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Prof. Dr. Helga Baum Grundkurs Analysis Skript zur Vorlesung Analysis I* und II* im Studienjahr 2006/2007 26. Oktober 2009

Grundkurs Analysis

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Page 1: Grundkurs Analysis

Prof. Dr. Helga Baum

Grundkurs Analysis

Skript zur Vorlesung Analysis I* und II*

im Studienjahr 2006/2007

26. Oktober 2009

Page 2: Grundkurs Analysis
Page 3: Grundkurs Analysis

Vorwort

Dieses Skript dient als begleitendes Lehrmaterial fur meinen Grundkurs Ana-lysis fur die Studienanfanger des Wintersemesters 2006/07. Es soll Ihnen nichtden Gang in die Bibliothek ersetzen. Gehen Sie bei Gelegenheit dort hin undblattern Sie in den vielen dort stehenden Lehrbuchern zum Grundkurs Analy-sis. Sie werden dann selbst feststellen, welches dieser Bucher Ihnen am bestengefallt und Ihnen am meisten hilft. Dieses Skript enthalt den Stoff des Grund-kurses Analysis, so wie ich ihn in den nachsten vier Semestern lesen werde undsoll Ihnen die Nacharbeit der Vorlesung erleichtern. Es soll Sie auf keinen Falldavon abhalten, wahrend der Vorlesung mitzuschreiben. Erfahrungsgemaß istdas Mitschreiben einer Vorlesung (auch dann, wenn man ab einer bestimmtenStelle nicht mehr alles oder nichts mehr versteht) etwas, das vielen von Ihnenam Anfang schwer fallt. Es ist aber eine Fahigkeit, die Sie fur Ihr Studiumbenotigen und lernen mussen.Mathematik lernt man nur, wenn man sich selbst mit ihr beschaftigt. Es reichtalso nicht, sich in die Vorlesung zu setzen. Die wenigsten von Ihnen werdennach den 90 Minuten rausgehen und alles verstanden haben. Das ist vollig nor-mal. Arbeiten Sie die Vorlesung zu Hause an Hand Ihrer Mitschriften nachund versuchen Sie, die nicht verstandenen Stellen zu klaren. Wenn Ihnen dasallein nicht gelingt, nutzen Sie die Ubung und die Sprechstunden dazu. Densicheren Umgang mit dem gelernten Stoff erwerben Sie nur durch das Losender Ubungsaufgaben, die Sie jede Woche bekommen. Die Aufgaben sind nichtnur ein Selbsttest oder ein lastiges Ubel, um den Ubungsschein zu bekommen– sie sind das entscheidende Mittel, mit dem Sie zunehmend Routine im Um-gang mit Mathematik bekommen.

Mochte man verstehen, “was in der Welt vorgeht” und dies genauer analy-sieren, so stellt man schnell fest, daß man dazu die funktionalen Abhangig-keiten von Ursachen und Wirkungen geeignet modellieren muß. Die Analysisbeschaftigt sich mit der Frage, wie man das Anderungsverhalten von Funk-tionen verstehen, beschreiben und beherrschen kann. Sie stellt Begriffe bereit,mit denen man die Anderung einer Funktion “im Kleinen” (also bei gerin-

Page 4: Grundkurs Analysis

VIII Vorwort

gen Anderungen ihrer unabhangigen Variablen) erfassen kann und untersucht,wann und auf welche Weise man aus diesen Eigenschaften “im Kleinen” glo-bale Eigenschaften der Funktion bestimmen kann. Das wichtigste und un-verzichtbare Hilfsmittel fur solche Untersuchungen ist der Begriff des Grenz-wertes. Man muß exakt formulieren konnen, was es in dem jeweils benutztenModell bedeutet, daß man sich an einen Punkt annahert.Ich beginne deshalb den Grundkurs Analysis I/II mit dem Studium einerKlasse von Raumen, in denen man einen solchen Grenzwertbegriff formulierenkann, mit den metrischen Raumen. Anschließend werden verschiedene Klas-sen von Funktionen zwischen allgemeinen oder speziellen metrischen Raumenbehandelt, insbesondere die stetigen, die differenzierbaren, die meßbaren, dieintegrierbaren und die holomorphen Funktionen. Als Anwendung der grundle-genden Eigenschaften verschiedener Funktionenklassen wird in Analysis IIIaund IIIb eine Einfuhrung in die Losungstheorie gewohnlicher Differentialglei-chungen, in die Maßtheorie und in die Analysis auf Untermannigfaltigkeitengegeben.

Im Einzelnen werden wir in den 4 Teilen der Vorlesung folgende Schwerpunktebehandeln:

Analysis I* (Wintersemester 2006/07):

• Reelle und komplexe Zahlen• Metrische Raume und ihre topologischen Eigenschaften• Folgen und Reihen in Banachraumen• Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

Analysis II* (Sommersemester 2007):

• Differentialrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen• Differentialrechnung fur Funktionen mehrerer reeller Variablen• Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

Analysis IIIa (Wintersemester 2007/08):

• Mehrdimensionales Riemann-Integral• Analysis auf Untermannigfaltigkeiten• Gewohnliche Differentialgleichungen

Analysis IIIb (Sommersemester 2008):

• Maß- und Integrationstheorie• Funktionentheorie

Page 5: Grundkurs Analysis

Vorwort IX

Einige Lehrbucher zum Analysis-Grundkurs

• H. Amann, J. Escher: Analysis I, II und III, Birkhauser- Verlag• M. Barner, F. Flohr: Analysis I und II, de Gruyter-Verlag• Th. Brocker: Analysis I, II und III, Wissenschaftsverlag Mannheim• J. Dieudonne: Grundzuge der modernen Analysis, Deutscher Verlag der

Wissenschaften• K. Endl, W. Luh: Analysis I, II und III, Aula-Verlag Wiesbaden• O. Forster: Analysis 1, 2 und 3, Vieweg-Verlag• H. Heuser: Lehrbuch der Analysis, Teil 1 und 2, Teubner-Verlag Stuttgart• St. Hildebrandt: Analysis 1 und 2, Springer-Verlag• K. Konigsberger: Analysis 1 und 2, Springer-Verlag• W. Walter: Analysis 1 und 2, Springer-Verlag

Haufig benutzte Bezeichnungen und Abkurzungen

∀ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . fur alle∃ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . es existiert∃! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . es existiert genau ein⇔ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . genau dann, wenn⇒ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . daraus folgt:= . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ist definiert als (auch :↔)x ∈M . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .x ist Element der Menge M∅ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . leere Menge (Menge, die kein Element enthalt)A ⊂M . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .A ist Teilmenge von M , d.h. x ∈ A⇒ x ∈M

A und B seien Mengen.

A ∪B := x | x ∈ A oder x ∈ B heißt die Vereinigung von A und B.

A ∩ B := x | x ∈ A und x ∈ B heißt der Durchschnitt von A und B. FallsA ∩ B = ∅, heißen A und B disjunkt; A∪B bezeichnet dann die disjunkteVereinigung von A und B.

A \B = x | x ∈ A und x /∈ B heißt Differenzmenge.

A×B = (x, y) | x ∈ A und y ∈ B heißt das Produkt von A und B.

Fur eine endliche Menge A bezeichnet ♯A die Anzahl ihrer Elemente.

Page 6: Grundkurs Analysis
Page 7: Grundkurs Analysis

Inhaltsverzeichnis

1 Reelle und komplexe Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1 Das Beweisprinzip der vollstandigen Induktion . . . . . . . . . . . . . . 21.2 Die reellen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

1.2.1 Die Korpereigenschaften von R . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71.2.2 Die Anordnungseigenschaften von R . . . . . . . . . . . . . . . . . 81.2.3 Vollstandigkeitseigenschaft der reellen Zahlen . . . . . . . . . 111.2.4 Die Uberabzahlbarkeit der Menge der reellen Zahlen . . . 161.2.5 Wurzeln und Potenzen reeller Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . 19

1.3 Die komplexen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261.4 Die Vektorraume Rn und Cn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

2 Metrische Raume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392.1 Definition und Beispiele metrischer Raume . . . . . . . . . . . . . . . . . 392.2 Offene und abgeschlossene Mengen in metrischen Raumen . . . . 422.3 Folgen in metrischen Raumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

2.3.1 Allgemeine Eigenschaften konvergenter Folgen . . . . . . . . 542.3.2 Spezielle Eigenschaften von konvergenten Folgen im

Vektorraum Ck bzw. Rk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572.3.3 Spezielle Eigenschaften konvergenter Folgen in R . . . . . . 62

2.4 Vollstandige metrische Raume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 682.5 Kompakte und folgenkompakte Teilmengen metrischer Raume 752.6 Zusammenhangende Teilmengen eines metrischen Raumes . . . . 842.7 Banachraume und Hilbertraume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

3 Reihen in Banachraumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 933.1 Konvergenzkriterien fur Reihen in Banachraumen. . . . . . . . . . . . 943.2 Komplexe Potenzreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1103.3 Exponentialfunktion, Logarithmusfunktion und komplexe

Potenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Page 8: Grundkurs Analysis

XII Inhaltsverzeichnis

4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen . . . . . . . . 1194.1 Der Grenzwert einer Abbildung in einem Punkt . . . . . . . . . . . . . 1194.2 Stetige Abbildungen (Definition und Beispiele) . . . . . . . . . . . . . . 1264.3 Eigenschaften stetiger Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1354.4 Folgen stetiger Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1424.5 Funktionenreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1454.6 Die trigonometrischen und die Hyperbelfunktionen . . . . . . . . . . 1524.7 Der metrische Raum der stetigen Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . 162

5 Differentialrechnung fur Funktionen einer reellenVeranderlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1755.1 Differenzierbare Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1755.2 Der Mittelwertsatz der Differentialrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1855.3 Differentiation von Funktionenfolgen und -Reihen . . . . . . . . . . . . 1965.4 Taylorreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

6 Differentialrechnung fur Abbildungen mehrerer reellerVariablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2116.1 Ableitung, Richtungsableitung und Gradient einer Abbildung . 2116.2 Partielle Ableitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2226.3 Die Taylorentwicklung und Extrema fur Funktionen mehrerer

reeller Veranderlicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2286.4 Der Satz uber die Umkehrabbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2326.5 Implizite Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2396.6 Extrema unter Nebenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen . . . 2537.1 Stammfunktionen und ihre Berechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2537.2 Das Riemannsche Integral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2677.3 Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung . . . . . . . . . . . . 2827.4 Der Mittelwertsatz der Integralrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2867.5 Parameterabhangige Integrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2897.6 Uneigentliche Riemannsche Integrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2927.7 Die Lange von Kurven und die Flacheninhalte ebener Gebiete . 299

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Page 9: Grundkurs Analysis

1

Reelle und komplexe Zahlen

Wir gehen davon aus, daß der Aufbau der Zahlbereiche bis zu den reellenZahlen bekannt ist. Man findet dies zum Beispiel in dem Buch von J. Kramer:Zahlen fur Einsteiger (Vieweg-Verlag, 2006).

Wir benutzen in dieser Vorlesung die folgenden Bezeichnungen fur die Zahl-bereiche:N . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Menge aller naturlichen Zahlen: 1, 2, 3, . . .N0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .N ∪ 0Z . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menge aller ganzen Zahlen: 0, ±1, ±2, . . .Q . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menge aller rationalen Zahlen: m

n| m ∈ Z, n ∈ N

Q+ . . . . . . . . . . . . . . . . . .Menge der positiven rationalen Zahlen: q ∈ Q | q > 0R . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menge der reellen ZahlenR\Q . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menge der irrationalen ZahlenC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menge der komplexen Zahlen

Offensichtlich gilt: N ⊂ Z ⊂ Q ⊂ R.

Die Zahlbereiche werden bekanntlich aus folgendem Grund erweitert:

N ⊂ Z: Die Subtraktion ist durch die Erweiterung immer ausfuhrbar. Seiena, b ∈ N. Die Gleichung x+ a = b ist in Z immer losbar, aber nicht in N.

Z ⊂ Q: Die Division ist durch die Erweiterung immer ausfuhrbar. Seiena, b ∈ Z, a 6= 0. Die Gleichung x ·a = b ist in Q immer losbar, aber nicht in Z.

Q ⊂ R: Die Erweiterung ist notig, damit Wurzeln positiver Zahlen existieren.Sei q ∈ Q+, n ∈ N. Die Gleichung xn = q ist in R immer losbar, aber nicht inQ.

Im Abschnitt 1.1. werden wir zunachst ein wichtiges und oft benutztes Beweis-prinzip wiederholen und an Beispielen demonstrieren: das der vollstandigenInduktion. Im Abschnitt 1.2. fassen wir die grundlegenden, die Menge der re-ellen Zahlen charakterisierenden Eigenschaften (ihre Axiome) zusammen und

Page 10: Grundkurs Analysis

2 1 Reelle und komplexe Zahlen

leiten wesentliche, aus den Axiomen folgende Eigenschaften her. Der Abschnitt1.3. enthalt die Definition und die grundlegenden Eigenschaften der komple-xen Zahlen. In Abschnitt 1.4. betrachten wir die Vektorraume Rn und Cn unddefinieren den Abstand von Vektoren in diesen Vektorraumen.

1.1 Das Beweisprinzip der vollstandigen Induktion

Die naturlichen Zahlen werden durch auf Peano zuruckgehende Axiome (diePeano-Axiome) eingefuhrt. Aus diesen Axiomen folgt die Induktionseigen-schaft fur die naturlichen Zahlen, die folgendes besagt:

Ist M ⊂ N0 eine Teilmenge der (um Null erganzten) naturlichen Zahlen, diedie folgenden beiden Eigenschaften erfullt:

(1) n0 ∈M ,(2) Ist k ∈M , so ist auch (k + 1) ∈M .

Dann gilt fur diese Menge: n ∈ N0 | n ≥ n0 ⊂M .

Als Umformulierung dieser Induktionseigenschaft erhalten wir das Beweis-prinzip der vollstandigen Induktion.

Beweisprinzip der vollstandigen Induktion

Sei n0 ∈ N0 eine fixierte naturliche Zahl.Fur jede Zahl n ∈ N0 mit n ≥ n0 sei eine Aussage A(n) gegeben.Wir setzen voraus, dass die folgenden beiden Bedingungen erfullt sind:

(1) A(n0) ist richtig (Induktionsanfang).(2) Falls A(k) richtig ist fur eine Zahl k ≥ n0, so ist auch A(k+1) richtig.

(Induktionsschritt).

Dann ist die Aussage A(n) fur alle Zahlen n ∈ N0 mit n ≥ n0 richtig.

Um einzusehen, dass das Prinzip der vollstandigen Induktion aus der Induk-tionseigenschaft der naturlichen Zahlen folgt, setzen wir

M := n ∈ N0 | Aussage A(n) ist richtig.

Dann gilt:

n0 ∈M (nach Induktionsanfang).

Ist k ∈M , so ist (k + 1) ∈M (nach Induktionsschritt).

Aus der Induktionseigenschaft der naturlichen Zahlen folgt nun, dass A(n) furalle n ≥ n0 richtig ist.

Page 11: Grundkurs Analysis

1.1 Das Beweisprinzip der vollstandigen Induktion 3

Beispiel 1:

Satz 1.1 Fur jede naturliche Zahl n ∈ N gilt

n∑

j=1

j = 1 + 2 + ...+ n =n(n+ 1)

2. (Aussage A(n))

Beweis. Durch vollstandige Induktion.

Induktionsanfang: Die Aussage A(1) ist richtig, denn 1 = 1(1+1)2 .

Induktionsschritt : Sei nun eine naturliche Zahl k ≥ 1 gegeben. Wir setzen vor-aus, dass die Aussage A(k) richtig ist (Induktionsvoraussetzung) und behaup-ten, dass dann auch die Aussage A(k+1) richtig ist (Induktionsbehauptung).Induktionsbeweis:

k+1∑

j=1

j =( k∑

j=1

j)

+ (k + 1)A(k)=

k(k + 1)

2+ (k + 1)

= (k + 1)

(k

2+ 1

)=

(k + 1)(k + 2)

2.

⊓⊔Beispiel 2:

Satz 1.2 Fur jede naturliche Zahl n ∈ N gilt

n∑

j=1

(2j − 1) = n2. (Aussage A(n))

Beweis. Durch vollstandige Induktion.Induktionsanfang: A(1) ist richtig, denn 1 = 1.Induktionsschritt :Induktionsvoraussetzung: A(k) sei richtig.Induktionsbehauptung: A(k + 1) ist richtig.Induktionsbeweis:

k+1∑

j=1

(2j − 1) =( k∑

j=1

(2j − 1))

+ (2(k + 1) − 1)A(k)= k2 + 2k + 1 = (k + 1)2.

