keine Marktführerschaft mehr ge-winnen.

Zeitungstitel sind langlebig. Der Verlag der Westfälischen Rundschau hat den Ti-tel Dortmunder Generalanzeiger gekauft, wohl um das neue Erscheinen eines Blat-tes unter dem Traditionstitel zu verhin-dern. Ebenso haben die Ruhr Nachrich-ten, selbst im Verlag Lensing die Tradition der Tremonia forttragend den Titel „Dort-munder Zeitung“ (aus dem Verlag Krüger) für den Lokalteil übernommen. Das sind die beiden großen auf dem heutigen Dort-munder Zeitungsmarkt. Die WAZ hat in Dortmund auflagenmäßig nie eine Rolle gespielt, nachdem die Lokalredaktion in den letzten Jahren stark reduziert worden ist. Wie es im Zeitalter des Internets und den damit verbundenen Verlusten bei An-zeigeneinnahmen in der Presselandschaft weitergeht, lässt sich kaum voraussehen. Festhalten lässt sich jedoch als Fazit, dass Dortmund als Standort von Zeitungen in der postindustriellen Zeit deutlich an pub-lizistischer aber auch zeitungsindustrieller Kraft eingebüßt hat.

DruckereigebäudedesGeneral-AnzeigersinderBremerstraße,1930(StadtarchivDortmund) EinweihungdesRundfunksendersDortmund1925(StadtarchivDortmund)

ZerstörtesDruckereigebäudedesGeneral-Anzeigers,Bremerstraße1945(StadtarchivDortmund)

KarolineUrstadt(1903-1944),Journalistin,Schriftstellerin,LithographieE.Stumpp(InstitutfürZeitungsforschung)

SonderdruckderNSDAPüberdieZwangsfusionvonRoterErdeundGeneral-Anzeiger(StadtarchivDortmund)

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Heimat DortmunD Heimat DortmunD Von der „Kieltante“ | 4746 | Von der „Kieltante“

Von der „Kieltante“Erinnerungen an die „Westfälische Allgemeine Volks-Zeitung“

vonKlausWinter

Als die sozialdemokratische „Westfälische Allgemeine Volks-Zeitung“ im November 1930 etwas verspätet eine Sonderausgabe anlässlich ihres vierzigjährigen Jubiläums – und des sechzigjährigen Bestehens ihrer Parteiorganisation – veröffentlichte, trug sie bereits ihren vierten Namen: Ursprüng-lich erschienen war sie unter dem Titel „Westfälische Freie Presse“, änderte diesen Namen aber bereits nach zwei Jahren in „Rheinisch-Westfälische Arbeiter-Zei-tung“. Von 1902 bis 1917 hieß sie „Arbei-ter-Zeitung“ und von da ab „Westfälische Allgemeine Volks-Zeitung“ (WAVZ). In der letzten Ausgabe der „Arbeiter-Zei-tung“ (28.09.1917) wurde der erneute Na-menswechsel so begründet: Durch diesen Titel kommt auch äußerlich zum Ausdruck, daß unser Blatt ein Organ sein soll für die weitesten Volkskreise, für alle Bedrückten und Bedrängten, die bekanntlich nicht nur unter den Arbeitern zu finden sind. Selbstverständ-lich bleibt unser Blatt unter dem neuen Titel das freie und unbestechliche Organ der Arbei-terschaft, mutig und hoffnungsfreudig wird es in bewährter Weise den Kampf weiter kämp-fen, der zur Befreiung und zum Sozialismus führen wird.

Entwicklung der ZeitungDas Titelblatt der erwähnten Jubiläums-nummer der WAVZ wird fast ganzseitig gefüllt durch ein grafisches Potpourri, das einen weiten Bogen spannt von dem heimlichen Verteiler sozialdemokratischer Flugblätter oder Zeitungen, der auf der Hut vor der preußischen Polizei sein musste (1878), bis zu Ansichten der mo-dernisierten und erweiterten Betriebsge-bäude an der Kiel- und Nordstraße (1930). Er erinnert an Schwerpunkte eines be-wegten Zeitungslebens.

