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Grundfragen zum Umgang mit medernisiertem Schuldrecht- Wandel oder Umbruch Methodenverständnis? Göꜩ Schulze I. Einleitung . Buropechtliche Auswirkungen auf die Anwendung des BGB (RegE) 1. Richtlinienrecht a) Kryptoaphie b) Richtlinienkonforme Auslegung c) Vorlagepflicht an den EuGH 2. Vorbildrechte 3. Europäisches Primärrecht 4. Künſtige europäische Rhtsentwicklung 5. Europäisches Gemeinrecht der Methe l. Merkinaie des RegE, die ein methologisches Umdenken nahelegen 1. Defizitäres Recht 2. Sukturelle Änderungen Der Methodenkanon ist erschüttert 1. Der Methodenkanon a) Historische Auslegung b) Wortlaut c) Systematik ·d) Zweck 2. Ergänzende Auslegungsundsätze 3: Reihenfolge und Vorrang der Auslegungsformen 4. Vermehrung der Rechtsquellen a) Richterrecht b) Kompatistik c) Rechtsüberlieferung V Geändertes Methodenverständnis? 1. Thesen 2. Wiederkehr jistischer Rhetorik?

Grundfragen zum Umgang mit medernisier.tem Schuldrecht ... · das euphemistische Attribut "modern" Die Metliodenlehre muss sich gleich falls auf diese Entwicklungen einstellen. Ich

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Grundfragen zum Umgang mit medernisier.tem Schuldrecht- Wandel oder Umbruch im

Methodenverständnis?

Götz Schulze

I. Einleitung II. Buroparechtliche Auswirkungen auf die Anwendung des BGB (RegE)

1. Richtlinienrecht a) Kryptographie b) Richtlinienkonforme Auslegung c) Vorlagepflicht an den EuGH

2. Vorbildrechte 3. Europäisches Primärrecht 4. Künftige europäische Rechtsentwicklung 5. Europäisches Gemeinrecht der Methode

ill. Merkinaie des RegE, die ein methodologisches Umdenken nahelegen 1. Defizitäres Recht 2. Strukturelle Änderungen

IV Der Methodenkanon ist erschüttert 1. Der Methodenkanon

a) Historische Auslegung b) Wortlaut c) Systematik ·d) Zweck

2. Ergänzende Auslegungsgrundsätze 3: Reihenfolge und Vorrang der Auslegungsformen 4. Vermehrung der Rechtsquellen

a) Richterrecht b) Komparatistik c) Rechtsüberlieferung

V Geändertes Methodenverständnis? 1. Thesen 2. Wiederkehr juristischer Rhetorik?

168 Götz Schulze

I. Einleitung

Es ist ein Zeichen der Zeit wie auch der Schwäche des Gesetzgebers, wenn Gesetze ideologisierende oder selbstlobende1 Attribute im Titel tragen. Geht man davon aus, dass der Regierungsentwurf eines "Gesetz[es] zur Modernisie­rung des Schuldrechts" so oder in nachgebesserter Form2 verabschiedet wird, stellen sich - ganz gleich ob man die Reform für modern hält, sie begrüßt oder ablehnt - erhebliche praktische Probleme im Umgang mit diesem Gesetz. Es lassen sich Befundtatsachen aufweisen, die das bisherige deutsche Metlioden­verständnis mehr oder weniger stark beeinflussen werden. Die Ursache hierfür liegt zwar auch im Reformeifer der Justizministerin und der damit unausweich­lich verbundenen konzeptionellen Schwächen und Detailfehler des künftigen Gesetzes. Der eigentliche Grund aber liegt in der Entwurzelung der Rechts­quellen. Vorbild des Reformgesetzes für das Kauf- und das allgemeine Lei­stungsstörungsrecht ist in der Grundstruktur das UN-Kaufrecht (CISG)3 dem die "Principles of European Contract Law" der sog. Lando-Kommission (Euro­päische Vertragsrechtsprinzipien)4 ebenso folgen wie die ,,Principles of Interna­tional Commercial Contracts" (Unidroit-Prinzipien)5. Das Verjährungsrecht ori­entiert sich in wesentlichen Elementen an Grundregeln des Europäischen Ver­jährungsrechts der Lando-Kommission6. Im übrigen werden, wie sattsam be­kannt ist, verschiedene EG-Richtlinien umgesetzt sowie bereits bestehendes eu­ropäisches Sonderprivatrecht in das BGB integriert. Insbesondere dieser Inter­nationalisierung und Europäisierung der Materie verdankt der Gesetzesentwurf das euphemistische Attribut "modern" Die Metliodenlehre muss sich gleich­falls auf diese Entwicklungen einstellen. Ich möchte im Folgenden zunächst auf die europarechtlichen Auswirkungen für die Rechtsanwendung eingehen (II.). Sodann wende ich mich verschiedenen gesetzestechnischen Besonderheiten des Reformgesetzes zu (111.) und will nachfolgend den Metliodenkanon auf seinen Anspruch hin befragen, ein hinreichender systematischer Interpretationsmodus zu sein (IV.). Die Ausführungen münden in der These (V.), dass die Vielfalt

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V gl. jüngst: Gesetz zur Beendigung der Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaftsgesetz v. 16.2.2001, BGB1 2001 I 266. Der Bundesrat hat bereits zu rund 150 Einzelziffern Änderungsbedarf angemeldet, BRDrs. 338/01. Vgl. Pick, Zum Stand der Schuldrechtsmodemisierung, ZIP 2001, 1173, 1175; R. Schulze/Schulte·Nölke, Schuldrechtsreform und Gemeinschaftsrecht, in: dies., Die Schuldrechtsreform vor dem Hintergrund des Gemeinschaftsrechts, 2001, S. 3, 11. Die deutsche Übersetzung ist abgedruckt in: ZEuP 2000, 675 ff., zur Entstehungsgeschichte: Zimmermann, Die ,,Principles of European Contract Law" ZEuP 2000, 391 ff. Abgedruckt in: Schlechtriem, Kommentar zum UN-Kaufrecht, 3. Auf!. 2000, Anh. V Abgedruckt in: ZEuP 2001, 400 ff.; dazu Zimmermann, Grundregeln eines Europäischen Veljährungsrechts und die deutsche Reformdebatte, ZEuP 2001, 217 ff.

Grundfragen zum Umgang mit modernisiertem Schuldrecht 169

und Komplexität der künftig zu berücksichtigenden Interpretationsargumente sowie die "defizitäre" Gesetzeslage mit einem positivistischen Rechts- und Me­tliodenverständnis nicht zu bewältigen sind. Das prophezeite Chaos 7 zwingt zum Umdenken. Die Gewinnung (sach-)gerechter Ergebnisse wird mehr denn je als dialogischer und diskursiver Kommunikationsprozess verstanden. Von dort ist es nicht mehr weit anzuerkennen, dass jede rechtliche Entscheidung unvoll­kommen ist, dass jeder Entscheidung ein intentionaler Akt zugrunde liegt, den oder die Adressaten von der Richtigkeit des eigenen Ergebnisses zu überzeugen und schließlich drittens, dass es im wesentlichen die Akzeptanz im Adressaten­kreis ist, die den Richtigkeitswert der Entscheidung bestimmt. Es könnte daher auch eine dem angelsächsischen Verständnis ähnelnde Subjektivierung der Ent­scheidungspraxis folgen. Insgesamt bietet die wiederzuentdeckende Rechts­rhetorik geeignete Mittel, den metliodischen Anforderungen gerecht zu werden.

II. Europarechtliche Auswirkungen auf die Anwendung des BGB (RegE)

Die Verschränkungen zwischen nationalem und europäischem Privatrecht sind vielfältig. Es genügt, hier auf die für eine Interpretation des reformierten BGB bedeutsamen Aspekte hinzuweisen.

1. Richtlinienrecht

Im gesamten Bereich des transformierten Richtlinienrechts bleiben die Richtli­nien als "doppelter Boden" bestehen. Das ist zwar nicht neu, wird aber einer­seits durch die Verbrauchsgüterkauf- und Zahlungsverzugsrichtlinie auf Kern­materien wie das Kauf- und Leistungsstörungsrecht erweitert und andererseits -und das ist neu - durch die Integration in das BGB verdeckt.

a) Kryptographie

Die Kryptographie besteht zunächst darin, dass die transformierten Vorschriften als solche nicht gekennzeichnet sind8; ferner darin, dass Begriffe eine gespal­tene Bedeutung je nach ihrer Rechtsquelle haben können (etwa die Schriftform iSv § 126 BGB und "schriftlich" in § 675 a Abs. 1 S. 1 BGB in Umsetzung der Überweisungsrichtlinie). Weiter führt die Ausweitung von Richtlinienrecht auf andere autonome Materien dazu, dass sog. Hybridnormen (Dömer) entstehen,

7 Dauner-Lieb in SZ vom 18.5.2001: "Eine unnötige Reform, die nur Chaos erzeugt"

Staudinger schlägt daher zu Recht vor, Hinweise im Gesetz zumindest bei den

Titelüberschriften einzufügen, Form und Sprache in: R. Schulze/Schulte-Nölke, Die

Schuldrechtsreform vor dem Hintergrund des Gemeinschaftsrechts, 2001, S. 295, 309;

so allgemein auch E. A. Kramer, Konvergenz und Internationalisierung der juristischen

Methode, in: Meier-Schatz [Hrsg.], Die Zukunft des Rechts, Basel l 999, S. 71, 88.