⊓⊔

Beispiel 3: Die Fakultat einer naturlichen Zahl.

Definition 1.1. Sei n ∈ N. Die Zahl

n! :=n∏

j=1

j = 1 · 2 · 3 · ... · n

heißt n–Fakultat. Weiterhin setzen wir 0! := 1 .

Page 12: Grundkurs Analysis

4 1 Reelle und komplexe Zahlen

Satz 1.3 Die Anzahl an aller Anordnungen von n verschiedenen Objekten istn!.

Beweis. Durch vollstandige Induktion.Induktionsanfang: Fur n = 1 gilt a1 = 1 = 1!.Induktionsschritt :Induktionsvoraussetzung: Es gelte ak = k!.Induktionsbehauptung: ak+1 = (k + 1)!.Induktionsbeweis:Wir betrachten (k + 1) Objekte O1, . . . , Ok+1. Die moglichen Anordnungendieser Objekte kann man in (k + 1) Klassen Kj mit j ∈ 1, . . . , k + 1 un-terteilen: Kj sei die Menge derjenigen Anordnungen, in denen Oj als erstesElement steht, das heißt

Kj := (Oj , Oi1 , . . . , Oik) | i1, i2, . . . , ik = 1, . . . , k + 1 \ j .

Zj sei die Anzahl der Elemente in Kj. Folglich ist Zj gleich der Anzahl derAnordnungen der k Objekte O1, . . . , Oj−1, Oj+1, . . . , Ok+1. Nach Induktions-voraussetzung ist aber die Anzahl der Anordnungen von k Objekten gleichak = k! . Also gilt

ak+1 =

k+1∑

j=1

Zj =

k+1∑

j=1

ak =

k+1∑

j=1

k! = (k + 1) · k! = (k + 1)! .

⊓⊔

Beispiel 4: Die Binomialkoeffizienten.

Definition 1.2. Sei x ∈ R und k ∈ N. Die Zahl(x

k

):=

x · (x− 1) · (x− 2) · ... · (x − (k − 1))

k!

(xk

)heißt Binomialkoeffizient. Man nennt sie “x uber k”. Fur k = 0 setzt

man(x0

):= 1.

Satz 1.4 Seien n, k ∈ N und x ∈ R. Dann gilt

(1) Ist k > n, so folgt(nk

)= 0.

(2) Fur 0 ≤ k ≤ n gilt

(n

k

)=

n!

k!(n− k)!=

(n

n− k

).

Page 13: Grundkurs Analysis

1.1 Das Beweisprinzip der vollstandigen Induktion 5

(3) Es gilt

(x

k

)+

(x

k − 1

)=

(x+ 1

k

).

Beweis. Ist k > n, so tritt im Zahler 0 als Faktor auf. Folglich ist(nk

)= 0.

(n

k

)=n · (n− 1) · . . . · (n− (k − 1))

k!

=n · (n− 1) · . . . · (n− (k − 1)) · (n− k) · . . . · 2 · 1

k! · (n− k)!=

n!

k! · (n− k)!

=

(n

n− k

).

(x

k

)+

(x

k − 1

)=x · (x− 1) · . . . · (x− (k − 1))

k!+x · (x − 1) · . . . · (x− (k − 2))

(k − 1)!

=x · (x− 1) · . . . · (x− (k − 2))

(k − 1)!·(x− (k − 1)

k+ 1

)

︸ ︷︷ ︸= x−(k−1)+k

k= x+1

k

=x · (x− 1) · . . . · ((x+ 1) − (k − 1))

(k − 1)!· (x+ 1)

k

=(x+ 1) · ((x+ 1) − 1) · ((x + 1) − 2) · . . . · ((x + 1) − (k − 1))

k!

=

(x+ 1

k

).

⊓⊔

Satz 1.5 Seien k und n naturliche Zahlen und sei 1 ≤ k ≤ n. Es bezeichnecnk die Anzahl aller k–elementigen Teilmengen einer n–elementigen Menge.Dann gilt

cnk =

(n

k

).

Insbesondere ist(nk

)∈ N .

Beweis. Der Beweis von Satz 1.5 erfolgt duch vollstandige Induktion uber n.Induktionsanfang: Es gilt c11 = 1 =

(11

), denn aus einer einelementigen Menge

kann nur ein Element ausgewahlt werden.Induktionsschritt :

Page 14: Grundkurs Analysis

6 1 Reelle und komplexe Zahlen

Induktionsvoraussetzung: Es gelte cnk =(nk

)∀ k ∈ 1, . . . , n.

Induktionsbehauptung: cn+1k =

(n+1k

)∀ k ∈ 1, · · · , n+ 1.

Induktionsbeweis: Bei der Auswahl einer einelementigen Teilmenge aus einer(n + 1)–elementigen Menge hat man (n + 1) verschiedene Moglichkeiten. Esgilt somit:

cn+11 = (n+ 1) =

(n+ 1

1

).

Betrachtet man die Anzahl aller (n+1)–elementigen Teilmengen einer (n+1)–elementigen Menge, so gilt offensichtlich

cn+1n+1 = 1 =

(n+ 1

n+ 1

).

Es genugt also, die Behauptung fur k ∈ 2, · · · , n zu zeigen. Betrachten wireine Menge M = E1, · · · , En+1 mit (n + 1) Elementen. Dann zerfallen diek–elementigen Teilmengen von M in zwei disjunkte Klassen:

K0 : alle Teilmengen, die En+1 nicht enthalten, undK1 : alle Teilmengen, die En+1 enthalten.

Somit ergibt sich: die Anzahl der k–elementigen Teilmengen in Klasse K0

ist gleich der Anzahl der k–elementigen Teilmengen von E1, · · · , En, alsoentsprechend der Induktionsvoraussetzung gleich cnk =

(nk

). Die Anzahl der

k–elementigen Teilmengen in Klasse K1 ist gleich der Anzahl der (k − 1)–elementigen Teilmengen von E1, · · · , En, also nach Induktionsvorausset-zung gleich cnk−1 =

(nk−1

). Folglich gilt nach Satz 1.4

cn+1k =

(n

k

)+

(n

k − 1

)=

(n+ 1

k

).

⊓⊔

1.2 Die reellen Zahlen

Im Folgenden setzen wir voraus, dass die reellen Zahlen existieren und dasssie dem Leser bereits bekannt sind. Das Ziel dieses Abschnittes besteht darin,noch einmal die grundlegenden, die reellen Zahlen eindeutig charakterisie-renden Eigenschaften (ihre sogenannten “Axiome”) zusammenzustellen unddaraus wichtige Rechenregeln abzuleiten. Diese grundlegenden Eigenschaftensind

• die Korperaxiome,• die Anordnungsaxiome und• das Vollstandigkeitsaxiom.

Page 15: Grundkurs Analysis

1.2 Die reellen Zahlen 7

Wir werden in dieser Vorlesung nicht darauf eingehen, ob uberhaupt eineMenge existiert, die die obigen drei Axiome erfullt, und wie und woraus mansie ggf. konstruieren kann. Wir werden auch nicht untersuchen, ob eine Men-ge, die die obigen Axiome erfullt, eindeutig bestimmt ist. Fur diese Fragenverweisen wir auf eines der Bucher

• J. Kramer: Zahlen fur Einsteiger, Vieweg-Verlag, 2006• H.-D. Ebinghaus: Zahlen, Grundwissen Mathematik, Springer, 2. Aufl.

1988• A. Oberschelp: Aufbau des Zahlensystems, Vandenhoeck & Ruprecht,

Gottingen 1976.

1.2.1 Die Korpereigenschaften von R

Man kann reelle Zahlen addieren und multiplizieren:

(x, y) ∈ R × R 7−→ x+ y ∈ R Addition,(x, y) ∈ R × R 7−→ x · y ∈ R Multiplikation.

Addition und Multiplikation haben folgende Eigenschaften K1 - K9:

Addition:

K1: x+ y = y + x ∀ x, y ∈ R (Kommutativgesetz der Addition)K2: (x+y)+z = x+(y+z) ∀ x, y, z ∈ R (Assoziativgesetz der Addition)K3: 0 + x = x+ 0 = x ∀ x ∈ R (0 ist neutrales Element der Addition)K4: Zu zwei reellen Zahlen x, y ∈ R existiert genau eine reelle Zahl z ∈ R, so

dassx+ z = y = z + x.

Diese Zahl z heißt Differenz zwischen x und y, z := y − x. Insbesondereexistiert zu jedem x ∈ R genau ein −x ∈ R mit x + (−x) = 0. (Existenzdes negativen Elements).

Multiplikation:

K5: x · y = y · x ∀ x, y ∈ R (Kommutativgesetz der Multiplikation)K6: (x ·y) ·z = x · (y ·z) ∀ x, y, z ∈ R (Assoziativgesetz der Multiplikation)K7: 1 · x = x · 1 = x ∀ x ∈ R (1 ist das neutrale Element der Multi-

plikation)K8: Zu jedem x ∈ R, x 6= 0 und jedem y ∈ R existiert genau ein z ∈ R mit

x · z = y.

Diese Zahl z heißt Quotient von y und x, z := yx. Insbesondere existiert

zu jedem x 6= 0 ein inverses Element 1x, so dass x · ( 1

x) = 1.

K9: (x+ y) · z = x · z + y · z ∀ x, y, z ∈ R (Distributivgesetz).

Page 16: Grundkurs Analysis

8 1 Reelle und komplexe Zahlen

Definition 1.3. Eine Menge K, auf der zwei Operationen + und ·

+ : K × K −→ K · : K × K −→ K

(x, y) 7−→ x+ y (x, y) 7−→ x · y

mit den Eigenschaften K1 bis K9 gegeben sind, heißt Korper.

Wir schreiben den Korper K mit seinen beiden Operationen + und · oft in derForm [K,+, ·]. Der Begriff des Korpers ist ein zentraler algebraischer Begriffund wird in der Algebra-Vorlesung ausfuhrlich behandelt.

Korperaxiom der reellen Zahlen

[ R,+, · ] ist ein Korper.

[ Q,+, · ] ist ebenfalls ein Korper, wahrend [ Z,+, · ] kein Korper ist (zum Bei-spiel besitzt 2 kein multiplikativ inverses Element in Z). Ein Korper mitzwei Elementen ist durch K := 0, 1 und die Operationen 0 + 0 := 0,0+1 = 1+0 := 1, 1+1 := 0, 0 ·0 := 0, 0 ·1 = 1 ·0 := 0 und 1 ·1 := 1 gegeben.

Bezeichnungen: Fur n reelle Zahlen x1, · · · , xn werden die Summe und dasProdukt folgendermaßen abgekurzt:

n∑i=1

xi := x1 + x2 + . . .+ xnn∏i=1

xi := x1 · x2 · . . . · xn

Klammern sind wegen K2 und K6 nicht notig.

Fur zwei Teilmengen A,B ⊂ R sei

A+B := a+ b | a ∈ A, b ∈ B ⊂ R

A ·B := a · b | a ∈ A, b ∈ B ⊂ R

−A := −a | a ∈ A ⊂ R.

1.2.2 Die Anordnungseigenschaften von R

Außer [ R,+, · ] gibt es noch viele andere Korper. Die Korperaxiome K1-K9reichen also nicht aus, um R eindeutig zu beschreiben. Auf dem Korper derreellen Zahlen kann man im Gegensatz zu einigen anderen Korpern zusatzlicheine Anordnung einfuhren.

Anordnungseigenschaften von R

Der Korper der reellen Zahlen [ R,+, · ] enthalt eine Teilmenge von (positiven)reellen Zahlen R+ mit folgenden Eigenschaften:

Page 17: Grundkurs Analysis

1.2 Die reellen Zahlen 9

A1: Fur jede reelle Zahl x gilt entweder x = 0 oder x ∈ R+ oder x ∈ −R+,das heißt R ist die disjunkte Vereinigung

R = −R+ ∪ 0 ∪ R+.

A2: Ist x, y ∈ R+, so gilt x+ y ∈ R+ und x · y ∈ R+.

Definition 1.4. Ein Korper [ K,+, · ], in dem eine Teilmenge “positiver Ele-mente” K+ ⊂ K existiert, so dass A1 und A2 gelten, heißt angeordneterKorper.

Anordnungsaxiom der reellen Zahlen

Die reellen Zahlen [R,+ , · ] sind ein angeordneter Korper.

Mittels der Eigenschaften A1 und A2 kann man Elemente von R vergleichen.

Definition 1.5. Man sagt “x ist kleiner gleich y” und schreibt x ≤ y, fallsy − x ∈ R+ ∪ 0.Aus den Anordnungseigenschaften A1 und A2 erhalt man die folgenden Ei-genschaften der Relation ≤:

O1 : Fur alle x, y ∈ R gilt x ≤ y oder y ≤ x.O2 : Fur alle x ∈ R gilt x ≤ x ReflexivitatO3 : Aus x ≤ y und y ≤ x folgt x = y AntisymmetrieO4 : Aus x ≤ y und y ≤ z folgt x ≤ z Transitivitat

Bemerkung: Sei M eine Menge und ≤ eine Relation zwischen Elementenvon M . Gelten O1 −O4 fur ≤, so heißt ≤ reflexive Ordnung auf M . ,

Aus A1 und A2 folgen außerdem folgende Monotonieeigenschaften von ≤:

M1: Aus x ≤ y folgt x+ z ≤ y + z fur alle z ∈ R.M2: Aus x ≤ y folgt x · z ≤ y · z fur alle z ∈ R+.

Bezeichnung:

• Gilt x ≤ y und x 6= y, so schreibt man auch x < y(sprich: “x kleiner als y”).

• x ≥ y :⇐⇒ y ≤ x bzw. x > y :⇐⇒ y < x.

Mittels der Ordnungsrelation konnen wir Intervalle definieren:Fur a ≤ b, a, b ∈ R sei

Page 18: Grundkurs Analysis

10 1 Reelle und komplexe Zahlen

[a, b] := x ∈ R | a ≤ x ≤ b (abgeschlossenes Intervall)

[a, b) := x ∈ R | a ≤ x < b (halboffenes Intervall)

(a, b] := x ∈ R | a < x ≤ b (halboffenes Intervall)

(a, b) := x ∈ R | a < x < b (offenes Intervall)

Des Weiteren seien

[a,∞) := x ∈ R | a ≤ x(a,∞) := x ∈ R | a < x

(−∞, a) := x ∈ R | x < a(−∞, a] := x ∈ R | x ≤ a

R := (−∞,∞).

Sei I eines der Intervalle [a, b], (a, b), [a, b), oder (a, b]. Dann heißt die ZahlL(I) := b− a Lange des Intervalls I.

Definition 1.6. Unter dem Betrag einer reellen Zahl x ∈ R versteht man dieZahl

|x| :=

x falls x ≥ 0−x falls x < 0.

Ist I ein Intervall der Lange L, so gilt fur x, y ∈ I : |x− y| ≤ L.

Satz 1.6 Fur den Betrag einer reellen Zahl gelten folgende Eigenschaften:

(1) |x| ≥ 0 ∀ x ∈ R, |x| = 0 ⇔ x = 0.(2) |x · y| = |x| · |y| ∀ x, y ∈ R.(3) |x+ y| ≤ |x| + |y|. (Dreiecksungleichung)(4) ||x| − |y|| ≤ |x+ y|.

Beweis. (1) und (2) folgen unmittelbar aus der Definition des Betrages | · | .Zum Beweis von (3) benutzen wir die Monotonieeigenschaften. Wegen x ≤ |x|und −x ≤ |x| bzw. y ≤ |y| und −y ≤ |y| folgt nach Addition dieserGleichungen x + y ≤ |x| + |y| und −(x + y) ≤ |x| + |y| und folglich|x+ y| ≤ |x| + |y| .Zum Beweis von (4) benutzen wir die Dreiecksungleichung und |x| = | − x|:

|x| = |(x+ y) − y| ≤ |x+ y| + |y|, und daher |x| − |y| ≤ |x+ y|,|y| = |(x + y) − x| ≤ |x+ y| + |x|, und daher |y| − |x| ≤ |x+ y|.

Somit erhalten wir ||x| − |y|| ≤ |x+ y|. ⊓⊔

Page 19: Grundkurs Analysis

1.2 Die reellen Zahlen 11

Die bisherigen Eigenschaften (Korpereigenschaften K1-K9, Anordnungseigen-schaften A1-A2) bestimmen [ R,+, · ] noch immer nicht eindeutig. Sie geltenzum Beispiel auch fur den Korper der rationalen Zahlen [ Q,+, · ]. Die reellenZahlen R haben aber eine grundsatzlich andere Eigenschaft als die rationalenZahlen Q : die Vollstandigkeit.