1890 ist das Gründungsjahr der Zei-tung. In diesem Jahr wurde die Gültigkeit des „Gesetzes gegen die gemeingefährli-chen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ („Sozialistengesetz“) nicht mehr verlän-

gert. Die jahrelangen schweren Repressali-en gegen jedwede Form sozialdemokrati-schen Wirkens waren damit zwar beendet, doch die ersten Schritte fielen den bis dato Unterdrückten sehr schwer. Georg Trem-pa, der am Entstehen der neuen Zeitung großen Anteil hatte, erinnerte sich später an das mühselige Sammeln der Gelder zur Bildung des finanziellen Grundstocks für eine eigene Zeitung durch den Verkauf von Anteilsscheinen im Wert von 1 Mark und an die total verräucherte Scheune in der Lindenstraße, die als Druckerei ge-mietet wurde, wo jedoch zu allererst ein Fußboden verlegt und ein Fundament für die Druckerpresse gemauert werden muss-te. Doch gelang es nach Überwindung zahlreicher Schwierigkeiten, die ersten 150 Exemplare fristgerecht zu einer Ver-sammlung in das Restaurant „Reichshal-len“ am Westenhellweg zu liefern.

In der Folgezeit etablierten sich die „Westfälische freie Presse. Organ für die Interessen des arbeitenden Volkes“ und ihre Nachfolger. So konnte die „Arbeiter-Zeitung. Sozialdemokratisches Organ für das östliche industrielle Ruhrgebiet. Pub-likationsorgan der freien Gewerkschaften“ damit werben, dass die SPD in den sechs Reichstagswahlkreisen Westfalens, die im Verbreitungsgebiet der Zeitung lagen (Dortmund-Hörde, Hamm-Soest, Arns-berg, Lüdinghausen, Münster, Tecklen-burg), bei der Wahl am 12. Januar 1912 stolze 67.693 Stimmen erhalten hatte.

Zu den Erfolgen gesellten sich häufig schwierige, wohl auch die Existenz bedro-hende Situationen. Bereits sechs Wochen nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde gegen die „Arbeiter-Zeitung“ die sogenannte Vorzensur verhängt. Da die Haltung der Zeitung wiederholt den Wi-derstand der Militärspitzen hervorrief, wurde ihr Erscheinen mehrfach verboten. Eine aus der Feder Fritz Henßlers stam-mende kritische Beurteilung der im Kriegsverlauf erfolgten Torpedierung ei-nes zwar zivilen, aber bewaffneten briti-schen Schiffs durch die deutsche Marine („Lusitania-Affäre“) veranlasste die mili-tärische Führung, von der Zeitung eine Klarstellung zu verlangen. Henßler entle-

digte sich dieser Verpflichtung durch ei-nen diplomatisch formulierten Artikel.

Nach der Kaiserzeit firmierte die Zei-tung im Untertitel zunächst als „Amtli-ches Organ sämtlicher Arbeiter- und Sol-datenräte in den Reichstagswahlkreisen Münster-Coesfeld, Ahaus-Tecklenburg“, später dann als „Sozialdemokratisches Or-gan für die Kreise Dortmund-Hörde, Hamm-Soest, Arnsberg-Olpe, Lüding-hausen-Warendorf“ und schließlich ab 1921 „für die Stadt- und Landkreise Dort-mund und Hörde“. 1922 war sie Publikati-onsorgan der freien Gewerkschaften, ab 1925 des Arbeitersportkartells und ab 1926 der Reichsbanner-Organisation. Während der Ruhr-Besetzung 1923/24 war die WAVZ wie viele andere Zeitungen im besetzten Gebiet zeitweise verboten.

Mehlich und Henßler1926 verunglückte der Chefredakteur Ernst Mehlich im Alter von 44 Jahren tödlich. Mehlich, ein gelernter Buchdrucker, der 1910 seine Tätigkeit für die Zeitung aufge-nommen hatte, zählt zu den prominenten Kämpfern der Arbeiterbewegung im östli-chen Ruhrgebiet. 1919 hatte er in Dort-mund den Arbeiter- und Soldatenrat als Vorsitzender geführt und wurde auch zum Vorsteher der Stadtverordnetenversamm-lung gewählt. 1920 war er Protokollführer bei der Aushandlung des sogenannten „Bielefelder Abkommens“, durch das der Reichsregierung nach der Niederschlagung des Kapp-Putsches als Gegenleistung für einen Waffenstillstand verschiedene Zuge-ständnisse abgerungen wurden.