170 Götz Schulze

d.h. Vorschriften, die je nach Anwendungszusammenhang unterschiedlichen Auslegungsregimen unterworfen sind. Augenfälliges Beispiel ist etwa der Be­griff des "Sachmangels" iSv § 434 RegE, der bei Verbrauchsgüterkaufverträgen nach Richtlinienrecht und im übrigen autonom auszulegen sein wird9 Dies mag unter dem Primat einheitlicher Gesetzesauslegung einen internen Harmonisie­rungsdruck (Gebauer) auslösen und zu einer autonomen Rechtsangleichung zu Gunsten des Richtlinienrechts führen10 Damit verbunden ist notgedrungen dann aber auch eine Angleichung der Auslegungsmethoden.

b) Richtlinienkonforme Auslegung

Bekanntlich unterliegen die nationalen Transformationsgesetze dem Gebot der richtlinienkonformen Auslegung. Hierbei ist jedoch nicht von der transformier­ten Vorschrift- wie dies regelmäßig geschieht- auf die Richtlinie zu blicken, sondern umgekehrt von der Richtlinie auf das nationale Recht. Die richtlinien­konforme Auslegung umfasst sämtliche Vorschriften, die in den Regelungsbe­reich der Richtlinie fallen, ganz gleich ob sie vor oder nach oder zur Umsetzung der Richtlinie erlassen wurden11 Der Blick geht also von Europa nach Deutsch­land, nicht umgekehrt. Um den Wirkungsbereich einer Richtlinie für das natio­nale Recht zu bestimmen, halte ich es daher für notwendig, die Richtlinien in einem Anhang dem Gesetz beizugeben.

Die richtlinienkonforme Auslegung bedeutet vereinfachend insbesondere eine Ausrichtung nach dem Wortlaut und Zweck der Richtlinienvorgabe12• Bei der Wortlautinterpretation ist grundsätzlich eine autonome gemeinschaftsrechtliche Begriffsbildung anzustreben13 Sämtliche heutigen 11 Amtssprachen14 sind aber verbindlich, so dass ein eindeutiger Wortlaut genauerer Prüfung bedarf und praktisch jedenfalls erst nach einem Vergleich mit den Arbeitssprachen festzu­stellen ist. Der Zweck der Richtlinie ergibt sich in erster Linie aus den Begrün­dungserwägungen der Präambel sowie aus der Ermächtigungsgrundlage zu ihrem Erlass15 Gesetzesmaterialien gibt es regelmäßig nicht. Die Zweckrich-

9 Dömer, Die Integration des Verbraucherrechts in das BGB, in: R. Schulze/Schulte­Nölke, Die Schuldrechtsreform vor dem Hintergrund des Gemeinschaftsrechts, 2001, S. 177, 182 ff.

10 Gebauer, Interne Harrnonisierung durch autonome Rechtsangleichung, in: Prinzipien des Privatrechts und Rechtsvereinheitlichung, Jhrb. Jg. Zivilrechtswissenschaftler 2000, 2001,S. 199, 206ff.

11 Vgl. Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in Deutschland und auf dem Kontinent, Bd. I, 2001, S. 42.

12 Vgl. Frisch, Die richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts, 2000.

13 Grundmann/Riesenhuber, Die Auslegung des Europäischen Privat- und Schuldvertragsrechts, JuS 2001, 529.

14 Mit der geplanten EU-Erweiterung auf bis zu 27 Mitgliedstaaten wären 21 Landessprachen verbindlich. Zu der notwendigen Reform vgl. Oppermann, Reform der EU-Sprachenregelung?, NJW 2001, 2663, 2667 ff.

15 Grundmann/Riesenhuber, a.a.O., JuS 2001, 529, 531; Basedow, Anforderungen an eine (Fortsetzung auf der nächsten Seite)

Grundfragen zum Umgang mit modernisiertem Schuldrecht 171

tung der Richtlinien liegt in der Verfolgung wirtschaftspolitischer Ziele (Ver­braucherschutz, Schutz der Handelsvertreter usf.) und dient letztlich der Ver­wirklichung der Grundfreiheiten im Binnenmarkt16 (etwa die Zahlungsverzugs­richtlinie zur Stabilisierung des Marktes und damit des Waren- und Dienstlei­stungsverkehrs). Richtlinienrecht ist damit politisches Recht. Es unterscheidet sich wesentlich vom more geometrico des bürgerlichen Vertragsrechts, das gemeinhin als zweckfreier Rahmen für private Planungen und Gestaltungen verstanden wird17 Die Auslegung wird überdies dadurch beeinflusst, dass häufig lediglich Mindeststandards gefordert werden, überschießende nationale Regelungen aber möglich bleiben18• Soll hier der überschießende Regelungsge­halt anderen Auslegungsgrundsätzen folgen als jener des Mindeststandards?

c) Vorlagepflicht an den EuGH

Das nationale Richtlinienrecht untersteht bekanntlich der Auslegungshoheit des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren (Art. 234 EGV). Seine Entscheidungen entfalten zwar keine formelle Bindungswirkung über den entschiedenen Fall hinaus. Jedoch muß erneut vorgelegt werden, wenn das mitgliedsstaatliche Gericht von dem Präjudiz abweichen wi1119 Das BVerfG wacht über die Einhal­tung der Vorlagepflichten und sichert den Anspruch auf den (europäischen) gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) 20 Die Präjudizienwirkung reicht damit erheblich weiter als die auch in Deutschland anerkannte faktische Bindung an höchstrichterliche Entscheidungen. Es besteht nur ein gradueller Unterschied zu angelsächsischen "binding precedents"21.

Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass im Vertrag von Nizza22 eine Reform der Gerichtsbarkeit beschlossen wurde und das EuG als Gericht 1. Instanz nun auch zu einem Rechtsmittelgericht avanciert. Es wird künftig ferner neben dem EuGH für Vorabentscheidungen nach Art. 234 EGV zuständig sein23 Mit einer weiteren Ausdehnung der Spruchpraxis und damit der Vorla­genbindung ist also zu rechnen24•

europäische Zivilrechtsdogrnatik, in: Zimmermann [Hrsg.], Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik, 1999, S. 79, 94.

16 Grundmann/Riesenhuber, aaO., JuS 2001,529, 531.

17 Basedow, aaO., S. 79, 95. 18 Hommelhoff, Die Rolle der nationalen Gerichte bei der Europäisierung des Privatrechts,

in: Canaris u.a. [Hrsg.], 50 Jahre Bundesgerichtshof Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. II, 2000, S. 889, 913 ff.

19 Geiger, EUV/EGV 3. Auf!., 2000, Art. 234 Rn. 33 mwN.

20 Es hat jüngst in der Facharzt-Entscheidung auch verlangt, eine Kollision von Richtlinienrecht nach europäischer Methode zu lösen, BVerfG v. 9.1.2001, EuZW 2001, 255 f.

21 Vgl. Grundmann/Riesenhuber, aaO., JuS 2001, 529, 534 f.

22 Abi. EG Nr. C 80; der Vertrag tritt am 30.4.2004 in Kraft.

23 Art. 225 Abs. 3 EGV n.F.; vgl. Jayme/Kohler, Europäisches Kollisionsrecht 2001; (Fortsetzung auf der nächsten Seite)

172 Götz Schulze

2. Vorbildrechte

Neben d�m bindenden Richtlinienrecht haben die Vorbilder der Reformgesetz­g�bung �me besondere Bedeutung für die künftige Interpretation. Soweit sie in die amtliche Gesetzesbegründung übernommen werden, gehören sie zur histori­schen Auslegung �nd erhalten auch die Dignität, bei Wortlaut, Systematik und Zweck argumentativ herangezogen zu werden. Insoweit dürften sie als autorita­tiv angesehen werden können25 Dies gilt vor allem für das UN-Kaufrecht das sowohl in sei�en technischen Grundstrukturen als auch in seinen rechtsp�liti­schen Entscheidungen denen des RegE gleicht26. Schiechtriern empfiehlt in der Kon�equenz bereits die einheitsrechtskonforme Auslegung der Verzugsvor­schriften des RegE27 Eine internationalisierende Sogwirkung ist denn auch gewollt. Ich zitiere die Justizministerin28:

"Sowohl d�e Ve.rbrauchsgüterkaufrichtlinie, die mit dem Entwurf umgesetzt werden soll, als auch die Lösungsansätze des Entwurfs zielen gerade darauf ab, das deutsche Lei­stungsstörungs- und Kaufrecht an das UN-Kaufrecht anzugleichen."