1.2.3 Vollstandigkeitseigenschaft der reellen Zahlen

Es gibt viele verschiedene Moglichkeiten die Vollstandigkeitseigenschaft derreellen Zahlen zu beschreiben. Alle diese sind aquivalent. Wir benutzen hierdie Existenz der Schnittzahl von Dedekindschen Schnitten.

Definition 1.7. Ein Dedekindscher Schnitt von R ist eine ZerlegungR = A∪B der reellen Zahlen in zwei disjunkte, nichtleere Teilmengen A undB mit der Eigenschaft, dass jedes Element a ∈ A kleiner als jedes Elementb ∈ B ist, das heißt

a < b ∀ a ∈ A, ∀ b ∈ B.

Bezeichnung fur Dedekindsche Schnitte: (A | B)

Bemerkung: Die Definition eines Dedekindschen Schnittes ist in jedem an-geordneten Korper moglich, da eine Relation “<” definiert ist; zum Beispielin [Q,+, · ].

Beispiel: Sei a ∈ R eine reelle Zahl.

A = (−∞, a], B = (a,∞)A = (−∞, a), B = [a,∞)

(A | B) Dedekindsche Schnitte.

Definition 1.8. Sei (A | B) ein Dedekindscher Schnitt von R. Eine Zahls ∈ R heißt Schnittzahl von (A | B), falls a ≤ s ≤ b fur alle a ∈ A undb ∈ B.

Wegen R = A∪B , ist s entweder das großte Element von A (falls s ∈ A) oderdas kleinste Element von B (falls s ∈ B).

Vollstandigkeitsaxiom (V) der reellen Zahlen

Jeder Dedekindsche Schnitt (A | B) von R besitzt eine eindeutig bestimmteSchnittzahl

Bemerkungen:Die Vollstandigkeitseigenschaft gilt nicht in jedem angeordneten Korper, zum

Page 20: Grundkurs Analysis

12 1 Reelle und komplexe Zahlen

Beispiel nicht im Korper [ Q,+, · ]: Seien namlich A = (−∞,√

2] ∩ Q undB = (

√2,+∞) ∩ Q. Dann gilt Q = A∪B . Somit bilden A und B einen

Dedekindschen Schnitt von Q. Dieser hat aber in Q keine Schnittzahl.(Wir werden noch sehen, dass die Zahl

√2 nicht rational ist).

Definition 1.9. Ein angeordneter Korper [ K,+, · ] mit der Eigenschaft (V),das heißt in dem jeder Dedekindsche Schnitt eine Schnittzahl hat, heißtvollstandig.

Zusammenfassung:

Die reellen Zahlen [R,+, · ] bilden einen vollstandigen, angeordne-ten Korper.

Bemerkung: Zwei vollstandige, angeordnete Korper [ K1,+, · ] und [ K2,+, · ]sind isomorph (dies beweisen wir hier nicht). Somit sind die reellen Zahlen[R,+, ·] (bis auf Isomorphie) der einzige vollstandige, angeordnete Korper.Die reellen Zahlen R sind somit durch die Korpereigenschaften K1-K9, dieAnordnungseigenschaften A1, A2 und die Vollstandigkeitseigenschaft V (bisauf Isomorphie) eindeutig bestimmt.

Wir beweisen nun einige Eigenschaften der reellen Zahlen, die aus der Vollstan-digkeitseigenschaft (V) folgen.

Definition 1.10.

1. Eine Teilmenge A ⊂ R heißt von oben beschrankt, falls eine Zahl M ∈ R

existiert, so dass a ≤ M fur alle a ∈ A gilt. Eine solche Zahl M heißtobere Schranke von A.

2. Eine Teilmenge A ⊂ R heißt von unten beschrankt, falls eine Zahl m ∈ R

existiert, so dass m ≤ a fur alle a ∈ A gilt. Eine solche Zahl m heißtuntere Schranke von A.

3. Eine Teilmenge A ⊂ R heißt beschrankt, falls sie sowohl von unten alsauch von oben beschrankt ist.

Definition 1.11. Sei A ⊂ R.

1. Eine Zahl M0 ∈ R heißt Supremum von A, falls sie die kleinste obereSchranke von A ist, das heißt fallsa) a ≤M0 ∀ a ∈ A ,b) fur jedes ε > 0 existiert ein a ∈ A, so dass M0 − ε < a .

2. Eine Zahl m0 ∈ R heißt Infimum von A, falls sie die großte untere Schran-ke von A ist, das heißt fallsa) m0 ≤ a ∀a ∈ A ,b) fur jedes ε > 0 existiert ein a ∈ A, so dass a < m0 + ε .

Page 21: Grundkurs Analysis

1.2 Die reellen Zahlen 13

Bezeichnung: Falls das Supremum bzw. das Infimum einer Menge A ⊂ R

existiert, so bezeichnen wir es mit

supA := Supremum von A inf A := Infimum von A.

Offensichtlich existiert hochstens ein Supremum und hochstens ein Infimumeiner Menge A ⊂ R.

Aus der Vollstandigkeitseigenschaft von R erhalt man die folgende Aussageuber die Existenz von Supremum bzw. Infimum.

Satz 1.7 Jede nach oben beschrankte, nichtleere Menge A ⊂ R besitzt einSupremum. Jede nach unten beschrankte, nichtleere Menge A ⊂ R besitzt einInfimum.

Beweis. (1) Sei A ⊂ R von oben beschrankt. Wir betrachten die Menge

X := M ∈ R | a ≤M ∀ a ∈ A.

Da A von oben beschrankt ist, ist X 6= ∅. Es sei Y := R \X . Dann gilt:

a) R = Y ∪X .b) Sei y ∈ Y und x ∈ X . Da y /∈ X , existiert ein a ∈ Amit y < a. Andererseits

ist a ≤ x nach Definition von X . Folglich gilt y < x fur alle y ∈ Y undx ∈ X .

Also ist (Y | X) ein Dedekindscher Schnitt von R. Nach dem Vollstandig-keitsaxiom (V) von R existiert eine Schnittzahl M0 dieses DedekindschenSchnittes, also eine Zahl M0 ∈ R mit

y ≤M0 ≤ x ∀ y ∈ Y, x ∈ X.

Wir zeigen, dass die Schnittzahl M0 in X liegt. Wir fuhren diesen Beweisindirekt. Wir nehmen an, dass M0 /∈ X und fuhren dies zum Widerspruch.Ist M0 /∈ X , so ist M0 das großte Element von Y . Nach Definition von Y gibtes ein a0 ∈ R mit M0 < a0. Dann ist wegen der Monotonieeigenschaft von <aber auch

M0 <M0 + a0

2<a0

2+a0

2= a0

und folglichM0 + a0

2∈ Y.

Dann kann M0 aber nicht das großte Element von Y sein, d.h. wir erhaltenwir einen Widerspruch. Unsere Annahme war demnach falsch. Folglich istM0 ∈ X , also eine obere Schranke von A. Als Schnittzahl von (Y | X) istM0 das kleinste Element von X , also die kleinste obere Schranke von A. Daszeigt, dass M0 = supA.Der Beweis der 2. Aussage des Satzes wird analog gefuhrt. ⊓⊔

Page 22: Grundkurs Analysis

14 1 Reelle und komplexe Zahlen

Definition 1.12.

1. Sei A ⊂ R eine nach oben beschrankte Menge. Liegt das Supremum vonA in A, so nennt man es auch das Maximum von A und schreibt dafurmaxA.

2. Sei A ⊂ R eine nach unten beschrankte Menge. Liegt das Infimum vonA in A, so nennt man es auch das Minimum von A und schreibt dafurminA.

Wir leiten aus Satz 1.7 einige Folgerungen ab.

Folgerung 1.1 (Archimedisches Axiom der reellen Zahlen)Die Menge der naturlichen Zahlen N ⊂ R ist nicht nach oben beschrankt, dasheißt zu jedem x ∈ R existiert ein n ∈ N mit x < n. Das gleiche gilt auch furjede unendliche Teilmenge N von N.

Beweis. Wir fuhren den Beweis indirekt. Angenommen N (bzw. N) ist nachoben beschrankt. Dann existiert nach Satz 1.7 das Supremum M0 = sup N.Es sei M := M0 − 1

2 . Da M0 die kleinste obere Schranke ist, existiert einm ∈ N, mit M0 − 1

2 < m. Folglich ist

M0 < m+1

2< m+ 1.

Da aber m + 1 ∈ N ist, kann M0 keine obere Schranke sein. Dies ergibt denWiderspruch. ⊓⊔

Folgerung 1.2

1. Zu jedem ε ∈ R+ existiert ein n ∈ N mit 1n< ε.

2. Zu jedem q ∈ N, q 6= 1, und ε ∈ R+ existiert ein n ∈ N mit 1qn < ε

Beweis. Zu 1) Zur Zahl 1ε∈ R existiert nach dem Archimedischen Axiom ein

n ∈ N mit 1ε< n. Folglich gilt 1

n< ε.

Zum Beweis der 2. Aussage setzen wir

N := qn | n ∈ N.

N ist eine unendliche Teilmenge von N. Den Beweis kann man dann analogzu 1) fuhren. ⊓⊔

Folgerung 1.3 Sei A ⊂ Z eine nichtleere, nach oben (unten) beschrankteMenge ganzer Zahlen. Dann besitzt A ein Maximum (Minimum).

Page 23: Grundkurs Analysis

1.2 Die reellen Zahlen 15

Beweis. Sei A nach unten beschrankt und d = inf A. Nach dem Archimedi-schen Axiom existiert ein n0 ∈ N mit |d| < n0. Das heißt, es gilt −n0 < dund somit 0 < d+ n0 < a+ n0 fur alle a ∈ A. Betrachten wir nun die MengeA0 := a+ n0 | a ∈ A ⊂ N. Wir zeigen, dass diese Menge ein kleinstes Ele-ment besitzt. Sei k ∈ A0 und bezeichne (A0)k := x ∈ A0 |x ≤ k. Die Menge(A0)k ist endlich und besitzt deshalb ein kleinstes Element m0 (siehe Ubungs-aufgabe 5). Dann ist m0 auch das kleinste Element von A0 und m0 − n0 daskleinste Element von A . Folglich gilt m0 − n0 = minA.Ist A von oben beschrankt, so ist maxA = −min(−A). ⊓⊔

Satz 1.8 (Q liegt dicht in R)Seien x, y ∈ R und x < y. Dann existiert eine rationale Zahl q ∈ Q mitx < q < y .

Beweis. Wir wahlen ein n ∈ N mit 1n< y − x und setzen

A := z ∈ Z | z > n · x.

Wiederum nach dem Archimedischen Axiom ist A nicht leer und besitzt, davon unten beschrankt, ein Minimum (Folgerung 1.3). Sei m0 = minA. Danngilt m0 ∈ A und m0−1 /∈ A. Folglich ist m0

n> x und m0−1

n≤ x. Wir erhalten

somit

x <m0

n=m0 − 1

n+

1

n< x+ (y − x) = y

und folglich liegt die rationale Zahl q := m0

nim Intervall (x, y). ⊓⊔

Definition 1.13. Eine Familie abgeschlossener Intervalle In ⊂ R, n ∈ N,heißt Intervallschachtelung, wenn gilt:

1. In ⊂ Im ∀ n > m2. Zu jeder positiven Zahl ε ∈ R+ existiert ein n ∈ N mit L(In) < ε.

Satz 1.9 (Prinzip der Intervallschachtelung)Sei I1 ⊃ I2 ⊃ I3 ⊃ · · · eine Intervallschachtelung. Dann existiert genau einereelle Zahl x ∈ R, so dass x ∈ In fur alle n ∈ N, das heißt

∞⋂

n=1

In = x.

Beweis.1. Existenz: Sei In = [an, bn]. Da In ⊂ Im fur alle n ≥ m, folgt

am ≤ an ≤ bn ≤ bm. (∗)

Page 24: Grundkurs Analysis

16 1 Reelle und komplexe Zahlen

Wir betrachten die Menge der unteren Intervallgrenzen

A := an | n ∈ N ⊂ R.

A ist nach oben beschrankt, zum Beispiel durch b1, hat also nach Satz 1.7ein Supremum. Sei x = supA. Wir zeigen, dass x ∈ In fur alle n ∈ N.Nach Definition ist an ≤ x. Es bleibt zu zeigen, dass x ≤ bn fur alle n ∈ N.Angenommen x > bm fur ein m ∈ N. Da x die kleinste obere Schranke vonA ist, kann bm keine obere Schranke von A sein. Somit existiert ein an ∈ A,so dass an > bm. Dies widerspricht aber der Schachtelungseigenschaft (∗).Folglich war die Annahme falsch, das heißt x ≤ bn fur alle n ∈ N und somitgilt an ≤ x ≤ bn, also x ∈ In fur alle n ∈ N.2. Eindeutigkeit: Angenommen es gabe zwei Zahlen x, y ∈ R mit x 6= y undx, y ∈ In fur alle n ∈ N. Sei ε = |x − y| > 0. Dann existiert ein Intervall In0

mit L(In0) < ε. Da |x− y| > L(In0), konnen aber nicht beide Zahlen x, y inIn0 liegen. Damit ist die Eindeutigkeit von x gezeigt. ⊓⊔

Bemerkung: Die Vollstandigkeitseigenschaft eines angeordneten Korperskann man durch das Intervallschachtelungsprinzip oder die Existenz des Su-premums ersetzen.Es gilt: Sei [K,+, ·] ein angeordneter Korper. Dann sind folgende Aussagenaquivalent:

1. Jeder Dedekindsche Schnitt von K besitzt eine Schnittzahl.2. Jede nach oben beschrankte Teilmenge von K besitzt ein Supremum.3. Es gilt das Intervallschachtelungsprinzip und das Archimedische Axiom.

Die Implikation: 1. =⇒ 2. =⇒ 3. haben wir bewiesen. Die Umkehrung werdenwir hier nicht beweisen.

1.2.4 Die Uberabzahlbarkeit der Menge der reellen Zahlen

Wir beweisen mit Hilfe des Vollstandigkeitsaxioms, dass die Menge der reellenZahlen nicht abzahlbar ist.Dazu zunachst einige Definitionen.

Definition 1.14. Seien X und Y zwei nichtleere Mengen. Eine Abbildungf : X −→ Y heißt

• injektiv, falls f(x1) 6= f(x2) fur alle x1, x2 ∈ X mit x1 6= x2.• surjektiv, falls fur jedes y ∈ Y ein x ∈ X mit f(x) = y existiert.• bijektiv, falls f injektiv und surjektiv ist, d.h. falls fur jedes y ∈ Y genau

ein x ∈ X mit f(x) = y existiert.

Definition 1.15. Eine Menge A heißt abzahlbar, wenn es eine bijektive Ab-bildung

f : N −→ A

von der Menge der naturlichen Zahlen auf die Menge A gibt.(Es existiert also zu jedem a ∈ A genau ein n ∈ N mit f(n) = a).

Page 25: Grundkurs Analysis

1.2 Die reellen Zahlen 17

Die bijektive Abbildung f liefert uns eine Abzahlvorschrift fur A: Mit derBezeichnung an := f(n) ist namlich

A = a1, a2, a3, . . . mit ai 6= aj fur i 6= j.

Eine Menge A heißt uberabzahlbar, wenn sie weder leer, noch endlich oderabzahlbar ist. Wir sagen, die Menge A ist hochstens abzahlbar, wenn sie leer,endlich oder abzahlbar ist.

Beispiele:

1. Die Menge der naturlichen Zahlen N und die Menge N0 sind abzahlbar.2. Die Menge der ganzen Zahlen Z ist abzahlbar, denn

fZ : N −→ Z

2k 7−→ k2k + 1 7−→ −k

ist eine bijektive Abbildung zwischen N und Z.

Satz 1.10 Die Menge Q der rationalen Zahlen ist abzahlbar.

Beweis. (1. Cantorsches Diagonalisierungsverfahren).Wir geben zunachst eine Abzahlvorschrift der Menge Q+ der positiven ratio-nalen Zahlen an. Jede Zahl q ∈ Q+ sei als Bruch dargestellt:

q =n

m, n,m teilerfremde, naturliche Zahlen.

Wir betrachten das folgende Schema, das die Paare (n,m) als Punkte einesebenen Gitters darstellt. Dabei werden Punkte ausgelassen, fur die m und nnicht teilerfremd sind.

