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E-Offprint of the Author with Publisher’s Permission Gott denken – ohne Metaphysik? Zu einer aktuellen Kontroverse in Theologie und Philosophie herausgegeben von Ingolf U. Dalferth und Andreas Hunziker Mohr Siebeck

Gott denken – ohne Metaphysik? - Heidelberg University...tanz dieses Schemas aber ist hoch: ›Dies ist in Wirklichkeit nur jenes‹ ver-führt leicht zu der Figur: ›Alles ist

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Gott denken –ohne Metaphysik?

Zu einer aktuellen Kontroversein Theologie und Philosophie

herausgegeben von

Ingolf U. Dalferth undAndreas Hunziker

Mohr Siebeck

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Ingolf U. Dalferth, geboren 1948; 1977 Promotion; 1982 Habilitation; 1995–2013 Ordi-narius für Systematische Theologie, Symbolik und Religionsphilosophie an der UniversitätZürich sowie Leiter des Instituts für Hermeneutik und Religionsphilosophie; seit 2008Danforth Professor of Philosophy of Religion an der Claremont Graduate University in Kalifornien.

Andreas Hunziker, geboren 1968; 2006 Promotion; 2013 Habilitation; seit 2007 geschäfts-führender Oberassistent am Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie an der Universität Zürich.

ISBN 978-3-16-152002-0ISSN 1616-346X (Religion in Philosophy and Theology)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National -bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2014 Mohr Siebeck, Tübingen. www.mohr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlagsunzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro-verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Nehren auf alterungsbeständiges Werkdruckpapiergedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.

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Inhalt

Vorwort .......................................................................................... V

Ingolf U. Dalferth/Andreas HunzikerEinleitung: Gott denken – Metaphysik oder Metaphysikkritik? ....... IX

Hermann Deuser» … das ganze Universum des Seienden …« Über alte und neue Metaphysik im Blick auf die Theologie ........... 1

Costantino EspositoÜber den möglichen Unterschied zwischen dem Gottder Ontologie und dem Gott der Metaphysik ................................ 19

Hans J. SchneiderArtikulationen, Propositionen und die Frage nach der Metaphysik .. 41

Douglas HedleyMetaphysics, Imagination and Theological Icons ............................ 63

Arne GrønParadox des Denkens – paradoxes Denken ..................................... 79

Ulrich H.J. KörtnerHermeneutische Theologie zwischen Mythos und Metaphysik ....... 95

Jeffrey L. KoskyMetaphysical Certainty and Confessing Desire or the Blessed Life. The Evidence of Self in Jean-Luc Marion’s Reading of St. Augustine ................................................................ 119

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InhaltVIII

Philipp StoellgerArbeit an der Metaphysik des Anderen und dem Anderen der Metaphysik. Oder: Wie nicht nicht Sprechen angesichts der›großen Fragen‹? ............................................................................ 139

Andreas HunzikerDer Andere als Ende der Metaphysik ............................................. 183

Hinweise zu den Autoren .............................................................. 203

Namensregister .............................................................................. 205

Begriff sregister ............................................................................... 211

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Arbeit an der Metaphysik des Anderen und dem Anderen der Metaphysik

Oder: Wie nicht nicht Sprechen angesichts der ›großen Fragen‹?

Philipp Stoellger

»Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache,

und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen.Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen –

›Wissen‹, ›Sein‹, ›Gegenstand‹, ›Ich‹, ›Satz‹, ›Name‹ –und das Wesen des Dings zu erfassen trachten, muß man sich immer fragen:

Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht?«

Wittgenstein1

1. Metaphysik defi nieren?

Metaphysik müsste – wenn es denn möglich wäre und nicht selber meta-physisch zu werden Gefahr liefe – soweit defi niert werden, dass zumindest klar (wenn nicht auch deutlich) würde, wovon die Rede ist. Sonst fungiert ›Metaphysik‹ wie das MacGuffi n Hitchcocks, als eine Spannung erzeugen-de Fiktion: »Es könnte ein schottischer Name sein aus einer Geschichte über zwei Männer, die Zug fahren. Der eine Mann fragt: ›Was ist das für ein Päckchen in der Gepäckablage?‹. ›Nun‹, sagt der andere Mann, ›das ist ein MacGuffi n.‹ ›Was ist ein MacGuffi n?‹ ›Ein MacGuffi n ist ein Apparat, um im Schottischen Hochland Löwen zu fangen.‹ ›Aber im Schottischen Hochland gibt es doch gar keine Löwen.‹ ›Nun, dann ist es eben auch kein MacGuffi n. Sehen Sie, ein MacGuffi n ist gar nichts.‹«2 Auch ›Metaphysik‹

1 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Ders., Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a.M. 1989, 225–580, hier § 115f.

2 Vgl. F. Truffaut/A. Hitchcock, Truff aut. Hitchcock, München 1999, 111. Vgl. P. Duncan, Alfred Hitchcock. Architekt der Angst 1899–1980, Köln 2003.

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kann zur polemischen Fiktion werden – aber auch wie solch ein seltsamer Apparat wirken, fi ktive Viecher zu jagen. Wer dergleichen alles zermalmen will oder Destruktion verkündet, wird an einer Gegenbesetzung leiden: ex negativo eine schwarze Metaphysik als Feindbild aufbauen. Das kann so prekär werden, dass die letzten lebenden Metaphysiker die Antimetaphy-siker wären. Auch um die sogenannten ›Barthianer‹ könnte es so stehen. Die überwundenen Anderen bleiben auf ewig als Trophäen präsent und geistern durch die Geistesgeschichte, so dass die vermeintlichen Sieger aus Versehen zu deren Tradenten werden. Dass damit die üblichen Verzerrun-gen und Verzeichnungen einher gehen, ist bekannt, so wie die Sophistik bei Platon verzerrt überliefert ist, die ›Häretiker‹ bei deren Kritikern oder Aristoteles bei den Antiaristotelikern. Die besiegten Feinde werden gehegt und gepfl egt als imaginäre Größen, die für die Identitätspolitik der Sieger unentbehrlich bleiben. Dergestalt würde ›Metaphysik‹ mythisch defi niert, vielmehr nicht defi niert, sondern fi ngiert, inszeniert und exponiert. So möglichst nicht, wie aber dann?

Metaphysik ›defi nieren‹, ist eine prekäre Angelegenheit, ähnlich wie ›Mythos‹ defi nieren oder ›Vernunft‹. Denn gerade ›Metaphysik‹ provoziert im Versuch der Defi nition metaphysische Verfahren, etwa einen conceptus completus zu konzipieren. Um es dennoch zu versuchen: Metaphysik ist defi nierbar als:– Zeitraum oder ›Epoche‹ mit terminus a quo und ad quem,– Gegenstand oder Thema, sei es das Sein im allgemeinen oder im beson-

deren (generalis et specialis), der Ursprung von allem (arché), der letzte Grund, das sich selbst denkende Denken bis zu Gott,– Methode etwa der Letztbegründung, der ›Onto-Theologie‹, des Aristo-

teles, des Neuplatonismus oder der Gnosis, der Scholastik des Leibniz oder der Geschichtsphilosophie,– als Form des Wissens, etwa der notwendigen Wahrheiten, die in allen

möglichen Welten wahr sind,– als Denkform sei sie sprachlich oder logisch, strikt ›kritisch‹ oder spe-

kulativ,– als Sprachform in Apodiktik, Behauptung und Begründung und Gene-

ralisierung,– als Sprach- oder Denkform mit bestimmten Unterscheidungen, sei es von

innen und außen (mit Immanenz und Transzendenz, ›Vorder- und Hinter-welt‹ oder Innen- und Außenwelt),

– oder als Geste, sei es des spekulativen Überschwangs, der Überschrei-tung und der Hyperbolik, – als solche Geste kann sie so oder so gestaltet werden: als Geste der

Schließung, Ausschließung und Deklaration von Unmöglichkeiten, sofern unterhalb des Überschwangs nur die Sarkiker verweilen oder die bloß kri-

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tischen Philosophen. Sie kann aber auch als Geste der Aufschließung und Eröff nung von Möglichkeiten fungieren, indem die sonst für unmöglich gehaltenen Themen und Probleme so in den Blick kommen,– vielleicht auch als Code einer Kommunikation oder als Kommunikati-

onsmedium, wie mit Luhmann zu erwägen wäre,– und nicht zuletzt in diversen speziellen, systemrelativen Fassungen von

griechischer, scholastischer, hypothetischer bis zur phänomenologischen Metaphysik.– Von diesen Defi nitionshinweisen unterscheidbar ist ›Metaphysik‹ auch

noch etwas anderes, ein kulturelles Imaginäres, ähnlich dem Mythos: eine Figur des Fremden, Verfehmten, Obskuren und Obsoleten. So geistert sie durch die Geistesgeschichte, als wäre sie die Alchemie des Geistes, refl exive Magie oder pristine Illusionstechnik. Das wäre nicht Metaphysik des Ande-ren zu nennen (falls Levinas damit getroff en wäre), sondern Metaphysik der Anderen, der Fremden, der unreinen Vernunft oder der Vorgeschichte der Freiheit. In dieser Funktion ist ›Metaphysik‹ auch ein doxographischer und literarischer Topos, über den ähnlich frei oder unfrei phantasiert werden kann wie über ›den Mythos‹.

Unterschieden werden sollte der Defi nitionsversuch von Wertungen, die um so näher liegen, als Metaphysik meist pejorativ vorverstanden wird und als zu exkludieren gilt, als obsolet oder ›unmöglich‹. Dass damit bereits eine generalisierende Geste des Denkens am Werk ist, wird zum Problem, wenn in solcher Gegenbesetzung wiederholt wird, was vermieden wer-den soll. Metaphysik könnte eine wirkliche Möglichkeit sein, ohne darum gleich zur unmöglichen Möglichkeit zu werden, auch wenn sie manchen als wirkliche Unmöglichkeit erscheint.

Metaphysik ist, möglichst distanziert mit Erinnerung an Luhmann for-muliert, ein generalisiertes Kommunikationsmedium, das systemrelativ Komplexität reduziert und diese Reduktionen in der Unterscheidung wahr/unwahr codiert. Das allerdings gelte üblicherweise für das ganze Wissenschaftssystem. Daher muss Metaphysik spezieller codiert sein als nur durch wahr/unwahr. Ist die passendere Unterscheidung die von Wesen und Erscheinung oder Grund und Begründetem, Unsichtbar und Sicht-bar, Sein und Seiendem, Einem und Vielem oder Eigentlich und Unei-gentlich? Jedenfalls scheinen diese Grunddiff erenzen genauer als ›wahr/unwahr‹ anzuzeigen, in welcher Weise die metaphysische Codierung des Denkens und der Kommunikation ihre Eigenart entfaltet.

Die Systemrelativität von Metaphysik macht das deutlich: so gibt es politi-sche Metaphysik, religiöse, naturwissenschaftliche, auch neurowissenschaft-liche, ökonomische, ästhetische oder historische und mit platonisierender Geste auch mathematische. Daher sind die Diff erenzen semantisch variabel,

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die Funktion aber (so die generalisierende Vermutung) bleibt identisch: dies durch jenes Allgemeine, Prinzipielle, Ursprüngliche, Grundlegende zu er-klären, bzw. es durch das, was hinter der Physis, den Phänomenen, den Fak-ten liegt als deren Grund, Ursache und Wesen zu identifi zieren. Daher gibt es auch phänomenologische Metaphysik, von Husserl bis Marion. Nur sollte man zögern, Levinas’ Alteritätstheorie zu schnell in pejorativem Sinn eine Metaphysik des Anderen zu nennen, weil sie vom Anderen ausgeht, ohne ein dahinter liegendes Wesen oder Woher zu dessen Grund zu stilisieren.

Die prädikativen Diff erenzierungen von Metaphysik haben gemeinsam, das vor Augen Liegende, Wahrnehmbare, Erfahrbare durch das dahinter Liegende, den Grund, das Wesen zu begreifen und mit Hilfe dieser Diff e-renz die Phänomene in Genesis und Geltung auf ihren Ursprung zu redu-zieren. Daher gibt es auch psychoanalytische Metaphysik, wenn es immer nur ›um’s Eine‹ ginge in allen Triebschicksalen und Neurosen. »Dies ist in Wirklichkeit nur jenes«,3 so formulierte Blumenberg prägnant die Erklä-rungsgeste – der Psychoanalyse, die darin durch und durch metaphysisch operiert: hinter den Phänomenen das Eigentliche als deren Grund in der Seele zu identifi zieren, im Unbewussten genauer gesagt. So funktionieren alle Reduktionen, die der Komplexität wie der Kontingenz. So hatte schon Thales die Vielfalt der Phänomene auf das Wasser zurückgeführt, oder Par-menides allen Schein letztlich auf die Einheit des Seins, oder die Theologie alles auf den Einen. Nur beim Fall und seinen Folgen konnte das nicht gelingen – die erste Krise der Metaphysik. Blumenberg meinte – etwas vereinfachend – »Bei Freud ist alles Libido«. Und in dieser Reduktion be-stehe die besondere Leistung Freuds: »eine Vertrautheit durch Simplizität der Welt zu bewirken, die das Verwirrende der Wirklichkeit zum blossen Ausdruck eines einfachen Unbedingten macht«.4 Der Preis für die Akzep-tanz dieses Schemas aber ist hoch: ›Dies ist in Wirklichkeit nur jenes‹ ver-führt leicht zu der Figur: ›Alles ist im Grunde eines‹. Und damit rekurrier-te man auf die Grundfi gur der Metaphysik: das Eine, demgegenüber das Viele Verlust und Zerstreuung wäre; das Ganze, demgegenüber die Teile defekt wären; der Ursprung, der alles aus sich heraussetzt; das Ziel, in dem alles Vorläufi ge aufgeht; Anfang wie Ende als Rahmen allen Seins.

In der Regel bedarf es keiner ›vollständigen‹ Defi nition, wie eines con-ceptus completus der ›Metaphysik‹, um sie zu bestimmen bzw. zu identi-fi zieren. Ein Merkmal oder Indikator kann reichen, wie der Gegenstand ›Sein‹ oder die kritische Diff erenz Kants. Nur ist solch ein Merkmal stets verhandelbar und nicht selber dergestalt ›notwendig wahr‹, dass es unwi-

3 H. Blumenberg, Dies ist in Wirklichkeit nur jenes. Zur Typik zeitgeistgefälliger Theorien, in: Ders., Die Verführbarkeit der Philosophen, Frankfurt a.M. 2000, 37–48, hier 38. 4 Ebd., 38f.

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dersprechlich und fragloser Konsens wäre. Das zeigte sich bereits an Hegels Kritik der Kantischen Kritik – und der Immerwiederkehr der Metaphysik. Welches Kriterium in Anspruch genommen wird, ist seinerseits Ausdruck des eigenen Horizonts. Und dass Metaphysik notwendig, möglich oder unmöglich wäre, lässt sich so zwar behaupten und vertreten, aber diese Behauptung würde übertrieben, wenn ihr notwendige, gar ›mehr als not-wendige‹ Geltung zugeschrieben würde.

Zunächst und naheliegend kann man Metaphysik historisch defi nieren, etwa als die Philosophie und Theologie von Plato bis Kant. Das ginge kon-form mit der klassischen Auff assung, Metaphysik sei alles, was vorkritisch zu nennen sei. Dass mit der kritischen Wende Kants dann eine Rhetorik der Epochenschwelle verbunden wird, wenn nicht der Zeitenwende, ist seit der Inszenierungsgeschichte Descartes’ bekannt, und bereits ein Zug zur Geschichtsphilosophie mit entsprechender Teleologie. Zudem ist eine historische Defi nition stets mit dem Problem belastet, dass ihre Grenzen so oder so verschoben werden. So kann man den terminus ad quem ver-schieben bis vor Heidegger oder bis einschließlich Heidegger oder bis vor Derrida und ihn einschließend. Wer ›Metaphysik‹ für obsolet, alt und für die ›Philosophie der Anderen‹, Ewiggestrigen hält, wird stets versuchen, ›alle Anderen‹ für ›noch metaphysisch‹ zu erklären, bis auf besondere Aus-nahmen, in denen er die eigene Position beginnen sieht.

Weniger historisch als vielmehr als Form des Wissens bestimmt wäre Me-taphysik ein behauptetes Wissen von etwas, wovon man (etwa nach Kants Erkenntnisbegriff ) nichts wissen kann, oder das (nach seinem Erfahrungs-begriff ) nicht Gegenstand möglicher Erfahrung werden kann (auch wenn es das ›gibt‹ oder es sich nur um inexistente Größen handelte). Schlichter bestimmt wäre es der imaginäre Überschwang spekulativer Vernunft. Die-se negativen Bestimmungen der Metaphysik träfen auch die ›substantielle‹ Defi nition: als Wissen vom Sein, insbesondere vom ersten Seienden als Grund allen Seins. Ob eine metaphysica generalis (und principalis) oder specialis so inkriminiert wird, erscheint sekundär. Es wäre in jedem Fall im Horizont der Substanz gedacht. So wurde Metaphysik über ihren Ge-genstand defi niert: Sein und ggf. diesem Paradigma folgend Gott, Welt und alles Seiende. Die substantielle Defi nition ist einerseits durchaus tragfähig. Denn der Frage nach dem Sein kann in verschiedenster Weise metaphy-sisch nachgedacht werden: mit substanzontologischen wie mit analytischen Mitteln, mit geschichtsphilosophischen wie mit metaphysikkritischen. Dann wäre es das Thema oder die Frage, die Metaphysik provoziert. Da-mit erscheint die Defi nition andererseits als zu schmal. Denn Metaphysik treiben kann man auch an einzelnem Seienden, dem ›Gottesteilchen‹ wie der KI oder der Kybernetik, der Seele wie dem Geist. Und nicht nur dies, Metaphysik kann auch Denk- und Sprachform sein, die nicht am Gegen-

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stand hängt, so wie Wittgensteins Hinweis auf den Sprachgebrauch oder -missbrauch als Kennzeichen der Metaphysik anzeigt.