Fehlende einheitliche Auslegungsmethoden führen bekanntlich zu einer schlei­c?end

.en Re-Na�onalisierung vereinhei.�ichten Rechts. Folgerichtig verlangt

dtes eme methodische Annäherung und Offnung des Bezugsrahmens.

Fern�r werden in der.

Entwurfsbegründung rechtsvergleichend einbezogene Bestimmungen, etwa dte des für besonders fortschrittlich eingestuften nieder-

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Anerkennungsprinzip statt IPR, IPRax 2001, Heft 6. Die zeitliche Verzögerung durch Vorlagen innerhalb laufender Verfahren und die drohende Überlastung �es EuG und des EuGH haben bereits zu der Forderung geführt, das Vorl�geverfahren emzuschränken. Danach soll es eine Divergenzvorlage sowie eine Vorlage tn Grundsatzfragen geben, wobei allein die Ietztinstanzlichen Gerichte zur Vorl.age be�ugt sind . . Sollte. sich diese Auffassung durchsetzen, hätten sämtliche letztmstanzlichen Genchte dte Rechtspflicht, die höchstrichterlichen Entscheidungen der anderen Mitgliedstaaten auf eine Divergenzlage hin zu überprüfen. Vgl. Lipp, Europätsche Justizreform, NJW 2001, 2657, 266I f., ablehnend zu der bereits im Rahmen des Art. 68 EGV geltenden Einschränkung des Vorlagerechts: Basedow, Der Raum des R.echts ohne Justiz, ZEuP 200I, 437, 438 ff.; ein Ausweg könnte in den a�strakten. Divergenzvorlagen liegen, wie sie Art. 4 des Protokolls zum EuGVÜ vorsieht. D�e tiUssliche Verfahrensverzögerung liesse sich damit vermeiden; vgl. Jayme, Die Dtvergenzv?rlage nach Art. 4 des Protokolls zum EuGVÜ Ein Plädoyer für die Belebung emes vergessenen Rechtsinstituts, in: Erik Jayme Wiener Vorträge 200I S 24I ff.

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Zur Bedeutung von Vorbildrechten bei der Auslegung vgl. Grundmann/Riesenhuber aaO., JuS 2001,529,530.

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So in bezug auf den DiskE Schlechtriem, Der Einfluß des UN-Kaufrechts auf die Entwicklung des deutschen und internationalen Schuldrechts, IHR 200I, 12, I8. Schlechtrie"!, Ent.wicklung des deutschen Schuldrechts und europäische �ec�tsangletchung, m: Das neue Schuldrecht, Jhrb. J g. Zivilrechtswissenschaftler 200 I, m diesem Band S. 9 ff. Däubler·Gmelin, Die Entscheidung für die so genannte Große Lösung bei der Schuldrechtsreform, NJW 200I, 228I, 2287.

Grundfragen zum Umgang mit modernisiertem Schuldrecht 173

ländischen Bürgerlichen Gesetzbuches, als Vorbilder für einzelne Bestimmun­gen benannt29 Dies erfolgt regelmäßig durch Verweise ohne inhaltliche Ausein­andersetzung und Abgrenzung30• Der verweisende Charakter hat daher zur Folge, dass die fremden Normen Eingang in die Auslegung des künftigen Rechts finden werden. Gleiches gilt auch für die unverbindlichen Vertrags­rechtsentwürfe der Lando-Kommission, die Unidroit-Prinzipien. Soweit der Gesetzgeber sich zu diesen Rechtstexten in seiner Entwurfsbegründung be­kennt, werden sie im Auslegungsprozess berücksichtigt werden müssen. Para­digmatische Bedeutung könnte künftig auch das ,,Europäische Vertragsgesetz­buch" der Akademie Europäischer Privatrechtswissenschaftler in Pavia erlan­gen, das nun in einem Vorentwurf zugänglich ist31.

3. Europäisches Primärrecht

Die Vereinbarkeitsprüfung mit formell höherrangigem Recht ist für Zivilrechtier eine Selbstverständlichkeit geworden. Im europäischen Kontext bedeutet das zunächst die Überprüfung einer Richtlinie im Verhältnis zum Primärrecht32, womit über die Transformation auch das nationale Recht zur Überprüfung steht. Überdies ist das BGB insgesamt, hier insbesondere das Kauf-, Dienst- und Werkvertragsrecht an den Grundfreiheiten, namentlich der Warenverkehrs- und Dienstleistungsfreiheit zu messen (Art. 28, 39 u. 49 EGV). In der Rechtssache CMC Motorradcenter etwa prüft der EuGif33 auf Vorlage eines deutschen Amtsgerichts, ob eine sich aus der cic ergebende Aufklärungs­pflicht, hier die des Verkäufers über parallel importierte Motorräder, mit Art. 28 EGV vereinbar ist. Ausgehend von der sog. Dassonville-Formel stellt sich mit­hin die Frage nach einer Beeinträchtigung einer solchen Regelung für den lfan­del zwischen den Mitgliedstaaten, was vom EuGH im entschiedenen Falle ver­neint wird34 Die Auslegung nationalen Privatrechts kann damit auch an den Grundfreiheiten und dem System ihrer Beschränkbarkeiten ausgerichtet werden. Damit halten wirtschaftspolitische Zwecke des Binnenmarkts ebenso Einzug in den Telos der Interpretation nationaler Vorschriften wie überindividuelle staat­liche Interessen35

29 Bspw. Begründung RegE, BTDrs. I4/6040, S. II75 zu § 313 RegE. 30 Zutreffend: Wilhelm, Schuldrechtsreform 200I, JZ 2001, 861, 864.

31 Sonnenberger, Der Entwurf eines Europäischen Vertragsgesetzbuches der Akademie Europäischer Privatrechtswissenschaftler ein Meilenstein, RIW 200I, 609 ff.

32 Grundmann/Riesenhuber, aaO., JuS 200I, 529,532.

33 EuGH v. I3.IO.l993 - Rs. 93/92 (CMC Motorradcenter ./. Pelin Baskiciogullari), Slg. I993, 1-5009.

34 Langner, Nationales Kaufrecht auf dem Prüfstand der Warenverkehrsfreiheit des EG­Vertrages, RabelsZ 200 I, 222, 225 ff.

35 Etwa das Herkunftslandprinzip im Arblade-Fall (RIW I999, 137), dazu Jayme, Europa: Auf dem Weg zu einem interlokalen Kollisionsrecht, in: Mansei [Hrsg.],Wissenschaft, Lehre und Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts, im Erscheinen:

(Fortsetzung auf der nächsten Seite)

174 Götz Schulze

Ergänzend ein Hinweis auf die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Men­schenrechte. Timen wird zwar lediglich eine persuasive Autorität oder mit den Worten des BVerwG eine "normative Leitbildfunktion" zuerkannt. Dies bedeu­tet aber, dass ein Gericht, das von der Entscheidung abweichen will, die Argu­mentationslast dafür trägt, dass sein Standpunkt die besseren Gründe für sich hat36 Auch diese "besseren Gründe" lassen sich nicht mit dem klassischen Auslegungskanon bewältigen37