Page 26: Grundkurs Analysis

18 1 Reelle und komplexe Zahlen

6

-

m

n

1

2

3

4

5

1 2 3 4 5

- - -

I

6

6

R

R

I

I

IR

R

R

R

I

I

I

I

I

1 2 3 4 5 6

12

13

14

16

15

23

25

32

34

43

52

Die Gitterpunkte werden nun langs des im Gitter gezeichneten Streckenzugesnummeriert. Dadurch erreicht man alle Punkte des konstruierten Gitters underhalt somit eine bijektive Abbildung ϕ : N −→ Q+.Diese Abzahlung beginnt offensichtlich mit:

1, 2,1

2,

1

3, 3, 4,

3

2,

2

3,

1

4,

1

5, 5, · · ·

Wir erweitern nun ϕ zu einer bijektiven Abbildung φ : Z −→ Q mittels

φ(n) :=

ϕ(n) falls n ∈ N

0 falls n = 0−ϕ(−n) falls n ∈ Z, n < 0.

Die Abbildung φ fZ : N −→ Z −→ Q bildet N bijektiv auf Q ab. Somitist Q abzahlbar. ⊓⊔

Satz 1.11 Die Menge R der reellen Zahlen ist uberabzahlbar.

Beweis. Angenommen, es existiert eine Abzahlung von R, d.h. es gilt

R = x1, x2, x3, . . ..

Zu dieser Abzahlung konstruieren wir induktiv eine Intervallschachtelung

Page 27: Grundkurs Analysis

1.2 Die reellen Zahlen 19

I1 ⊃ I2 ⊃ I3 ⊃ I4 ⊃ I5 ⊃ . . .

Es sei

I1 := [x1 + 1, x1 +4

3].

Offensichtlich ist x1 /∈ I1 und L(I1) = 13 . Aus einem schon vorhandenen

Intervall In konstruieren wir In+1 wie folgt: Wir teilen In in drei gleichlange,abgeschlossene Intervalle und wahlen als In+1 eines dieser Teilintervalle, dasxn+1 nicht enthalt. Fur die so konstruierte Folge von Intervallen gilt

I1 ⊃ I2 ⊃ I3 ⊃ I4 ⊃ . . .

xn /∈ In

L(I1) = 13 , L(I2) = 1

32 , . . . , L(In) = 13n .

Somit ist I1 ⊃ I2 ⊃ I3 ⊃ . . . eine Intervallschachtelung. Sei nun x ∈∞⋂n=1

In.

Nach Annahme war R = x1, x2, x3, x4, . . .. Es muß also ein k0 ∈ N mitx = xk0 geben. Dann ist xk0 ∈ Ik0 . Dies widerspricht aber der Konstruktionder Intervalle. Somit war die Annahme der Abzahlbarkeit von R falsch. ⊓⊔

Definition 1.16. Zwei Mengen A und B heißen gleichmachtig, falls eine bi-jektive Abbildung f : A −→ B existiert. Die Menge B hat eine großereMachtigkeit als A, falls A zu einer Teilmenge von B gleichmachtig ist, aberB zu keiner Teilmenge von A.

Die Mengen N,Z und Q sind gleichmachtig. Die Menge R hat eine großereMachtigkeit als diese drei Mengen.

Kontinuumshypothese (1878): (Georg Cantor [1845–1918]) Es gibt keineMenge A, deren Machtigkeit großer als die von N und kleiner als die von R

ist.Diese Hypothese leitete die Entwicklung der Mengenlehre ein. Sie ist (auf derBasis der heute zugrundegelegten Axiome der Mengenlehre) weder beweisbarnoch widerlegbar. Solche Fragen werden in den Vorlesungen uber mathema-tische Logik behandelt.

1.2.5 Wurzeln und Potenzen reeller Zahlen

In diesem Abschnitt behandeln wir einige wichtige Gleichungen und Unglei-chungen fur Potenzen und Wurzeln reeller Zahlen.

Sei x ∈ R eine reelle Zahl. Die Potenz xn fur n ∈ N0 definieren wir induktivdurch:

x0 := 1, x1 := x, x2 := x · x , . . . , xn+1 := xn · x.

Page 28: Grundkurs Analysis

20 1 Reelle und komplexe Zahlen

Fur x 6= 0 setzen wir

x−n :=1

xn.

Damit ist die k–te Potenz xk fur jede ganze Zahl k ∈ Z und jede reelle Zahlx ∈ R, x 6= 0, definiert. Aus den Korper- und Anordnungseigenschaften derreellen Zahlen folgt sofort

1. Fur x ∈ R mit x 6= 0 und k, l ∈ Z gilt

xk · xl = xk+l , xk·l = (xk)l und (x · y)k = xk · yk.

2. Ist 0 < x < y, dann gilt xn < yn fur alle n ∈ N.

Satz 1.12 (Binomischer Satz) Seien x, y ∈ R. Dann gilt fur jedes n ∈ N

(x+ y)n =n∑

k=0

(n

k

)xk · yn−k.

Beweis. Wir fuhren den Beweis durch vollstandige Induktion uber n:Induktionsanfang: n = 1:

(1

0

)x0 · y1 +

(1

1

)x1 · y0 = x+ y.

Induktionsschritt :Induktionsvoraussetzung: Fur ein fixiertes n ∈ N gilt

(x+ y)n =

n∑

k=0

(n

k

)xk · yn−k.

Induktionsbehauptung:

(x+ y)n+1 =

n+1∑

k=0

(n+ 1

k

)xk · yn−k+1.

Induktionsbeweis:

Page 29: Grundkurs Analysis

1.2 Die reellen Zahlen 21

(x+ y)n+1 = (x+ y)n · (x+ y)

IV=

(n∑

k=0

(n

k

)xk · yn−k

)· (x+ y)

=

n∑

k=0

(n

k

)xk · x · yn−k +

n∑

k=0

(n

k

)xk · yn+1−k

=n∑

k=0

(n

k

)xk+1 · yn+1−(k+1) +

n∑

k=0

(n

k

)xk · yn+1−k

=

n+1∑

l=1

(n

l − 1

)xl · y(n+1)−l +

n∑

l=0

(n

l

)xl · y(n+1)−l

=

n∑

l=1

((n

l

)+

(n

l − 1

))xl · y(n+1)−l +

(n

n

)xn+1y0 +

(n

0

)x0yn+1

1.4=

n+1∑

l=0

(n+ 1

l

)xl · y(n+1)−l.

⊓⊔

Aus dem Binomischen Satz 1.12 ergibt sich die

Folgerung 1.4

1. (1 + x)n =n∑k=0

(nk

)xk,

2.n∑k=0

(nk

)= 2n,

3.n∑k=0

(−1)k(nk

)= 0.

Beweis. (1) ist der Binomische Satz fur y = 1, (2) ist der Binomischer Satzfur x = y = 1 und (3) ist der Binomischer Satz fur x = −1, y = 1. ⊓⊔

Satz 1.13 (Bernoullische Ungleichung) Fur jede reelle Zahl x ≥ −1 undfur jedes n ∈ N gilt:

(1 + x)n ≥ 1 + nx.

Beweis. Beweis durch vollstandige Induktion uber n.Induktionsanfang: Die Aussage gilt offensichtlich fur n = 1.Induktionsschritt :Induktionsvoraussetzung: Fur ein fixiertes n ∈ N gilt (1 + x)n ≥ 1 + nx.Induktionsbehauptung: (1 + x)n+1 ≥ 1 + (n+ 1) x.Induktionsbeweis:

Page 30: Grundkurs Analysis

22 1 Reelle und komplexe Zahlen

(1+x)n+1 = (1+x)n(1+x)IV

≥ (1+n x)(1+x) = 1+(n+1) x+n x2︸︷︷︸≥0

≥ 1+(n+1) x.

⊓⊔Als Anwendung erhalt man unmittelbar

Folgerung 1.5

1. Sei y ∈ R, y > 1, und r ∈ R+. Dann existiert ein n ∈ N, so daß yn > r.2. Sei y ∈ R, 0 < y < 1 und r ∈ R+. Dann existiert ein n ∈ N mit yn < r.

Beweis. Sei r ∈ R+ und y > 1. Nach dem Archimedischen Axiom fur reelleZahlen existiert eine naturliche Zahl n ∈ N, so daß n > r

y−1 . Dann folgt mitder Bernoullischen Ungleichung

yn = (1 + (y − 1))n ≥ 1 + n (y − 1) ≥ n (y − 1) > r.

Ist 0 < y < 1, so wenden wir das eben Bewiesene auf die reelle Zahl 1y> 1 an

und erhalten eine naturliche Zahl n ∈ N mit ( 1y)n > 1

rund somit yn < r. ⊓⊔

Satz 1.14 (Geometrische Summe) Fur jede reelle Zahl x 6= 1 und jedenaturliche Zahl n gilt:

n∑

k=0

xk =1 − xn+1

1 − x.

Beweis. Beweis durch vollstandige Induktion uber n.Induktionsanfang: n = 1:

1 − x2

1 − x=

(1 − x)(1 + x)

1 − x= 1 + x = x0 + x1.

Induktionsschritt :Induktionsvoraussetzung: Die Behauptung ist fur ein fixiertes n richtig.Induktionsbehauptung:

n+1∑

k=0

xk =1 − xn+2

1 − x.

Induktionsbeweis:

n+1∑

k=0

xk =( n∑

k=0

xk)

+ xn+1

IV=

1 − xn+1

1 − x+ xn+1

=1 − xn+1 + xn+1(1 − x)

1 − x

=1 − xn+2

1 − x.

Page 31: Grundkurs Analysis

1.2 Die reellen Zahlen 23

⊓⊔Wir beweisen nun die Existenz der n-ten Wurzel einer positiven reellen Zahl.

Satz 1.15 Sei x ∈ R+ eine positive reelle Zahl und n ∈ N. Dann existiertgenau eine positive reelle Zahl y ∈ R+ mit yn = x.

Bezeichnung: y := n√x heißt die n–te Wurzel aus x.

Beweis. Zum Beweis benutzen wir das Intervallschachtelungsprinzip. Es ge-nugt, den Fall x > 1 zu behandeln. Den Fall x < 1 fuhrt man durch Ubergangzu x′ = 1

xdarauf zuruck.

Wir definieren induktiv die folgende Folge abgeschlossener Intervalle: Wir set-zen I1 := [1, x]. Sei Ik := [ak, bk] bereits konstruiert. Dann definieren wir Ik+1

durch Halbierung von Ik: Sei m = ak+bk

2 der Mittelpunkt von Ik. Wir setzendann

Ik+1 = [ak+1, bk+1] :=

[ak,m] falls mn ≥ x[m, bk] falls mn < x.

Dann gilt nach Konstruktion:

1. I1 ⊃ I2 ⊃ I3 ⊃ . . ..

2. L(Ik) = (x − 1) ·(

12

)k−1fur alle k ∈ N.

3. ank ≤ x ≤ bnk fur alle k ∈ N.

Wir erhalten also ineinander geschachtelte Intervalle, deren Langen nach Fol-gerung 1.2 beliebig klein werden. Nach dem Intervallschachtelungsprinzip exi-stiert genau eine reelle Zahl y ∈ R mit y ∈ Ik fur jedes k ∈ N. Wir zeigennun, dass yn = x gilt.

Dazu betrachten wir die Intervalle

Jk := [ank , bnk ].

Da Ik ⊃ Ik+1, gilt wegen der Monotonie der Potenzen auch Jk ⊃ Jk+1. Furdie Lange von Jk erhalten wir

L(Jk) = bnk − ank

= (bk − ak)(bn−1k + bn−2

k ak + . . .+ bkan−2k + an−1

k )

= L(Ik) · bn−1k

(1 +

akbk

+a2k

b2k+ . . .+

an−1k

bn−1k

)

≤ (x− 1) · 1

2k−1· bn−1

1 · n

Nach Folgerung 1.2 gibt es zu jedem ε > 0 ein k ∈ N mit L(Jk) ≤ ε. Die Folgeder Intervalle Jk ist also eine Intervallschachtelung. Nach Konstruktion giltaber sowohl x ∈ Jk (Eigenschaft 3.) als auch yn ∈ Jk fur alle k ∈ N. Da der

Durchschnitt∞⋂k=1

Jk nur ein Element enthalt, folgt x = yn.

Die Eindeutigkeit der Zahl y ∈ R+ mit yn = x ist klar, denn ist z.B. y1 < y2,so folgt yn1 < yn2 . ⊓⊔

Page 32: Grundkurs Analysis

24 1 Reelle und komplexe Zahlen

Bemerkung: Die Gleichung yn = x hat fur gerade n zwei reelle Losungen

y1 = n√x und y2 = − n

√x.

Die Eindeutigkeitsaussage von Satz 1.15 gilt also nur in R+.

Die Gleichung yn = x ist in Q im allgemeinen nicht losbar.

Satz 1.16 Seien n und k naturliche Zahlen. Dann ist n√k genau dann eine

rationale Zahl, falls k die n–te Potenz einer naturlichen Zahl ist, das heißtfalls k = mn fur ein m ∈ N. Insbesondere gilt:

• Fur jede Primzahl p und jedes n > 1 ist die Zahl n√p irrational.

• Wennn√k rational ist, so ist

n√k sogar eine naturliche Zahl.

Beweis.1. (⇐=): Sei k = mn mit m ∈ N. Dann ist per Definition m := n

√k ∈ N ⊂ Q.

2. (=⇒): Sei n√k ∈ Q. Dann existieren teilerfremde Zahlen m, q ∈ N, so dass

n√k = m

q. Nach Definition erhalt man k = (m

q)n = mn

qn und somit kqn = mn.Wir zeigen nun, dass q = 1 gilt. Angenommen q > 1. Dann existiert einePrimzahl p > 1, die q teilt. Folglich teilt p auch kqn = mn, das heißt p teiltauch m. Das ist aber ein Widerspruch dazu, dass q und m teilerfremd sind.Somit ist q = 1 und k = mn fur m ∈ N. ⊓⊔

Wir konnen jetzt die Potenzen mit rationalen Exponenten definieren.

Definition 1.17. Sei x ∈ R+ eine positive reelle Zahl und q ∈ Q eine rationaleZahl mit der Darstellung q = n

m, n ∈ Z,m ∈ N. Dann sei

xq :=(

m√x)n.

Diese Definition ist korrekt, d.h. unabhangig von der Wahl der Darstellungvon q.

Die folgenden Eigenschaften fur die Potenzen mit rationalen Exponenten sindleicht nachzuprufen: Seien p, q ∈ Q und x, y ∈ R+. Dann erhalt man:

1. xq · xp = xp+q , (xq)p = xp·q , xq · yq = (xy)q.2. Sei p < q. Dann gilt xp < xq falls x > 1 und xp > xq falls 0 < x < 1.3. Sei 0 < x < y. Dann gilt xq < yq falls q > 0 und xq > yq falls q < 0.

Wir werden auf die Potenzen und ihre Eigenschaften spater zuruckkommen.

Abschließend beweisen wir eine Ungleichung zwischen dem geometrischen unddem arithmetischen Mittel von n positiven reellen Zahlen.

Page 33: Grundkurs Analysis

1.2 Die reellen Zahlen 25

Definition 1.18. Seien a1, a2, . . . , an positive reelle Zahlen. Dann heißen dieZahlen

A(a1, . . . , an) :=a1 + a2 + . . .+ an

narithmetisches Mittel

G(a1, . . . , an) := n√a1 · a2 · . . . · an geometrisches Mittel

von a1, a2, . . . , an.

Satz 1.17 Fur alle positiven reellen Zahlen a1, a2, . . . , an gilt

n√a1 · a2 · . . . · an ≤ a1 + a2 + . . .+ an

n.

Die Gleichheit tritt nur dann auf, wenn a1 = a2 = . . . = an.

Beweis. Das arithmetische und das geometrische Mittel ist homogen, d.h. furein λ ∈ R+ gilt

A(λa1, . . . , λan) = λ · A(a1, . . . , an) und

G(λa1, . . . , λan) = λ ·G(a1, . . . , an).

Es genugt deshalb, den Beweis fur den Fall A(a1, . . . , an) = 1 zu fuhren. (Wirsetzen im anderen Fall λ = A−1).Wir zeigen mit vollstandiger Induktion uber n: Sind a1, . . . , an positive reelleZahlen mit a1 +a2 + . . .+an = n, so gilt a1 ·a2 · . . . ·an ≤ 1 und die Gleichheittritt nur auf, wenn a1 = a2 = . . . = an = 1.Induktionsanfang: n = 1. In diesem Fall gilt die Behauptung offensichtlich.Induktionsschritt :Die Aussage gelte fur ein n ∈ N. Wir mussen sie dann fur n+1 beweisen. Fura1 = a2 = . . . = an+1 = 1 gilt die Aussage. Seien also a1, a2, . . . , an+1 positiveZahlen mit a1 + a2 + . . . + an+1 = n + 1, von denen eine von 1 verschiedenist. OBdA sei a1 < 1 und a2 > 1. Dann ist

0 < (1 − a1)(a2 − 1) = a1 + a2 − 1 − a1 · a2

und somita1 · a2 < a1 + a2 − 1. (∗)

Außerdem gilt(a1 + a2 − 1) + a3 + . . .+ an+1 = n.