Gegen die substantielle Defi nition würde seit Cassirer (mit Leibniz) eine funktionale naheliegen. Metaphysik, wenn es sie denn noch gäbe, würde als Funktion bestimmter symbolischer oder kultureller Formen (Sprache, Ge-schichte, Wissenschaft, Kunst etc.) begriff en, bzw. als Funktion bestimmter Fragen wie bei Kant. So kann die Wissenschaft als symbolische Form nicht die Frage nach dem Sein des Seienden oder der Realität ihres Gegenstan-des vermeiden, wenn es Dissens über den Realitätsgehalt der Erkenntnisse gibt. Die andauernden Diskurse um einen wie auch immer konzipierten ›Realismus‹ zeigen das. Als Funktion begriff en, sind solche Antworten indes nicht mehr generell und substantiell verfasst, sondern funktionale Relation einer Wissenskultur. »Jedem Erkennen, jedem Erkenntnissysteme, jedem sozialen Beziehungseingehen entspricht eine eigene Wirklichkeit. Dies ist der einzig gerechte Standpunkt. Wie könnte ich sonst begreifen, dass z. B. der humanistische Gebildete die Wissenschaft des Naturforschers nie vollständig versteht? Oder gar der Theologe? Soll ich, wie es leider so oft geschieht, jene für Narren halten?« 5 So argumentierte Ludwik Fleck für eine Ausdiff erenzierung der Wirklichkeitsbegriff e im plurale tantum; nicht um einen Relativismus zu propagieren, sondern um Theologen nicht ›für Narren‹ zu halten.

Mit dieser Konzession ist allerdings die Frage nach einer Metaphysik-defi nition bereits ermäßigt, wenn nicht überschritten – ins Off ene. Meta-physik erscheint dann demgegenüber als Schließung, die mit Ausschließun-gen des ›Unmöglichen‹ einher geht (wie bereits eine ›Defi nition‹). Insofern ist ›das Unmögliche‹ klassischerweise das von metaphysischen Setzungen Exkludierte. Damit erscheinen auch die vermeintlich unwidersprechlich kritischen ›Bedingungen der Möglichkeit‹ als metaphysisch. Das ist aller-dings ein metonymischer Fehlschluss, denn auch Logik operiert so oder Ethik. Die Geste der Ausschließung ist für Kommunikation unvermeidlich und daher nicht der Metaphysik allein zu eigen. Die Logik defi nitiver Ex-klusion des Unmöglichen und damit der Schließung, der Ausschließung des so unmöglich Werdenden, ist eine Weise der ›Komplexitätsreduktion‹, die auch in metaphysischer Form betrieben werden kann, aber nicht nur so. Dass dabei Geschichte und Perspektivität vergessen gemacht werden können, ist off ensichtlich, wie mit Nietzsche, Wittgenstein oder der Her-meneutik zu monieren wäre.

Allerdings konnten zumindest Nietzsche und die Hermeneutik im Ge-folge Heideggers nicht der Versuchung widerstehen, eine andere Metaphy-

5 L. Fleck, Zur Krise der ›Wirklichkeit‹, in: Ders., Erfahrung und Tatsache. Ge-sammelte Aufsätze, Frankfurt a.M. 1983, 46–58, hier 48.

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sik zu erfi nden, auch wenn sie das Andere der Metaphysik suchten. Der Mythos der ewigen Wiederkehr oder die endlich nicht mehr metaphysi-sche Aufklärung des Sinns von Sein wie Dasein, von der Fundamentalon-tologie bis zum ›Ereignis‹. Hans Jonas’ späte Aufklärung über die ›gnoseo-gene‹ Potenz von Heideggers Philosophie, machte darauf aufmerksam, dass hier ein Problem liegt, eine neuplatonisierende Tendenz der Daseinsher-meneutik, die ihre Nähe zur Gnosis verständlich macht (auch beim jungen Jonas wie bei Bultmann).6

Auf dem Hintergrund der funktionalen Bestimmung Cassirers sind auch diese Antworten Funktion von Fragen (und Gegenbesetzungen), die et-was Analoges produzieren, das ex post als neue Metaphysik erscheinen kann. Blumenberg hätte das als Besetzungen von Vakanzen begriff en, die anscheinend nicht unbesetzt bleiben können, auch wenn in den Neube-setzungen alte ›Positionen‹ übernommen und fortgeschrieben werden. Es erscheint als historisch-hermeneutisches Paradox, dass solche Positionen (Ursprung oder ens necessarium), Erwartungen (Letztbegründung) und Fragen (nach dem Wesen oder ›dem Menschen‹) Bestand haben und (wie Phantomschmerzen?) Verluste überdauern, auch wenn die Probleme und Besetzungen längst zerfallen sind. Dann bedürfte es weniger der Exklusion oder Widerlegung und Kritik, sondern vielmehr der Therapie, um davon zu entwöhnen (wie es Blumenberg ähnlich wie Wittgenstein versuchte). Nur ist fraglich, wie man zu den tradierten Erwartungen und Fragen solch eine Distanz gewinnen kann, dass man von ihnen lassen könnte. Ist doch zudem fraglich oder strittig, ob denn etwa die Kantischen Grundfragen ›obsolet‹ seien oder doch unvermeidlich. Und wenn nicht diese, dann an-dere, ähnliche.

In den, aller Erfahrung nach, unvermeidlichen oder unwiderstehlichen Besetzungen der überkommenen und übernommenen Positionen und Fragen liegen nicht nur Exklusionen, sondern zeitlose (mythische) oder wesenslogische ( Husserl wie Heidegger) Setzungen dessen, was ›das Ei-gentliche‹ sei und worum es allen zu allen Zeiten gehe (oder gehen müsse). Dass damit eine Deutungsmachtergreifung prätendiert sein kann, sei nur notiert. Werden so doch die Relevanzen gesetzt und Unterscheidungen gemacht, die als notwendig und ›entscheidend‹ angesehen werden. Es sind Funktionen ›großer‹, vermeintlich zeitloser oder wenigstens anthropolo-gisch unvermeidlicher Grundfragen, die zu Denkformen und Sprachfor-men führen, die mehr sagen, als was der Fall ist. – Das wäre eine sprach-kritische Metaphysikdefi nition: mehr sagen, als angesichts der Phänomene sagbar ist, etwa ein Sagen des Unerfahrbaren (mit Kant), des ›hinter‹ der

6 Vgl. H. Jonas, Unsterblichkeit und heutige Existenz, in: Ders., Zwischen Nichts und Ewigkeit. Drei Aufsätze zur Lehre vom Menschen, Göttingen 1987, 44–62.

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Physis Liegenden (mit Heidegger pejorativ), des Wesens (mit Husserls Ei-detik), des Eigentlichen (mit Heidegger affi rmativ) oder des allzu Generel-len gegenüber dem Konkreten (mit Wittgenstein).

Dieses ›Mehr‹ und ›Anders‹ des Denkens und Sagens kann sehr verschie-den gefasst und aufgefasst werden. In der Regel ist Metaphysik eine Denk- und Sprachform, die Kritik provoziert: Erkenntniskritik, Sprachkritik, his-torische wie hermeneutische oder analytische Kritik. Mit der Kritik wird nur zu leicht in Gegenbesetzung eine negative Version der metaphysischen Sprach- und Denkform wiederholt. Daher ist es ähnlich schwer, auf Meta-physik ›wirklich‹ zu verzichten, ebenso wie auf Hegel.

Kants andere, kritische Metaphysik war nicht mehr, wie Leibniz, mit der Seinsfrage befasst, sondern mit Fragen, nicht des Seins, sondern des humanen Daseins, die nicht in metaphysische Behauptungen, sondern in Vakanzen führen, die gleichwohl nicht unbesetzt bleiben können und zu Übersteigun-gen provozieren – die kritisch zu restringieren, zur Erkenntniskritik gehört: »Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abwei-sen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Ver-mögen der menschlichen Vernunft.«7 Wer die Anthropologie und ›Natur der Vernunft‹ für substantielle Restmetaphysik hält, wie Heidegger oder Wittgenstein, der wird diese Wurzel oder den Grund im humanen Dasein und die darin begründeten Fragen auch kritisch zurückweisen. Nur – was dann?

Foucaults Weiterführung lautete verkürzt gesagt, ›Metaphysik trotz allem‹.Eine Geste und Denkbewegung der Überschreitung oder des Übersteigens bleibe, gleichsam als ›Nachleben‹ der Metaphysik.8 Das frankophone ›pen-sée du dehors‹9 ist von Foucault her inspiriert dezidiert historisch, um nicht metaphysisch zu werden. Nur – ist die Theorie des Dispositivs (möglicher-weise von Nietzsche induziert) nicht auch eine Metaphysik der Macht? Hinter allen Diskursen und in ihnen manifest wirken nicht nur Kräfte (wie bei Deleuze), sondern Mächte, die die ›Ordnung‹ der Dinge und Diskur-se bestimmen. Das ist für Archäologen und Genealogen keine Metaphysik, aber doch eine Aufklärung des ›Eigentlichen‹, der Machtstrukturen. Leben

7 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Kant’s gesammelte Schriften. Bd. 4, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie, Berlin 1973, A VII.

8 Vgl. M. Foucault, Vorrede zur Überschreitung, in: Ders., Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a.M. 1991, 28–45, hier 30. 9 Foucaults Beitrag 1966 zur Zeitschrift Critique (Nr. 229) hatte den Titel »La

pensée du dehors«; vgl. ders., Das Denken des Außen, in: Ders., Schriften. Dits et Ec-rits. Bd. 1, hg. v. D. Defert/F. Ewald, unter Mitwirkung v. J. Lagrange, Frankfurt a.M. 2001, 670–697.

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im Untergrund der Archäologie und Genealogie nicht ›metahistorische‹ Annahmen, die in Generalisierungen treiben, auch wenn eine ›Hinterwelt‹ anzunehmen vermieden wird? » Foucault plädierte dafür, die leer laufende ›Erfahrung der Überschreitung‹ weder wie die Mystik, noch wie die Erotik […] auszubuchstabieren, sondern sie einfach zu nehmen als das, was sie ist: – eine ungelöste Herausforderung für das Denken und das Handeln.«10 ›Was bleibt?‹ Zumindest solch ein Zugeständnis, eine ungelöste Herausfor-derung, eine Versuchung oder eine unabweisbare Frage? Wäre es nur das, könnten Verbote, Askese und Therapie vielleicht helfen. Aber – ob negativ oder positiv besetzt – es bleibt jedenfalls solch eine Herausforderung. ›Es gibt Metaphysik‹, wäre das Zugeständnis, oder wenigstens deren ›Nachleben‹.

Mit Foucault konnte Düttmann daraus eine Philosophie der Übertreibung11 entwerfen, nach dem Motto Hannah Arendts »Denken übertreibt immer«. Denken als Geste sei ein übertreibender Zug zu eigen, den es gar nicht ver-meiden könne. Hier scheint aus der Not des spekulativen Überschwangs eine Tugend gemacht zu werden, wenn er nicht kritisch einwendete: »Erst durch den Abbruch der Übertreibung wird die Betrachtung genau, rührt die Konkretion an die Abstraktion«.12 Damit wird ein kritisches Verhältnis eröff net, zwischen »Übertreibungsfanatismus und Übertreibungskunst«, so oder so zu denken, macht den Unterschied. Denn wer Übertreibungen, etwa epistemische Idealisierungen, a limine für fanatisch hielte, hätte de-ren Sinn und Verstand vielleicht zu schnell verfehlt. »Ob das Übertreiben schaff end die Augen öff net oder schließt […] muß sich an den Gegenstän-den zeigen.«13 Eine generelle Disqualifi zierung dieser Geste – wäre selber übertrieben und zu schnell.

Anders steht es um das ›dehors‹ bei Levinas, wenn nicht Historik, son-dern Ethik als basal gilt. Das ist eine andere Umbesetzung der Metaphysik. Nur – ist die Ethik des Anderen in ihren Überschreitungen und Über-steigungen frei von einer metaphysischen Geste des ganz Anderen? Es ist jedenfalls, mit Totalité et Infi ni von 1961 gesagt, ein ›Essai sur l’extériorité‹: Externität wie Alterität sind metaphorische Anzeigen einer Diff erenz, die metaphysisch erscheinen kann. Dem Kritiker wird sich hier in der Post- oder Hypermoderne eine Anti- und Prämoderne zeigen; anderen eine

10 M. Schaub, Grausamkeit und Metaphysik. Zur Logik der Überschreitung in der abendländischen Philosophie und Kultur, in: Grausamkeit und Metaphysik. Figuren der Überschreitung in der abendländischen Kultur, hg. v. dies., Bielefeld 2009, 11–31, hier 22. Vgl. M. Foucault, Vorrede zur Überschreitung, in: Ders., Von der Subversi-on des Wissens, Frankfurt a.M. 1991, 28–45, hier 33.

11 Vgl. A.G. Düttmann, Philosophie der Übertreibung, Frankfurt a.M. 2004, 42. Vgl. auch ebd., 39.

12 Ebd., 30. 13 Ebd., 31.

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Krise der reinen Immanenz (sei es Spinozas und Deleuzes, sei es der kri-tischen Subjektivitätstheorie oder -metaphysik); wieder anderen mögli-cherweise eine notwendige oder zumindest sinnvolle Anzeige dessen, was durch die Schließungen und Ausschließungen der Moderne unsichtbar oder vergessen gemacht wurde.

Ist in verwandter Weise bei Derrida, wenn es um unmögliche Möglich-keiten geht wie die Gabe oder die Vergebung des Unvergebbaren, eine ähnliche ethische und politische Hyperbolik am Werk, die in ein ›dehors‹ treibt (oder von dort inspiriert ist), mit einer riskanten Nähe zur Me-taphysik? Dass der jüngere, dekonstruktive Derrida von der Metaphysik zehrte, ist bekannt. Dass er allerdings Über- und Verwindungen für ver-geblich hielt, ebenso. ›Wir werden die Metaphysik nicht los, solange wir an die Grammatik glauben‹, müsste man sagen. Könnte dadurch der seltsame Schreibstil Derridas wie Levinas’ verständlich werden: als Verdrehungen der Grammatik, um den metaphysischen Denk- und Schreibgewohnhei-ten nicht zu folgen – und sich im Gegenzug deren Umbesetzungen oder Supplemente zuzuziehen? Derridas verschachtelte Supplementierungen oder Rortys Ironisierungen sind Versuche im Bewusstsein dieser Schwie-rigkeiten, auch wenn beide den nie überzeugen werden, der harte und klare Gegenbesetzungen fordert. Levinas indes versuchte es anders, mit einer prinzipiellen Diff erenz zur Metaphysik – durch Ethik, Metaethik und Pathik (von ›Totalität und Unendlichkeit‹ bis zur Passionstheorie in ›Jenseits des Seins‹). Wenn die ›prima philosophia‹ nicht mehr die Meta-physik (resp. Ontologie) sei, sondern die Ethik; der Grund des Seins und Selbst nicht mehr das Eine, sondern der Andere; Leitmedium nicht mehr Logos, sondern Ethos (und metaethisch das Pathos der passiveren Passivi-tät); die Zeit nicht mehr von Präsenz her gedacht, sondern von Entzug und Diachronie; das Selbstverhältnis nicht unmittelbares Selbstbewusstsein und Refl exivität, sondern Rekurrenz und Fremdwahrnehmung; nicht mehr Refl exion, sondern Verantwortung basal – dann stellt sich alles anders dar, als in der Tradition des Parmenides.

Nochmals anders steht es um eine Metaphysik der Gabe, wie derjeni-gen Marions: Sie ist von einer Generalität und Apodiktik, um nicht mit Levinas zu sagen: von einer Totalität, die die metaphysischen ›Laster‹ der phänomenologischen Tradition zu Tugenden, wenn nicht Pfl ichten zu er-klären scheint. »Das Unmögliche gibt dem Menschen das einzige eindeu-tige Zeichen, an dem sich Gott selbst zu erkennen gibt.«14 Eine ungedeck-

14 J.-L. Marion, Das dem Menschen Unmögliche – Gott, in: Unmöglichkeiten. Zur Phänomenologie und Hermeneutik eines modalen Grenzbegriff s, hg. v. I.U. Dal-ferth/Ph. Stoellger/ A. Hunziker, Tübingen 2009, 233–264, hier 245.