4. Künftige europäische Rechtsentwicklung

In der Literatur ist die Frage der Vorwirkung von EG-Richtlinien vor und wäh­rend der Umsetzungsfrist aufgeworfen worden. Aus der Loyalitätspflicht des Art. 10 EGV wird etwa eine legislatorische Stillhalteverpflichtung der Mitglied­staaten abgeleitet, wonach mit der Veröffentlichung von Richtlinienvorschlägen keine das Richtlinienziel beeinträchtigenden Maßnahmen mehr getroffen wer­den dürfen38. Auch wenn man eine Vorwirkung39 hier generell ablehnr40, so ist doch zu sehen, dass die europäischen Gesetzgebungsaktivitäten ungebremst das Zivilrecht in seiner ganzen Breite erfassen. Jüngst hat die Kommission die beteiligten Kreise bis zum 15.10.2001 zur Stellungnahme aufgefordert, auf welchem Wege das Europäische Vertragsrecht weiter harmonisiert werden soll41• Angeboten werden dabei neben der Fortsetzung des bisherigen "Flicken­teppich-Ansatzes" (d.i. die sektorielle Regelung von Einzelfragen), insbeson­dere die Schaffung von Einheitsrecht wie auch die Restatement-Lösung, d.h. Förderung unverbindlicher Vorbildnormen zur nationalen Übernahme. Die Mitteilung der Kommission entspringt dem Aktionsprogramms des Rates, be­schlossen auf dem Gipfel von Tampereim Oktober 1999, und soll bekanntlich die Harmonisierung des materiellen Zivilrechts vorantreiben. Im Europäischen Rat von Laeken (Brüssel) im Dezember 2001 ist mit entsprechenden Entschei­dungen zu rechnen42. Der historische Kodifikationsstreit zwischen Savigny und Thibaut wird also auf europäischer Ebene im Dienstwege binnen weniger Mo­nate entschieden. Die Überlebenschance für eine nationale Methodenlehre ist

"wissenschaftsferne aporetische Abwägungsmodelle"

36 Kadelbach Anm. zu BVerwG JZ 2000, 1050, 1053; Gundel, Die Krombach-Entscheidung des EGMR, NJW 2001, 2380,2382.

37 Vgl. Gross Anm. zu BGH v. 29.6.2000, JZ 2000, 1067 f. (Krombach).

38 Grabitz in: Grabitz/Hilf, EUV lEG V S!and 1998, Art. 189 Rz. 57.

39 Vgl. zur Frage der Vorwirkung von Gesetten: G. Schulze, Die zukunftsbezogene Auslegung des geltenden lnsolvenzrechts, NJW 1998, 2100 ff.

40 Ehricke, Vorwirkungen von EU-Richtlinien auf nationale Gesetzgebungsverfahren, ZIP 2001,1311,1312 ff.

41 Mitteilung der Koounission an den Rat und das Europäische Parlament zum Europäischen Vertragsrecht, KOM (2001) 398; abgedruckt: EuZW Sonderbeilage zu Heft 16 2001; dazu Staudenmayer, Die Mitteilung der Koounission zum Europäischen Vertragsrecht, EuZW 200 I, 485 ff.

42 Staudenmayer, aaO., EuZW 2001,485,486.

Grundfragen zum Umgang mit modernisiertem Schuldrecht 175

danach denkbar gering. Die Kommission gleicht hier eher einem Henkers­knecht, der am Abend vor der Hinrichtung nach dem Menüwunsch für die letzte Mahlzeit fragt.

5. Europäisches Gemeinrecht der Methode

Es verwundert kaum, dass vor diesem Hintergrund die Forderung nach einem europäischen Gemeinrecht der Methode erhoben wird. Berger-43 weist zu Recht darauf hin, dass es dabei nicht darauf ankommt, wie der fortschreitende Inte­grationsprozess von statten gehen wird. Er fordert die Anerkennung der Rechts­vergleichung als eigenständiges methodisches Instrument. Die rechtsverglei­chende Betrachtung sei zur Orientierung für eine auf Vereinheitlichung ange­legte Rechtsanwendung unverzichtbar. Vom bisherigen Ideenlieferanten soll sie künftig zu einem notwendigen Bestandteil auch für eine europäische Rechts­dogmatik werden44 Weil das aber praktisch nicht vollständig durchführbar und stets der Gefahr des Zufalligen ausgesetzt ist, soll einschränkend als neuer Topos die "international brauchbare Auslegung nationalen Rechts" treten. Damit ist ein Rekurs auf die Lando-Principles als Referenzordnung und Inspi­rationsquelle gemeint. Drittens und letztens wird ein europäisches Präjudizien­system gefordert, innerhalb dessen die höchstrichterliche Rechtsprechung aller Mitgliedsstaaten (!) als Rechtsquelle und nicht wie bislang lediglich als Recht­serkenntnisquelle anerkannt werden soll45 Grundlage hierfür ist die zu beo­bachtende Annäherung von civil und common law46 auf der Grundlage eines

"shared value" der Mitgliedstaaten. Katja Langenbucher hat 1999 an gleicher Stelle" Vorüberlegungen zu einer Europarechtlichen Methodenlehre" angestellt. Sie geht von einem fortbestehenden Dualismus von nationaler und europäischer Methodik aus und möchte letztere stärker konturieren. Sie behandelt insbeson­dere den Analogieschluss, für den sie einen erweiterten Ansatz unter Einbezie­hung von Prinzipien vorschlägt47 Darauf kann ich hier nicht näher eingehen.

43 Berger, Auf dem Weg zu einem europäischen Gemeinrecht der Methode, ZEuP 2001, 4,

7; Möllers geht dagegen von einem fortbestehenden Dualismus nationaler und europarechtlicher Methodik aus, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration, 1999, S. 55 ff., 60 ff.; ebenso Langenbucher, Vorüberlegungen zu einer Europarechtlichen Methodenlehre, in: Tradition und Fortschritt, Jhrb. Jg. Zivilrechtswissenschaftler 1999, 2000, S. 65, 75 ff.

44 Basedow, aaO., S. 79, 96; Berger, aaO., S. 10; ablehnend: Grundmann/Riesenhuber, aaO., JuS 2001, 529, 533, die der Rechtsvergleichung lediglich Inspiration- und Kontrollfunktion sowie Argumentationsfunktionen in der Begründungen zuweisen; so bereits Großfeld, Vom Beitrag der Rechtsvergleichung zum deutschen Recht, AcP 184 (1984) 289, 295.

45 Berger, aaO., S. 25 (horizontaler Verbund der Mitgliedstaaten); einschränkend als bloßes Hilfsmittel Grundmann/Riesenhuber, aaO., JuS 2001, 529, 534.

46 Vogenauer hat nachgewiesen, dass es eine Einheit der Interpretationspraxis diesseits und jenseits des Kanals gibt, aaO., Bd. ll, 2001, S. 1295 ff.; vgl. Möllers, aaO., S. 67 f.

47 Langenbucher, aaO., S. 65, 75 ff.

176 Götz Schulze

111. Merkmale des RegE, die ein methodologisches Umdenken nahelegen

1. Defizitäres Recht

Die Liste der gesetzgebensehen Versäumnisse und Mängel ist lang. Wir haben in den Tagungsreferaten weitere Beispiele bekommen48. Die Fehler beginnen mit den einfach behebbaren, wie etwa den Schreib- und Inhaltsfehlern der neu eingeführten amtlichen Überschriften49 und setzen sich auf der gesamten Breite des Projekts fort5° Kennzeichnend sind die Stellungnahmen und Analysen von Dauner-Lieb51 Altmeppen52 und Ernst!Gsell53 Dagegen stehen insbesondere die Erwiderungen von Canaris54 Das ist Ihnen bekannt.

Es kommt mir nun nicht darauf an, die Vielzahl von Ungereimtheiten, Lücken und Widersprüchen zu Gunsten oder zu Lasten der anstehenden Reform zu bewerten. Es ist nicht zu verkennen, dass die Neuregelung in vielen Fragen einen Fortschritt bedeutet55 und dass die Integration europäischen Privatrechts in eine nationale Rechtsordnung ohne Brüche kaum zu leisten ist. Ferner ist zu sehen, dass ,,Disharmonien und schlechtes Recht" bereits die europäischen Vorgaben kennze1chnen56. Es bleibt die Frage, was man für verantwortbar hält; welches Ausmaß an "Chaos" man erwartet und glaubt, der Rechtspraxis und dem Bürger zumuten zu können. Das wird unterschiedlich beurteilt57 Eines aber läßt sich prognostizieren. Der Umgang mit defizitärem Recht bleibt nicht mehr die seltene Ausnahme, sondern wird zum Normalfall werden und damit auch die künftige Rechtspraxis kennzeichnen. Man darf auf die Antworten der

48 Vgl. etwa Arzt, Neues Verbraucherkreditrecht im BGB und Gsell, Der Schadensersatz statt der Leistung nach dem neuen Schuldrecht, in: Das neue Schuldrecht, Jhrb. Jg. Zivilrechtswissenschaftler 2001, in diesem Band S. 227 ff. und S. 105 ff.

49 Rüjner, Amtliche Überschriften filr das BGB, ZRP 2001, 12 ff. 50 Vgl. etwa Gaier zur Minderungsberechnung (§§ 437 Nr. 2, 441 RegE): "in jeder

Hinsicht verfehlt" Die Minderungsberechnung im Schuldrechtsmodemisierungsgesetz, ZRP 2001, 336, 339 f.