Wir wenden die Induktionsvoraussetzung auf die n Summanden der letztenGleichung an und erhalten mit (*)

1 ≥ (a1 + a2 − 1) · a3 · . . . · an+1

(∗)> (a1 · a2) · a3 · . . . · an+1.

Damit ist der Satz bewiesen. ⊓⊔

Page 34: Grundkurs Analysis

26 1 Reelle und komplexe Zahlen

1.3 Die komplexen Zahlen

Fur jede von Null verschiedene reelle Zahl x gilt x2 > 0. Man kann im Zahl-bereich der reellen Zahlen also keine Wurzeln aus negativen Zahlen ziehen.Insbesondere gibt es keine reelle Losung der Gleichung x2 = −1.Die komplexen Zahlen sind eine Erweiterung der reellen Zahlen, die es moglichmacht, auch Wurzeln aus negativen Zahlen zu ziehen.Dazu betrachten wir die Menge der Paare reeller Zahlen

R2 := R × R := (a, b) | a, b ∈ R

und fuhren auf dieser Menge eine Addition + : R2 × R2 −→ R2 und eineMultiplikation · : R2 × R2 −→ R2 ein.Zwei Paare z1 = (a1, b1) und z2 = (a2, b2) aus R2 addieren bzw. multiplizierenwir nach folgenden Regeln:

z1 + z2 := (a1, b1) + (a2, b2) = (a1 + a2, b1 + b2) (1.1)

z1 · z2 := (a1, b1) · (a2, b2) = (a1a2 − b1b2, a1b2 + a2b1). (1.2)

Die mit dieser Addition und Multiplikation ausgestattete Menge R2 bezeich-net man mit dem neuen Symbol C, d.h. C := R2, um auszudrucken, dass manaußer der ublichen Addition (1.1) der reellen Paare auch noch die Multiplika-tion (1.2) festgelegt hat. Die Elemente von C heißen komplexe Zahlen.

Satz 1.18 Die komplexen Zahlen [C,+, ·] bilden einen Korper. Es gelten alsofolgende Rechenregeln fur die Addition + und die Multiplikation ·K1: z1 + z2 = z2 + z1 fur alle z1, z2 ∈ C.K2: (z1 + z2) + z3 = z1 + (z2 + z3) fur alle z1, z2, z3 ∈ C.K3: Die komplexe Zahl 0 := (0, 0) ist das neutrale Element der Addition, das

heißt es gilt 0 + z = z + 0 = z fur alle z ∈ C.K4: Zu je zwei komplexen Zahlen z1, z2 ∈ C existiert eine komplexe Zahl

w ∈ C mit w + z2 = z1.K5: z1 · z2 = z2 · z1 fur alle z1, z2 ∈ C.K6: (z1 · z2) · z3 = z1 · (z2 · z3) fur alle z1, z2.z3 ∈ C.K7: Die komplexe Zahl 1 := (1, 0) ist das neutrale Element der Multipli-

kation, das heißt es gilt 1 · z = z · 1 = z fur alle z ∈ C.K8: Zu je zwei komplexen Zahlen z1 und z2 6= 0 existiert eine komplexe Zahl

v ∈ C mit v · z2 = z1 .K9: (z1 + z2) · z3 = z1 · z3 + z2 · z3 fur alle z1, z2, z3 ∈ C.

Beweis. Diese Eigenschaften folgen direkt aus den Korpereigenschaften vonR und den Definitionen von + und ·. Wir uberprufen K4 und K8:Seien z1 = (x1, y1) und z2 = (x2, y2) zwei komplexe Zahlen. Dann gilt furw := (x1 − x2, y1 − y2) die Gleichung w + z2 = z1. Sei zusatzlich z2 6= 0. Wirbetrachten

Page 35: Grundkurs Analysis

1.3 Die komplexen Zahlen 27

v :=

(x1x2 + y1y2x2

2 + y22

,y1x2 − x1y2x2

2 + y22

)∈ C.

Man rechnet leicht nach, dass fur diese komplexe Zahl v die Geichung v·z2 = z1erfullt ist. ⊓⊔

Die komplexe Zahl w mit w + z2 = z1, so heißt Differenz von z1 und z2 undwird mit w := z1 − z2 bezeichnet. Die komplexe Zahl v mit v · z2 = z1 heißtQuotient von z1 und z2 und wird mit v := z1

z2bezeichnet. Fur z ∈ C mit

z 6= 0 sei z−1 := 1z. Die Potenzen zn fur n ∈ N seinen induktiv durch z1 := z,

zn+1 := zn · z erklart. Weiterhin sei z−n :=(

1z

)n= 1

zn .

Bemerkung: Im Gegensatz zum Korper der reellen Zahlen ist der Korperder komplexen Zahlen nicht angeordnet (Ubungsaufgabe 15).

Bezeichnungen:Fur den bequemen Umgang mit den komplexen Zahlen eignet sich die nunfolgende Vereinbarung.Nach Definition gilt fur die komplexen Zahlen (a, 0) und (b, 0)

(a, 0) + (b, 0) = (a+ b, 0) und (a, 0) · (b, 0) = (a · b, 0).

Die Zuordnung a ∈ R 7−→ (a, 0) ∈ C ist also eine Einbettung der Mengeder reellen Zahlen in die Menge der komplexen Zahlen, die mit den jewei-ligen Korperoperationen + und · vertraglich ist. Wir konnen deshalb R alsTeilkorper von C auffassen. Dies werden wir in Zukunft tun und die komplexeZahl (a, 0) einfach mit a bezeichnen. Dies rechtfertigt auch die Bezeichnung0 := (0, 0) fur das neutrale Element der Addition und 1 := (1, 0) fur das neu-trale Element der Multiplikation (siehe Satz 1.18).Die komplexe Zahl (0, 1) bezeichnen wir mit i und nennen sie die imaginareEinheit. Fur i = (0, 1) gilt

i2 = (0, 1) · (0, 1) = (−1, 0) = −1.

Die Gleichung x2 = −1 ist also im Korper der komplexen Zahlen losbar.Ist z = (a, b) eine beliebige komplexe Zahl, so gilt mit unseren Vereinbarungen

z = (a, b) = (a, 0) + (0, b) = (a, 0) + (0, 1)(b, 0) = a+ i · b.

Jede komplexe Zahl z ∈ C ist also in der Form

z = a+ ib a, b ∈ R (1.3)

darstellbar. Dies ist die ubliche Darstellung der komplexen Zahlen. Man kanndann mit den komplexen Zahlen wie mit den reellen rechnen, indem mani2 = −1 berucksichtigt. Es gilt also fur z1 = a1 + i b1 und z2 = a2 + i b2

Page 36: Grundkurs Analysis

28 1 Reelle und komplexe Zahlen

z1 + z2 = (a1 + ib1) + (a2 + ib2) = (a1 + a2) + i (b1 + b2) (1.4)

z1 · z2 = (a1 + ib1) · (a2 + ib2) = (a1a2 − b1b2) + i (a1b2 + b1a2) (1.5)

Ist z = a+ ib ∈ C, so heißt Re(z) := a der Realteil von z und Im(z) := b derImaginarteil von z. Ist Re(z) = 0, so heißt z rein imaginar, ist Im(z) = 0, soheißt z reell.

Beispiel: Sei z = a+ ib 6= 0 . Dann ist

1

z=

1

a+ ib=

a− ib

(a+ ib)(a− ib)=

a− ib

a2 + b2=

a

a2 + b2− i

b

a2 + b2,

also gilt

Re

(1

z

)=

a

a2 + b2bzw. Im

(1

z

)= − b

a2 + b2.

Definition 1.19. Ist z = a+ ib ∈ C eine komplexe Zahl, so heißt z := a− ibdie konjugiert komplexe Zahl zu z.

Es gelten folgende, leicht zu uberprufende Rechenregeln:

Satz 1.19 Fur alle komplexen Zahlen z und w gilt:

1. z + w = z + w, z · w = z · w, z = z .2. z + z = 2 ·Re(z) , z − z = 2i · Im(z) .3. z = z ⇐⇒ z ∈ R.4. z · z = Re(z)2 + Im(z)2 . Insbesondere ist 0 ≤ z · z ∈ R.

⊓⊔

Definition 1.20. Sei z = a+ ib ∈ C eine komplexe Zahl. Der Betrag von zist die reelle Zahl

|z| :=√a2 + b2 =

√z · z.

Satz 1.20 (Eigenschaften des Betrages komplexer Zahlen)Seien z und w komplexe Zahlen. Dann gilt:

1. |z| ≥ 0 , wobei |z| = 0 genau dann, wenn z = 0.2. |z · w| = |z| · |w|.3. |z + w| ≤ |z|+ |w| (Dreiecksungleichung)4. |z| = |z|5. |Re(z)| ≤ |z|, |Im(z)| ≤ |z|.

Page 37: Grundkurs Analysis

1.3 Die komplexen Zahlen 29

Beweis. 1., 4. und 5. folgen trivialerweise aus der Definition. Formel 2. folgtaus

|z · w|2 = (zw)(zw) = zz · ww = |z|2 · |w|2.Die Dreiecksungleichung folgt aus

|z + w|2 = (z + w)(z + w)

= (z + w)(z + w)

= zz + ww + wz + zw

= zz + ww + wz + wz

= |z|2 + |w|2 + 2 · Re(wz)≤ |z|2 + |w|2 + 2 · |wz|= |z|2 + |w|2 + 2 · |w| · |z|= (|z| + |w|)2.

⊓⊔

Die geometrische Interpretation der komplexen Zahlen

Der Darstellung der reellen Zahlen auf einer Geraden entspricht die Darstel-lung der komplexen Zahlen in der Ebene, die man dann oft Gaußsche Zahlen-ebene oder komplexe Zahlenebene nennt.Wir wahlen ein kartesisches Koordinatensystem in der Ebene und stellen diekomplexe Zahl z = (a, b) = a+ ib ∈ C als Punkt der Ebene mit den Koordi-naten (a, b) dar.

-

6

R

iR

3z = (a, b) = a+ bi

a1

i

ib

reelle Achse (x-Achse)

imaginare Achse (y-Achse)

ϕ

|z|

Die reellen Zahlen R entsprechen der x–Achse, die rein imaginaren Zahlen iRder y–Achse.

Page 38: Grundkurs Analysis

30 1 Reelle und komplexe Zahlen

Nach dem Satz von Pythagoras ist |z| =√a2 + b2 gleich dem Abstand des

Punktes z = (a, b) zum Ursprung des Koordinatensystems. Die komplexe Zahlz = (a,−b) = a− ib entsteht durch Spiegelung von z an der reellen Achse. Furz 6= 0 sei ϕ der Winkel zwischen der x–Achse und dem Strahl vom Ursprungdurch z, gemessen in positiver Richtung (entgegen dem Uhrzeigersinn). Danngilt im rechtwinkligen Dreieck

cosϕ =a

|z| und sinϕ =b

|z| .

Die Darstellung

z = |z| (cosϕ+ i · sinϕ) (1.6)

heißt trigonometrische Darstellung der komplexen Zahl z 6= 0. Der Winkel ϕheißt Argument von z und wird mit arg(z) bezeichnet. Das Argument ϕ istbis auf ganzzahlige Vielfache von 2π eindeutig bestimmt.

Geometrische Deutung von z1 + z2:Die Summe z1+z2 entspricht dem Endpunkt der vom Nullpunkt ausgehendenDiagonalen im von z1 und z2 gebildeten Parallelogramm.

-

6

R

iR

1

3

a2 a1 a1 + a2

ib1

ib2

i(b1 + b2) z1 + z2 = (a1 + a2, b1 + b2)

z1

z2 z2 = (a2, b2)

z1 = (a1, b1)

Geometrische Deutung von z1 · z2:Wir betrachten die trigonometrische Darstellung von z1 und z2

z1 = |z1|(cosϕ1 + i sinϕ1)z2 = |z2|(cosϕ2 + i sinϕ2)

Nach den Additionstheoremen fur cos und sin gilt

Page 39: Grundkurs Analysis

1.3 Die komplexen Zahlen 31

z1 · z2 = |z1||z2| · (cosϕ1 · cosϕ2 − sinϕ1 · sinϕ2)

+ i · (sinϕ1 · cosϕ2 + sinϕ2 · cosϕ1)= |z1 · z2| · (cos(ϕ1 + ϕ2) + i · sin(ϕ1 + ϕ2))

und folglich |z1 · z2| = |z1| · |z2| und arg(z1 · z2) = arg(z1) + arg(z2).Nach diesen Formeln kann z1 · z2 gezeichnet werden.

w

z1 · z2

z1

z2

|w| = |z1 · z2|1

ϕ1

ϕ2

ϕ1 + ϕ2

Fur die Winkel gilt ϕ1 = arg(z1) und ϕ2 = arg(z2). Der Punkt z1 · z2 liegtauf dem vom Ursprung ausgehenden Strahl, der mit der reellen Achse R denWinkel ϕ1 +ϕ2 einnimmt. Mittels des Strahlensatzes erhalt man einen Punktw auf dem Strahl durch den Ursprung und z2 mit |w| = |z1 ·z2|. Man dreht die-sen Punkt w um den Winkel ϕ1 um den Ursprung und erhalt den Punkt z1 ·z2.

Beispiele:

a) Die Abbildung z ∈ C 7−→ iz ∈ C beschreibt die Drehung um den Ursprungum den Winkel π2 (entgegen dem Uhrzeigersinn).

b) Die Abbildung z ∈ C 7−→ rz ∈ C, r ∈ R+, ist die Streckung von z um denFaktor r auf dem durch den Ursprung und z gehenden Strahl.

c) Was bedeutet die Inversion z ∈ C 7−→ z−1 = 1z∈ C geometrisch?

Betrachten wir den Kreis K1 = z ∈ C | |z|2 = 1 vom Radius 1. Sei z ∈ C

ein vom Ursprung verschiedener Punkt. Der Punkt z ∈ C heißt Spiegelpunktvon z an K1, falls z auf dem von 0 ausgehenden Strahl durch z liegt und|z| · |z| = 1 gilt. Dann existiert ein c ∈ R+ mit z = cz. Setzen wir das in|z| · |z| = 1 ein, so erhalten wir c = 1

|z|2 = 1z·z . Folglich ist der Spiegelpunkt

z = 1z

=(

1z

). Die Inversionsabbildung z ∈ C 7−→ z−1 ∈ C ist also die Hinter-

einanderausfuhrung der Spiegelung am Kreis K1 und der Spiegelung an der

Page 40: Grundkurs Analysis

32 1 Reelle und komplexe Zahlen

reellen Achse.

z−1

z

R

iR

1

z−1

Wir erklaren nun Wurzeln aus komplexen Zahlen: Wie wir gerade gesehenhaben, gelten fur eine komplexe Zahl z die Formeln

|zn| = |z|n und arg(zn) = n · arg(z).

Daraus folgt

Satz 1.21 Sei w ∈ C eine von Null verschiedene komplexe Zahl mit denBetrag r := |w| und dem Argument ϕ =: arg(w) ∈ [0, 2π). Dann hat dieGleichung zn = w genau n verschiedene komplexe Losungen, namlich

zk := n√r ·(

cos

n+k · 2πn

)+ i sin

n+k · 2πn

))

wobei k ∈ 0, 1, 2, . . . , n− 1.Beweis. Fur die komplexen Zahlen zk gilt nach Definition

|zk| = n√r und arg (zk) =

ϕ

n+

2πk

n=: ϕk.

Hieraus folgt

znk = ( n√r)n︸ ︷︷ ︸

|zk|n

(cos(ϕ+ 2πk︸ ︷︷ ︸n·arg (zk)

) + i sin(ϕ+ 2πk)) = |w|(cosϕ+ i sinϕ) = w.

Page 41: Grundkurs Analysis

1.3 Die komplexen Zahlen 33

Wir haben also n verschiedene Losungen der Gleichung zn = w gefunden. Wirzeigen, dass es keine weiteren Losungen gibt. Sei z eine beliebige Losung vonzn = w und z = |z|(cosψ + i · sinψ) die trigonometrische Darstellung von z.Es gilt |z|n = |w| und folglich |z| = n

√|w|. Weiterhin ist n · ψ = ϕ + 2πl, fur

ein l ∈ Z und somit ψ = ϕn

+ 2πln

. Wir teilen l durch n mit Rest: l = k + rn,r ∈ Z und 0 ≤ k ≤ n− 1. Dann gilt ψ = ϕk + r · 2π und folglich z = zk. ⊓⊔

Geometrische Deutung der Wurzeln:Die Losungen zk von zn = w bilden die Ecken eines regelmaßigen n-Ecks aufdem Kreis vom Radius n

√|w|.