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te Übertreibung und Generalisierung, wie auch ihre Fortführung: »Die Unmöglichkeit weist, als ein Begriff über allen Begriff en, auf etwas hin, das wir dem Namen nach kennen, Gott.«15 Soviel Generalisierung, soviel Übertreibung, soviel Metaphysik? Die Widerfahrung von Unmöglichem wird so gegenbesetzt zur Gotteserfahrung – und das ist ein Kurzschluss (mit apologetischem Interesse?). Noch einmal anders steht es um die Le-bensphänomenologie Michel Henrys, wenn darin eine Metaphysik des ›absoluten Lebens‹ entworfen wird, eine Theorie des Absoluten als Me-taphysik der Immanenz (in seltsamer Nähe zur Tradition von Bruno und Goethe).16 Präsenz ohne jeden Entzug oder Hyperbolik ohne Hemmung, könnte man diese Denkbewegung nennen, nicht Remythisierung, son-dern Remetaphysizierung. Wozu und warum, fragt sich bloß?

Grundlegend anders hingegen steht es, wenn Bernhard Waldenfels eine phänomenologische Metaphysik entwirft unter dem Titel der Hyperphäno-mene. Wer an den ›Bruchlinien der Erfahrung‹17 arbeitet, wird nicht immer vermeiden können, etwas zu sagen über Widerfahrungen, die die Erfah-rung überfordern, über Phänomene, die sich entziehen und die kognitiven Vermögen überfordern, oder über Ereignisse, die den homo capax fas-sungslos erscheinen lassen.

Die phänomenologische Grundfi gur ist bei Waldenfels das »Hyperboli-sche«, das er wie folgt umschreibt: »Etwas zeigt sich als mehr und als anders, als es ist.«18 Daher kann auch Jemand zugleich mehr und anders sein, als er oder sie ist. Auch hier zeigt sich eine Geste des Denkens wie des Erfahrens – provoziert durch ein Erscheinen, Sichzeigen, das ›dehors‹ geht, hinaus über das Vertraute und Fassliche, und mehr noch, über sich selbst hinaus. Um nicht zu schnell der Generalisierung von ›Hyperphänomenen‹ zu fol-gen, kann man das auch ›Überschussphänomene‹ nennen: »An Überschuß-phänomenen zeigt sich das Hyperbolische; es zeigt sich, daß und wie etwas mehr und anders ist, als es ist, ohne deswegen alles werden zu können und ohne in einem Jenseits des ganz Anderen zu entschwinden.«19 Dass mythi-sche, religiöse, metaphysische und literarische Sprachen voll von solchen Phänomenen sind, oder von ihnen zeugen und sprechen, dürfte einleuch-ten. Dass Waldenfels aber in diese Fülle nicht einfach einstimmt, sie auch nicht wie Marion oder Henry übersteigert und übertreibt, ebenso. Denn das ›Mehr‹ und ›Anders‹, auch das ›Nicht‹ des Sichzeigens insistiert auf

15 Ebd., 246. 16 Vgl. z.B. M. Henry, Radikale Lebensphänomenologie. Ausgewählte Studien zur

Phänomenologie, hg. v. R. Kühn, Freiburg i.Br. 1992. 17 B. Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse,

Phänomenotechnik, Frankfurt a.M. 2002. 18 Ders., Hyperphänomene. Modi hyperbolischer Erfahrung, Frankfurt a.M. 2012, 9. 19 Ebd., 11.

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der Paradoxalität und dem Entzug in der Präsenz solcher Phänomene. Es sind Grenzphänomene im Über- und Unterschreiten der Wahrnehmungs- wie Denk- und Sprechgewohnheiten. Dieses Diff erenzbewusstsein ist ent-scheidend, will man nicht angesichts der ausgedehnten Paradigmen des Hyperbolischen ins Gewohnte zurückgehen: Transzendenz und Immanenz, Unendliches, Unmögliches, Unsichtbares, Unvergessliches, Undarstellbares, Überschüssiges der Gabe, Stellvertretung, Vertrauen, Gast und Feind oder das Unvergleichliche sind die phänomenalen Exempla, an denen Walden-fels seine phänomenologische Metaphysik durchführt. – Und es bleibt doch nicht schlicht Metaphysik, sondern eine kritisch gehemmte, phä-nomenologisch disziplinierte Arbeit an den Grenzen der Phänomenalität.

Wer nicht nur schaut, sondern auch denkt; erst recht, wer zu sagen ver-sucht, was sich zeigt, und dessen gewahr wird, dass bereits im Schauen gedacht und gesagt wird, kann das Risiko der Metaphysik nicht prinzipiell vermeiden – wenn sie denn bereits in der Überschreitung des Singulären bestünde, des Phänomens in seiner ›haecceitas‹, des Individuellen und Un-vergleichlichen. Zu behaupten allerdings, mit einem generellen Kriterium über Sinn und Unsinn solch einer Überschreitung urteilen zu können, ist vermutlich selber bereits metaphysisch: ein Überschwang des Anspruchs in seiner Generalisierung, der zwar kritisch konzipiert sein mag, aber zu allgemein wäre, um am Phänomen ›in jedem Fall‹ passend zu sein. Wie würde angesichts dessen über Gebete und Kirchenlieder, über Bilder und Poesie, über Predigten und stammelnde Zeugnisse geurteilt werden? Nicht erst die wissenschaftlichen Übertreibungen, zuvor schon die lebensweltli-che ›religiöse Rede‹ ist voll davon. Auch die hermeneutisch-kritische Fra-ge Wittgensteins ist angesichts dessen ambivalent: »Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht?«20 Der Böse oder der Feind sind mythische Generalisierungen, aus denen Kulturkampfmetaphysik gemacht werden kann – am Ort seiner Heimat, nicht zuletzt im Schwarzwald. Die Legitimität der façon de parler durch ihren Sitz im Leben – ist nicht weniger riskant, als den Philosophen die Allsätze zu überlassen. Die ›natürliche‹ Gebrauchsweise als hermeneutisch-kritischer Rekursgrund trägt spätestens am Stammtisch nicht mehr, und sei es der von Philosophen.

Dass nicht nur die lebensweltliche oder religiöse Rede, sondern auch die Theologie mit den Denk- und Sprachfi guren von ›Passivität und Pas-sion‹ sich in einem ähnlichen Horizont bewegt, ist einigermaßen geklärt.21 Geklärt gilt für manche allerdings auch, dass sie das besser lassen solle. Nur

20 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 116. 21 Vgl. Ph. Stoellger, Passivität aus Passion. Zur Problemgeschichte einer ›catego-

ria non grata‹, Tübingen 2010.

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kann und sollte sie das lassen? Sich von gelegentlich metaphysisch klingen-den Sprach- und Denkgewohnheiten verabschieden? Zumindest fehlten ihr dann viele Worte, um leid- wie heilvolle Widerfahrungen zu themati-sieren und darüber zu kommunizieren. Metaphysikkritik als Verbotskultur, als Sprach- oder gar Denkverbot, wäre selbstwidersprüchlich. Metaphysik-hermeneutik dagegen ist angebracht, um nicht alle Metaphysik gleich grau bleiben zu lassen. Denn hier zu diff erenzieren, hilft Pathos und Phobos zu unterscheiden oder auch allzu schwarz gemalte Metaphysik ebenso zu kritisieren wie eine, die sich dem Licht so nah wähnt wie die Motten.

2. Probleme mit der Metaphysik?

Falls die Metaphysik zurückkehrte, wir also Zeitgenossen eines metaphysi-cal turn oder return würden, hätte die Theologie einen klaren Heimvorteil: ein Heimspiel, könnte man meinen. Denn ihr gelegentlich erfrischendes Beharrungsvermögen brächte sie (vielleicht versehentlich) in die Rolle eines ›Hüters des verlorenen Schatzes‹, weil sie die metaphysische Rede, wie auch die mythische und metaphorische, nicht so schnell und generell verabschiedet hatte, wie manche, denen alles ›Vorkritische‹ pauschal als un-kritisch und naiv galt. Denn aus der Erkenntnis- wie der Sprachkritik eine dogmatische Verabschiedung aller Altvorderen zu konstruieren, wäre etwas zu leicht fertig mit dem Problem, sei es im Anschluss an Kant, Nietzsche oder Heidegger. Zermalmen, für tot erklären oder verwinden sind keine dauerhaften Formen der Verarbeitung dessen, was mit metaphysischen Fra-gen, Problemen und Traditionen im Präsens noch präsent ist. Bleibt doch das vermeintlich Vergangene präsent, und sei es im Perfekt. Zudem gibt es nicht wenige Schätze der vermeintlich metaphysischen Tradition, die mit den Verwindungen verspielt würden, Leibniz zum Beispiel, Cusanus oder Anselm, Augustin oder Aristoteles, kurzum Jahrtausende an Tradition, die zu verkennen sich eine Geisteswissenschaft nicht erlauben kann. Um an deren Kostbarkeiten und Abgründe zu erinnern, bedarf es keineswegs einer (selbsternannten) ›radikalen Orthodoxie‹; es genügt auch gute Kir-chen-, Dogmen- und Theologiegeschichte. Literaturwissenschaften wie Historiker und Kulturwissenschaften wie Archäologen und Genealogen jedenfalls scheuen diese Traditionen nicht – auch wenn alles an der Frage hängt, wie man sich dazu verhält und die angemessene Distanz fi ndet. Dem soll im folgenden nachgedacht werden, um Spielräume des Verhaltens, des Verstehens und Umgangs mit dem komplexen Konglomerat namens ›Me-taphysik‹ zu eröff nen.

Nur ist keineswegs klar, was vielen als ausgemacht gilt: dass die Meta-physik in der Sprache der Theologie ›ihre Heimat hat‹, oder in der ›on-

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to-theologischen‹ Tradition. Und ebensowenig ist klar, dass Worte wie ›Wissen‹, ›Sein‹, ›Gegenstand‹, ›Ich‹, ›Satz‹ oder ›Name‹ problematisch sind, wenn mit ihnen Generalisierungen und De-, Re- und Neukontextualisie-rungen verbunden werden. Ergeht es Mythen und Metaphern wie dem ›Sprachspiel‹ nicht genauso, wenn sie aus Kontexten lebensweltlicher wie religiöser Rede übertragen werden in den theoretischen Text? Dass solche Übertragungen aus ihnen gleich ›Falschgeld‹ machten und die Metapher in der Wiederholung allmählich zu abgenutzten Münzen würde, wie Der-rida meinte, ist ebenso schnell geschlossen, wie es sich die Arbeit am Sin-gulären erspart.

Das systematisch-theologische Problem stellt sich anders dar, wenn es nicht (allzu generell und darin metaphysikanfällig) um die Verabschiedung ›der Metaphysik‹ ginge, sondern um die kritische Begrenzung oder Ver-meidung von manchen Folgelasten. So provozierte ›die Metaphysik‹, die Substanzontologie zum Beispiel Probleme (sei es im Gefolge von Aristo-teles oder des Aristotelismus oder anders von Leibniz), die weder nötig noch wünschenswert sind, sondern, so die kritische These, lediglich von der Theorie produziert wurden. So kam es zu Antworten, für die keiner mehr die passenden Fragen hat und umgekehrt. Es ist wohl selber ein latent metaphysisches Problem, wenn man ein theorieinduziertes Kon-glomerat von Fragen, Antworten und Methoden ›loszuwerden‹ sucht. In-sofern war Luther selten metaphysischer als in seiner Aristotelismuskritik. Auch ein Antimetaphysiker hat das Problem, metaphysisch zu werden in seiner Negation, die dann eine Generalisierung und einen dogmatischen Überschwang ex negativo mit sich bringen kann. Nietzsche zeigte das deutlich, Heidegger nicht weniger. Und noch Derrida hielt man vor, in seiner Dekonstruktion zu wiederholen, was er zu verwinden prätendierte. Nicht ganz zu Unrecht. Aber Derrida wenigstens wusste um die Unent-rinnbarkeit der Metaphysik, weswegen er an deren Rändern arbeitete, zu spielen und zu supplementieren begann, auf dass Spielräume für deren La-bilisierung und einen produktiven Umbau eröff net würden. Anders ging es Blumenberg um den ›Abbau des alten Ernstes‹, der bestimmte Weisen zu denken und zu sprechen sowohl historisch zu distanzieren sucht, als auch metaphorisch zu labilisieren, um sich dazu verhalten zu können. Distanz, um die metaphysischen Traditionen zur Disposition zu stellen und sie of-fen verhandeln zu können, so könnte man den Ansatz zur sprachkritischen Arbeit an der Metaphysik begreifen – in dem sc. die Metaphysik immer noch an der Arbeit ist. So erging es bereits der Arbeit am Mythos.

Ergo: Wenn nicht auf neue Weise dualisiert wird, um angesichts der Me-taphysik vor ein radikales Entweder/Oder zu stellen, wird es komplizier-ter. Weder ein sicheres Heimspiel noch eine defi nitive Überwindung sind dann sinnvolle Prätentionen in der Arbeit an der Metaphysik, sondern his-

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torische, refl exive und sprachliche Distanznahme, um sie zur Disposition zu stellen – ohne ihr im Modell von ›Freund oder Feind‹ so oder so gegen-über zu treten. Solche Dualisierungen zu vermeiden, ist eine Funktion von Metaphysikhermeneutik, der nicht an kritischer Reinhaltung allein gelegen sein kann, sondern am Verstehen des Fremden, möglicherweise als Zug und Dimension des Eigenen.

3. Inszenierungen der Metaphysik – als Laster oder morbus?

Wenn Begriff e und bestimmte Urteile ›Denkgewohnheiten‹ wären, wie Cavell meinte, wären dann metaphysische Begriff e wie entsprechender Sprachgebrauch schlechte Angewohnheiten, überkommen, abwegig und ir-reführend? Wären metaphysische Angewohnheiten kognitive Laster, die zu lassen schwer fi ele? Das würde derjenige, dem sie zu eigen sind, nicht so sehen. Im Gegenteil. Es wäre auch problematisch, Denkgewohnheiten derart moralisch zu beurteilen wie es der Habitus mit Tugend und Lastern insinuiert. Ist es doch ein seltsames Phänomen: Wer mit bestimmten Denk-gewohnheiten aufwächst, gewöhnt sich daran, etwa an einen personalen handelnden Gott, an die Sühneopfervorstellung (und sei es in der subtilen Fassung der inklusiven Stellvertretung) oder auch an die Vorstellung eines zornigen Gottes oder an die kritische Gewohnheit, Metaphysik stets für eine Angelegenheit der Anderen und doch längst Toten zu erklären.

Ob Sühnopfer und Gottes Zorn für ›den neuzeitlichen Menschen‹ noch verständlich seien (selber nicht ohne metaphysischen Ton), ist sekundär. Gewohnheiten gehen dem dezidierten Verstehen voraus. Und sie sind nicht moralisch oder allein epistemisch zu beurteilen, sondern haben ih-ren Sitz im Leben kraft ihrer regulativen Funktion für das Leben, Fühlen, Handeln und auch das Denken. Dies oder jenes wird Anderen als schlechte Angewohnheit gelten, wenn sie es nicht teilen und vor allem dann, wenn es sie stört. So können dezidierte Antimetaphysiker, auch in der Theolo-gie, mit selten gesehenem Aff ekt gegen ›Metaphysik‹ andenken und sich echauffi eren. Nur ist damit zunächst nicht mehr markiert, als eine Diff e-renz des Dispositivs oder des Regelzusammenhangs, in dem gedacht und gesprochen wird. Dass eine ›kritische Wende‹ so fungiere, wie die Diff e-renz von Alchemie und Chemie, bleibt allenfalls ein frommer Wunsch, ge-legentlich mit eifernden Außenseiten. Daher würde es auch wenig helfen, Metaphysik als eine Chimäre zu deklarieren, entsprungen aus dem Jurassic Park der Wissenschaftsgeschichte. Solch mythische Metaphorik würde nur anzeigen, wo der eigene Denkhorizont Verbote braucht, um die eigenen Grenzen zu markieren.

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Nicht anders stünde es mit pathologischer Polemik. Wenn Metaphysik ein ›morbus‹ wäre, ein morbus metaphysicus, wie könnte er geheilt werden? Und wer begehrt hier überhaupt Heilung? Die pathologische Metapher ist nicht unproblematischer als die moralische der Metaphysik als schlechter Denkangewohnheit oder die mythische vom Jurassic Park. Und sie wirft die Frage auf, was genau denn ›krank‹ wäre, und wer solchen Leidensdruck hat, dass er Heilung begehrt? Mit der Metapher vom morbus metaphysicus kann schwerlich insinuiert werden, dass Metaphysik ›an sich‹ (was wäre das auch) bereits morbus sein muss, nur dass es eine morbide Metaphysik gibt: eine refl exive Krankheit zum Tode, von der noch die Antimetaphysik ge-zeichnet ist, wenn die Schlinge der Refl exion sich zuzieht und nur der spe-kulative, dialektische Ausweg bliebe, der ›die Existenz‹ überspringt. Nur –wäre die emphatisch proklamierte ›Existenz‹ und ›der Einzelne‹ Kierke-gaards frei von jeder Metaphysik der Existenz?