Mehlichs Nachfolger als Chefredakteur wurde dessen langjähriger Freund Fritz Henßler, der 1910 als Schriftsetzer nach Dortmund gekommen war und 1912 die Stelle des „politischen Redakteurs“ bei der „Arbeiter-Zeitung“ übernommen hatte, welche Aufgabe ihm bereits im ersten Jahr Gefängnisstrafen einbrachte. Wie Meh-lich, mit dem er im selben Haus in der Nordstraße wohnte, betätigte auch Henß-ler sich in der Kommunalpolitik, wurde 1929 in den Westfälischen Provinzialland-tag gewählt und am 14. September 1930 in

den Reichstag, dem er dann bis zu seiner Auflösung angehören sollte. Von 1946 bis zu seinem Tode 1953 war Henßler Ober-bürgermeister von Dortmund.

Der Weg von den Wohnungen Meh-lichs und Henßlers in der Nordstraße bis zur Redaktion war kurz, da die Zeitung längst von der Lindenstraße in die im Ar-beiterstadtteil „Nordstadt“ gelegene Kiel-straße, Haus Nr. 5, umgezogen war. Von Kielstraße leitete sich auch der Spitzname der SPD-Zeitung ab: „Kieltante“

Von idealen Verhältnissen für die Er-stellung einer Tageszeitung konnte Ende der 1920er Jahre auch an der Kielstraße nicht mehr die Rede sein. Der Platzmangel war zum Schluß grotesk zu nennen. Ganz abgesehen davon, daß gar keine Ausdeh-nungsmöglichkeit bestand, mussten dringend notwendige Maschinen, die den Betrieb leis-tungsfähig erhalten sollten, dort unterge-bracht werden, wo gerade Platz war. Ma-schinen gleicher Gattung waren in verschie-denen Stockwerken untergebracht. Wieder andere Maschinen waren so eng aneinander gestellt, daß ein einwandfreies Arbeiten eine glatte Unmöglichkeit war. Erst durch den Erwerb des Grundstückes Nordstr. 22 und weitgreifenden Umbauarbeiten konnte eine Verbesserung erzielt werden.

Die Betriebsvergrößerung hatte keine Erhöhung der – gemessen am Einzugsbe-reich – doch vergleichsweise geringen Auflagenzahlen zur Folge, wie aus den nachstehenden Zahlen hervorgeht:

1926: 23.5001928: 28.0001930: 35.0001931: 38.0001932: 34.000

Der für 1932 festzustellende deutliche Rückgang bei der Auflagenhöhe kann al-lerdings auch eine Folge der zunehmen-den politischen Radikalisierung gewesen sein. Wie die WAVZ angegriffen wurde, zeigt dieses Zitat aus der nationalsozialis-tischen Zeitung „Rote Erde“ (02.09.1931): Am vergangenen Sonntag abend ist aus der Nervenheilanstalt Aplerbeck ein Irrer und vollkommen geistig Verblödeter unbefugter-weise entsprungen. Der Bedauernswerte irrte längere Zeit in den Dortmunder Straßen umher, wo ihm die Polizei schon auf den Fer-sen war. Er verschwand dann in der Redak-tion der „Westfälischen Volkszeitung“ in der Kielstraße. Infolge der dort herrschenden muffigen Barmat-Atmosphäre mußte die Po-lizei sich erst mit den nötigen Gasmasken versehen, um den Irren einzufangen. Erst

nach einigen Stunden war das möglich. In-zwischen aber war das Unheil schon gesche-hen. Der bedauernswerte Geisteskranke hatte mittlerweile einen Artikel aufgesetzt und zum Druck gegeben.