-

6

R

iR

1

M

)

N

z0

z1

z2

z3

w

ϕ4

ϕ

π2

n = 4

Wir formulieren abschließend den Fundamentalsatz der Algebra, der eine derwichtigsten Aussagen uber komplexe Zahlen enthalt.

Satz 1.22 (Fundamentalsatz der Algebra)Es seien a0, a1, . . . , an−1 komplexe Zahlen. Dann besitzt die Gleichung

zn + an−1zn−1 + . . .+ a1z + a0 = 0

eine Losung z ∈ C. ⊓⊔

Page 42: Grundkurs Analysis

34 1 Reelle und komplexe Zahlen

Der Beweis dieses Satzes fur allgemeine n erfolgt spater. Wir beweisen denFundamentalsatz der Algebra hier zunachst nur fur n = 2. In diesem Fallerhalt man alle komplexen Losungen z der quadratischen Gleichungz2 + a1z + a0 = 0 mittels quadratischer Erganzung. Es gilt

z2 + a1z + a0 = 0

⇐⇒(z +

a1

2

)2

+ a0 −a21

4= 0

⇐⇒ w2 = c wobei w := z +a1

2und c =

a21

4− a0.

Fur c 6= 0 konnen wir die Gleichung w2 = c nach Satz 1.21 losen und erhaltengenau 2 verschiedene komplexe Losungen von z2 + a1z + a0 = 0. Fur c = 0

gilt a0 =a21

4 und deshalb

z2 + a1z + a0 =(z +

a1

2

)(z +

a1

2

).

In diesem Fall ist z = −a1

2 eine 2-fache Losung von z2 + a1z + a0 = 0.

1.4 Die Vektorraume Rn und Cn

Definition 1.21. Mit Rn bezeichnen wir die Menge aller n–Tupel reellerZahlen. Mit Cn bezeichnen wir die Menge aller n–Tupel komplexer Zahlen.Wir addieren zwei n-Tupel x = (x1, . . . , xn) und y = (y1, . . . , yn) aus Rn (Cn)mittels:

x+ y := (x1, . . . , xn) + (y1, . . . , yn) = (x1 + y1, . . . , xn + yn).

Wir multiplizieren ein n-Tupel x = (x1, . . . , xn) ∈ Rn (Cn) mit einer Zahlλ ∈ R (C) mittels:

λ · z := λ · (x1, . . . , xn) = (λx1, . . . , λxn).

Satz 1.23 Rn ist ein n–dimensionaler Vektorraum uber dem Korper der re-ellen Zahlen R. Cn ist ein n–dimensionaler Vektorraum uber dem Korper derkomplexen Zahlen C.

Beweis. Siehe Algebra–Vorlesung ⊓⊔

Die Elemente von Rn und Cn bezeichnet man deshalb auch als Vektoren.

Page 43: Grundkurs Analysis

1.4 Die Vektorraume Rn und Cn 35

Definition 1.22. (1) Unter dem Skalarprodukt zweier Vektoren x = (x1, . . . , xn), y =(y1, . . . , yn) aus Rn versteht man die Zahl

〈x, y〉 :=

n∑

j=1

xj · yj ∈ R.

(2) Unter dem Skalarprodukt zweier Vektoren z = (z1, . . . , zn), w = (w1, . . . , wn)aus Cn versteht man die Zahl

〈z, w〉 :=

n∑

j=1

zj · wj ∈ C.

(3) Die Norm eines Vektors x ∈ Rn bzw. z ∈ Cn ist die Zahl

‖x‖ :=√〈x, x〉 =

√√√√n∑

j=1

x2j ∈ R, bzw. ‖z‖ :=

√〈z, z〉 =

√√√√n∑

j=1

|zj|2 ∈ R.

Satz 1.24 (Eigenschaften des Skalarprodukts und der Norm)Seien x, y ∈ Rn, z, w ∈ Cn, λ ∈ R und µ ∈ C. Dann gilt

1. 〈x, y〉 = 〈y, x〉〈z, w〉 = 〈w, z〉.

2. 〈x+ x, y〉 = 〈x, y〉 + 〈x, y〉〈z + z, w〉 = 〈z, w〉 + 〈z, w〉.

3. 〈λx, y〉 = 〈x, λy〉 = λ〈x, y〉〈µz,w〉 = µ〈z, w〉 und 〈z, µw〉 = µ〈z, w〉.

4. ‖x‖ ≥ 0 , wobei ‖x‖ = 0 ⇐⇒ x = (0, . . . , 0).‖z‖ ≥ 0 , wobei ‖z‖ = 0 ⇐⇒ z = (0, . . . , 0).

5. ‖λx‖ = |λ| · ‖x‖‖µz‖ = |µ| · ‖z‖.

6. Cauchy–Schwarzsche Ungleichung (CSU):

|〈x, y〉| ≤ ‖x‖ · ‖y‖ bzw. |〈z, w〉| ≤ ‖z‖ · ‖w‖

Die Gleichheit gilt genau dann, wenn x und y, bzw. z und w linearabhangig sind.

7. Dreiecksungleichung:

‖x+ y‖ ≤ ‖x‖ + ‖y‖ bzw. ‖z + w‖ ≤ ‖z‖ + ‖w‖.

Beweis. Die Aussagen 1.–5. folgen unmittelbar aus der Definition.Beweis der Cauchy-Schwarzschen Ungleichung:Da das Skalarprodukt auf Rn ein Spezialfall desjenigen auf Cn ist, genugt es,

Page 44: Grundkurs Analysis

36 1 Reelle und komplexe Zahlen

|〈z, w〉| ≤ ‖z‖ · ‖w‖

fur alle komplexen Vektoren z und w zu beweisen. Da die Norm nichtnegativist, gilt

0 ≤ ‖ ‖w‖2z − 〈z, w〉w ‖2. (∗)Daraus folgt

0 ≤ 〈 ‖w‖2z − 〈z, w〉w, ‖w‖2z − 〈z, w〉w 〉und wir erhalten

0 ≤ ‖w‖4‖z‖2 − 〈z, w〉‖w‖2〈w, z〉 − ‖w‖2〈z, w〉〈z, w〉 + 〈z, w〉〈z, w〉‖w‖2.

Folglich gilt‖w‖4‖z‖2 ≥ |〈z, w〉|2‖w‖2.

OBdA sei w 6= 0, ansonsten ist die Behauptung sofort erfullt. Dann folgt

|〈z, w〉|2 ≤ ‖w‖2‖z‖2

und somit|〈z, w〉| ≤ ‖z‖ · ‖w‖.

Die Gleichheit kann nur gelten, wenn in (*) die Gleichheit steht. Dies ist abergenau dann der Fall, wenn ‖w‖2z − 〈z, w〉w = 0, dh. wenn z und w linearabhangig sind.

Beweis der Dreiecksungleichung: Es genugt abermals ‖z+w‖ ≤ ‖z‖+‖w‖ furalle z, w ∈ Cn zu beweisen. Es gilt

‖z + w‖2 = 〈z + w, z + w〉= 〈z, z〉+ 〈w,w〉 + 〈z, w〉 + 〈w, z〉= ‖z‖2 + ‖w‖2 + 〈z, w〉 + 〈z, w〉= ‖z‖2 + ‖w‖2 + 2Re〈z, w〉≤ ‖z‖2 + ‖w‖2 + 2|Re〈z, w〉|≤ ‖z‖2 + ‖w‖2 + 2|〈z, w〉|≤ ‖z‖2 + ‖w‖2 + 2‖z‖ · ‖w‖= (‖z‖ + ‖w‖)2.

⊓⊔

Definition 1.23. Seien x und y zwei Vektoren aus Rn bzw. Cn. Die Zahl

d(x, y) := ‖x− y‖

heißt Euklidischer Abstand zwischen x und y.

Page 45: Grundkurs Analysis

1.4 Die Vektorraume Rn und Cn 37

Satz 1.25 Fur alle Vektoren x, y, u ∈ Rn (Cn) gilt

1. d(x, y) ≥ 0 , wobei d(x, y) = 0 ⇐⇒ x = y.2. d(x, y) = d(y, x).3. d(x, y) ≤ d(x, u) + d(u, y).

Beweis. Die Behauptungen folgen sofort aus Satz 1.24. ⊓⊔

Im folgenden Kapitel betrachten wir Eigenschaften von Rn bzw. Cn, die sichaus der Existenz des Euklidischen Abstandes ergeben. Dabei ist oft nicht wich-tig, dass es sich bei der zugrundeliegenden Menge um Rn oder Cn handelt unddass der Abstand d der konkrete Euklidische Abstand ist. Man benotigt oftnur seine drei in Satz 1.25 formulierten Eigenschaften. Wir konnen deshalbdie gleichen Untersuchungen fur beliebige Mengen X machen, auf denen eineAbstandsfunktion, d.h. eine Funktion d : X ×X −→ R mit den drei in Satz1.25 formulierten Eigenschaften gegeben ist.Eine solche Abstandsfunktion d gibt uns ein Maß dafur, wie weit zwei Punktein X voneinander entfernt sind. Ein solches Abstandsmaß mochte man z.B.auf der Erdoberflache haben, um anzugeben, wie weit zwei Orte voneinanderentfernt sind. Man benotigt solche Abstandsmaße auch fur Funktionenraume,z.B. in der Losungstheorie von Differentialgleichungen, die viele Prozesse derNatur mathematisch beschreiben. Es gibt sehr viele weitere Grunde, sich beiden betrachteten Mengen X nicht auf die Vektorraume Rn und Cn zu be-schranken.

Page 46: Grundkurs Analysis
Page 47: Grundkurs Analysis

2

Metrische Raume

In diesem Kapitel betrachten wir Mengen X , auf denen ein Abstand d :X × X −→ R mit den Eigenschaften aus Satz 1.25 gegeben ist. Mit Hilfeeines solchen Abstandes konnen wir erklaren, was es bedeutet, dass eine Folgevon Punkten xn ∈ X , n = 1, 2, . . ., gegen einen Punkt x ∈ X konvergiert. DerKonvergenzbegriff ist grundlegend fur das Studium des lokalen Anderungs-verhaltens von Funktionen, die auf der Menge X erklart sind.

2.1 Definition und Beispiele metrischer Raume

Definition 2.1. Ein metrischer Raum ist ein Paar (X, d) bestehend aus einernichtleeren Menge X und einer Abbildung d : X × X −→ R mit folgendenEigenschaften

1. d(p, q) ≥ 0 ∀ p, q ∈ X und d(p, q) = 0 ⇐⇒ p = q (Positivitat),2. d(p, q) = d(q, p) ∀ p, q ∈ X (Symmetrie),3. d(p, q) ≤ d(p, r) + d(r, q) ∀ p, q, r ∈ X (Dreiecksungleichung).

Die Elemente von X heißen Punkte des metrischen Raumes, d(p, q) nennt manAbstand zwischen p und q. Die Abbildung d heißt Metrik (oder Abstandsfunk-tion) auf X .

Beispiel 1: Aus Kapitel 1 wissen wir, dass folgende Raume metrische Raumesind:

• R mit d(x, y) := |x− y| fur x, y ∈ R

• C mit d(z, v) := |z − v| fur z, v ∈ C

• Rn mit d(p, q) := ‖p− q‖ fur p, q ∈ Rn

• Cn mit d(r, s) := ‖r − s‖ fur r, s ∈ Cn,

wobei | · | den Betrag der rellen bzw. komplexen Zahl und ‖ · ‖ die EuklidischeNorm auf Rn bzw. Cn bezeichnen. Diese Metriken nennen wir die Standard-metrik auf R, C, Rn bzw. Cn. Ist nichts anderes vereinbart, so seien R, C, Rn

Page 48: Grundkurs Analysis

40 2 Metrische Raume

bzw. Cn mit dieser Metrik versehen.

Beispiel 2: Auf einer Menge konnen verschiedene Metriken existieren:Die folgenden 3 Abbildungen d1, d2, d3 sind z.B. Metriken auf R2:

• Der “Luftlinienabstand“(Standardmetrik):

d1(x, y) := ‖x−y‖ :=√

(x1 − y1)2 + (x2 − y2)2 , wobei x = (x1, x2), y = (y1, y2)

• Die “Mannheimer-Metrik“ (in Mannheim muß man rechtwinklige Straßenlanglaufen, um von einem Punkt zum anderen zu kommen) :

d2(x, y) := |x1 − y1| + |x2 − y2|

• Die “Metrik der franzosischen Eisenbahn“ (um von einer Stadt zur anderenzu kommen, muß man uber Paris fahren): Sei p ein fixierter Punkt.

d3(x, y) :=

d1(x, p) + d1(p, y) falls x 6= y0 falls x = y

Beispiel 3: Auf jeder nichtleeren Menge X existiert eine Metrik.Wir definieren d : X ×X −→ R durch

d(x, y) :=

0 falls x = y1 falls x 6= y.

Dann ist (X, d) ein metrischer Raum. (X, d) heißt diskreter metrischer Raumund d die diskrete Metrik.

Beispiel 4: Sei (X, d) ein metrischer Raum und A ⊂ X eine Teilmenge.Dann ist (A, d|A×A) ebenfalls ein metrischer Raum. Hierbei bezeichnet d|A×Adie Einschrankung der Abbildung d auf die Menge A × A. Sie heißt durch dinduzierte Metrik auf A.

Beispiel 5: Seien (X1, d1), . . . , (Xn, dn) metrische Raume. Wir betrachten dieMenge

X = X1 ×X2 × . . .×Xn = (p1, . . . , pn) | pi ∈ Xi, i ∈ 1, . . . , n

Page 49: Grundkurs Analysis

2.1 Definition und Beispiele metrischer Raume 41

und definieren die Produktmetrik

d((p1, . . . , pn), (q1, . . . , qn)) :=

√√√√n∑

j=1

dj(pj , qj)2.

Dann ist (X, d) ein metrischer Raum und heißt das kartesische Produkt dermetrischen Raume (X1, d1), . . . , (Xn, dn).

Beweis : Die Positivitat und Symmetrie sind aus der Definition sofort er-sichtlich. Wir zeigen die Dreiecksungleichung. Seien dazu p = (p1, . . . , pn),q = (q1, . . . , qn) und r = (r1, . . . , rn) drei beliebige Punkte in X . UnterBenutzung der Dreiecksungleichung fur die Metriken dj und der Cauchy-Schwarzschen Ungleichung (CSU, siehe Kapitel 1.4) erhalten wir

d(p, q)2 =

n∑

j=1

dj(pj , qj)2

≤n∑

j=1

(dj(pj , rj) + dj(rj , qj)

)2

=

n∑

j=1

dj(pj , rj)2 + 2dj(pj , rj) · dj(rj , qj) + dj(rj , qj)

2

= d(p, r)2 + d(r, q)2 + 2

n∑

j=1

dj(pj , rj) · dj(rj , qj)

CSU≤ d(p, r)2 + d(r, q)2 + 2

√√√√n∑

j=1

d(pj , rj)2 ·

√√√√n∑

j=1

d(rj , qj)2

= d(p, r)2 + d(r, q)2 + 2 d(p, r) · d(r, q)= (d(p, r) + d(r, q))

2

Da der Abstand nicht-negativ ist, konnen wir in der Ungleichung auf beidenSeiten die Wurzel ziehen und erhalten die Dreiecksungleichung fur d. ⊓⊔Insbesondere gilt Rn = R × . . .× R und Cn = C × . . .× C (versehen mit derStandardmetrik bzw. der Produktmetrik).

Definition 2.2. Zwei metrische Raume (X, d) und (Y, d) heißen isometrisch,wenn eine bijektive Abbildung f : X −→ Y existiert, so dass

d(x, y) = d(f(x), f(y)) ∀ x, y ∈ X

gilt. Die Abbildung f heißt dann Isometrie zwischen (X, d) und (Y, d).

Page 50: Grundkurs Analysis

42 2 Metrische Raume

2.2 Offene und abgeschlossene Mengen in metrischenRaumen

Definition 2.3. Sei (X, d) ein metrischer Raum, x ∈ X und ε ∈ R+.Die Menge

K(x, ε) := y ∈ X | d(x, y) < εheißt ε–Kugel in X um x.

Beispiel 1: Sei X = Rn mit der Standardmetrik d(x, y) = ‖x− y‖ versehen.Dann ist

K(0, ε) = x ∈ Rn | ‖x‖ < ε = x ∈ Rn | x21 + . . .+ x2

n < ε2

die Kugel vom Radius ε um den Nullpunkt im Rn ohne ihren Rand.