4. Modalisierungen der Metaphysik

Die Therapieangebote für den morbus metaphysicus sind bekanntlich zahlreich: die Geschichte neuzeitlicher Philosophie, Theologie, Sozial-, Kultur-, Rechts- und Literaturwissenschaft ließe sich am Leitfaden dessen schreiben. Von der Kritik zur Historisierung zur Hermeneutik über die negative Dialektik oder die Destruktion ( Heidegger) zur Dekonstruktion ( Derridas) in die Metaethik ( Levinas) bis zur Remetaphorisierung, mit der man an Blumenberg wie Wittgenstein anschließen kann: »Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück.«22 oder: »Metaphysik erwies sich uns oft als beim Wort genomme-ne Metaphorik; der Schwund der Metaphysik ruft die Metaphorik wieder an ihren Platz.«23

Statt Sinnlosigkeiten zu destruieren, um sie zu eliminieren, werden sie auf ihren ›Sitz im Leben‹ zurückgeführt oder ihre ursprüngliche Meta-phorizität. Dass auch diese Reduktion an Grenzen stößt, sei nur notiert. Soll impliziert sein, alle Sätze hätten ihren Sinn am Ort lebensweltlicher Vollzüge auszuweisen? Dann würde deren ›Sinnfülle‹ vorausgesetzt und sie als Sinnkriterium ausgezeichnet. Nicht wenige Gleichnisse und erst recht Sätze von der Feindesliebe wären dann dauerhafter Nonsens, sobald sie in neuen Kontexten verwandt werden, erst recht wenn sie einen neuen Sitz in der theologischen Rede und Theorie fänden. Wird eine Aussage wie: der Mensch werde ›mere passive‹ gerechtfertigt an anderem Ort und zu ande-rer Zeit noch sinnvoll oder nachvollziehbar sein können?

22 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 116. 23 H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Bonn 1960, 142.

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Destruktion und Dekonstruktion sind bekanntlich die Metaphysik nicht ›losgeworden‹. Es geht auch anders: durch historische Rekonstruktion, wo-mit eine Version des ›returns‹ der Metaphysik in den Blick kommt. Wäh-rend die Verfahren von Kritik bis Dekonstruktion die Metaphysik zum Schweigen zu bringen suchten, oder so nicht mehr sprechen wollten, ist die Historisierung der Metaphysik ein schillerndes Phänomen. Einerseits wird sie damit ›endgültig‹ auf Distanz gebracht, andererseits ist die historische Distanz eine Lizenz zur ungehemmten Arbeit an der Metaphysik (der his-torischen Arbeit, ähnlich der der ›rational reconstruction‹).

Was der Enthistorisierung zum Problem wurde (ahistorische Propositio-nenanalyse oder Synchronie der Argumente im Reich des reinen Denkens), eröff net sich der Historisierung als fast libertine Lizenz. Sie kann alles zum Gegenstand machen und unbekümmert Metaphysik treiben: Metaphysik ›aus der Distanz‹ des Historikers (oder Doxographen, Ideengeschichtlers, Dogmen-, Philosophie- und Theologiegeschichtlers bis in die Begriff s-geschichte). Das hat aber eine irritierende Nebenwirkung: die historische Musealisierung der Metaphysik. Die Museumsmetapher zeigt an, dass die Geschichtswissenschaften Räume bewohnen und in ihnen arbeiten, in de-nen eigene Regeln gelten, mit besonderen Freiheiten. Wie im Archiv alles sein und bleiben darf, was sich dort angesammelt hat, so gelten dort auch nicht die Kriterien ›logischer Konsistenz‹ oder ›kritischer Vernunft‹, son-dern die Geduld und Duldsamkeit gegenüber allem Gewesenen. Wie im Limbus sind die Räume des Vergangenen ›Zwischenräume‹, in denen das von rationalen Reinheitsgeboten längst Exkludierte eine eigene Existenz-form fi ndet. Was den Kritikern die Hölle sein mag, wird dem Historiker zum hortus conclusus, wie eine wunderbare Wolfenbütteler Bibliothek.

Nur geschieht mit den Historikern in diesen Zwischenräumen Seltsa-mes. Sie werden gewissermaßen transfi guriert. So geht es beispielsweise mit Aristoteles- oder Thomas-Forschern: Sie werden zur Stimme der To-ten, die darin im gegenwärtigen Diskurs wieder auferstehen und gele-gentlich als ›vivid option‹ eingebracht werden. Die Musealisierung schlägt um – und das Museum wird zum Jurassic Park. Denn in der Arbeit an den Toten sind auch die Toten an der Arbeit (wie beim Mythos, so bei der Metaphysik). Weniger mythisch formuliert: Wer andern seine Stimme leiht, spricht irgendwann selber metaphysisch.

Das Interessante scheint diesseits der Alternative von sic et non zu liegen, in den schillernden Übergängen der verschiedenen Modalisierungen der Metaphysik. Geht es der Historisierung um konsequente Distanzierung, wird nicht mehr salva veritate, sondern remota veritate gesprochen. Was rekonstruiert wird, gilt nicht als ›eigene‹ Behauptung, für die selber zu argumentieren wäre, sondern es ist stets die ›Metaphysik der Anderen‹, der Alten, der Gestrigen, der Vorkritischen etc. Dabei ist diese Wertung zu sis-

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tieren: Die historische ›Neutralität‹ gebietet und gewährt eine Freiheit vom ›sic et non‹, zugunsten einer schlichten Aufarbeitung des Vergangenen –auch wenn die mitnichten so schlicht und neutral ist, wie sie sich geben mag.

Die metaphysische Einstellung wird (wie der Glaube an den Mythos) einerseits suspendiert, andererseits delegiert und damit den Anderen zu-geschrieben. Metaphysik im Modus der Delegation, der Fremdzuschrei-bung – das ist ihre primäre Gegebenheitsweise und vom Entzug bestimmte Präsenz in der Gegenwart. So wird den Anderen, Altvorderen oder heute noch ›Ewiggestrigen‹ zugeschrieben, was für obsolet erklärt wird, bis dahin, dass diese Delegation nicht nur die eigene Position stabilisiert, sondern die Fremdheit der Vernunft zum Fremden der Vernunft, zum Unreinen gemacht wird. In der Delegation an Andere steckt dann ein Zug der Rei-nigung, der Selbstreinigung. Wie mit der Metaphysik der Anderen wurde seit langem mit dem Mythos verfahren als Form des Wissens, angeblich des Nichtwissens, die den Anderen zugeschrieben wurde. Die ›Illusionen der Anderen‹ kann man das nennen,24 oder auch refl exive Identitätspolitik und klare Verteilung von Reinheit und Unreinheit. Wie mit dem Mythos, so wird mit der Metaphysik verfahren, wenn man sie derart delegiert und abwertet. Nur, wenn es eine Wahrheit des Mythos geben mag, warum nicht auch eine Wahrheit der Metaphysik? Warum ihr vorenthalten, was dem Mythos zugestanden wurde? Zumal, wenn die Metaphysik ebenso zu den genuinen Refl exions- und Kommunikationsformen des Christen-tums zählt wie Mythos und Metapher?

Übertragung und Delegation macht die auf Distanz gehaltene Metaphy-sik zur ›Metaphysik der Anderen‹. Als delegierte kann sie dann destruiert, kritisch destilliert, historisch rekonstruiert etc. werden. Es geht ja ›nur‹ um ›die Anderen‹. Die Metaphysik wird so gesehen ›alteriert‹, um nicht ›out-riert‹ zu sagen. Das erwähnte Umschlagen der Stimme der Anderen in die eigene (und umgekehrt) wird damit invisibilisiert. Man könnte vermuten, dass das metaphysische Begehren historisch, doxographisch oder editorisch maskiert wird: im Gewand der Stimme der Anderen auftreten darf, ohne für deren Behauptungen haftbar gemacht werden zu können. Man muss nicht in der Delegation gleich eine ›Übertragung‹ am Werk sehen. Denn das Problem dieser psychoanalytischen oder hermeneutischen Zusatzan-nahme wäre, dass es dann eigentlich nur um die eigene Metaphysik ginge, die zum Latenzschutz anderen in den Mund gelegt wird. Das Problematische dieser Annahme ist, dass damit das Oszillieren und die Brechung im Ver-hältnis von eigener und fremder Stimme zu schlicht vereindeutigt wird. Es

24 Vgl. R. Pfaller, Die Illusion der Anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur, Frankfurt a.M. 2002.

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ist komplizierter und uneindeutiger, wenn sich in der Stimme des Anderen das Eigene artikuliert – und zugleich das Eigene vom Anderen bestimmt wird, bis dahin das unklar wird, wer spricht? Die Überkreuzungen von Ei-genem und Fremden (bei der Analytiker vielleicht von Gegenübertragung sprächen) macht es komplizierter. Und das ist auch nötig zuzugestehen, sonst verkennt man den Zwischenraum der Rede, der durch solch ein ge-brochenes Verhältnis eröff net wird. Ob die Metaphysik zur Puppe wird, der der Bauchredner seine Worte in den Mund legt, oder umgekehrt der His-toriker zur Puppe der untersuchten Metaphysik, das ist meist nicht so ein-deutig entscheidbar. Mit Paulusforschern kennt das ›jeder‹: Sie beanspru-chen die Deutungshoheit über Paulus, den sie kennen wie ›keiner‹ sonst. Nur, wenn sie sprechen, wer spricht dann? Von, über mit Paulus sprechen ›Mit Paulus gesagt‹ oder ›in seinem Sinne‹ oder ›was er meinte‹ oder wirk-lich gesagt hat, sind Wendungen, in denen sich der Exeget dem ›Apostel‹ widmet, seine Stimme leiht – und sich zugleich von ihm die Worte leiht bis dahin, dass es wirken kann, als spräche der Exegesierte, nicht der Exeget. Diese Überkreuzung ist für Täuschung und Selbsttäuschung anfällig.

Dieses Schillern von Rekonstruktion und Historisierung hat einen (un-ter Historikern oft ungeliebten) Verwandten: Die Metaphysik im Konjunk-tiv – bei der ähnlich unklar wird, wer spricht? Am deutlichsten zeigt sich das im literarischen Modus der Metaphysik, etwa bei Borges, Valéry, Calvino, Dürrenmatt oder Blanchot: und das nicht erst im 20. Jh., sondern auch bei den ›metaphysical poets‹ des 17. Jh. in England und den ›Cambridge Platonists‹. Nicht nur Historisierung, auch Literatur bietet die Lizenz zur ›Auferweckung der Toten‹. Damit wird eine Transformation der Metaphy-sik angesonnen: Sie wird zum Objekt (eines keineswegs unernsten) ima-ginativen Spiels, wie in der Phantastik von Borges, des literarischen Car-tesianismus Valérys oder der ›postmodernen‹ Narrativik Calvinos. Damit wird die Metaphysik wie der Mythos literarisch fragmentiert, transformiert und doch auch zur ›wirklichen Möglichkeit‹ von Literatur und Lesern. Sie wird als imaginäre Leseerfahrung wirklich möglich und möglicherweise wirklich. Nur – der Erfahrungsbegriff wird dann zweideutig: geht es um Lebens- oder Leseerfahrung? Unter der Maske des Literaten können To-tengespräche geführt werden und alle gestorbene Metaphysik real gegen-wärtig werden – bis dahin, dass der Leser mit deren Stimme spricht. Diese Indirektheit von Metaphysik ist spätestens seit Descartes eine Form der gebrochenen Präsenz des Metaphysischen. Meinte er doch: »Auf die Büh-ne gerufen, legen die Schauspieler eine Maske an, um zu vermeiden, daß man die Röte auf ihrem Gesicht sieht. Wie sie trete ich in dem Augenblick, da ich – bisher ein bloßer Zuschauer – die Bühne des Welttheaters betrete,

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maskiert hervor (larvatus prodeo)«25 (wobei zweideutig wird, ob es »larva-tus prodeo« oder »larvatus pro Deo« zu lesen ist).

Das hat Schule gemacht, bis dahin, dass die Metaphysik hypothetisch ver-fasst wurde ( Whitehead) oder transponiert in ›metaphysische Vermutungen‹ ( Hans Jonas), wenn sie ironisch gebrochen ( Rorty) und in aller Polemik als ernsthafter Gegner diskutiert wird ( Nietzsche), oder wenn sie selber als Li-teratur aufgefasst und bearbeitet wird (Derrida, Paul de Man). Man könnte es sich leicht machen und all das ›postmodern‹ nennen, relativistisch und ohne angemessenen Ernst. Nur wäre das leichtfertig. Denn was sich hier zeigt, sind Versuche, bei aller Brechung, Distanz und Unmöglichkeit ein vertretbares und nachvollziehbares Verhältnis zur metaphysischen Traditi-on zu gewinnen. Dem strikten Antimetaphysiker mag das ein Greuel sein, dem reinen Kritiker naiv oder vorkritisch, dem Essentialisten nicht ernst-haft genug, dem analytisch-philosophischen Metaphysiker zu vage, dem historischen Metaphysiker zu libertin etc. Die möglichen Einwände sind Legion. Nur, die Transformationen, Transfi gurationen und in summa Mo-dalisierungen der Metaphysik sind nicht nur wirklich und möglich, sondern möglicherweise sinnvolle Versuche, Metaphysik zu verstehen, sich darüber zu verständigen und deren Verständnis als diskutables Ansinnen gegenwär-tiger Diskurse zu rekonstruieren – ohne die Form des Wissens bruchlos zu wiederholen und eine zweifellose Präsenz zu simulieren.

Dem Mythos hat man den entsprechenden Respekt längst erwiesen und ihn als Form des Wissens und Figuration der Wahrheit (des Mythos) ver-standen. Sein Logos wird anerkannt, wenn auch in diversen Transformati-onen. Sollte man mit der Metaphysik nicht ähnlich verfahren? Was das so erschwert, ist das Unbehagen am Überspringen des Bruchs; an der Simula-tion ungebrochener Präsenz der Metaphysik (analog zur Remythisierung). Ein Zuviel an Emphase und Zuwenig an Skrupel und Brechung – wenn etwa die Imago essentialistisch konzipiert wird und deren unberührbare Essenz genetisch bzw. biologisch untermauert wird.

5. Verdopplung der Metaphysik

Kurz vor 2000 war in Zürich Enno Rudolph zu Gast. In guter Picht-Tra-dition sprach er über Kant mit der beiläufi gen These, Kant sei Metaphysi-ker gewesen und geblieben, schlicht weil er letztlich die Metaphysik neu zu begründen suchte. Von den Hütern eines möglichst metaphysikfreien und nach Reinheitsgebot gebrauten Kantianismus wurde Rudolph dafür heftig gescholten, als ›Schnurri‹, wenn nicht ärger noch. Zu Unrecht, wie man

25 J.-L. Nancy, Larvatus pro Deo, in: Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poe-tik, hg. v. V. Bohn, Frankfurt a.M. 1990, 468–501, hier 468.

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nicht erst im Rückblick bemerken kann. Denn dass Kant auf der Suche nach einer neuen Grundlegung einer Metaphysik war, kann angesichts der Kantforschung und zumal der Quellen kaum strittig sein; ebensowenig allerdings, dass er auf der Suche nach einer kritischen Metaphysik war.

In diesem Doppelsinn liegt wohl der Grund für eine Reihe von Missver-ständnissen – und auch eine Lizenz zur Metaphysik, selbst wenn man Kant nicht zu hintergehen wagt. Kritisch oder naiv als Prädikat einer Metaphysik führt in eine Verdopplung in alte und neue, schlechte oder gute, unsagba-re oder sagbare. Das kann man sprachlich unterscheiden, wenn man von Ontologie statt Metaphysik spricht, aber das markiert nur einen Willen zur Unterscheidung, mehr zunächst nicht.

Das Problem ist, worin denn die ›kritische Diff erenz‹ besteht, die die eine von der anderen unterscheidet? Das Folgeproblem ist der normative Gehalt dieser Diff erenz und der Gebrauch der entsprechenden Wertun-gen. Gegenstände und Themen können die Diff erenz nicht zureichend bestimmen. Auch wenn bestimmte ›Gegenstände‹ erst metaphysisch kon-stituiert werden, im Modus von Beschreibung und Behauptung über et-was, wovon kein wohlbegründetes Wissen möglich ist. Hier begegnen sich Metaphysik und Fundamentalismus. Wolfgang Huber meinte einmal: »1. Die Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift, 2. Christi Jungfrauengeburt, 3. der Sühneopfertod Jesu, 4. die leibliche Auferstehung, 5. die Wirklichkeit der in der Bibel bezeugten Wunder. [...] Ohne jeden Interpretationsspielraum diese fünf Aussagen wortwörtlich bejahen zu müssen − das ist für mich Fundamentalismus!«26 Und Theorien zu bilden über diese Aussagen, das wäre Metaphysik zu nennen. Es wäre beim Wort genommene Metaphorik (Jungfrauengeburt, Sühnopfer, Auferstehung), die im Modus behaupteten Wissens zur Metaphysik wird, und im Modus der wörtlichen Bejahung zum Fundamentalismus. Die Gegenstände sind nicht entscheidend. Eher die Auff assung oder Einstellung, mit der darüber gesprochen wird, und die Methoden und Geltungsansprüche über das ›Wesen‹ Gottes, des Menschen, der Seele oder der Unsterblichkeit.