51 Insgesamt abrufbar über www.dauner-lieb.de. 52 Etwa Altmeppen, Untaugliche Regeln zum Vertrauensschaden und Erfllllungsinteresse

im Schuldrechtsmodemisierungsentwurf, DB 2001, 1399 ff. 53 Vgl. Ernst/Gsell, Kritisches zum Stand der Schuldrechtsmodemisierung, ZlP 2001,

1389 ff.; sowie ferner Gsell, aaO. 54 Exemplarisch Canaris, Die Reform des Rechts der Leistungsstörung, JZ 2001, 499 ff;

ders., Schadensersatz wegen Pflichtverletzung, anfängliche Unmöglichkeit und Aufwendungsersatz im Entwurf des Schuldrechtsmodemisierungsgesetzes, DB 2001, 1815 ff.; ders., Das allgemeine Leistungsstörungsrecht im Schuldrechtsmodernisierungs­gesetz, ZRP 2001, 329 ff.

55 Heldrich, Ein zeitgemässes Gesicht filr unser Schuldrecht, NJW 2001,2521 ff. 56 Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration, 1999, S. 13 ff. 57 Mit schroffer Ablehnung etwa Knütel, Zur Schuldrechtsreform, NJW 2001, 2519 ff.;

zustimmend dagegen Heldrich, aaO., NJW 2001, 2521 ff.; filr die sog. kleine (Übergangs-) Lösung zuletzt Wilhelm, aaO., JZ 2001, 861 ff.

Grundfragen zum Umgang mit modernisiertem Schuldrecht 177

ersten Exegeten, vorwiegend von Heinrichs im angekündigten ,,Ergänzungs­band" zum Palandt 2002, gespannt sein. Praxis und Gerichte stehen vor neuen Aufgaben.

2. Strukturelle Änderungen

Besonders gewichtig erscheinen mir im Entwurf strukturelle Änderungen in der Abfassung zahlreicher neuer Gesetzesformulierungen. Das betrifft zum einen die ausufernde Vermehrung unbestimmter Rechtsbegriffe. Denken sie bei­spielsweise an die Einrede des Schuldners zur praktischen Unmöglichkeit der

Leistungserbringung (§ 275 Abs. 2 RegE58) oder die Entbehrlichkeit der Mah­nung beim Schuldnerverzug (§ 286 Abs. 2 Nr. 4 RegE59). Solche Vorschriften eröffnen ein hohes Maß an Interpretationsspielraum und sind überdies so sehr dem Einzelfall zugewandt, dass sie kaum brauchbare Verallgemeinerungen zulassen.

Eine weitere strukturelle Besonderheit sehe ich in der nicht unmittelbar sub­sumtionsfähigen, lediglich strukturellen Regelung der culpa in contrahendo (§§ 311 Abs. 2, 3, 241 Abs. 2 RegE) und des Wegfalls der Geschäftsgrundlage (§ 313 RegE). Es handelt sich hier um kodifiziertes Richterrecht, das aber im Unterschied etwa zur Kodifizierung des AGBG, nur ein interpretationsleitendes Argumentationsschema vorgibt. Die Einbeziehung Dritter im Sinne einer Ex­pertenhaftung (§ 311 Abs. 3 RegE) etwa ist von konturenloser Weite60 Die Beschreibung von Nebenpflichten in§ 241 Abs. 2 RegE aus der "Verpflichtung zu besonderer Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des ande­ren Teils" verkürzt die Nebenpflichten auf Rücksichtspflichten und bleibt nichtssagend. Die Regelung der cic- der vagabundierende Irrwisch (Lieb)61 -muss nach wie vor als Merkposten verstanden werden, um die richterrechtliche Rechtsfigur in der Kodifikation zu verankern62. Zur Merkzettel-Gesetzgebung

58 "(2) Der Schuldner kann die Leistung verweigern, soweit und solange diese einen Aufwand erfordert, der unter Beachtung des Inhalts des Schuldverhältnisses und der Gebote von Treu und Glauben in einem groben Missverhältnis zu dem Leistungsinteresse des Gläubigers steht. [ ... ] Bei der Bestimmung der dem Schuldner zurnutbaren Anstrengungen ist auch zu berücksichtigen, ob der Schuldner das Leistungshindernis zu vertreten hat."

59 "(2) Der Mahnung bedarf es nicht, wenn [ ... ] 4. Aus besonderen Gründen unter Abwägung der beiderseitigen Interessen der sofortige Eintritt des Verzuges gerechtfertigt ist. "

60 Remien, Nationale Schuldrechtsmodernisierung und gemeineuropäisches Privatrecht, in: R. Schulze/Schulte-Nölke, Die Schuldrechtsreform vor dem Hintergrund des Gemeinschaftsrechts, 2001, S. 101, 105.

61 Lieb, Grundfragen der Schuldrechtsreform, AcP 1983 (183) 327, 333.

62 Der RegE hat insoweit allerdings die Kritik zu § 305 DisleE aufgenommen: Dauner/Lieb, Kodifikation von Richterrecht, in: Zimmermann, Knütel, Meinelee [Hrsg.], Zivilrechtswissenschaft und Schuldrechtsreform, 2001,305, 316 ff.; R. Schulze/Schulte­Nölke, aaO., S. 3, 18.

178 Götz Schulze

(Dauner-Lieb) zählt auch die Regelung der WGG (§ 313 RegE). Als Kodifika­tion eines Lehrbuchzitats hat die Regelung Blankettcharakter; sie dient im we­sentlichen der Absegnung von Richterrecht63 Die Justizministerin betont, dass die Regelungen auf der Entwicklung der Rechtsprechung aufbauen, ohne ihr Grenzen setzen zu wollen64. In ihrem auf den jeweiligen Stand der Rechtspre­chung verweisenden Charakter lassen sich solche Regelungen auch als "narra­tive Normen" (Jayme65) bezeichnen.

Die Quintessenz dieser Entwicklung liegt in einer gesetzlichen Ermächtigung und Förderung von Richterrecht durch nicht subsumierbare Strukturnormen. An die Stelle eines exegetischen Gesetzesverständnisses tritt ein Argumentations­schema. Das muss kein Nachteil sein, ist aber eine Tatsache.

IV Der Methodenkanon ist erschüttert

Mit Hilfe der klassischen Methodik allein ist der Gesetzentwurf zur Modernisie­rung des Schuldrechts nicht zu bewältigen. Ich will das nur an wenigen Punkten zeigen.

1. Der klassische Methodenkanon

a) Historische Auslegung

Die subjektiv historische Auslegung verfügt nurmehr über eine geschwächte Autorität. Die Materialien sind zusammengestückelte Bausteine aus dem Ent­stehungsprozeß. Sie sind unvollständig und der Fachöffentlichkeit zum Teil vorenthalten. Dies gilt insbesondere für das Verjährungsrecht, bei dem selbst die Ausschussmitglieder nicht sicher wissen, welche Erwägungen den im 2 Wochentakt vorgenommenen Änderungen zugrundeliegen66• Die Ausblendung subjektiv historischer Auslegung liegt jedoch im europäischen Trend. Auch den

63 Dauner/Lieb, aaO., S. 305, 321 ff. 64 Däubler-Gmelin, aaO., NJW 2001, 2281, 2284; A. Teichmann weist zu Recht auf die

dennoch veränderte Struktur hin, Strukturveränderungen im Recht der Leistungsstörun­gen nach dem Regierungsentwurf eines Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes, BB 2001, 1485, 1486.

65 Vgl. aus dem Bereich des internationalen Privatrechts: Jayme, Narrative Normen im internationalen Privat- und Verfahrensrecht, 1993; zu dieser Normkategorie: G. Schulze, Bedürfnis und Leistungsflihigkeit im internationalen Unterhaltsrecht Zur Bedeutung des Art. 11 Abs. 2 HUSTA (Art. 18 Abs. Vll EGBGB) als narrativer Norm, 1998, S. 301 ff.

66 Einen deutlichen Einblick davon geben Zimmermann, Leenen, Mansel, Ernst, Finis Litium?, JZ 2001, 684, 698 f.; Wilhelm spricht von paraphrasierenden Rechtfertigungen ohne historische, rechtsvergleichende oder ökonomische Analysen, JZ 200 I, 861, 863 f.

Grundfragen zum Umgang mit modernisiertem Schuldrecht 179

Richtlinien sind regelmäßig keine autoritativen Materialien beigegeben. Dort wo sie existieren, bleiben sie lückenhaft. Selbst die Rechtsprechung distanziert sich bisweilen von den Gesetzmaterialien selbstbewußt Zitat BGH67.