Ist n = 1, so ist jedes offene Intervall eine ε–Kugel.

-

Rx

( )- ε

K(x, ε) = (x− ε, x+ ε)

-

R

( )a b

a+b2

(a, b) = K(a+b2 , a−b2 )

Fur n = 2 sind die ε–Kugeln gerade die Kreisscheiben vom Radius ε ohneihren Rand.

-

6

R

R

K(0, ε)

-

6

R

R

•3ε

(a, b)

a

b

K((a, b), ε)

= (x, y) ∈ R2 | (x− a)2 + (y − b)2 < ε2

Beispiel 2: Sei X = R2 mit folgender Metrik versehen:

d((x1, x2), (y1, y2)) = max(|x1 − y1|, |x2 − y2|).

Page 51: Grundkurs Analysis

2.2 Offene und abgeschlossene Mengen in metrischen Raumen 43

Dann ist (X, d) ein metrischer Raum (Ubungsaufgaben 16). Die ε–Kugel umden Nullpunkt ist fur diese Metrik ein Quadrat mit der Seitenlange 2ε ohneseinen Rand:

K(0, ε) = (x1, x2) ∈ R2 | |x1| < ε, |x2| < ε.

-

6

R

R

ε

ε

−ε

−ε

Beispiel 3: Sei (X, d) ein diskreter metrischer Raum. Dann gilt fur die ε-Kugeln

K(x, ε) =

x falls ε ≤ 1

X falls ε > 1.

Definition 2.4. Sei (X, d) ein metrischer Raum und A ⊂ X eine Teilmen-ge von X. Ein Punkt x ∈ A heißt innerer Punkt von A, falls eine ε–KugelK(x, ε) um x existiert, die vollstandig in A liegt.Int(A) bezeichne die Menge aller inneren Punkte von A ⊂ X.

A

•x

K(x, ε)

Satz 2.1 (Eigenschaften des Inneren einer Menge)Sei (X, d) ein metrischer Raum und seien A und B Teilmengen von X. Danngilt:

1. Int(X) = X, Int(∅) = ∅.2. Int(A) ⊂ A.3. Int(Int(A)) = Int(A).4. A ⊂ B =⇒ Int(A) ⊂ Int(B) (Monotonie).5. Int(A ∩B) = Int(A) ∩ Int(B) .

Page 52: Grundkurs Analysis

44 2 Metrische Raume

6. Fur beliebig viele Teilmengen Ai ⊂ X, i ∈ Λ, gilt

i∈ΛInt(Ai) ⊂ Int(

i∈ΛAi)

Beweis. Die Eigenschaften 1. und 2. folgen unmittelbar aus der Definition desInneren einer Menge.Zu 3. Aus der 2. Eigenschaft des Inneren folgt

Int(Int(A)) ⊂ Int(A).

Es bleibt somit nochInt(A) ⊂ Int(Int(A))

zu zeigen. Sei x ∈ Int(A). Nach Definition von Int(A) existiert eine ε–Kugelum x mit K(x, ε) ⊂ A. Wir zeigen nun, dass K(x, ε) ⊂ Int(A) gilt.

A

•x•y

K(x, ε)

•x•y

K(y, ε− d(x, y))

Sei y ∈ K(x, ε) beliebig gewahlt. Wir betrach-ten die Kugel um y mit dem Radius ε−d(x, y).Dann gilt

K(y, ε− d(x, y)) ⊂ K(x, ε) ⊂ A.

Ist namlich z ∈ K(y, ε− d(x, y)), so gilt

d(y, z) < ε− d(x, y)

und wir erhalten

d(x, z) ≤ d(x, y) + d(y, z) < ε.

Folglich liegt z in K(x, ε).

Nach Definition ist somit jeder Punkt y von K(x, ε) ein innerer Punkt von A,also K(x, ε) ⊂ Int(A). Daraus folgt wiederum, dass x ein innerer Punkt derMenge Int(A) ist. Damit haben wir Int(A) ⊂ Int(Int(A)) bewiesen.

Zu 4. Wir zeigen A ⊂ B =⇒ Int(A) ⊂ Int(B):Sei x ∈ Int(A). Dann existiert eine ε-Kugel K(x, ε) mit K(x, ε) ⊂ A. DaA ⊂ B folgt K(x, ε) ⊂ B. Folglich ist x ∈ Int(B).

Zu 5. Wir zeigen Int(A ∩B) = Int(A) ∩ Int(B):Sei x ∈ Int(A ∩ B). Dann existiert eine ε–Kugel um x mit K(x, ε) ⊂ A ∩ Bund es folgt, dass sowohl K(x, ε) ⊂ A als auch K(x, ε) ⊂ B. Somit ist x ∈Int(A) und x ∈ Int(B) und wir erhalten x ∈ Int(A)∩ Int(B). Es gilt folglichInt(A ∩ B) ⊂ Int(A) ∩ Int(B). Sei nun x ∈ Int(A) ∩ Int(B), das heißtx ∈ Int(A) und x ∈ Int(B). Folglich existieren ε1, ε2 ∈ R+, so dass

K(x, ε1) ⊂ A und K(x, ε2) ⊂ B.

Wir betrachten ε := min(ε1, ε2). Dann ist

Page 53: Grundkurs Analysis

2.2 Offene und abgeschlossene Mengen in metrischen Raumen 45

K(x, ε) ⊂ K(x, ε1) ⊂ A, bzw. K(x, ε) ⊂ K(x, ε2) ⊂ B.

Also gilt K(x, ε) ⊂ A ∩B, somit ist x ∈ Int(A ∩B). Dies zeigt, dassInt(A) ∩ Int(B) ⊂ Int(A ∩B).

Zu 6. Wir betrachten eine Familie Aii∈Λ aus beliebig vielen TeilmengenAi ⊂ X . Sei Aj eine fixierte Menge dieser Familie. Dann ist Aj ⊂

⋃i∈Λ

Ai. Aus

der Monotonieeigenschaft des Inneren folgt

Int(Aj) ⊂ Int(⋃

i∈ΛAi).

Da dies fur alle j ∈ Λ gilt, erhalten wir

j∈ΛInt(Aj) ⊂ Int(

i∈ΛAi).

⊓⊔

Bemerkung: Im allgemeinen ist

Int(A) ∪ Int(B) 6= Int(A ∪B).

Wir betrachten dazu als metrischen Raum X = R mit der Standardmetrikund die Teilmengen A = Q und B = R \ Q. Dann ist A ∪ B = R undInt(A ∪ B) = R. Da in jedem Intervall sowohl eine eine rationale als aucheine irrationale Zahl liegt, gilt K(x, ε) 6⊆ Q, und K(x, ε) 6⊆ R \ Q. Also istInt(Q) = Int(R \ Q) = ∅.

Definition 2.5. Eine Teilmenge A eines metrischen Raumes (X, d) heißt of-fen, falls Int(A) = A gilt, dh. falls zu jedem x ∈ A eine ε–Kugel K(x, ε)existiert, die vollstandig in A liegt.

Beispiele:

1. Das Innere Int(A) jeder Teilmenge A eines metrischen Raumes ist offen.(Nach Satz 2.1, Punkt 3.).

2. Die ε–Kugeln K(x, ε) eines metrischen Raumes (X, d) sind offen. Istnamlich y ∈ K(x, ε), dann gilt K(y, ε − d(x, y)) ⊂ K(x, ε) (siehe Be-weis von 3. in Satz 2.1).Insbesondere sind die Intervalle (a, b) im metrischen Raum R (mit derStandardmetrik) offen.

Page 54: Grundkurs Analysis

46 2 Metrische Raume

Satz 2.2 Die offenen Teilmengen eines metrischen Raumes (X, d) haben fol-gende Eigenschaften:

1. Die Mengen X und ∅ sind offen.2. Der Durchschnitt endlich vieler offener Mengen ist offen.3. Die Vereinigung beliebig vieler offener Mengen ist offen.

Beweis. Zu 1: Siehe Satz 2.1, Punkt 1.Zu 2: Seien U1 und U2 offen. Dann gilt Int(U1) = U1 und Int(U2) = U2. AusSatz 2.1 folgt

Int(U1 ∩ U2) = Int(U1) ∩ Int(U2) = U1 ∩ U2

und somit ist U1 ∩ U2 offen. Induktiv schließt man auf die Behauptung furendlich viele Mengen.Zu 3: Seien Ui, i ∈ Λ, beliebig viele offene Mengen. Dann gilt Int(Ui) = Uifur alle i ∈ Λ. Wegen Satz 2.1 ist

i∈ΛUi =

i∈ΛInt(Ui) ⊂ Int(

i∈ΛUi) ⊂

i∈ΛUi

und somit⋃i∈Λ

Ui = Int(⋃i∈Λ

Ui). Also ist⋃i∈Λ

Ui offen. ⊓⊔

Beispiele: Sei X = R mit der Standardmetrik d(x, y) = |x− y|.1. Fur jeden Punkt a ∈ R sind (a,∞) und (−∞, a) offen, denn:

(a,∞) =⋃

n∈N

n>a

(a, n), (−∞, a) =⋃

−n∈N

−n<a

(−n, a)

2. Der Durchschnitt beliebig vieler offener Mengen ist im allgemeinen nichtoffen. Sei zum Beispiel

Un = (− 1

n,1

n) , n ∈ N.

Dann ist⋂n∈N

Un = 0 nicht offen in R.

Als nachstes wollen wir beschreiben, wie offenen Mengen in Teilraumen aus-sehen. Ist (X, d) ein metrischer Raum und A ⊂ X eine Teilmenge von X ,so ist die Menge A selbst ein metrischer Raum mit der induzierten Metrikd|A×A : A×A −→ R.

Page 55: Grundkurs Analysis

2.2 Offene und abgeschlossene Mengen in metrischen Raumen 47

Satz 2.3 Sei (X, d) ein metrischer Raum und A ⊂ X eine beliebige Teilmen-ge. Eine Menge B ⊂ A ist im metrischen Raum (A, d|A×A) genau dann offen,wenn es in (X, d) eine offene Menge U ⊂ X gibt, so daß B = U ∩A gilt.

Beweis. Wir vergleichen zunachst die Kugeln des metrischen Raumes (A, d|A×A)mit denen des metrischen Raumes (X, d). Es gilt

KA(b, ε) = a ∈ A | d(b, a) < ε = KX(b, ε) ∩A.

(1) Sei B ⊂ A im metrischen Raum (A, d|A×A) offen. Nach Definition existiertfur jedes b ∈ B eine Zahl ε(b) > 0, so dass

KA(b, ε(b)) = KX(b, ε(b)) ∩A ⊂ B.

Wir betrachten die Menge

U :=⋃

b∈BKX(b, ε(b)) ⊂ X.

Da U die Vereinigung von Kugeln in X ist, ist U nach Satz 2.2, Punkt 3. offenin X . Da B ⊂ A und B ⊂ U , ist B ⊂ U ∩A. Andererseits gilt

U ∩A =

(⋃

b∈BKX(b, ε(b))

)∩A

=⋃

b∈B

(KX(b, ε(b)) ∩A

)

=⋃

b∈BKA(b, ε(b)) ⊂ B,

denn jede der Kugeln KA(b, ε(b)) liegt in B. Folglich gilt B = U ∩A.

(2) Sei nun B = U ∩A, wobei U ⊂ X eine offene Menge in (X, d) ist. Es ist zuzeigen, dass B offen im metrischen Raum (A, d|A×A) ist. Sei b ∈ B. Da b ∈ Uund U in (X, d) offen ist, existiert ein ε(b) > 0 mit KX(b, ε(b)) ⊂ U . Folglichgilt

KA(b, ε(b)) = KX(b, ε(b)) ∩A ⊂ U ∩A = B.

Somit ist B offen in (A, d|A×A). ⊓⊔

Definition 2.6. Sei (X, d) ein metrischer Raum und A ⊂ X eine beliebigeTeilmenge. Der Abschluss von A ist die Menge

cl(A) := x ∈ X | ∀ ε > 0 gilt K(x, ε) ∩A 6= ∅.

Page 56: Grundkurs Analysis

48 2 Metrische Raume

Beispiel: Sei X = R mit der Standardmetrik d(x, y) = |x− y|.Fur A = [a, b) erhalten wir Int(A) = (a, b) und cl(A) = [a, b].

Satz 2.4 Sei (X, d) ein metrischer Raum. Fur den Abschluss einer TeilmengeA ⊂ X gilt:

cl(A) = X \ Int(X \A).

Beweis. Die Aussage folgt aus folgenden Aquivalenzen:

x ∈ X \ Int(X \A) ⇐⇒ x ∈ X und x /∈ Int(X \A)

⇐⇒ ∀ ε > 0 gilt K(x, ε) 6⊂ X \A⇐⇒ ∀ ε > 0 gilt K(x, ε) ∩A 6= ∅⇐⇒ x ∈ cl(A).

⊓⊔

Satz 2.5 (Eigenschaften des Abschlusses)Sei (X, d) ein metrischer Raum und A, B Teilmengen von X. Dann gilt:

1. cl(∅) = ∅ und cl(X) = X.2. A ⊂ cl(A).3. A ⊂ B ⇒ cl(A) ⊂ cl(B).4. cl(cl(A)) = cl(A).5. cl(A ∪B) = cl(A) ∪ cl(B).6. Seien Ai, i ∈ Λ , beliebig viele Teilmengen von X. Dann gilt

cl( ⋂

i∈ΛAi

)⊂⋂

i∈Λcl(Ai).

Beweis. Das uberlassen wir dem Leser als Ubungsaufgabe 21. Man verwendedazu die Satze 2.4 und 2.1. ⊓⊔

Beispiel: Im allgemeinen gilt nicht cl(A ∩B) = cl(A) ∩ cl(B).Wir betrachten dazu den metrischen Raum X = R mit der Standardmetrik.Fur A = (0, 1) und B = (1, 2) gilt A ∩ B = ∅. Folglich ist cl(A ∩ B) = ∅.Da cl(A) = [0, 1] und cl(B) = [1, 2], erhalt man andererseits den nichtleerenDurchschnitt cl(A) ∩ cl(B) = 1.

Definition 2.7. Sei (X, d) ein metrischer Raum. Eine Teilmenge A ⊂ Xheißt abgeschlossen, falls cl(A) = A gilt.

Page 57: Grundkurs Analysis

2.2 Offene und abgeschlossene Mengen in metrischen Raumen 49

Satz 2.6 Sei (X, d) ein metrischer Raum und A ⊂ X. Dann gilt:

1. A ⊂ X ist genau dann abgeschlossen, wenn X \A offen ist.2. X und ∅ sind abgeschlossen.3. Der Durchschnitt beliebig vieler abgeschlossener Mengen ist abgeschlossen.4. Die Vereinigung endlich vieler abgeschlossener Mengen ist abgeschlossen.

Beweis. (1) Wir benutzen Satz 2.4 und erhalten

A ⊂ X ist abgeschlossen ⇐⇒ A = cl(A)

⇐⇒ A = X \ Int(X \A)

⇐⇒ X \A = Int(X \A)

⇐⇒ X \A ist offen

(2)–(4) folgen aus (1), Satz 2.1 und den Beziehungen zwischen Vereinigungund Durchschnitt bei der Komplementbildung:

(2) X = X \ ∅. Da ∅ offen ist, ist X abgeschlossen.∅ = X \X . Da X offen ist, ist ∅ abgeschlossen.

(3) Seien Ai, i ∈ Λ, beliebig viele abgeschlossene Teilmengen von X . Danngilt nach den bekannten Regeln der Mengenlehre

X \( ⋂

i∈ΛAi

)=⋃

i∈Λ(X \Ai). (⋆)

Da Ai abgeschlossen ist, istX\Ai offen. Die Vereinigung beliebig vieler offenerMengen ist offen, folglich ist die rechte Seite von (⋆) ebenfalls offen. Wendenwir (1) auf die linke Seite von (⋆) an, so folgt, dass

⋂i∈ΛAi abgeschlossen

ist.

(4) Es genugt, die Behauptung fur zwei abgeschlossene Mengen zu beweisen.Die Gultigkeit fur endlich viele Teilmengen erhalt man dann durch Induktion.Seien A und B zwei abgeschlossene Teilmengen von X . Nach den bekanntenRegeln der Mengenlehre gilt:

X \ (A ∪B) = (X \A) ∩ (X \B).

Da A und B abgeschlossen sind, sind X \A und X \B offen und somit derenDurchschnitt ebenfalls offen. Dann ist nach (1) aber A∪B abgeschlossen. ⊓⊔

Beispiel: Sei X = R2 mit der Standardmetrik d(x, y) = ‖x− y‖.Fur die Menge A = x ∈ R2 | ‖x‖ < 1 gilt Int(A) = A. Folglich istR2 \A = x ∈ R2 | ‖x‖ ≥ 1 abgeschlossen in R2.