Ein zeit- und ortloses Behaupten darüber hätte etwas Gespenstisches: als müsste zu allen Zeiten aller Orten so gedacht und gesprochen werden, wenn denn über Gott oder die Seele etwas gesagt werden soll. Das ginge von Voraussetzungen aus, die unendlich sein wollen, und der eigenen End-lichkeit ermangeln: das heißt ihrer existentiellen, lebensweltlichen, histori-schen und kulturellen Rückbindung und Selbstrelativierung. Nicht dass als Alternative zu solchem Essentialismus der Relativismus gehörte (der leicht metaphysisch übertrieben werden kann), sondern eine Relativierung, die

26 W. Huber, Herr Bischof, wer ist eigentlich ein Fundamentalist? Interview, in: ideaSpektrum 18 (2009), 17.

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klassisch mit dem Ausdruck ›Kritik‹ begriff en wird: sei es epistemische, historische, hermeneutische, sprachliche oder semiotische Kritik.

Damit sind andere Methoden genannt, die sich von den metaphysischen grundlegend unterscheiden. Ob ›foundationalism‹ oder Letztbegrün-dung oder etwas gemäßigt Letzterklärung – metaphysische Methoden prätendieren den Ursprung zu begreifen, um von den principia ausge-hend, notwendig deduzierend (möglichst apriori) ein für allemal wahres Wissen zu produzieren (hier zeigt sich die seltsame Nähe zu manchen naturwissenschaftlichen Ansprüchen). Wissenssoziologisch gesehen ist das ein ›ursprungslogisches‹ Denken, das theologisch handlungslogisch näher bestimmt wird.

Die (kantische) Verdopplung der Metaphysik hat bei allen damit provo-zierten Unterscheidungsproblemen eine klare Implikation: Es geht (selbst in Kantischer Tradition) nicht darum, Metaphysik pauschal und generell auszuschließen. Diese Konsequenz kann man bestreiten und die Perspekti-ve auf eine kritische Metaphysik abweisen. Nur, ›Metaphysik‹ generell aus-zuschließen, läuft Gefahr, selber einen metaphysischen Zug zu zeigen: die Metaphysik strikter Antimetaphysik – so wie Nietzsches Griff zum My-thos, oder das unglückliche Bewusstsein eines Antirealismus, oder so wie die mehr oder minder raffi nierten Versuche, ›Gott‹ endlich los zu werden (›There is probably no God‹). In der Logik der Gegenbesetzung wird eine Generalisierung aufgebaut, die selber metaphysischen Charakter bekommt. Wenn Metaphysik exkludiert werden soll, ist zu präzisieren: warum und in welchem Sinn?

6. Kritische Exklusionen: Konstruktion von Unmöglichkeiten

Exkludiert wird (nicht erst) seit Kant jede dogmatische Metaphysik als apriorische Erkenntnis der Dinge an sich und als behauptete aposteriori-sche Erkenntnis von Dingen, die nicht Gegenstand möglicher Erfahrung werden können. Negativ heißt das: keine Ding-an-sich-Erkenntnis; keine apriorische Synthesis über etwas, das nur aposteriorisch gegeben sein kann; und keine aposteriorische Synthesis über das, was nicht als Erfahrung ge-geben sein kann. Das sind bekanntlich auch Voraussetzungen von Schleier-machers Glaubenslehre – und deren ja nicht besonders zurückhaltender Reduktion der (Material-)Dogmatik. Dass im Zuge dessen ›Dogmatik‹ als Begriff in Misskredit geraten ist, kann man als versehentliche Nebenwir-kung verstehen. Aber es ist vielleicht doch ein Symptom für den dogma-tischen Gebrauch der Kritik, wenn alle Dogmatik als dogmatische Meta-physik erscheint.

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Die Unmöglichkeit apriorischer Wesenserkenntnis ist weitgehend un-strittig (von spekulativen Geistern abgesehen): als könnte man an jeder Er-fahrung vorbei das Wesen von Gott, Welt oder Mensch erkennen.27 Schleier-machers Konsequenzen dessen sind allerdings nicht unproblematisch. Denn Trinitätslehre wird dann zum tertiären Appendix. Das muss aller-dings nicht so sein, wenn man sie, wie Jüngel vorschlug, als Interpretation der Bedeutung des Kreuzes konzipiert und damit auf die Erfahrung (mit aller Erfahrung) zurückbezieht. Die erkenntniskritischen Voraussetzungen und auch manche Sprachform exkludierenden Konsequenzen sind es, die die Materialdogmatik seitdem vor allem in Prolegomena, Fundamental-theologie oder Religionsphilosophie transformiert haben. Denn in der Art und Weise der Anerkennung dieser Voraussetzungen entscheidet sich alles Folgende. Das dauerhafte Problem ist dabei, dass über Art und Umfang der Anerkennung der Voraussetzungen dieser Exklusion keineswegs Konsens besteht (selbst unter Vertretern der Schleiermacher-Renaissance nicht). Und das ist für eine Theologie, die als Wissenschaft soll auftreten kön-nen – durchaus prekär. Umgekehrt den Konsens als ›mit Schleiermacher geklärt‹ auszugeben, führt leicht zum dogmatischen Gebrauch einer kriti-schen Diff erenz, wenn diese Voraussetzungen nicht mehr zur Disposition gestellt werden. Auch aus kritischer Philosophie oder Theologie kann man (in Kantischem Sinne) ›dogmatischen‹ Gebrauch machen. Metakritisch gesehen ist die Prätention vollständiger und defi nitiver Destruktion der Metaphysik anscheinend unhaltbar. Auf metaphysische Annahmen oder Konsequenzen gänzlich zu verzichten, fällt ähnlich schwer, wie auf Hegel (oder analoge Großtheorien) zu verzichten. Letzteres ist leichter möglich als ersteres. Denn ›es gibt‹ Fragen, auf die zu antworten in die Metaphysik verstrickt; es gibt Refl exionsnotwendigkeiten, denen zu folgen dieselbe Konsequenz hat; und es gibt eskalierende Ansprüche (oder Erwartungen) an Theorien, ihre Leistungsfähigkeit und ihren Geltungsbereich so zu wei-ten, dass sie in metaphysisches Terrain geraten. Denn in der Metaphysik kann etwas artikuliert werden, das die epistemischen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis vielleicht sinnlos, aber gelegentlich durchaus nicht unsinnig überschreitet (all das, was Wittgenstein ›Mystik‹ genannt hätte).

Zwar sind die Bedingungen der Möglichkeit im transzendentaltheoreti-schen Sinn sinnvolle Restriktionen der Erkenntnisansprüche. Von Hamann bis Levinas aber haben sie zugleich ihre prekäre Rückseite gezeigt: die

27 Die Aposteriorizität, die Erfahrungsgebundenheit aller Erkenntnis, ist wohl ebenso unstrittig. Aber wenigstens aposteriori etwas über die ›Dinge an sich‹ sagen zu können, ist schon deutlich strittiger, nicht zuletzt angesichts naturwissenschaftlicher Geltungsansprüche. Hier skeptisch zu bleiben, gehört zu den Tugenden der kritischen Tradition.

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Grundlegung einer kritischen Philosophie ist wie jede Kulturform nicht ohne Machtanspruch, wenn nicht gelegentlich gar der Gewalt scharfer Ex-klusionen. Die Deutungsmacht im Zeichen reiner Kritik und kritischer Reinheit schließt alles aus, was sich nicht den (vermeintlich rein rationalen und in allen möglichen Welten notwendigen) Bedingungen der Möglich-keit fügt. Daher sind die Bedingungen der Möglichkeit stets auch Bedin-gungen der Unmöglichkeit. Der Preis eines reinen Vernunftgebrauchs ist entsprechend hoch. Es wird viel ausgeschlossen, was dann nur zu konse-quente Sprach- oder Bildverbote nach sich zieht: Von Gnade zu sprechen, sei nicht nur unmoralisch, sondern unvernünftig; analoges gilt für Gabe, wenn alles eine Ökonomie des Tauschs (der Zeichen) sei; Anthropomor-phismen der religiösen Rede gelten als naiv und unbegriff en; narrative Darstellungen (auch in der Theologie) werden für unterkomplex wenn nicht refl exiv unterbestimmt gehalten; oder anderes und mehr zu sagen, als was der Fall ist, gilt als Überschwang und unhaltbar.

7. Variationen der Kritik

Eine der klassisch kritischen Unmöglichkeiten ist mit dem Problem der Fremderfahrung markiert, wie es Husserl gequält hat und Levinas’ Umbe-setzung von Metaphysik, Ontologie oder Epistemologie auf die Ethik (als prima philosophia) motiviert hat. Aber auch diese Ethik wird zur Meta-ethik, wenn nicht sogar zur Pathostheorie (in ›Jenseits des Seins‹), in der die Grenzen möglicher Erfahrung berührt, teils auch verletzt und die des in kritischer Weise Sagbaren gestört werden. Logik der Grenze besagt be-kanntlich: Um die Erkenntnis in kritischer Weise zu begrenzen, nimmt man einen Grenzgang in Anspruch, der die Grenze bereits überschreiten müsse, so das hegelsche Argument. Damit muss jedoch nicht ein Denken und Sprechen jenseits der Grenze riskiert werden, wenn dieser Grenzgang im Dienste der Grenzsicherung stünde. Wäre aber nicht wenigstens ein ›kleiner Grenzverkehr‹ im Rahmen des Möglichen? Ist so zu argumen-tieren, dialektische Sophistik, mit der man in Überschreitungen verstrickt wird, ins Refl exionslabyrinth der Dialektik? Wer defi nitiv und endlich auf Hegel verzichten wollte (wie Ricœur), oder wer noch mehr will: weder mit, noch gegen Hegel denken (wie Derrida), bleibt in einer Logik der Gegen-besetzung. Wie Nietzsche meinte: Man wird mit der Zeit seinen Gegnern immer ähnlicher, auch der Antimetaphysiker. Wäre nicht eine Umbeset-zung und Umformung der Metaphysik brauchbarer und weniger obsessiv? Gleichsam eine Minimalmetaphysik, minima metaphysica?

Metaphysik ist sprachkritisch gesehen beim Wort genommene Meta-phorik, die deskriptiv oder spekulativ als Behauptung über etwas missver-

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standen wird, maximal als über etwas an sich im Modus der ›Wesenslehre‹. So wird beispielsweise verfahren, wenn man die Metapher der ›Auferste-hung‹ für eine Tatsachenbehauptung hält, die etwas ›Physisches‹ behauptet und zu ihrer Begründung der Metaphysik bedarf, beispielsweise der ›sup-ranaturalen‹ Theorien über postmortale Fleischlichkeit etc. Die Einwände dagegen sind bekannt: Erstens der epistemische Einwand, es werden die Grenzen möglicher Erfahrung überschritten. Zweitens der sprachphiloso-phische Einwand, es werde die Sprachgestalt von Erkenntnis vergessen und damit die Medialität des Denkens bzw. Erkennens verkannt (der Einwand lässt sich auch bildkritisch wiederholen). Drittens der historische Einwand, es werde die Geschichtlichkeit jeden Erkennens und Sprechens überse-hen. Viertens der hermeneutische Einwand, es werde die Perspektivität und Horizontgebundenheit des Erkennens übersprungen. Die Einwände lie-ßen sich leicht vermehren (semiotisch, systemtheoretisch, diskursanalytisch etc.). Allen ist aber gemeinsam die Negation von Metaphysik und der Ent-wurf eines nicht- oder nachmetaphysischen Denkens.28 Das Seltsame ist nur, dass in den vier genannten Alternativen stets die Metaphysik unter verwandelten Bedingungen wiedererstanden ist: epistemisch im Idealismus ebenso wie bei Nietzsche; sprachphilosophisch bei Schleiermacher ebenso wie bei Rosenzweig; historisch in den Geschichtsphilosophien (oder dem Historismus); hermeneutisch bei Heidegger wie bei Gadamer – und so fort. Selbst der phänomenologische Einwand, sich strikt an die Erscheinungen und Gegebenheitsweisen zu halten, führte in der eidetischen Reduktionauf eine neue Wesensphilosophie. Metaphysik scheint unwiderstehlich oder unvermeidlich. Warum?

8. Zur Wurzel des Übels namens Metaphysik

Es war einmal, zu Zeiten, als der Mensch noch ›von Natur aus nach Wis-sen strebte‹: Unbehelligt von kritischen und allzukritischen Restriktionen konnten in jener Vorvergangenheit Sätze gewagt werden wie: Das Gute, das Wahre und das Schöne sind eins, und das Eine ist gut, wahr und schön. Der Mensch ist gut und frei und daher homo capax. Vermag er doch das Eine zu schauen. Die Seele in ihren höchsten Vermögen ist der Anschau-ung des Absoluten fähig. Und die Welt – muss geläutert werden, auf dass das Viele vergeht und alles eins werde.

Solche metaphysischen Sätze sind Arbeit am Mythos, in der der Mythos an der Arbeit ist. Es sind Generalisierungen, die die Grenzen möglicher Er-

28 Vgl. J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frank-furt a.M. 2001. Weiter vgl. W. Schulz, Subjektivität im nachmetaphysischen Zeitalter. Aufsätze, Pfullingen 1992.

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fahrung überstiegen und darin durchaus verstiegen werden konnten. ›Das Eine, wenn es ist – oder wenn das Eine ist (ohne zu sein)…‹. Parmenides und dessen Version bei Plato zeigen das auf ’s Köstlichste. Selbst nach allen kritischen Wenden und Kehren konnte ein metaphysikkritischer Philo-soph noch sagen und schreiben: »Wie sich alles verhält, ist Gott.«29 oder »Gott ist, wie sich alles verhält«.30

Woher kommen solche Sätze, ungeheuerlich in ihrem Geltungsanspruch und dubios in ihrer Generalisierung? Liegt es in der Erfahrungsüberschrei-tung (oder -vermeidung) im Hinblick auf Wesensaussagen, oder liegt es an metaphysischen Grundfragen, die wir nicht los werden: den Fragen nach Freiheit, Unsterblichkeit oder Seele, Gott, Welt, Mensch und Zukunft? Oder gründet es in der Vertauschung von Fragen de dicto mit Antworten de re (›de Deo‹)? In Abstraktion und Generalisierung bis zur Erfahrungs-losigkeit von Sätzen?

Wittgenstein meinte: »Das Wesentliche der Metaphysik: daß sie den Unterschied zwischen sachlichen und begriffl ichen Untersuchungen verwischt«,31 also de dicto für de re hält. Ob das ›das Wesentliche‹ genannt werden sollte? Und was hieße es, hier ›das Wesentliche‹ zu identifi zieren? Wie auch immer, es wäre leicht, solche Verwischungen und Überschrei-tungen einer geltungssüchtigen Gruppe von Metaphysikern zuzuschreiben. Aber das wäre leichtfertig und würde verkennen, dass solch ein Hang und Drang zu metaphysischen Generalisierungen in jedem steckt, auch wohl oder übel in jedem Sprachgebrauch, im Übergang von einer Verwendung zur Wiederholung, die die Diff erenz des Kontexts wie der Bedeutungs-nuancen vergessen macht. Solch ein Übergang hat sc. durchaus lebens-weltliche Gründe und Antriebe. ›Metaphysisch‹ zu sprechen, wenigstens ein wenig, gehört gewissermaßen zur natürlichen Mundart des Menschen, gleich wo er aufwächst: Metaphysische Sätze sind Sätze aus Erfahrung – über sie hinaus. Sie kommt ins Spiel, wenn mehr und anderes gesagt wird, als allein das, was sich hier und jetzt zeigt. Und dieses Mehr und Anders ist unvermeidlich, aufgrund des stets Mit- und Mehrgesagten der Sprache. Es

29 L. Wittgenstein, Tagebücher 1914–1916, 01.08.1916, in: Ders., Tractatus logi-co-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen. Werkaus-gabe Bd. 1, Frankfurt a.M. 1989, 87–187, hier 173. 30 Ebd. 31 Ders., Zettel, in: Ders., Bemerkungen über die Farben. Über Gewißheit. Zettel.

Vermischte Bemerkungen. Werkausgabe Bd. 8, Frankfurt a.M. 1989, § 458. Vgl. ders., Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie. Bd. 1, in: Ders., Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie. Letzte Schriften über die Philosophie der Psy-chologie. Werkausgabe Bd. 7, I § 949: »Philosophische Untersuchungen: begriffl iche Untersuchungen. Das Wesentliche der Metaphysik: daß ihr der Unterschied zwischen sachlichen und begriffl ichen Untersuchungen nicht klar ist. Die metaphysische Frage immer dem Anscheine nach eine sachliche, obschon das Problem ein begriffl iches ist.«

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wird aktuell im Verlassen des einen Kontexts und Übergangs in einen an-deren. Und es ist im Sinn, wenn ›Sinn gemacht‹ wird: ein Zusammenhang der Dinge, ihre Ordnung, Woher, Wohin und Wozu ins Spiel kommen, mit denen das Singuläre überschritten wird – bis in die Ort-, Zeit- und Leiblo-sigkeit freier Spekulation im ›All der Geister‹. Selbst Sätze über das Eine angesichts des Vielen sind ursprünglich nicht unberührt von Erfahrungen. In Zeiten des verschärften Pluralismus ist das nur zu merklich – und die Suche nach Einheit (von Nationen, Kirchen, Recht und Ökonomien bis zur Globalisierung) zeigen das Problem nur zu erfahrungsnah. Insofern kann man von einer Genealogie der Metaphysik aus dem Geist lebensweltli-cher Erfahrung sprechen. Sie entsteht aus lebensweltlichen Antrieben (woher auch sonst?). Daher bleibt sie auch so hartnäckig präsent in lebensweltna-hen Kommunikationskontexten, in Religion, Politik oder Ökonomie etwa. Und metaphysische Antworten wie Aristoteles’ Lehre von den ›natürlichen Örtern‹ oder einer (allzu) phänomenologischen Raumvorstellung, nach der sich die Sonne um die Erde dreht, sind so einleuchtend und lebens-weltnah wie wenig sonst. Dass sie ›falsch‹ sind, ist ebenso klar, wie ihre Evidenz. Daher ist die ›Lebensweltnähe‹ oder ›Evidenz‹ dann kurzschlüssig, wenn diese Genesis mit Geltung verwechselt wird. Zum Verstehen der Ge-nesis ist der lebensweltliche Horizont und Motivationsrahmen nötig und sinnvoll, zur kritischen Beurteilung hingegen unzureichend.