Das Ende der WAVZ näherte sich. Als in Berlin das Reichstagsgebäude brannte, nutzten die Nationalsozialisten das Ereig-nis, um alle sozialdemokratischen Zeitun-gen und Zeitschriften für zunächst zwei Wochen zu verbieten. Aus dem vorläufigen Verbot wurde ein endgültiges. Auch in Dortmund erschien eine sozialdemokra-tisch ausgerichtete Tageszeitung erst wieder nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Bilder aus den 1920er JahrenAus den 1920er Jahren stammt eine kleine Serie von Fotografien, die Anfang 2011

vom Verfasser dieses Beitrags entdeckt wurde. Es handelt sich um eine Aufnahme des Hauses Kielstraße 5, fünf Innenan-sichten desselben sowie ein weiteres Foto. Obwohl die Fotos im klassischen Postkar-tenformat abgezogen wurden, handelt es sich zweifellos um Aufnahmen privaten Charakters. Dass die Bilder zu einer Serie gehören, geht aus der einheitlichen Be-schriftung auf der Rückseite klar hervor. Die Nummerierung zeigt allerdings, dass diese Serie heute nicht mehr vollständig ist.

Das Haus Kielstr. 5 ist im Hochformat dargestellt, der Fotograf stand leicht ver-setzt auf dem gegenüberliegenden Bürger-steig. Über den Schaufenstern ist der Schriftzug „Westf. Allg. Volks-Zeitung“ klar zu lesen, dagegen findet sich unter-halb von Dach und Regenrinne sowohl in der rechten wie der linken Haushälfte gut-

KielstraßeNr.5,Redaktionder„WestfälischenAllgemeinenVolkszeitung“undVolksbuchhandlung

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Heimat DortmunD Heimat DortmunD Von der „Kieltante“ | 4948 | Von der „Kieltante“

lesbar der Name „Arbeiter-Zeitung“. Al-lein das gemeinsame Auftreten der beiden Zeitungstitel – der ältere in Stuck ausge-führt, der neuere in metallenen Buchsta-ben angebracht – reichen zur Identifizie-rung des Gebäudes beinahe aus. Ver-gleichsfotos beseitigen eventuelle Zweifel restlos.

Von den fünf belebten Innenansichten zeigen drei Aufnahmen zwei Büros, über

deren Aufgabenbereich nur Vermutungen angestellt werden können. Bei dem zwei-mal fotografierten Raum wurde der Auf-nahmewinkel nur leicht geändert, so dass auf dem einen rechts eine Person zu sehen ist, die auf dem zweiten fehlt, während auf der anderen links eine Person zusätzlich abgebildet ist. Leider konnte bisher keine der abgebildeten Personen identifiziert werden. Die beiden übrigen Innenaufnah-

men zeigen die Setzerei und die Rotati-onsmaschine. Zu letzterer ist eine Ver-gleichsaufnahme in einem Fotoalbum vor-handen, das die Betriebsgebäude der Zei-tung nach dem Umbau von 1930 zeigen.

Das letzte Bild der Serie zeigt einen fahrbaren Zeitungsverkaufsstand. An Presseerzeugnissen lassen sich u. a. die Ti-tel „Berliner Tageblatt“, „Hamburger Illus-trierte“, „Die Lichtbühne“ und „Rad-Welt“

erkennen. Auf dem Wagen selber kann schwach, aber doch eindeutig im Rekla-meschriftzug „Gerisch & Co., Dortmund“ entziffert werden. Alwin Gerisch, Berlin, ist als Firmeninhaber seit etwa 1895 in Dortmund nachweisbar: als Druckereiin-haber, als Verleger des SPD-Organs und auch als Buchhändler. In seinem Verlag erschienen u. a. 1925 „Wir schreiten. Ein Jahrbuch für freie Menschen“, 1929 die

kommunalpolitische Satire „Parlaments-Ulk aus dem Dortmunder roten Haus. Einmaliges Nachrichtenblatt der sozialde-mokratischen Stadtväter-Fraktion“ und 1931/32: „Das Westdeutsche Kleine Blatt“