"Unzutreffende Wertungen in Gesetzesmaterialien sind von vornherein ungeeignet, ein­deutige Auslegungsergebnisse in Frage zu stellen."

Als "Willen des Gesetzgebers" kann man -abgesehen von der ontologischen Überhöhung dieses Begriffes - im Grunde nur noch den erkennen, wiederge­wählt zu werden.

b) Wortlaut

Der Wortlaut beruht einerseits auf Übersetzungen, zum Teil aus Neukreationen (Etwa: Pflichtverletzung, § 280 Abs. 1 RegE, Montageanleitung, § 434 Abs. 2 RegE, Neubeginn statt Unterbrechung der Verjährung usf.). Die genetischen Grundlagen liegen in europäischen Richtlinien oder internationalem Einheits­recht (vgl.o. Il.l.a).

c) Systematik

Die systematische Auslegung trifft auf systemfremde oder mindestens fragliche Implantate, wie etwa die des AGBG in das allgemeine Schuldrecht (§§ 305-310 RegE)68. Ferner ist etwa an § 241a BGB (die Lieferung unbestellter Waren) zu erinnern, mit dem ein systemfremder Strafzweck in unangepasster Form (dauer­haftes Auseinanderfallen von Eigentum und Besitz) der zentralen Eingangsbe­stimmung des Schuldrechts nachgestellt wird69 Peinlichkeiten wie das 30-tägige Verzugsmoratorium zugunsten des säumigen Schuldners (§ 284 Abs. 3 BGB) durch das "Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlungen" vom 30.3.200070 sind zwar behoben71 in ähnlicher Form aber auch künftig zu ge­wärtigen72.

67 BGH v. 19.5.1998, BGHZ 139, 36, 42 (zur Börsenterminflihigkeit nach §53 Abs. 2 BörsG); ähnlich auch OLG München v. 25.1.2001, NJW 2001, 2263, 2264 zum Begriff des "dauerhaften Datenträgers" iSv § 2 Abs. 3 FernAbsG.

68 Zu den systematischen Brüchen und der Integrationsfrage: Ulmer, Das AGB-Gesetz ein eigenständiges Kodifikationswerk, JZ 2001, 491, 495 ff.; krit auch M. Wolf, Th. Pfei.ffer, Der richtige Standort des AGB-Rechts innerhalb des BGB, ZRP 2001, 303 ff.

69 Vgl. krit. Casper, Die Zusendung unbestellter Waren, ZIP 2000, 1602 ff.

70 BGBI I 330; Gsell, Das neue Zahlungsverzugsrecht, NotBZ 2000, 178, 183 f.

71 § 284 Abs. 3 RegE, Begründung RegE, BTDrs. 14/6040, S. 146 f.

72 Vgl. etwa die Minderungsregelung in § 441 RegE: Gaier, Die Minderungsberechnung im Schuldrechtsmodernisierungsgesetz, ZRP 2001, 336; Wilhelm, aaO., JZ 2001, 861, 868.

180 Götz Schulze

d) Zweck

Was die Interpretation nach dem Gesetzeszweck anbelangt, gewinnen "außer­rechtliche" Argumente soziologischer oder ökonomischer Art eine neue, über die Ausrichtung am Binnenmarkt eine hervorgehobene Bedeutung. Solche "außerrechtlichen" Umstände wurden bisher mit ontologisch objektivierten Begründungen, wie etwa die der "Natur der Sache" verdeckt73 Nun gelangen sie zur Anerkennung. Die ökonomische Bewertung einer Rechtsfrage ist Be­standteil des Rechtsfolgenarguments, das seinerseits seine historische Grund­lage im argurnenturn ad absurdurn74 hat ("wo käme man hin"). Wie wir seit Eidenrnüller"5 wissen, ist die ökonomische Effizienz zwar kein zwingendes Rechtsprinzip, welches jedes Gericht seiner Entscheidung zugrundelegen müsste, jedoch hat es als Argument einen festen Platz in der Methodik. Dies vor allem dann, wenn der Gesetzgeber deren Berücksichtigung anordnet, was selbst wiederum eine Auslegungsfrage darstellt. Nun ist das europäische Privatrecht ein instrumentales Recht zur Verwirklichung des Binnenmarktes. Damit dürfte eine ökonomische Folgenbetrachtung, unter näherer Spezifizierung im einzel­nen, durchweg als angeordnet gelten 76

2. Ergänzende Auslegungsgrundsätze

Neben richtlinienkonformer Interpretation hat sich zur Vermeidung von Wer­tungswidersprochen innerhalb eines rechtlichen Systems sowohl im nationalen als auch im europäischen Kontext das sog. Kohärenzgebot entwickelt. Es ähnelt dem bekannten Grundsatz von der ,,Einheit der Rechtsordnung"77 Dieser Topos setzt ein widerspruchsfreies Normgefüge in einem geschlossenen System vor­aus. Das Kohärenzgebot geht in seinem Ansatz darüber hinaus und verlangt einen Vergleich von Wertungsmodellen auch aus unterschiedlichen Rechts­quellen 78 Es erweitert so den Bezugsrahmen zum europäischen Privatrecht.

3. Reihenfolge und Vorrangregeln der Auslegungsformen

Die canones sind keineswegs ungeeignet. Sie bieten jedoch nicht die Gewähr dafür, ein überzeugendes Ergebnis zustandezubringen. Analogieschluss, erwei-

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74

75 76

77 78

E. A. Kramer, aaO., in: Meier-Schatz [Hrsg.], Die Zukunft des Rechts, Basel 1999, S. 71, 79; Bucher, Rechtsilberlieferung und heutiges Recht, ZEuP 2000, 394, 406 f.; vgl. in anderem Zusammenhang auch Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 5. Auf!. , 1997, S. 447. Wacke, Zur Folgenberilcksichtigung bei der Entscheidungsfindung, besonders mittels Deductio ad absurdum, in: Gerkens, Peter, Trenk-Hinterberger, Vigneron [Hrsg.], Melanges Fritz Sturm, 1999, Vol. I, S. 546 ff. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 2. Aufl., 1998, 451 ff. Ebenso unter Hinweis auf Art. 2-4 u. 95 EGV Grundmann/Riesenhuber, aaO., JuS 2001, 529,532 f., die hier etwa auf die Gebrauchsgilterkaufrichtlinie hinweisen. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. , 1983, S. 13 ff. Vgl. Bracker, Kohärenz undjuristische Interpretation, 2000, S. 14 f.

Grundfragen zum Umgang mit modernisiertem Schuldrecht 181

temde und reduzierende Auslegung gewährleisten die Rückbindung an Gesetz

�der �äj�diz. Die Lückenlosigkeit der Gesetzgebung ist aber eine realitätswid­nge Fiktion (Bucher)79 Der Glaube daran ist verloren. Vor allem ist das Rangverhältnis der einzelnen Auslegungsmethoden, als die entscheidende Metaregel für das Zusammenspiel der Methoden, weitgehend ungeklärt. Die �ersuche un� Ansätze in der Literatur sind erklärtermaßen punktuellso Werden Sie exemplansch dargelegt, wie etwa von Canaris, so bleibt ihr heuristischer Wert zweifelhaft. Die Richtigkeit des Ergebnisses folgt hier aus der überzeu­genden Argumentation und Abwägung und leitet aus dem Ergebnis die Vor­rangreg�l �b81 Damit bleibt offen, ob sie auf andere Fälle übertragbar ist. An­ders lediglich, wenn etwa der Vorrang verfassungskonformer oder richtlinien­k

.onform�r gegenüber herkömmlicher Auslegung festgestellt wird82. Das ergibt

st.ch bereits a�s dem R�gverhä

.ltni� der Rechtsquelle und hilft daher im Ergeb­

ms selten weiter. Ich will damtt mcht gegen mögliche Rangregeln der Ausle­gungsmeth?den und ihre Herausbildung plädieren. Es geht nur darum, solche Regeln,

.wie etwa d�n Vorrang des eindeutigen Wortlauts gegenüber dem

z.weck emer Norm, mcht als zwingende zu begreifen, sondern hierin eigenstän­

d.�ge Argumente zu sehen, die im Rahmen der rechtlichen Analyse ihren unver­

�ckbaren Platz haben, aber bei entsprechend begründeter Auseinandersetzung uberwunden werden können. So wird deshalb auch allenthalben konzediert dass die Auslegungsargumente ohne feste Vorrangregeln nach der Methode de� beweglichen Systems nach Zahl und Gewicht zu bewerten sind83

4. Vermehrung der Rechtsquellen

Der Abschied vom Gesetzespositivismus steht am Horizont europäischer Rechtsvereinheitlichung.

a) Anerkennung von Richterrecht

Die Anerkennung von richterlicher Rechtsfortbildung ist umstritten. Als �echtsquelle wird

.sie für das e�ropäische Privatrecht aus hiesiger Sicht bislang

mcht anerkannt. Die Grenze bleibe der mögliche Wortsinn, der nach einer Mei­nung gar nicht84 nach anderer nur im Wege der Analogie bei festgestellt plan-

79 80 81

82

83 84

Bucher, Rechtsüberlieferung und heutiges Recht, ZEuP 2000, 394,421. Grundmann/Riesenhuber, aaO., JuS 2001,529,534 mwN. Canaris, Das Rangverhältnis der .,klassischen Auslegungskriterien, demonstriert an Standardproblemen aus dem Zivilrecht, in: Beuthien u.a. [Hrsg.], FS fllr Dieter Medicus: Zum 70. Geburtstag, S. 25, 39, 50 ff. Canaris, aaO., S. 25, 52 (verfassungskonforme Auslegung); Grundmann/Riesenhuber aaO., JuS 2001, 529, 534 (richtlinienkonforme Auslegung).