Sonst kann es prekär werden: wenn die gleichsam natürliche metaphy-sische Einstellung kein selbstkritisches Verhältnis gewinnt; oder wenn die Auff assungen über das Eigene und das Fremde oder das Tun und Ergehen der Seele oder Freiheit und Unfreiheit des Handelns wörtlich genommen werden (›fundamentalistisch‹, wie Wolfgang Huber formulierte); oder auf dem anderen Weg, wenn daraus Theorien fabriziert werden, die im Zuge der Refl exionslogik absurd eskalieren können. Aber auch dieser Weg ist gleichsam ›naturwüchsig‹. Denn es gehört zur Eigendynamik von Refl e-xion, selbstbezüglich zu werden und sich so von ihren lebensweltlichen Motivationslagen zu lösen. Theoriebildung ist ohne diese Dynamik nicht zu haben. Und jederzeit nach dem Nutzen und Nachteil von Theorie für das Leben zu fragen, führt in Bescheidungsgesetze, die der ›morbus eva-luitis‹ nur zu drastisch vor Augen führt. Als wäre Wissenschaft nur legitim und der Finanzierung wert, wenn sie aktuellen Nutzen abwirft und ›sich rechnet‹. Das war wohl nicht gemeint, als man nach der Lebensweltrück-bindung von Theorie wie Theologie fragte. Nochmals zeigt sich, dass ›Le-ben‹ und ›Lebenswelt‹ einerseits zu unbestimmt sind, um Geltungsfragen zu entscheiden, andererseits keineswegs der Metaphysikkritik oder -ver-meidung zuträglich sein müssen.

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Aber sollte man mit Nietzsche einen naturwüchsigen Trieb zur Meta-physik unterstellen?32 Mit solch einer (ironisch metaphysischen) Hypothe-se wird die kantische vom spekulativen Überschwang ›tiefer gelegt‹: ver-wurzelt in einer Neigung des Menschen. Ob Trieb oder Refl exionslogik, nach Nietzsche jedenfalls sind vier Grundformen des Denkens metaphy-sikproduktiv. Erstens gilt: »Jeder Begriff entsteht durch das Gleichsetzen des Nicht-Gleichen.«33 Zweitens wird reduziert: »Etwas Unbekanntes auf etwas Bekanntes zurückführen, erleichtert, beruhigt, befriedigt, giebt aus-serdem ein Gefühl von Macht. Mit dem Unbekannten ist die Gefahr, die Unruhe, die Sorge gegeben, – der erste Instinkt geht dahin, diese peinli-chen Zustände wegzuschaff en.«34 Drittens können Ursache und Wirkung vertauscht werden:35 »Die Empfi ndung dauert inzwischen fort, in einer Art von Resonanz: Sie wartet gleichsam, bis der Ursachentrieb ihr erlaubt, in den Vordergrund zu treten, – nunmehr nicht mehr als Zufall, sondern als ›Sinn‹.«36 Und viertens erinnert er avant la lettre an die Metaphysikproduk-tion der (späteren) Psychoanalyse: »Irrthum der imaginären Ursachen. – Vom Traume auszugehn: einer bestimmten Empfi ndung [...], wird nachträglich eine Ursache untergeschoben (oft ein ganzer kleiner Roman, in dem gera-de der Träumende die Hauptperson ist).«37 Das auf einen ›Ursachentrieb‹38

32 Nietzsches Umbesetzung ›Mythos statt Metaphysik‹ ist nicht weniger prekär (auch wenn man sie als listige Dekonstruktion der Metaphysik und als demonstratio ad occulos ihrer mythischen Gründe verstehen kann). 33 F. Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: Ders.,

Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV. Nachgelassene Schriften 1870–1873. Kritische Studienausgabe Bd. 1 [KSA 1], hg. v. G. Colli/ M. Montinari, München 1988, 873–890, hier 880.

34 F. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, in: Ders., Der Fall Wagner. Götzendämme-rung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner. Kritische Studienausgabe Bd. 6 [KSA 6], hg. v. G. Colli/ M. Montinari, München 1988, 93.

35 G. Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wie-derkehr, Berlin etc. 1984, 130: »Der Ursachebegriff entstammt einer psychologischen, subjektiven Überzeugung, die auf mangelnder Analyse der Vorgänge beruht. Der Mensch unterscheidet dabei zwischen sich als einem Täter, und dem, was er tut, dem Tun. Dieses Schema kommt dann überall zur Anwendung. Bei jedem Geschehen wird nach einem dahintersteckenden Täter gefahndet. Ist die Suche erfolgreich, so wird dies als die ›Erklärung‹ des Geschehens ausgegeben.« 36 Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, 92. 37 Ebd., 92 (kursiv in Orig. gesperrt). Vgl. ders., Nachgelassene Fragmente 1887–

1889. Frühjahr 1888. Kritische Studienausgabe Bd. 13 [KSA 13], 459: »In dem Phänome-nalismus der ›inneren Welt‹ kehren wir die Chronologie von Ursache und Wirkung um.« 38 Ders., Götzen-Dämmerung, KSA 6, 93: »Der Ursachen-Trieb ist also bedingt

und erregt durch das Furchtgefühl. Das ›Warum?‹ soll, wenn irgend möglich, nicht sowohl die Ursache um ihrer selber willen geben, als vielmehr eine Art von Ursache – eine beruhigende, befreiende, erleichternde Ursache.« (kursiv in Orig. gesperrt)

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zurückführen, bleibt fraglich und neigt seinerseits zu einer anthropologi-schen Metaphysik der Macht. Wissenssoziologisch ist dieser Mechanismus als eine Form der ›Ursprungs- und Handlungslogik‹39 zu begreifen: zu allem einen Ursprung und eine Ursache zu ›erfi nden‹, in der metonymisch das Spätere als das Frühere ausgegeben wird. Das ist naheliegend, aber sagt zu schnell zu viel zu generell.

9. Der imaginäre Antimetaphysiker als Asket und Heiliger

Der imaginäre Antimetaphysiker wird solch einen anthropologischen Trieb zur Metaphysik für das Erzübel halten. Eben den gelte es zu destruieren. Das erste Gebot des Antimetaphysikers wäre: Du sollst nicht begehren, vor allem nicht die Metaphysik. Denn das metaphysische Begehren sei ein böses Begehren, die concupiscentia oder voluptas oder luxuria und gula am Ort der Theologie. Dagegen ginge es in der Metaphysikvermeidung um ein Reinheitsgebot, wenn nicht gar um einen Exorzismus der me-taphysischen Besessenheit. Aber was kommt danach? Askese am Ort der Theologie, der Refl exion gar? Verzicht darauf, so begehrlich zu denken und zu sprechen? Nur – könnte das andernorts enden als im Schweigen des radikalen Negativisten? Wäre im Zeichen solcher Askese nicht zu er-warten, dass es einem erginge, wie den klügsten Mystikern: dass aus dem Schweigen die Plerophorie entspringt, das konvulsivische Sprechen vom Unsagbaren? Denn wer die metaphysische Drift des Denkens und Spre-chens vermeiden wollte, müsste nicht sprechen. Aber er ließe die Frage off en, wie nicht nicht sprechen?

Ein strikter Antimetaphysiker wird sagen: ›Metaphysische Sätze sind sinnlos‹. Das eigentlich besage ›metaphysisch‹: sinnlose Rede. Nur ist der Satz doppelt deutbar. Denn er kann vom Prädikat ›sinnlos‹ her verstan-den werden. Dann wäre besser zu sagen: Sinnlose Sätze sind metaphysisch. Damit würde nicht von einem (seltsam generellen, selber metaphysisch klingenden) Vorbegriff ›der Metaphysik‹ her argumentiert. Als gäbe es ei-nen festen Bestand von Metaphysik, und was unter den subsumierbar sei, sei eben sinnlos. Sondern ›metaphysisch‹ wird dann zur Folgebestimmung von ›sinnlos‹. Allerdings wäre dann der Ausdruck ›metaphysisch‹ entbehr-lich. Er wäre nur noch ein Synonym von ›sinnlos‹, und der Satz würde tautologisch. Dabei zeigt sich um so deutlicher die Perspektivität solch eines Urteils. Wer wann was für sinnlos hält und mit welchen Gründen, ist nicht selber generell zu bestimmen (das wäre sinnlos). Als hätte man mit dem mythischen Ereignis der kritischen Wende zur Neuzeit (sei es Descar-

39 Vgl. G. Dux, Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte, Frankfurt a.M. 1982.

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tes oder Kant) für alle Zeiten und alle Orte einen ›archimedischen Punkt‹, von dem aus vermessen werden könne, was sinnlos sei und was nicht.

Ein gut humanistischer Satz wie ›Weil der Mensch ein Vernunftwesen ist, strebt er von Natur aus nach Wissen‹ war beizeiten keineswegs der Metaphysik verdächtig. Aber er ist schwerlich ein Satz aus Erfahrung über einen Gegenstand möglicher Erfahrung. Sondern als (bestenfalls) norma-tiver Satz, ist er eine Setzung, die entweder leer und sinnlos erscheinen kann (als leere Behauptung, kontrafaktisch), oder eine Entgegensetzung, die sehr sinnvoll wirken kann (etwa als Entgegensetzung zum impliziten Leser neuer Studienordnungen). Sinnlos ist ein so unverdächtig klingendes Prädikat, dass es selber nicht metaphysikverdächtig erscheint – als wäre es ein analytisches Urteil, das aus der Struktur eines Satzes erhoben werden könne (und daher in ›allen möglichen Welten‹ gelten müsse?). In der Tat gibt es solch sinnlose Sätze, daher bezieht der Ausdruck ›sinnlos‹ seinen Sinn. Das zeigt sich, wenn gesagt würde ›Die Seele ist viereckig‹. Aber schon ein verwandter Satz wie ›Gott ist rund‹ zeigt, dass Sinnloses auch kalkuliert gesetzt werden kann und dann einen indirekten Sinn entfal-tet. Sinnlos ›für wen?‹ ist also die Frage. Dabei ist stets klärungsbedürftig, ob ›sinnlos‹ sich allein aus der Grammatik oder Semantik bestimmen lässt. Ein Satz ohne korrekte Grammatik oder mit sinnwidriger Semantik mag grammatisch oder semantisch sinnlos sein – aber darum noch nicht sinn-los in jeder möglichen Hinsicht. Die Poesie ist ja voll davon, die religiöse Rede auch, und die sprachlichen Konvulsionen Liebender oder Hassender nicht weniger. Es fehlt im analytischen Gebrauch des Prädikats ›sinnlos‹ ein ›Sinn für‹ etwa für rhetorische Wendungen (Oxymora, Paradoxa, kalkulier-te Absurditäten) oder für Performanz, ergo für das Nichtpropositionale in vermeintlich sinnlosen Sätzen.

Ist es nicht Grammatik oder Semantik allein, dann zählt pragmatisch erweitert die Erfahrung als Sinnkriterium. So verfährt die Destruktion des spekulativen Überschwangs im Namen der ›Erfahrung‹ und deren Gren-zen (wer immer die wie deklariert haben mag). Nur was Gegenstand von Erfahrung werden könne, könne Gegenstand kritischer Erkenntnis sein. Darüber hinaus sei nichts zu sagen, noch nicht einmal zu schweigen, weil das nur zu beredt sein kann. Was der Fall ist oder sein kann, wäre alles, was erkannt werden könnte. Die ostentative Konstitution eines Reichs der Unmöglichkeiten ist merklich und ein Deutungsmachtanspruch. Entspre-chend meinte Wittgenstein: »Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen läßt, also Sätze der Na-turwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat –, und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeu-

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tung gegeben hat.«40 Oder ähnlich: »Man kann oft zeigen, daß ein Satz metaphysisch gemeint ist, indem man fragt: ›Soll was Du behauptest eine Erfahrungstatsache sein? Kannst Du dir denken (vorstellen), daß es anders wäre?‹ − Willst Du sagen, Substanz sei noch nie zerstört worden, oder, es sei undenkbar, daß sie zerstört werde? Willst du sagen, daß die Erfahrung lehre, daß der Mensch immer das Angenehmere dem Unangenehmeren vorziehe?«41

Problematisch ist, dass mit dem Kriterium der Begründung in Erfahrung (bzw. Erfahrbarkeit) alle Sätze unsagbar erscheinen, die contra experientiam formuliert werden. Und das hat (nicht nur) für die religiöse Rede prekäre Folgen: Sind die biblischen Vorstellungen eines kommenden Reiches, eines neuen Himmels und einer neuen Erde dann allesamt ›erledigt‹? Eschato-logie wie Protologie werden dann unsäglich. – Oder sind sie umzudeuten: aus Erfahrung gegen die ›alltägliche‹ Erfahrung gerichtet? Nicht als Artikulati-onen eines ›Jenseits‹ der Erfahrung, sondern als die Erfahrung dessen, was der Fall ist, kritisch überschreitender Ausdruck dessen, was wir hoff en? Ob wir das auch dürfen, bleibt dann allerdings fragil und fraglich. Aber es wären Worte, die mehr und anderes zu sagen wagen, als was der Fall ist. Daraus lässt sich Mythos und Metaphysik machen, etwa mit apokalyptischem Ton; aber solch eine Übertreibung der gewagten Überschreitung ist weder nö-tig noch wünschenswert – und daher durchaus vermeidbar. Das Wagnis der das Faktische überschreitenden Rede allerdings sollte man nicht a limine unter Verdacht stellen, zumindest nicht ohne nähere Gründe.

10. Hermeneutische Verschiebung der Metaphysik

Der strikte Antimetaphysiker (ähnlich dem strikten Negativisten oder Antirealisten) – scheint eher einen Typus zu fi ngieren, der eine Einstel-lung und Haltung verkörpert, eine Disposition, oder eher eine dezidier-te Indisposition. Er hört die metaphysisch klingenden Worte wohl, allein er ist verstimmt: Er verweigert sich bestimmten Fragen und Problemen oder Wagnissen und Ansinnen. Er weigert sich, etwas über ›die Seele‹, ›den Menschen‹, ›die kommende Welt‹ oder ›Gott‹ zu sagen, weil er die entspre-chenden Fragen nicht akzeptiert. ›Was ist der Mensch?‹ oder ›Was ist die Seele?‹ sind ja auch in ihrer Generalität (des ›Was‹) bedrängend großspurig. Wer da vollmundig tradierte Antworten gäbe, würde meist wohl wieder-holen, was immer schon gesagt war, mehr nicht. Wem das nicht genug ist,

40 L. Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philoso-phicus, in: Ders., Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophi-sche Untersuchungen. Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a.M. 1989, 7–85, 6.53. 41 Ders., Philosophische Grammatik. Werkausgabe Bd. 4, Frankfurt a.M. 1989, 130.

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muss entweder schweigen oder nach eigenen Worten suchen. Aber warum sollte man sich auf diese Suche begeben, wenn solche Fragen doch den Verstand verhexen, und die Sprache gleich mit?

Wer hier (hoff entlich nicht ohne Zweifel und Skrupel) eigene Antwor-ten zu formulieren sucht, begibt sich bereits durch die Frage auf metaphy-sisches Terrain. Eine kleine Verschiebung verheißt hier Linderung: nicht ›Was ist der Mensch?‹ oder ›Was ist Gott?‹ zu fragen, sondern ›Wer ist der Mensch?‹ und ›Wer ist Gott?‹ Bei Seele oder Freiheit gelingt das nicht recht. Aber es ist wenigstens ein Wink in eine andere Richtung. Von den meta-physischen Was-Fragen lassen zu können durch die kleine Verschiebung zum Wer. Dann braucht die Antwort nicht Wesensbestimmung genereller Art zu geben, sondern ›nur‹ Antwort auf die Identitätsfrage: Wer ist dies und das? Dann braucht man nicht Generelles zu behaupten, sondern kann Konkretes näher bestimmen oder bezeugen.

Aber löst das den metaphysischen Druck? Es wird doch immer noch gefragt, wer ist der Mensch und wer ist Gott. Die Antwort kann bestimmter und begrenzter ausfallen, aber sie fällt nicht weniger schwer. Vermutlich fehlt noch eine weitere Verschiebung: Wer spricht – wann und wo und warum? So hat die hermeneutische Tradition die essentiellen Fragen rela-tiviert: rückbezogen auf den Sprecher, seinen Ort und seine Zeit. Kritiker sähen in dieser Relativierung gleich Relativismus; und Antimetaphysiker sähen darin immer noch Restmetaphysik. Die Wut auf die Hermeneutik kommt dann von beiden Seiten: Den einen geht sie zu weit, den anderen nicht weit genug. Sollte man sagen: ›Kritischer müssten die hermeneutisch-Kritischen sein‹?