Quellen und literatur:Stadtarchiv Dortmund, Bestand 502/04, Nr. 16 (Ein Gang durch das neue Verlags- und Betriebs-

gebäude der Firma Gerisch & Co. GmbH. Dort-mund. Inbetriebnahme im November 1930) sowie „Vierzig Jahre Aufstieg. 40 Jahre Volks-zeitung – 60 Jahre Partei-Organisation. Jubilä-ums-Nummer der Westfälischen Allgemeinen Volks-Zeitung 1890-1930“

Gerhard Eisfeld/Kurt Koszyk: Die Presse der deutschen Sozialdemokratie. Bonn, 1980

Sämtliche Abbildungen: Sammlung des Verfassers

Zeitungsausgabebzw.-verteilung,Kielstraße5

Redaktionsraum,Kielstraße5

RotationssaalimErdgeschoßdesGebäudesKielstraße5

FahrbarerZeitungsverkaufsstandundWerbungfürdie„Volks-Zeitung“,um1927/28

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Plakate für Kommerz und PolitikDortmunder Plakatkünstler in den 1920er Jahren

vonTheoHorstmann

„Als man anfing, das geistige Leben in die Welt der Plakate zu verbannen, habe ich vor Planken und Annoncentafeln kaum eine Lehrstunde versäumt“. Dieses Be-kenntnis des Schriftstellers Karl Kraus aus dem Jahre 1909 spiegelt etwas von der bedeu tenden Rolle wider, die das Künst-lerplakat als Medium für Werbung und Kom muni kation zu Beginn des 20. Jahr-hunderts innehatte. Die entscheidenden Impulse für den Auf stieg des Plakats lie-ferte die Indu stria lisie rung von Wirtschaft und Gesell schaft. Das massen haft ge stei-ger te Waren angebot musste durch Wer-bung auf einem anony men Markt bekannt gemacht und ihm nach Mög lich keit der Charakter einer Marke ver liehen werden. Das zeitgenössisch attraktivste und mo-dernste Instrument der Werbung war das Plakat. Seine Merkmale waren und sind eindeu tig: Es preist als öffentli cher An-schlag ein Pro dukt oder ein Unter nehmen an oder es will Interesse erwe cken für be-sondere Ereig nisse. Ohne an ver bindliche Gestal tungsregeln gebunden zu sein be-dient es sich visueller Komponenten wie Bild, Farbe und Schrift, die – radikal redu-ziert und flächig eingesetzt – zu einer kommunikativen Einheit mit Fernwir-kung verschmelzen. Um die Jahrhundert-wende hatte die Plakatästhetik einen radika len Moderni sierungsschub erlebt, als sich Künstler des Pla ka tes mit dem An spruch angenommen hatten, stil- und wirkungs volle Gebrauchs grafik zu schaf-fen. Zu den bedeutendsten Zentren der Plakatkunst in Deutschland entwickelten sich Berlin und München mit jeweils ei-genständigen Stilen.

Wenige Plakatkünstlerin Dortmund

In Dortmund hingegen blieben bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs Plakat-künstler eine eher seltene Erscheinung. Zwar fertigten mit den Graphischen

Kunstanstalten F. W. Ruhfus und Wil-helm Crüwell zwei überregional bedeu-tende Druckhäuser hochwertige Plakate nicht zuletzt für namhafte auswärtige Pla-katkünstler. Auch gestalteten mit Ludwig Hohlwein, Hans-Rudi Erdt oder Karl Schulpig nationale Größen der Plakatgra-fik Künstlerplakate für Dortmunder Un-ternehmen. Ein nennenswerter Kreis von Gebrauchsgrafikern existierte in der Stadt aber nicht. Einem Fachbesucher aus Ber-lin fiel damals auf, „wie sehr man selbst in den dichtbevölkerten… Großstädten des Rhein-Ruhr-Gebietes ‚außerhalb’ der Re-klame lebte.“ Wichtigster Grund hierfür war sicherlich die Wirtschafts- und Sozi-alstruktur der Region mit der Dominanz der Investitionsgüterindustrie einerseits und relativ schwacher Konsumkraft ande-rerseits. Werbeinteressenten bot sie nur geringe Anreize und gestattete dem Künstlerplakat lediglich begrenzte Entfal-tungsmöglichkeiten.