'

Grundmann/Riesenhuber, aaO. , JuS 2001,529,534 mwN. Vgl. etwa Rü.ffler, Richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts ÖJZ 1997 121 126 mwN.

' ' '

182 Götz Schulze

widriger Lücke überschritten werden da.rf85. Diese Auffassung kann sich auf die Gewaltenteilung und die positivistische Gesetzesbindung stützen. Thre Schwä­che liegt aber im Festhalten am Gedanken der umfassenden, jeden

. Einzelfall

regelnden Kodifikation. Eine solche fehlt überdies für den europäischen Be­reich.

Für eine Anerkennung von Richterrecht spricht die allenthalben festgestellte Annäherung hin zu Richterrecht im kontinentalen Rechtskreis und hin zu Ge­setzesrecht im angloamerikanischen Rechtskreis86. Auch ist die gleiche wissen­schaftliche Qualität beider methodischer Ansätze anzuerkennen87 Hinzu kommt die Feststellung, dass die erforderliche Einbeziehung von Europarecht und Rechtsvergleichung die Bedeutung der einzelnen positiven Rechtsakte schwächt und die außerpositiven Sachstrukturen wie etwa ökonomische Argumente stärkt88 Ferner zeigt die Praxis bei der Konkretisierung von unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln, dass die Rechtsprechung sich indukti� an Präzedenzfallen entwickelt89 Es wird daher als ein Gebot der Methodenehrlich­keit betrachtet, die gesteigerte Relevanz von Präjudizien in Annäherung an angelsächsisches Recht auch methodisch anzuerkennen. Ohly hat jüngst vorge­schlagen, eine eingeschränkte Präjudizienbindung dahin anzunehmen, dass sowohl eine Fflicht zur Analyse von einschlägigen Präjudizien besteht90 und auch eine Vermutung zugunsten des Präjudizes streitet91.

b) Komparatistik

Die Rechtsvergleichung ist als zulässige Argumentationsform allgemein aner­kannt und wird an Bedeutung erheblich gewinnen. Die Forderung, sie von einer Rechtserkenntnis- zur echten Rechtsquelle zu erheben und damit zwingend zu berücksichtigen, ist vereinzelt geblieben und erscheint praktisch unmöglich (vgl. o. li. 5.).

c) Rechtsüberlieferung

Eugen Bucher hat kürzlich als weitere verbindliche Rechtsquelle die Rechts-

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87 88 89 90

91

Grundmann/Riesenhuber, aaO., JuS 2001, 529, 535; ebenso Möllers, aaO., S. 73 f. (für die richtlinienkonforme Auslegung). E. A. Kramer, aaO., in: Meier-Schatz [Hrsg.], Die Zukunft des Rechts, Basel 1999, S. 71, 72; Heldrich, 50 Jahre Rechtsprechung des BGH Auf dem Weg zu einem Präjudizienrecht?, ZRP 2000, S. 497, 500. Vogenauer, aaO., Bd. ß, 2001, S. 1297 f. Basedow, aaO., S. 79, 100. Ohly, Generalklausel und Richterrecht, AcP 2001 (201) 1, 2. So schon Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung: entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 2. Aufl., 1976, 243 ff.; Möllers, aaO., S. 70; weitergehend für eine Präjudizienbindung Langenbucher, Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, 1996, S. 120. Ohly, aaO., AcP 2001 (201) 1, 37 ff.

Grundfragen zum Umgang mit modernisiertem Schuldrecht 183

überlieferung postuliert92 und sich hierbei auf Art. 1 Abs. 3 schwZGB93 ge­stützt. Die Rechtsvergleichung soll demnach auch in der historischen Tiefendi­mension stattfinden und so verloren gegangenes Wissen bewahren. Es ist hier nicht der Raum, diesem anspruchsvollen Gedanken nachzugehen. Die Überlie­ferung iS Buchers erweitert den Interpretationsrahmen jedenfalls immens. Als verbindliche Rechtsquelle erscheint das - auch bei subsidiärer Geltung histori­scher Rechtsquellen94 - nicht realisierbar. Eine Rechtserkenntnisquelle bleibt historisches Recht allemal.

V Geändertes methodisches Verständnis

Die juristische Methodenlehre möchte justizielle Gerechtigkeit gewährleisten; das unsichtbar Gerechte nachweisbar, überprüfbar und damit sichtbar machen. So verstanden ist sie eine Handlungsanweisung für die von Fall zu Fall erfor­derliche Erarbeitung eines (sach-)gerechten Ergebnisses. Ob das Ergebnis dabei - nach überkommener Vorstellung - gefunden oder - nach vordringender Meinung - erzeugt wird, hängt von der metaphysischen Vorstellung von der Gerechtigkeit selbst ab. Wer sie ontologisch versachlicht, kann sie finden, wer sie epistemisch als Postulat (Idee) versteht, der muß sie erzeugen. Die Metho­denlehre ist insoweit auch eine Selbstbeschreibung der gegenwärtigen Rechts­wissenschaft. Wie jede Selbstbeschreibung gibt sie aber nicht wieder, was "da ist", sondern konstruiert, was ihren Annahmen entspricht95 Die rechtstheoreti­sche Grundannahme des kodifkatorischen Positivismus ist im Wanken. Der methodische Anspruch auf das eine, logisch deduzierte und damit richtige Er­gebnis, nicht aufrechtzuerhalten. Nun sind solche Feststellungen keinesfalls neu. Die Methodenlehre hat ein Vielzahl kritischer Ansätze hervorgebracht96, auf die ich hier nicht näher eingehen kann. Die Vielzahl und Komplexität der künftig zu berücksichtigenden Faktoren im Interpretationsprozess zwingt jeden­falls zum Überdenken des methodischen Ansatzes.

Ich komme zum Schluß.

92 Bucher, Rechtsüberlieferung und heutiges Recht, ZEuP 2000, 394 ff.

93 ,,Das Gericht folgt dabei [bei der Anwendung des Rechts] bewährter Lehre und Überlieferung"

94 So die Forderung Buchers, aaO., 394, 455 ff., 459 ff.

95 Luhmann, Ich sehe was, was du nicht siehst, Soziologische Aufklärung (1993) Heft 5, S. 32.

96 Vgl. A. Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung Eine rationale Analyse, 1999, s. 65 ff.

184 Götz Schulze

1. Thesen

( 1) Jede rechtliche Analyse bleibt unvollständig

Mit der Europäisierung und Internationalisierung des BGB kann der Anspruch auf Vollständigkeit der Quellenauswertung künftig nicht mehr eingelöst we�­den97 Dies gilt trotz der Verfügbarkeit vielfältiger Informationen über dte neuen Medien98 und erstreckt sich auf die Auswertung von Präjudizien wie auch auf rechtsvergleichende oder historische Analysen. Herkules99 wäre not­wendig. Thn gibt es nicht. Jede rechtliche Fallanalyse bleibt unvollständig. Dies zu erkennen und offenzulegen erscheint mir wichtig.

(2) Jeder rechtlichen Analyse liegt ein intentionaler Akt zugrunde

Es sollte anerkannt werden, dass hinter jeder Entscheidung eine persönliche Meinung und ein intentionaler Akt steht. Jede gerichtliche, gutachterliehe oder wissenschaftliche Entscheidung ist auf ein "Überzeugen wollen" des Adressa­ten (-kreises) gerichtet. Zu ihm gehören nicht nur die juristischen Fachkollegen, sondern auch alle anderen beteiligten Kreise. Der kartesianische Gerichtstil des EuGHHlO bei dem Urteile überwiegend als zwingende naturwissenschaftliche Schlußfolgerungen erscheinen, sollte einem personalisierten Urteilsstil angel­sächsischer Provenienz weichen. Auch deutsche Gerichte sollten umdenken.