Kritischer einmal gegenüber der Restmetaphysik in der hermeneuti-schen Tradition, und heiße sie nur ›Fundamentalontologie‹ oder ›Herme-neutische Ontologie‹. Denn die Prätention der Hermeneutik in Heideg-gers Tradition zielt bekanntlich noch bei Bultmann auf erstaunlich gene-relle Geltungsansprüche im Blick auf ›den Menschen‹ und ›das Dasein‹, sei es hamartiologisch bestimmt oder schöpfungstheologisch. Kritischer allerdings könnte man nicht werden, wenn man dogmatisch-kritisch wür-de mit einer Übertreibung der kritischen Tradition: Wer emphatisch die Subjektivitätstheorie bemüht, treibt Analoges, in transzendentaler Reduk-tion auf eine Metaphysik der Subjektivität.42 Fichtes Folgen zeigen das in wünschenswerter Deutlichkeit und deren gebildete Verehrer unter den Theologen erst recht.

Aber auf welche Weise sollte die Hermeneutik kritischer sein? Erstens indem sie historischer würde, also auf generell geltende ontologische Vo-

42 Vgl. entsprechend kritisch seitens der Lutherforschung: J. Wolff, Martin Luthers ›innerer Mensch‹, in: Luther-Jahrbuch, 75 (2008), 31–66.

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raussetzungen verzichtet und bei historischer Diff erenzierung verbleibt? Das ist ambivalent. Denn würde sie zur historischen Hermeneutik, läge es nahe, endlich und fi nal in Geschichtsschreibung überzugehen. Aber statt die allumfassende Wirkungsgeschichte als fi nale Lösung anzusehen, wäre die Historik der Hermeneutik ein Diff erenzierungsmedium, das gegen zuviel Universalanspruch und anthropologische Begründung helfen kann. –  Würde die Hermeneutik kritischer, indem sie zweitens ›rein beschrei-bend‹ bleibt und weder normativ noch erklärend wird? Wittgenstein und die Phänomenologie haben das versucht, wenn auch vergeblich: »Unsere Methode ist rein beschreibend; die Beschreibungen, die wir geben, sind nicht Andeutungen von Erklärungen«.43 Reine Beschreibung ist ähnlich naiv oder selbsttäuschend wie die ›reine Beobachtung‹, und sei sie von dritter Ordnung. Würde die Hermeneutik kritischer, indem sie sich drit-tens empirisch entwickelt und etwa sozialwissenschaftlich Religionsprakti-ken erhebt (›so leben die eben‹)? Oder viertens, indem sie analytisch wird und sich auf Propositionenanalyse de dicto beschränkt? Oder fünftens, in-dem sie diskursanalytisch wird und darin kritischer als die auf Einverständ-nis setzende Hermeneutik die Machtprozesse analysiert? Oder sechstens, indem sie auf Verstehen verzichtet und sich mit Supplementierungen in dekonstruktiver Geste verlegt?

Diese kritischen Überschreitungen der Hermeneutik sind durchgängig methodisch verfasste Distanzierungen dem Gegenstand gegenüber: In den genannten Perspektiven wird weder die Wahrheitsfrage de re aufgeworfen (Ist Gott rund?), noch auch Verstehen beansprucht (Was soll das bedeuten?), sondern es bleibt ›rein wissenschaftlich‹ bei Beschreibung und Analyse aus der jeweils gewählten Distanz heraus. Für Lehre, Forschung und Antrags-projekte ist solch eine Distanz erfolgversprechend. Aber – kann Theologie darauf verzichten, auch ›de re‹ und darin (vor- oder nachwissenschaftlich) ›de se‹ zu fragen und zu antworten? Kann sie es lassen, zu verstehen zu suchen, was geschrieben steht und das auf andere Weise verständlich zu machen (Sühnopfermetapher)? Besser nicht. Nur hat das zur Folge, dass auch die Verweigerung der metaphysischen Fragen und Probleme auf Dau-er nicht möglich und womöglich gar nicht wünschenswert wäre. Es wäre jedenfalls eine philosophische und theologische Diät, die auf Dauer in die refl exive und sprachliche Magersucht führen könnte. Oder nobler gesagt: Es wäre eine Askese gegen die metaphysische Dekadenz, mit der man sich selbst rein zu halten sucht und mit entsprechenden Reinheitsgeboten zu-viel beschneidet.

43 L. Wittgenstein, Eine Philosophische Betrachtung (Das braune Buch), in: Ders., Das Blaue Buch. Eine Philosophische Betrachtung (Das Braune Buch). Werkausgabe Bd. 5, Frankfurt a.M. 1991, 179 ln 36.

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Natürlich stehen jedem seine asketischen Übungen frei. Sie aber in die negative Regel zu fassen, solche Fragen seien grundsätzlich abzuweisen, also die eigene Indisposition zu generalisieren, wäre nicht nur selbstwider-sprüchlich. Es wäre auch sonderbar dogmatisch in seiner Antimetaphysik. Und dergleichen gehört ja zu den Irritationen jeder Nietzschelektüre, bei-spielsweise. Aber von Wittgenstein wie Nietzsche her könnte die Herme-neutik durchaus etwas kritischer werden, als sie von Heidegger und Gada-mer her gewohnt ist: sprachkritischer. Das Ereignis des Verstehens ist in Hei-deggers Tradition kataphatisch oder off enbarungstheoretisch aufgeladen: Verstehen als Lichtung führt in eine Emphase, die spekulativ wie sprachlich überschwänglich wird, mit den bekannten Folgen ›vom Ereignis zu raunen‹. Dagegen wäre eine apophatische Hermeneutik zurückhaltender. Das könn-te ein weiterführender Wink sein: Sprachkritischer müsste die hermeneutische Kritik sein, um nicht zu schnell ins metaphysische Sprechen überzugehen. Wer metaphysisch spricht, spricht stets auch de se (nicht nur de dicto, wie Wittgenstein meinte). Die Metabasis, solche Sätze de se als de re auszuge-ben, ist zwar gefährlich, aber nicht unmöglich (weder einfach möglich noch einfach unmöglich). Auch wenn ›wir‹ längst auf- und abgeklärt genug sein mögen, alle Sätze de re als Übertreibungen von Sätzen de se zu begreifen und letztlich auf Sätze de dicto zu reduzieren, ist solche Reduktion oder Diskretion von einer gewissen Mutlosigkeit oder Verweigerung eines Wag-nisses: mehr und anders zu sprechen, als nur de dicto. Das solch ein Mehr und Anders nicht reifi ziert und generalisiert werden sollte, versteht sich, hermeneutisch kritisch zumindest. Es bleibt ein Ansinnen und Anspruch an die Anderen – mit erheblichen Risiken und Nebenwirkungen.

11. Metaethische Verschiebung der Metaphysik

In der Sprachkritik liegt eine implizite Ethik des Sprechens, hier kritisch gewendet: des wie nicht nicht Sprechens. Denn das hermeneutisch ver-traute Vertrauen in die Sprache (als Form des Denkens, als Grundform der Vernunft, als Off enbarungs- und Evidenzmedium) ist abgründig. Dagegen richtet sich die Sprachkritik zu recht. Denn man läuft mit dem Sprachver-trauen Gefahr, sich gründlich zu täuschen, andere auch, etwa wenn man meint, das sakramentale Sprechen sei verbum effi cax. Hat das doch die übertriebene Nebenwirkung, dass fast alles Sprechen sakramentsverdächtig wird.44

44 Es ist einigermaßen seltsam, dass der Sprache (oder der Schrift) so weit vertraut wird. Bildern wurde in jüdisch-christlicher Tradition meist nicht derart vertraut. Hier meldet sich schnell die Bildkritik. Warum nicht auch im Blick auf Sprache und Schrift?

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Gegenläufi g ist das tiefe Misstrauen der Sprachkritik ( Mauthner, Nietz-sche und die Folgen) nicht weniger prekär. Denn ›wir‹ können nicht nicht sprechen angesichts bestimmter Herausforderungen und Ansprüche, all-täglich, ethisch wie religiös oder wissenschaftlich. Um es an einem Bei-spiel zu verdeutlichen: Ricœurs scharfsinnige Phänomenologie der Ver-gebung fi ndet die Antwort auf die Vergebungsbitte und -frage in einem zentralen Sprechakt: Der Täter werde von seiner Tat unterschieden (delier l’agent de son acte) und Vergebung zugesprochen (Tu vaux mieux que tes actes).45 Damit wird auf die Macht der Sprache vertraut, die spricht und es geschieht – kraft des Sprechens? Abgesehen vom theologischen Problem, dass damit eine Version ›exklusiver Stellvertretung‹ ebenso vorausgesetzt scheint wie ein ›homo capax‹, ist das Vertrauen in das Lösen, Entbinden, Erlösen durch einen Sprechakt ausgesprochen gewagt. Wenn man das nicht ein sprachmetaphysisches Grundvertrauen nennen will, bedarf es zumin-dest einer Erinnerung an die Grundlosigkeit (gratis) und Fallibilität solch eines Sprechakts. Wer vergibt, gibt etwas, das er nicht hat – also nicht aus der Vollmacht einer Habe, auch nicht aus der Macht der Sprache oder des ›homo capax‹. Nicht die Potenz der Sprache verbürgt die Vergebung, auch nicht der Vergebende. Es ist analog dem ›Zeugnis‹ bzw. der Zeugenschaft: deren Fallibilität, Impotenz und Täuschungsanfälligkeit macht gerade das Risiko und das Fragile eines Zeugnisses aus. Das ist bei einem Wort der Vergebung ebenso.

Weder das kantische Reinheitsgebot noch die antimetaphysische Askese sind durchzuhalten, wenn man in der Verantwortung steht, nicht nicht zu sprechen. Pfarrer wie Lehrer fi nden sich in dieser Verantwortung vor, die alttestamentlich in die Szene der Kinderfrage an die Eltern gefasst wur-de. Was auch immer dann geantwortet wird (etwa das kleine geschichtli-che Credo, voller Mythos und Metaphysik bekanntlich), entspringt nicht gleich einem spekulativen Überschwang oder einem Bedürfnis nach Be-ruhigung, sondern intentione recta einer Verantwortung, in der man sich vorfi ndet, wenn man unversehens von unabweisbaren Fragen in Anspruch genommen wird. Es geht, wie in der Frage nach Vergebung, um eine ethisch verfasste Herausforderung.46

Sprachkritischer müsste die hermeneutische Kritik sein, war der eine Satz. Ethisch und pädagogisch in Anspruch genommen werden muss sie ebenso wie die Metaphysik und ihre Kritik. ›In Anspruch genommen‹

Vgl. A. Wagner/V. Hörner/G. Geisthardt (Hg.), Gott im Wort – Gott im Bild. Bil-derlosigkeit als Bedingung des Monotheismus?, Neukirchen-Vluyn 2008.

45 Vgl. P. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004. 46 Auf die mit Beruhigung zu antworten, liegt nahe. Vgl. Ch. Jung, Die Sprache im

Werk Friedrich Nietzsches. Eine Studie zu ihrer Bedeutung für eine Theologie jenseits von Theologie, Tübingen 2013.

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heißt: herausgefordert und über sich heraus gefordert. Das scheint die Pointe der (wörtlich genommen ja widersinnigen) Ernennung der Ethik zur ›prima philosophia‹ zu sein. Kierkegaard gab bereits den Wink in diese Richtung, längst vor Levinas. Das tiefe Vertrauen in die Sprache (metaphy-sisch wie hermeneutisch) ebenso wie das tiefe Misstrauen ihr gegenüber (antimetaphysisch) wirken dann beide seltsam ›theoretisch‹ – und im Licht einer ›praktischen Erkenntnis‹ (wie sie Johannes Fischer fasste) oder eines pathischen Verhältnisses zum Anderen wirken beide abstrakt. Metaphysik und Antimetaphysik sind sich näher, als beiden genehm sein dürfte.

Alterität (als Anspruch des Anderen) ist sicher ebenso leicht metaphysik-produktiv wie Externität, Passivität, das Plusquamperfekt der Diachronie, das Futur II der Messianik oder Eschatologie und Utopie. Insofern stehen Philosophien der Alterität oder des Fremden auch in der Gefahr, zu me-taphysisch zu werden. Die Metaphysik der Alterität ist nicht per se unpro-blematischer als die der Subjektivität oder des Daseins. Aber falls Trans-zendentaltheoretiker oder strikte Antimetaphysiker die Arbeit an Fragen der Alterität, Fremdheit, Externität und Passivität mit so wohlfeilem wie gebildetem Spott würdigen, nehmen sie eine Unberührtheit von diesen Fragen in Anspruch, eine theoretische Distanz und Apathie, die zu teilen einem auch unmöglich erscheinen kann, wenn nicht unerträglich.

Metaphysik der Subjektivität wie im Neuidealismus wird ›saturiert‹, wenn er glaubt, diesen Fragen enthoben zu sein. Wie meinte Wittgenstein doch: »Ist nicht am Ende das vorstellende Subjekt bloßer Aberglaube«47. Aber zu glauben, mit einer Metaphysik der Alterität sei man diesen Aber-glauben mit Sicherheit los, ist nicht weniger heikel. Denn auch das Sub-jektivitätsproblem bleibt, und sei es nur als Frage und pièce de résistance etwa gegen naturalistische Reduktionen der 1. Person-Perspektive. Wenn dann eine Metaphysik des Dritten auftritt, die triadische Metaphysik, sei es Hegels, kritischer die Semiotik oder fi nal die maximal distanzierte Beob-achtung seitens der Systemtheorie, wird der Geltungsbereich immer weiter, die Distanz immer größer (als noch gedacht werden kann) und die Artiku-lation immer genereller. So hilfreich solche Metatheorien sein können, sie laufen Gefahr, die ethische Inanspruchnahme zu distanzieren und beob-achtend ›jedem das Seine zuzuteilen‹. In heuristischer oder kritischer und orientierender Funktion sind solche Distanzierungen gelegentlich erhel-

47 Wittgenstein, Tagebücher, 04.08.1916, 174. Vgl. ders., Logisch-Philosophische Abhandlung, 5.632: »Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt.«; vgl. ders., Logisch-Philosophische Abhandlung 5.633: »Wo in der Welt ist ein metaphysisches Subjekt zu merken?«; vgl. ders., Philosophische Bemerkungen, 86: »›Realismus‹, ›Idealismus‹, etc. sind schon von vornherein metaphysische Namen. D.h., sie deuten darauf hin, daß ihre Anhänger glauben, etwas Bestimmtes über das Wesen der Welt aussagen zu können.«

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lend und brauchbar, aber in ihrer theoretischen Selbstbezüglichkeit werden sie im indiff erenten Sinn metaphysisch.48

Nicht nicht sprechen zu können, aber im Sprechen doch mehr und ande-res zu sagen als ›rein kritisch‹ zu sagen wäre, ist eine Wurzel metaphysischer façon de parler. So zu sprechen, kann man in bestimmten Verantwortungen nicht lassen, aber darin liegt ein Wagnis, das nur zu leicht in Übertreibungen führt bis in den metaphysischen Überschwang. Der seltsame ›unbedingte Anspruch des Anderen‹ – sei es die Tora, der andere Mensch, Christus oder mancher unserer Wünsche gegenüber Gott – provoziert Artikulationen, die bei ihrer Perspektive und Pointe zu nehmen sind, bei ihrem Sitz im Leben, will man sie verstehen (und auch, wenn man sie kritisieren will, wird das nur möglich sein in dieser pointierten Weise). Von einer Externität, die nicht nur Funktion des eigenen Innen ist, von einer Alterität, die nicht nur Extra-polation des Selbst ist und von einer Passivität, die quer zur Korrelation von Aktivität und Passivität steht, lässt sich nicht nicht sprechen, wenn man von Verantwortung, Vertrauen, Vergebung oder gar Versöhnung sprechen will. Nur wie und warum könnte man, wenn man müsste?

Das Problem des Fremden ist einmal eine theoretische Meisterfrage der kantischen wie idealistischen Tradition, noch in der Phänomenolo-gie. Denn Fremderfahrung ist entweder unmöglich oder im Grunde nur Selbsterfahrung, in der nur eine Analogie gebildet wird. Dann geht es um die Möglichkeitsbedingungen einer Expansion der Selbsterfahrung. So gefasst, wird ein Problem der transzendentaltheoretischen Refl exionslo-gik bearbeitet – ein theorieinduziertes Problem also. Wenn hingegen eine Religionsphilosophie jüdischer Tradition die Frage nach dem ›Fremdling‹ aufnimmt, geht es um das, was Israel selber war, und daher, wie es mit den Fremden umgeht, verschärft in der Lage des 20. Jahrhunderts, auch ange-sichts der Verhältnisse in und um Israel, oder auch in Zeiten expansiver Migration und der gleichzeitigen Verschärfung der Diff erenz von eigen und fremd. Das ist keine nur theorieinduzierte Problemstellung, sondern ein ethisches, rechtliches und politisches Problem – auf das Theologie und Philosophie nicht nicht antworten können.