Unter den wenigen in Dortmund täti-gen Werbegrafikern der Vorkriegszeit ragt der um 1908 zugezogene Kunstmaler Carl Kunze (1884–1969) heraus. Kunze, über dessen künstlerischen Werdegang und die Gründe seiner Ansiedlung in Dortmund nichts bekannt ist, entwarf bis 1914 zahl-reiche ausdrucksstarke Werbe- und Veran-staltungsplakate. Seine überlieferten Ar-beiten dokumentieren ein breites grafi-sches Werk für Ankündigungen von Kauf-häusern, Brauereien, Metallfirmen oder Varietes. In seinen Entwürfen verschmol-zen – angelehnt an den Stil des Berliner Sachplakats und charakteristisch für das moderne Plakat – Fläche, Farbe, Bild und Typografie miteinander zu wirkungsstar-ken Eindrücken.

Ein „Schrei nach Reklame“Die Präsenz von Gebrauchsgrafikern in Dortmund änderte sich grundlegend nach

dem Ersten Weltkrieg, als im Laufe der Zwanziger Jahre eine vielgestaltige lokale Szene von Plakatkünstlern entstand. Hier-für waren mehrere Gründe ursächlich. Der wirtschaftliche Aufschwung nach der Sta-bilisierung der Währung führte zu intensi-vierten Werbeanstrengungen der Wirt-schaft. Ein zeitgenössischer Kenner kons-tatierte seinerzeit einen „Schrei nach Reklame“. Die deutlich gestiegene Nach-frage nach Dienstleistungen für Werbung und Grafik beförderte in vielen Fällen die Gründung und Prosperität von Werbeate-liers und Reklameagenturen. So gründete Carl Kunze 1920 gemeinsam mit dem Dortmunder Maler Carl Sicke (1891–1930) und seinem Bruder W. Kunze die unter dem Akronym der Namen ihrer In-haber firmierende Werbeagentur „’Kusiku’ Internationale Werbekunst“. Die Firma der Agentur war zugleich ihr Programm. Sie erhob den Anspruch, künstlerisch her-ausragende Werbekunst auf internationa-lem Niveau zu verwirklichen. Kusiku woll-te ihren Kunden nicht nur dabei helfen, „für den zweifellos im Inlande einsetzen-den Konkurrenzkampf gerüstet zu sein, (sondern auch) den Absatz deutscher Qualitätsartikel im Auslande durch Wer-bemittel von Qualität zu unterstützen.“ Die Agentur Kusiku bestand bis etwa 1927. Die Gründe und die genauen Daten ihrer Auflösung liegen im Dunkel. Wäh-rend Carl Kunze danach als Werbegrafiker so gut wie nicht mehr in Erscheinung trat, arbeitete Sicke als freier Gebrauchsgrafi-ker für verschiedene Auftraggeber weiter. Auch die Brüder Hans, Kurt und Walter Prutz gründeten 1920 eine „Werkstatt für angewandte Kunst“, die sie bis zur Welt-wirtschaftskrise gemeinsam betrieben.

Ausdrucksstarke Künstlerplakate zu entwerfen bedurfte vortrefflicher Grafiker. Die in Dortmund beheimateten Graphi-schen Anstalten wie F. W. Ruhfus, Wil-helm Crüwell oder Fritz Busche stellten deshalb gezielt Gebrauchsgrafiker ein, um ihren Kunden vorzügliche Produkte an-bieten zu können. Die Kunstdruckerei Wilhelm Crüwell etwa holte 1919 den Berliner Grafiker Max Aurich (1893–1974) als Künstlerischen Leiter ins Haus. Als Maler ein Autodidakt, hatte Aurich die Berliner Plakatkunst in ihrer Hochzeit erlebt und begonnen, Plakate systematisch zu sammeln. Nach eigenem Bekenntnis war er „durch meine Sammelwut (unheil-bar) der Reklame verfallen“. Vor dem Ers-ten Weltkrieg arbeitete er in Ateliers Ber-liner Plakatkünstler und machte sich 1912 als Werbeberater in Berlin selbständig. Im

Ersten Weltkrieg war Aurich als Grafiker für die U-Boot-Propaganda tätig. Der Zu-sammenbruch des Kaiserreichs traf Aurich tief.