(3) Die Ergebnisse müssen überzeugen

Der Konsens im Kreis der Entscheidungsträger ist eine notwendige aber keine hinreichende Bedingung für die Richtigkeit eines rechtlichen Ergebnis�es. Der Maßstab für die Richtigkeit des Ergebnisses ist zusätzlich stets dessen Überzeu­gungskraft und Akzeptanz durch die Adressaten.

2. Wiederkehr juristischer Rhetorik?

Die juristische Rhetorik ist ins Abseits geraten. Jan Sehröder hat sie jüngst

97

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100

Basedow, aaO., S. 79, 98; Berger, aaO., S. 25; Behrens, Voraussetzungen und Grenzen

der Rechtsfortbildung, RabelsZ 50 (1986) 19, 27.

Sehr zu begrüßen ist das Projekt der Gesellschaft fUr Europäisches Schuldvertragsrecht

Society of European Contract Law (SECOLA), Grundmann/Hirsch, SECOLA: Erste

Diskussions- und Informationsplattform fUr das Recht des Binnenmarkthandels, NJW

2001,2687 f. (http://www.secola.de). . . Dworkin, Laws Empire, 1986, S. 63 (Der bereuleisehe Richter als Autor e1�es

Kettenrornans); dazu Bittner, Recht als interpretative Praxis Zu Ronald Dworkins

allgemeiner Theorie des Rechts, 1988, S. 40 ff. . Vgl. Everling, Zur Begründung der Urteile des Gerichtshofs der Europäischen

Gemeinschaften, EuR 1994, 127 ff.

Grundfragen zum Umgang mit modernisiertem Schuldrecht 185

historisch betrachtet und als Vorläufer und früheren Bestandteil juristischer Hermeneutik erkannt, ihr aber heute keine eigenständige Bedeutung mehr zu­gemessen101 Andere, wie etwa Kopperschmidt, sprechen von neuer Rhetorik als juristischer Argumentationstheorie102. Gast103 und Haft104 haben Lehrbücher zur juristischen Rhetorik vorgelegt. Auch die Philosophie entdeckt die Rhetorik als umfassende Anthropologie wieder105

Nach den Grundannahmen juristischer Rhetorik sind die zahlreichen, nebenein­ander stehenden methodischen Ansätze je für sich Argumente in der Diskussion im Rechtssetzungs- und im Rechtsgewinnungsprozess. Die rhetorische Vorge­hensweise ist nicht beliebig. Sie ist eine methodenbewusste Sprachverwen­dung106 die den Vorgang des Überzeugens in einem kommunikativen Prozess darstellen will. Die Rhetorik stellt auf den Konsens, das Einverständnis der Sachkundigen ab. Der Rhetor ist Anwalt, Richter oder - wie wir - wissen­schaftlich tätige Autoren, die ihre Rechtsthesen zur "herrschenden Meinung" aufgewertet wissen wollen und hierzu den widerspruchsfreien Anschluss su­chen107 Die Rhetorik ist die versuchte Methodisierung des Umgangs mit prakti­scher Ungewissheit unter Bedingungen des gesellschaftlichen Kooperations­zwanges108

Jedes rechtliche Ergebnis läßt sich seinerseits nach rhetorischen Grundlagen analysieren und damit die intentionalen Beweggründe der Entscheidung auf­decken109 Die Parameter hierfür sind Pathos (sprachliche Stilmittel), Ethos (Haltung, Wertvorstellung und Bezugsgrößen des Redners/Autors) sowie Logos

· (sachbezogene Argumente, logische Begründungen) sowie die verwendeten Sprachfiguren und die subjektiven Relevanzkriterien im Aufbau der Argumen­tation. Damit können auch die irrationalen Momente jeder rechtlichen Entschei­dung aufgedeckt werden tto

101 J. Schröder, Rhetorik und juristische Hermeneutik in der frühen Neuzeit, in: Helmholz u.a. [Hrsg.] Grundlagen des Rechts, FS flir Peter Landau, 2000, 677,695 f.

102 Kopperschmidt, Neue Rhetorik als Argurnentationstheorie, in: Vetter [Hrsg.], Wieder­kehr der Rhetorik, 1999, 93 ff.; Ballweg, Rechtswissenschaft und Jurisprudenz, 1970, 116 f.: Rechtsdogmatik als Meinungsgefllge zur Herstellung von Entscheidbarkeit.

103 Gast, Juristische Rhetorik, Auslegung, Begründung, Subsumtion, 3. Aufl., 1997. 104 Haft, Juristische Rhetorik, 3. Aufl., 1985.

105 Rhetorische Anthropologie Studien zum Homo rhetoricus, Kopperschmidt [Hrsg.] 2000; Perelman, Das Reich der Rhetorik Rhetorik und Argumentation, 1980.

106 Ueding/Steinbrink, Grundriss der Rhetorik, 3. Aufl., 1994, S. 186.

107 Vgl. Gast, Juristische Rhetorik und Rechtserkenntnis, in: Rhetorik 1996, Bd. 15: Juristische Rhetorik, S. 145, 154 f.

108 Kopperschmidt, aaO., S. 99. 109 Sobota, Argumente und stilistische Überzeugungsmittel in Entscheidungen des

Bundesverfassungsgerichts, in: Rhetorik 1996, Bd. 15: Juristische Rhetorik, S. 115 ff.

110 A. Kaufmann, aaO., S. 97 anerkennt die irrationalen Aspekte im Verfahren der (Fortsetzung auf der nächsten Seite)

186 Götz Schulze

Theodor Viehweg hat die Topik als einen Bestandteil der juristischen Rhetorik in der Methodenlehre zwar etabliert111 Sein topisches Argumentieren wurde aber als unzulässige Relativierung des Gesetzes zurückgewiesen112 und als ziellose ,,Rundum-Erörterung" für wertlos gehalten113• Die neueren Diskurs­theorien haben sich distanziert114 im Ergebnis aber kaum brauchbare Metarege­lungen für den Diskurs hervorgebracht115 Die amerikanischen Law and Litera­ture-Lebren (Dworkin, Posner, White)116 sehen in dem- im prozedural dialogi­schen Diskurs angelegten - horizontalen Druck des besseren Arguments, re­spektive der am besten passenden und überzeugenden Geschichte ("fit"), die Richtigkeitsgewähr für das Ergebnis117 Das ist plausibel, geht aber ebenso wie die ideale Sprechsituation nach Habermas an den praktischen Gegebenheiten rechtlicher Arbeit vorbei. Es bleibt letztlich eine metaphysisch totalitäre Kon­zeption, wenn Proponenten und Opponenten in einem zwanglosen, aber gere­gelten Wettbewerb ohne Handlungs- und Erfahrungsdruck in hypothetischer Einstellung mit Gründen und nur mit Gründen prüfen, ob der Anspruch des Proponenten zu Recht besteht118•

Konvergenz und Internationalisierung der juristischen Methode, Einsicht in die Individualität, Intentionalität und Unvollkommenheit jeder Interpretation. Nach meiner Überzeugung stehen die Chancen für die juristische Rhetorik nicht schlecht, zum Gemeinrecht europäischer Rechtsanwendung zu werden.

Rechtsgewinnung, zieht daraus aber keine Schlussfolgerungen für die Methodik.

111 Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Auf!. , 1974.

112 Etwa Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1981, S. 245; Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 1981, S. 47.

113 Larenz, Methodenlehre, 6. Auf!. 1991, S. 146 f. 114 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 3. Auf!., 1996, S. 39, 43; s.a. die

strukturierende Methodenlehre nach F. Müller , Juristische Methodik, 4. Auf!. 1990, S. 94 ff.

115 A. Kaufmann, aaO., S. 98 f. sieht dies ebenso und fordert zu ihrer Ausarbeitung auf. Maßstäbe hierfür sind für Kaufmann in Anlehnung an das Differenzprinzip J. Rawls der "negative Utilitarismus" und der "kategorischen Imperativs der Toleranz"

116 Vgl. Posner, l..aw and Literature, 1988, S. 3 ff. 117 Vgl. G. Schulze, aaO., S. 310 ff. , 314. 118 Habermas, Faktizität und Geltung, Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des

demokratischen Rechtsstaats, 5. Auf!. 1997, S. 279 f.; dagegen: A. Kaufmann, aaO., S. 97: "Die Hauptverhandlung ist kein herrschaftsfreier Dialog"

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ISBN 3·415·02954-9

Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler

Das neue Schuldrecht

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