12. Pathische Verschiebung der Metaphysik

Wenn in der protestantischen Tradition die Frage des Fremden aufgegrif-fen wird, geht es nicht nur um ein metaphysisches oder kantisches oder phänomenologisches Problem – sondern um die Frage der Fremdheit in

48 Anders zu fi nden bei Th. Fuchs, Leib und Lebenswelt. Neue philosophisch-psychiatrische Essays, Zug 2008. Vgl. auch A. Nassehi/ G. Weber, Tod, Modernität und Gesellschaft. Entwurf einer Theorie der Todesverdrängung, Opladen 1989.

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Gott, im Selbstverhältnis des Menschen und in dessen Fremdverhältnissen. Gott so rein wie möglich als Liebe zu bestimmen, ist im Horizont der alltägli-chen ›Kämpfe ums Dasein‹ bereits eine Befremdung. Aber ist die Fremd-heit Gottes im Begriff der Liebe allein zu begreifen? Nicht nur Luther kann einen da zweifeln lassen. Dass Luther selber metaphysikanfällig wird in dieser Frage, ist bekannt. Nur sind einerseits die riskanten Andeutun-gen zum absconditus und sub contrario nicht spekulativ, sondern erfah-rungsgesättigt. Andererseits kann die Theologie hier nicht schweigen, auch wenn der Übergang von Erfahrungsartikulationen zu deren theologischer Bearbeitung als ›metabasis‹ erscheint, als würden aus praktischen plötzlich theoretische Erkenntnisse (i. S. J. Fischers). Die Diff erenz Ebelings gegen-über Jüngel scheint hier triftig: Ebeling widersteht einer Vereindeutigung des Gottesbegriff s, die die Diff erenzen der Erfahrungen (des Glaubens) zu überspringen Gefahr läuft. Würde daraus eine theoretische Behauptung der Ambivalenz in Gott (oder seiner Gerechtigkeit) und Ebeling derglei-chen vorgehalten, wäre die Pointe verfehlt.

In verwandter Weise wiederholt sich das Problem der Fremdheit im Selbstverhältnis, das wir sind. Den Menschen als Subjekt in möglichst reiner Unmittelbarkeit oder Refl exivität begriff ener Selbstdurchsichtigkeit zu verstehen, verkennt einiges, das dann im Verhältnis zu Fremden (Religi-onen, Kulturen, Staaten, Personen) übersehen wird: die Unzugänglichkeit und Undurchsichtigkeit, die nicht einfach irrational oder nur ordnungs-widrig ist. ›Gemischte Gefühle‹ sind ein Anzeichen für Unklarheiten und Undeutlichkeiten, die nicht nur provisorisch zu nennen sind. Daher greift eine Xenophobie ebenso zu kurz wie eine Xenophilie. Die Widerfahrung des Fremden – eine metaphysikanfällige Formulierung – benennt eine Si-tuation (am Ort der Theorie als ›Urimpression‹), in der die Bedingungen der Möglichkeit herausgefordert werden. Wer hier einen Menschen unter-stellen würde, der immer schon homo capax (infi niti) sei, hätte seinerseits mehr unterstellt, als apriorisch oder aposteriorisch erwiesen werden kann. Es ist daher eine kritischere, diskretere Voraussetzung, vom homo non ca-pax auszugehen, dessen Kapazitäten sich bestenfalls erst bilden angesichts der Widerfahrung des Fremden.

Ist eine Formulierung wie homo capax oder non capax nun rettungslos metaphysisch, so wie die von fi nitum capax oder non capax infi niti? Me-taphysisch ist so zu unterscheiden und zu generalisieren wohl schon, aber nicht rettungslos, auch nicht erfahrungs- oder haltlos. So zu sprechen sind Abkürzungen, Prägnanzen, die in metaphorischer oder metonymischer (abstractum pro concreto) Weise verdichten, was in Frage steht oder wo-von ausgegangen wird. Abstrahiert man von dieser Funktion und dekon-textualisiert man die Prägnanz, wird sie metaphysisch im schlechten Sinn. Beim Wort genommen würde sie mythisch oder metaphysisch vergesslich:

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Es würde ›nur noch de dicto‹ gestritten, und die Rückbindung de se wie das Erfahrungsproblem de re nicht mehr gesehen. Daher ist die (analy-tische) Konzentration auf Einzelsätze und de dicto-Analysen keineswegs ein infallibles Therapeutikum gegen (schlechte) Abstraktionen. Formen des Wissens wie Metapher, Mythos und Metaphysik, oder Wort, Bild und Zahl, sind stets pragmatisch und kulturell eingebettet. Die jeweilige Um-gangsform entscheidet daher über Sinn und Unsinn derselben, nicht die Form als solche. Deswegen griff e auch eine Kritik der Metaphysik zu kurz, die diese Form als Form zu destruieren, zu verwinden oder zu vergessen suchte. Der mehr oder weniger ›anständige‹ Umgang mit ihr ist das, was diese Form problematisch werden lässt − oder auch anspruchsvoll, wie die Traditionen von Kierkegaard oder Levinas zeigen.

Ein analoges Beispiel bilden die Formen und Figuren von ›Passivität‹ zu sprechen: Vom Ereignis zu sprechen oder vom Widerfahrnis, von der Gabe im Unterschied zum Tausch, von der Materialität oder der Natur, die wir sind, von der ›Nichtintentionalität‹ oder dem Zufallenden der Kontingenz oder von Pathos und Pathe zu sprechen, benennt mit diesen Pseudonymen der Passivität das ›je ne sais quoi‹, das dem Tun und Lassen vorausliegt. Solch eine Formulierung von quer stehender oder vorgängiger Passivität klingt schnell metaphysisch, als sie gegenüber den Korrelationen von Ak-tivität und Passivität einen Unterschied macht, der in eine ›Hinterwelt‹ zu führen Gefahr läuft. Was wir kennen, fühlen und erfahren, sind die gängi-gen Korrelationen, mehr oder weniger, dies oder das. Insofern ist Passivität noch eine schlichte Erfahrungsgegebenheit, kein Problem also. Nur ›mehr‹ oder ›anders‹ zu sagen, eine ›passsivere Passivität‹ oder eine ›reine‹ – sagt dem zuviel, der sich rein an die Erfahrungskorrelationen halten will. Und es sagt dem zuwenig, der von ›reiner‹ Passivität allein als Werk Gottes spre-chen will. Soll aber hier ein Verhältnis bestimmt und sagbar werden, ist Pas-sivität ein Aspekt und Sprachfeld, das das ermöglicht, indem es Zwischen-räume von Gottes Werk und menschlicher Erfahrung sagbar werden lässt. Wie jeweils von diesem Sprachfeld Gebrauch gemacht wird, ist allerdings entscheidend. Es kann auch in alte oder neue Hinterwelten führen. Ob die allerdings immer gleich obskur zu nennen sind – hängt auch an den Bedingungen, die diese oder jene Schatten werfen.

Weniger metaphysikaffi n als in den Traditionen der Passivität kann man mit Luther wie Levinas oder Bernhard Waldenfels dafür argumentieren, dass all unser Tun und Lassen ›responsorisch‹ sei, d.h. Antwort auf Vorgän-giges, das uns in Anspruch nimmt, oder zumindest nicht gleichgültig lässt, wenn und sofern wir uns dazu verhalten. Zu dem, was uns triff t, können wir uns nicht nicht verhalten oder nicht nicht antworten. In dem Sinne gibt es nicht nur ›große Fragen‹, sondern Ansprüche, Herausforderungen, Ereignisse und Widerfahrnisse, auf die wir nicht nicht antworten können.

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Darauf mit möglichst reiner Negativität, sprachlicher Askese zu antworten, würde der Regel folgen: ›Wie nicht sprechen‹? Die kritische Wendung dieser Sprachkritik indes lautet: Wie nicht nicht sprechen? Und derglei-chen wurde im Voranstehenden versucht. Damit wird phänomenologisch-hermeneutisch indirekt von dem gesprochen, was dem evozierten Spiel von Aktivität und Passivität oder Spontaneität und Rezeptivität vorausliegt. Für die Sozialphilosophie ist das relevant, wenn man den universalen Tausch (von Zeichen, Dingen, Gütern etc.) daraufhin befragen will, was ihn er-möglicht49 oder was von ihm zu unterscheiden ist. Was sich nicht tauschen lässt, ist eine alles folgende erst eröff nende Vorgabe (wie die Menschen-würde oder die Kreatürlichkeit), die uns schlechthin passiv zukommt, als Anspruch im doppelten Sinne. Das kann in eine pathische Verschiebung der Metaphysik führen.

13. Un-Phänomene: Entzugserscheinungen und andere Unmöglichkeiten

Was bliebe, auch wenn die ›überkommenen‹ Ansprüche und Methoden ›der Vorherigen‹ vergehen, waren die ominösen ›unabweisbaren Fragen‹, auf die die dogmatische Metaphysik zu vollmundig Antwort zu geben be-anspruchte: die Kantischen Grundfragen, aber nicht nur die. Solche Fragen bleiben – auch wenn sie uns belästigen und manch einer sie gerne los wäre. ›Es gibt‹ Probleme, Ansprüche, Widerfahrungen und Fragen – denen aus-zuweichen sprachlos machte oder auf Dauer nicht durchzuhalten ist. Wenn man dergleichen nicht (methodisch) exkludiert, ist nicht die Frage, ob man sie bearbeitet, sondern wie. Es sind nicht alle Mittel recht, um das Problem von Fremdheit, Externität, Alterität oder Gott, Gnade und Rechtfertigung zu bearbeiten.

Wer ohne sprachkritische Skrupel wiederholte, was die Alten gesagt hatten, bediente sich der ›Papageiensprache‹, wie Valéry sie aufspießte. Er bliebe in der Wiederholung des Gesagten. Dagegen sind kritische, sprach-kritische, hermeneutische und andere Einwände angebracht. Nur – wer diese Themen und Fragen als unmöglich ausschlösse, hätte ein um so drän-genderes Problem: nicht nur weite Bereiche religiöser Rede für abwegig zu erklären, sondern sich selber nicht mehr qualifi ziert zu deren Themen und Thesen äußern zu können.

Unterscheidet man zwischen ›gutartiger‹ und ›bösartiger‹ Metaphysik, bleibt das perspektivisch (eine Selektion, die eine Funktion des eigenen Standortes ist). Nicht die Metaphysik ›an und für sich‹ ist gut- oder bös-

49 Vgl. M. Godelier, Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte, Mün-chen 1999, 81ff , 113ff , 138ff .

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artig, sondern die jeweilige Verwendung oder Interpretation derselben bzw. die Art der Arbeit an deren Grundfragen kann sinnvoll oder sinnlos werden (auch diese Unterscheidung bleibt perspektivisch). Dabei ist auch Art und Umfang dieser Fragen und Probleme zur Disposition zu stellen. Dass sich ›metaphysische Grundfragen‹ zeitlos durch die Geschichte zö-gen, ist ebenso zweifelhaft wie die vermeintlich immer zu unterstellenden Triebe (Lust, Realität, Tod) oder die Existenzialien. Es gibt Fragen wie die nach der Korrespondenz von Erkenntnis und Gegenstand, die durch ein Abbildungsmodell von Erkenntnis entstanden sind – und damit auch wieder vergehen. Es gibt auch Probleme mit ›dem Bild‹ wie der Sprache, die einem ähnlichen Abbildungsmodell entstammen – und damit obso-let werden können. Es gibt auch Probleme mit ›der Schrift‹ und deren ›Inspiration‹, die sich erledigen, wenn man von der Vorstellung eines divi-nen Diktats ablässt. Nicht nur manche Bilder, auch manche Fragen kön-nen unnötigerweise den Verstand verhexen. Aber – sind die Fragen nach Fremdheit, Alterität, Externität, Passivität oder Gabe von dieser Art? Das ist nicht generell zu entscheiden, weder positiv noch negativ, sondern nur an der Art und Weise, wie und warum sie gestellt werden – und wer wie darauf Antwort zu geben sucht.

Sätze über Undinge (wie Seele, Gott, Freiheit), über Nicht-Dinge (wie Gerechtigkeit, Liebe oder das Subjekt) oder Dinge, die nie als solche Ge-genstand von Erfahrung werden können (wie Welt, der Andere oder das Reich Gottes) – sind solche Sätze prinzipiell verboten aus Gründen der Kritik? Sind sie ›im Namen der Vernunft‹, ›des Lebens‹, ›der Reinheit‹ oder ›des Sinns‹ verbietbar? Dass der Mensch eine Seele habe, dass Gott Liebe sei oder der Mensch Sünder? Solch seltsame Sätze sagen mehr als kritisch gesichert bewiesen werden kann. Sie sind also nicht aus gesättigter Erfah-rung hinreichend zu begründen, aber möglicherweise aus ungesättigter Er-fahrung, aus Hunger und Durst nach einem anderen Leben. Die theologi-sche Tradition kennt das als Sätze contra experientiam. Solche Sätze wagen, mehr und anderes zu sagen, als was der Fall ist, mehr als was man gesichert sagen kann, mehr als Konsens ist: abduktiv, traduktiv, potentiell auch kont-raproduktiv. Sie wagen dort etwas zu sagen, wo man nicht schweigen kann oder will. Dieses Mehr kann in der Eigendynamik der Refl exion gründen, in einer technischen Verselbständigung, es kann aber auch in Ansprüchen gründen, auf die nicht nicht geantwortet werden kann. Wer mehr sagt, als ›was der Fall ist‹ – sollte der schweigen? Wie kann er es wagen, nicht zu schweigen und dennoch zu sprechen: mehr zu sagen wagen, als was der Fall ist? Sprachverbote helfen wenig, genausowenig wie Denk-, Bilder- oder Vorstellungsverbote. Denn zum einen sind solche Verbote nicht durchsetz-bar. Es gibt glücklicherweise weder eine Sprach- noch eine Denk- oder Bildpolizei. Zum anderen sind Sprachverbote zumeist der vergebliche Ver-

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Philipp Stoellger180

such, die Regeln eines Sprachspiels gegen andere durchzusetzen oder zu generalisieren – eine Frage der Deutungsmacht.

Metaphysik ›trotz allem‹ also? Das Wo, Warum und Wie macht den Un-terschied. Nicht die metaphysischen Fragen per se sind das Problem, son-dern wie man mit ihnen umgeht und wie man Antwort zu geben versucht, wenn man sich ihnen nicht verweigern kann (oder will). Die eingangs er-wähnte Modalisierung aufnehmend, wäre eine brauchbare Moral von der metaphysischen Geschicht’, nicht direkt oder behauptend und beschrei-bend auf die alten Grundfragen zu antworten – sondern indirekt Antwort zu geben, sofern man nicht schweigen kann: indirekt auf den Umwegen der Narration, Metapher, Metonymie und ihren Verwandten. Denn damit würde man vermeiden, in allem mehr Sagen zuviel zu behaupten. Das ist die sprachkritische Pointe. Die ethische wäre, doch immerhin so zu spre-chen zu wagen, um nicht nur im wissenden Schweigen zu versinken oder in der neutralen Beobachtung oder der erhabenen Distanz des Destruk-teurs. Die hermeneutische wäre, die Metaphysik nicht den Metaphysikern zu überlassen. Dazu sind deren Sprache und Problemgeschichten viel zu spannend und zu wichtig. Die theologische Pointe wäre, weder in strikter Negativistik zu enden noch in neuer Emphase der Exzellenz, sondern sei es paradoxierend und tropisch, sei es indirekt und umwegig von dem nicht nicht zu sprechen, von dem man nicht schweigen kann.

PS: »Er versteckt etwas vor mir, kann es so verstecken, daß ich’s nicht nur nie fi nden werde, sondern daß Finden gar nicht denkbar ist. Das wäre ein metaphysisches Verstecken«,50 notierte Wittgenstein. Auch wenn Gott ge-legentlich verborgen wäre, er versteckt sich nicht – es sei denn, man wür-de sein Sichzeigen als zugängliches Verschleiern verstehen, sub contrario. ›Präsenz im Entzug‹ könnte man das nennen – und damit den metaphysi-schen Dual von Präsenz und Absenz so kreuzen, dass Gott nicht nur denk-bar würde, sondern indirekt auch sagbar und zeigbar. Denn Gott kann nicht nicht sprechen und sich nicht nicht zeigen. Sonst wäre er bloß ›supra nos‹. Und wenn schon Gott nicht nicht sprechen kann und sich nicht nicht zeigen – warum sollte es ›der Mensch‹ können oder gar wollen? Solch eine Unmöglichkeit, das zeitweise Verharren und Verweilen im Nichtspre-chen, in reiner Negativistik, kann kathartische Funktion haben und eine asketische Tugend des Denkens und Sprechens sein; aber auf Dauer ist das weder nötig noch wünschenswert. Denn es würde im Gegenzug die

50 L. Wittgenstein, Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie. Bd. 2, in: Ders., Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie. Letzte Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie. Werkausgabe Band 7, 217–339, II § 586.

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Plerophorie und Eminenz provozieren, mit der das metaphysische Spre-chen dann wiederkehrt. Doppelter Überschwang, im Negativen wie im Positiven, verkennt die prekäre Herausforderung der Indirektheit, des nicht nicht Sprechens.