Er blieb Zeit seines Lebens Monarchist und zählte in der Weimarer Republik, die er aus voller Überzeugung ablehnte, zum äußersten rechten politischen Flügel. 1921 ließ sich Aurich als freiberuflicher Maler und Grafiker in Dortmund-Brechten nie-der. „Seit dieser Zeit“, so bekannte er, „ver-suche ich mit Lust und Liebe, die Absatz-möglichkeiten der Industrie durch meine Arbeiten zu heben.“ Aurich entwickelte sich rasch zu einem der bedeutendsten Gebrauchsgrafiker im Ruhrgebiet und blieb über nahezu fünf Jahrzehnte hinweg künstlerisch aktiv. In Aurichs Schatten etablierte sich noch eine Anzahl weiterer freier Gebrauchsgrafiker in Dortmund: Josef Rose etwa, Heinz Geissler, Emil Et-zemüller oder Paul Crone, um einige Pro-tagonisten der regionalen Plakatkunst zu nennen.

Anfang der zwanziger Jahre richtete die seit 1909 bestehende Handwerker- und Kunstgewerbeschule auch eine Klasse für Grafik ein, die entsprechende Lehrkräfte nach Dortmund zog. 1922 wurde der Münchner Grafiker Max Guggenberger (1894–1962), ein Meisterschüler von Fritz Helmuth Ehmcke, an die Kunstgewerbe-schule berufen. Die Schule richtete 1929 eine Fachklasse für Werbekunst ein, deren Leitung Guggenberger übernahm. Neben seiner Lehrtätigkeit arbeitete Guggenber-

ger auch freiberuflich als Plakat- und Buchgestalter.

Die für das Ruhrgebiet so wichtige Ei-sen- und Stahlindustrie sah sich nach der Geldstabilisierung mit einer scharfen Wettbewerbssituation konfrontiert und intensivierte ihre Werbeanstrengungen nachdrücklich. Für Dortmund bedeutsam wurde, dass die 1926 gegründeten Verei-nigten Stahlwerke ihr mit mehreren Gra-fikern besetztes hauseigenes Werbeatelier im Hause der Dortmunder Union ansie-delten. Die „Zentralwerbestelle Dortmund der Vereinigten Stahlwerke“, unter der Leitung des anerkannten Plakatkünstlers Carl Strohmeyer entwarf mit Grafikern wie Wilhelm Ludwig Lehr, Karl Schiller, Otto Senning und H. Flecke sämtliche Werbematerialien für den Montankon-zern.

Als Ergebnis dieser verschiedenen, par-allel verlaufenden Prozesse war seit der Mitte der Zwanziger Jahre in Dortmund ein stattlicher Kreis rühriger Gebrauchs-grafiker anzutreffen. Die wachsende Zahl von Akteuren in der aufstrebenden Wer-bebranche ließ bald einen Zusammen-schluss in den bestehenden Interessenver-bänden der Branche zu. 1926 bildete sich eine Ortsgruppe Dortmund im Verband deutscher Reklamefachleute und seit 1927 besaß der Bund deutscher Gebrauchsgra-fiker ebenfalls eine eigenständige Orts-gruppe in Dortmund, deren Vorsitz Max Aurich für viele Jahre übernahm. Beide Gruppierungen traten im März 1928 mit der 1. Dortmunder Werbeschau erstmals an eine breitete Öffentlichkeit, welche sich „überrascht (zeigte) von der hohen Durch-schnittsqualität der gezeigten Grafik und von der persönlichen Mannigfaltigkeit“ der ausstellenden Künstler. Die junge Werbebranche blühte bis zum Beginn der 1930er Jahre, bis sie mit dem einsetzenden konjunkturellen Abschwung die herauf-ziehende Weltwirtschaftskrise frühzeitig und schmerzhaft zu spüren bekam.

Plakate als Spiegelder 1920er Jahre

Die in den Ateliers der quantitativ wie qualitativ ansehnlich gewordenen Dort-munder Plakatkünstler entstandenen Pla-kate der Zwanziger Jahre folgten in ihren Darstellungs- und Ausdrucksformen den zeitgenössischen Tendenzen der Kunst. Die Plakate waren aber nicht allein auto-nome Kunstwerke, sondern reflektierten mit den Anlässen für ihre Entstehung vie-

CarlKunze,CaféIndustrie(InstitutfürZeitungsforschung)

MaxAurich,Selbstporträt1928(Slg.R.Hofrichter)

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le Facetten der wirtschaftlichen, kulturel-len und politischen Entwicklung ihrer Zeit.

Die Wirtschaftswerbung in den Dort-munder Plakaten wurde naturgemäß do-miniert von Aufträgen der Schwerindust-rie. Entwürfe für die Industrie zu erarbei-ten bildete das tägliche Brot der meisten

Grafiker. In den Zwanziger Jahren gewann die Montanindustrie einen eigenständigen Platz unter den werbenden Industrien. Sie produzierte zahlreiche Medien – etwa Plakate, Prospekte, Anzeigen, Kleinplaka-te oder Kalender – und zielte mit ihnen vor allem auf ein Fachpublikum. Die Ge-staltung der Plakate war vorwiegend illus-

trativ im Sinne der Neuen Sachlichkeit. Ein einzelnes Produkt sollte möglichst objektiv und präzise dargestellt werden, industrielle Großanlagen sollten durch monumentalisierende Wiedergabe ihre Fortschrittlichkeit und Leistungsfähigkeit sichtbar machen. Erst spät wurde die Fo-tografie integraler Teil der Plakatillustrati-

on. Auch Max Aurich gestaltete eine Viel-zahl an Werbemitteln für Unternehmen der Montanindustrie. Hierbei nahm der Hoesch-Konzern eine herausragende Rol-le ein. Das über viele Jahrzehnte vertraute Hoesch-Logo, das große H in Fraktur-schrift, ging auf Aurichs Entwurf zurück. Das Werbeplakat für die Eisen-Spund-wand von Hoesch ist charakteristisch für die Arbeiten des Grafikers für dieses Un-ternehmen. Aurich verwendet einerseits einen illustrativen, sachlichen Stil um das Produkt in seiner Funktion zu zeigen. Er nutzt aber auch als grafisches Gestaltungs-element die von den Konstruktivisten ge-schätzte Diagonale, die der Darstellung Ausdruckskraft und Dynamik verleiht.

Ein Beispiel der Werbung für ein hoch-wertiges Konsumgut ist Aurichs Plakat für den Vorax-Elektrobesen. Der Entwurf lehnt sich stark an die Gestaltung des klas-sischen Berliner Sachplakats an: Vor einer neutralen Farbfläche steht allein das be-worbene Objekt im Blickpunkt. Das Pla-kat ist gegenüber seinen Vorbildern aber modernisiert durch eine frische Typografie und die Beschränkung der Farbwahl auf die Komplementärfarben Orange und Blau. Neben den Werbeplakaten erschei-nen in den Zwanziger Jahren zahlreiche kommerzielle Ankündigungen für techni-sche, industrielle oder gewerbliche Aus-stellungen. Das beispielhafte Plakat von Kusiku für die Handwerks- und Gewerbe-schau 1925 in Dortmund verzichtete auf jede Illustration und sucht mit seinem kla-ren typografischen Ansatz eine radikale Modernität. Kusiku folgte mit der Ver-wendung der Typografie als dominantem Stilmittel den gestalterischen Prinzipien des Bauhauses.

Das politische Plakat blühtLockten Plakate bis zum Ersten Weltkrieg vorwiegend für kommerzielle Zwecke, fiel ihnen im demokratischen System der Wei-marer Republik eine weitere Funktion zu: Sie warben nun auch für politische Ideen und Parteien. Das politische Plakat, im Kai-serreich noch verboten, gewann im öffentli-chen Leben der jungen Republik eine wich-tige Rolle für die massenwirksame Vermitt-

MaxAurich,HoeschSpundwand(WestfälischesWirtschaftsarchiv)

Kusiku,Handwerks-undGewerbeschau(WestfälischesWirtschaftsarchiv)

MaxAurich,DNVP(InstitutfürZeitungsforschung)