Sei A ⊂ X eine Teilmenge eines metrischen Raumes (X, d). Dann gilt

Int(A) ⊂ A ⊂ cl(A).

Wir wollen nun die Punkte studieren, die in cl(A) \ Int(A) liegen.

Page 58: Grundkurs Analysis

50 2 Metrische Raume

Definition 2.8. Sei A ⊂ X eine Teilmenge eines metrischen Raumes (X, d).Unter dem Rand von A versteht man die Menge

∂A := cl(A) \ Int(A).

Ein Punkt x ∈ ∂A heißt Randpunkt von A.

Satz 2.7 (Charakterisierung des Randes)Sei (X, d) ein metrischer Raum und A ⊂ X.

1. ∂A = X \(Int(A) ∪ Int(X \A)

).

Insbesondere ist ∂A abgeschlossen.2. Ein Punkt x ∈ X ist genau dann ein Randpunkt von A, wenn fur alle

ε > 0 giltK(x, ε) ∩A 6= ∅ und K(x, ε) ∩ (X \A) 6= ∅.

Beweis. Sei A ⊂ X . Dann gilt

∂A = cl(A)\ Int(A) = (X \ Int(X \A))\ Int(A) = X \ (Int(X \A)∪Int(A)).

Daraus erhalten wir

x ∈ ∂A ⇐⇒ x /∈ Int(A) und x /∈ Int(X \A)

⇐⇒ ∀ ε > 0 gilt K(x, ε) ∩ (X \A) 6= ∅ und K(x, ε) ∩A 6= ∅.

⊓⊔

Bezeichnung: Sei (X, d) ein metrischer Raum und A ⊂ X eine Teilmenge.Dann bezeichnet Int(A) die inneren Punkte von A. Die Punkte in Int(X \A)nennen wir auch die außeren Punkte Punkt einer Menge von A. Dann sagtuns Satz 2.7 insbesondere, dass sich X in die Menge der inneren Punkte vonA, die Menge der außeren Punkte von A und den Rand von A zerlegt, d.h. esgilt

X = Int(A) ∪ Int(X \A) ∪ ∂A.

Beispiel 1: Sei X = R1 mit der Standardmetrik d(x, y) = |x− y|.Fur A = [a, b) gilt Int(A) = (a, b), Int(X \A) = (−∞, a) ∪ (b,∞) ,cl(A) = [a, b] und ∂A = a ∪ b.Beispiel 2: Sei X eine nichtleere Menge mit der diskreten Metrik d.Im metrischen Raum (X, d) gilt fur die Kugeln von Radius 1/2

K(x,1

2) = x.

Da die Kugeln eines beliebigen metrischen Raumes offene Mengen sind, istim diskreten metrischen Raum (X, d) jede 1-elementige Teilmenge x ⊂ X

Page 59: Grundkurs Analysis

2.2 Offene und abgeschlossene Mengen in metrischen Raumen 51

offen. Sei nun A ⊂ X eine beliebige Teilmenge. Da A =⋃x∈Ax und die

Vereinigung beliebig vieler offener Mengen offen ist, ist A offen. Insbesonderegilt A = Int(A). Weiternin ist A = X \ (X \A). Da X \ A offen ist, ist nachSatz 2.5 A auch abgeschlossen. Insbesondere ist cl(A) = A. Daraus folgt dannfur den Rand der Menge A bzgl. der diskreten Metrik

∂A = cl(A) \ Int(A) = A \A = ∅ .

Definition 2.9. Sei (X, d) ein metrischer Raum und A ⊂ X eine Teilmenge.Ein Punkt x ∈ X heißt Haufungspunkt von A, falls in jeder ε-Kugel K(x, ε)ein von x verschiedener Punkt von A liegt, d.h. falls

(K(x, ε) \ x) ∩A 6= ∅.

Die Menge der Haufungspunkte von A wird mit HP (A) bezeichnet.

Satz 2.8 Sei (X, d) ein metrischer Raum und A ⊂ X eine Teilmenge.Dann gilt

1. x ∈ X ist genau dann ein Haufungspunkt von A, wenn in jeder ε-KugelK(x, ε) unendlich viele voneinander verschiedene Punkte von A liegen.

2. cl(A) = A ∪HP (A).3. A ist genau dann abgeschlossen, wenn HP (A) ⊂ A.

Beweis. (1) Sei x ∈ X ein Haufungspunkt vonA und ε > 0 eine beliebig fixier-te Zahl. Wir mussen zeigen, dass die Kugel K(x, ε) unendlich viele voneinan-der verschiedene Punkte von A enthalt. Aus der Definition des Haufungspunk-tes erhalten wir zunachst, dass ein von x verschiedener Punkt a1 ∈ K(x, ε)existiert mit a1 ∈ A. Wir betrachten ε1 := d(x, a1) > 0. Dann ist ε1 < ε.Wiederum aus der Haufungspunkt-Eigenschaft von x, erhalten wir einen wei-teren von a1 und x verschiedenen Punkt a2 ∈ K(x, ε1) mit a2 ∈ A. Wirbetrachten dann ε2 := d(x, a2) und erhalten einen von a1, a2 und x ver-schiedenen Punkt a3 ∈ K(x, ε2) mit a3 ∈ A. Fahren wir so fort, so ergibtsich induktiv eine Folge unendlich vieler voneinander verschiedener Punktea1, a2, a3, a4, . . . ∈ A ∩K(x, ε).

(2) Wir zeigen zuerst, dass A ∪HP (A) ⊂ cl(A):Da A ⊂ cl(A), ist dazu nur zu zeigen, dass HP (A) ⊂ cl(A). Sei x ∈ HP (A).Dann gilt (K(x, ε) \ x) ∩A 6= ∅ fur alle ε > 0. Folglich ist K(x, ε) 6⊂ X \Afur alle ε > 0 und damit x /∈ Int(X \A). Also gilt x ∈ X \Int(X \A) = cl(A).Wir zeigen nun cl(A) ⊂ A ∪HP (A):Sei x ∈ cl(A) \ A. Wir mussen zeigen, dass x ein Haufungspunkt von A ist.Aus Satz 2.4 folgt x /∈ Int(X \ A) ∪ A. Insbesondere gilt fur alle ε-KugelnK(x, ε) 6⊂ X \ A. Somit ergibt sich K(x, ε) ∩ A 6= ∅ und da x 6∈ A ist, gilt(K(x, ε) \ x) ∩A 6= ∅. Also ist x ein Haufungspunkt von A.

Page 60: Grundkurs Analysis

52 2 Metrische Raume

(3) A ist genau dann abgeschlossen, wenn A = cl(A), also wegen (2) genaudann wenn A = A∪HP (A). Dies ist aber aquivalent dazu, dass HP (A) ⊂ A.

⊓⊔Definition 2.10. Sei (X, d) metrischer Raum und A ⊂ X Teilmenge. EinPunkt x ∈ A heißt isolierter Punkt von A, falls ein ε > 0 existiert, so daßK(x, ε) ∩A = x gilt.Mit Iso(A) bezeichnen wir die Menge der isolierten Punkte von A.

Beispiel: Sei X = R1 versehen mit der Standardmetrik.Fur die Menge A = (0, 1) ∪ 3

2 ∪ (2, 3) ⊂ R gilt

Iso(A) = 3

2

HP (A) = [0, 1] ∪ [2, 3]

∂A = 0, 1, 32, 2, 3

Int(A) = (0, 1) ∪ (2, 3)

cl(A) = [0, 1] ∪ 3

2 ∪ [2, 3].

Fur die Menge B = 1, 12 ,

13 ,

14 , . . . ⊂ R gilt

Iso(B) = B

HP (B) = 0∂B = cl(B) = B ∪ 0

Int(B) = ∅.

Definition 2.11. Sei (X, d) ein metrischer Raum. Eine Teilmenge A ⊂ Xheißt dicht in X, wenn cl(A) = X gilt.

Satz 2.9 Sei (X, d) ein metrischer Raum und A ⊂ X eine Teilmenge von X.Dann sind die folgenden Aussagen aquivalent:

1. A ist dicht in X.2. A besitzt keine außeren Punkte , d.h. Int(X \A) = ∅.3. X \A enthalt keine ε–Kugel.

Beweis. Es gelten die folgenden aquivalenten Ausagen

A ⊂ X dicht ⇐⇒ cl(A) = X

⇐⇒ X \ Int(X \A) = X

⇐⇒ Int(X \A) = ∅⇐⇒ X \A enthalt keine ε–Kugel.

⊓⊔

Page 61: Grundkurs Analysis

2.3 Folgen in metrischen Raumen 53

Beispiel: Wir betrachten wieder X = R mit der Standardmetrik.Die Menge der rationalen Zahlen Q und die Menge der irrationalen ZahlenR \ Q sind dicht in R.Um das einzusehen, erinnern wir uns an Kapitel 1. Wir wissen, dass in jedemIntervall (a, b) eine rationale Zahl liegt. Folglich enthalt R \ Q keine offenenIntervalle, das heißt keine Kugeln des metrischen Raumes R. Somit ist Q nachSatz 2.9 dicht in R. Analog schließen wir fur R \ Q, da jedes offene Intervallauch eine irrationale Zahl enthalt.

Definition 2.12. Sei (X, d) ein metrischer Raum und x ∈ X. Unter einerUmgebung von x verstehen wir eine offene Menge U ⊂ X, die x enthalt.

Bemerkung:

• Jede Kugel K(x, ε) ist eine Umgebung von x.• Jede Umgebung U von x enthalt eine ε–Kugel um x.• Jede Umgebung U von x ist die Vereinigung von Kugeln.

Da U offen ist, existiert namlich fur jedes y ∈ U ein ε(y) > 0, so daßK(y, ε(y)) ⊂ U . Folglich gilt U =

⋃y∈U

K(y, ε(y)).

Man kann deshalb in allen obigen Definitionen (innerer Punkt, Abschluss,Randpunkt, Haufungspunkt, isolierter Punkt, . . .) den Begriff “Kugeln um x”durch “Umgebungen von x” ersetzen.

2.3 Folgen in metrischen Raumen

Definition 2.13. Sei X eine nichtleere Menge. Unter einer Folge in X ver-steht man eine Abbildung

F : N −→ Xn 7−→ F (n) =: xn,

die jeder naturlichen Zahl n einen Punkt xn ∈ X zuordnet.

Eine Folge ist also eine durch die Abbildung F gegebene Aufzahlung vonPunkten in X . Wir geben kunftig lediglich die Bildwerte der Abbildung F anund benutzen fur die Folge die nachstehenden Schreibweisen:

x1, x2, x3, . . . oder (xn)∞n=1 oder kurz (xn).

Definition 2.14. Sei (X, d) ein metrischer Raum und (xn) eine Folge in X.Wir sagen, dass (xn) gegen x ∈ X konvergiert, falls zu jedem ε > 0 ein (vonε-abhangiger) Index n0 ∈ N existiert, so dass xn ∈ K(x, ε) fur alle n ≥ n0.Der Punkt x heißt Grenzwert (GW) der Folge (xn).Besitzt eine Folge (xn) einen Grenzwert, so heißt sie konvergent. Besitzt dieFolge (xn) keinen Grenzwert, so heißt sie divergent.

Page 62: Grundkurs Analysis

54 2 Metrische Raume

Bezeichnung: Fur eine gegen x konvergente Folge (xn) schreiben wir

limn→∞

xn = x oder xnn→∞−→ x oder kurz xn −→ x.

Es gilt also

• limn→∞

xn = x ⇐⇒ ∀ ε > 0 ∃ n0 mit d(x, xn) < ε ∀ n ≥ n0.

• Sei speziell X = R mit der Standardmetrik d(x, y) = |x− y|. Dann giltlimn→∞

xn = x ⇐⇒ ∀ ε > 0 ∃ n0 mit | x− xn | < ε ∀ n ≥ n0.

Wir erhalten daraus die folgende Charakterisierung der Konvergenz von Fol-gen

Satz 2.10 Sei (X, d) ein metrischer Raum und (xn) eine Folge in X. Dannkonvergiert die Folge (xn) im metrischen Raum (X, d) genau dann gegenx ∈ X, wenn die Folge der Abstande (d(x, xn)) im metrischen Raum R gegenNull konvergiert:

xn −→ x in (X, d) ⇐⇒ d(x, xn) −→ 0 in R.

2.3.1 Allgemeine Eigenschaften konvergenter Folgen

Satz 2.11 (Eindeutigkeit des Grenzwerts) Konvergiert eine Folge (xn)im metrischen Raum (X, d) gegen x ∈ X und gegen x∗ ∈ X, so gilt x = x∗.

Beweis. Angenommen x 6= x∗. Dann ist ε := d(x, x∗) > 0. Also existieren n0

und n∗0 mit

d(x, xn) <ε

2∀ n ≥ n0, d(x∗, xn) <

ε

2∀ n ≥ n∗

0.

Somit gilt d(x, xn) < ε2 und d(x∗, xn) <

ε2 fur alle n ≥ max(n0, n

∗0). Nach

Dreiecksungleichung folgt

ε = d(x, x∗) ≤ d(x, xn) + d(xn, x∗) <

ε

2+ε

2= ε

Dies ist aber ein Widerspruch. ⊓⊔

Definition 2.15. Sei (X, d) ein metrischer Raum und A ⊂ X. A heißt be-schrankt, falls es eine Kugel K(x0,M) des metrischen Raumes (X, d) gibt,die A enthalt. Eine Folge (xn) in (X, d) heißt beschrankt, wenn die Mengeder Folgenglieder x1, x2, x3, . . . beschrankt ist.

Satz 2.12 Jede konvergente Folge (xn) eines metrischen Raumes (X, d) istbeschrankt.

Page 63: Grundkurs Analysis

2.3 Folgen in metrischen Raumen 55

Beweis. Sei (xn) eine konvergente Folge und x = limn→∞

xn. Nach Definition

der Konvergenz existiert ein n0 ∈ N, so dass d(xn, x) < 1 fur alle n ≥ n0.Wir setzen nun M := max( d(x, x1), d(x, x2), . . . , d(x, xn0−1) ) + 1. Dann giltd(x, xn) < M fur alle n ∈ N. Damit liegt die Menge x1, x2, . . . in der KugelK(x,M) und ist somit beschrankt. ⊓⊔

Als nachstes wollen wir ein Kriterium fur die Konvergenz von Folgen in Pro-duktraumen behandeln. Wir erinnern nochmal an die Definition der Produkt-metrik. Seien (X1, d1), (X2, d2), . . . , (Xk, dk) metrische Raume. Das Produktdieser k metrischen Raume ist das Paar (X, d) mit

X : = X1 ×X2 × . . .×Xk

d(a, b) :=

√√√√k∑

j=1

dj(aj , bj)2 wobei a = (a1, . . . , ak), b = (b1, . . . , bk).

Satz 2.13 Seien (X1, d1), . . . , (Xk, dk) metrische Raume und (X, d) das Pro-dukt dieser Raume. Eine Folge (xn = (xn1, . . . , xnk))

∞n=1 von Punkten im

Produktraum X konvergiert genau dann gegen y = (y1, . . . , yk) ∈ X, wennlimn→∞

xnj = yj in (Xj , dj) fur jedes j ∈ 1, . . . , k gilt.

Beweis. Nach Definition der Produktmetrik ist

d((xn1, . . . , xnk)︸ ︷︷ ︸xn

, (y1, . . . , yk)︸ ︷︷ ︸y

) =

√√√√k∑

i=1

di(xni, yi)2 ≥ dj(xnj , yj) (∗)

fur jedes j ∈ 1, . . . , k.Sei nun (xn) gegen y in (X, d) konvergent. Dann existiert fur jedes ε > 0 einn0 ∈ N mit d(y, xn) < ε fur alle n ≥ n0. Nach Abschatzung (*) folgt darausdj(yj , xnj) < ε fur alle n ≥ n0 und jedes j ∈ 1, . . . , k. Somit konvergiertxnj gegen yj in (Xj , dj) fur jedes j ∈ 1, . . . , k.Sei umgekehrt lim

n→∞xnj = yj fur jedes j ∈ 1, . . . , k und ε > 0. Dann existie-

ren n0j ∈ N so dass dj(yj , xnj) <ε√k

fur alle n ≥ n0j . Es folgt

d(xn, y) =

√√√√k∑

j=1

dj(xnj , yj)2 <

√√√√k∑

j=1

ε2

k= ε

fur alle n ≥ m0 = max(n01, . . . , n0k). Also konvergiert xn gegen y im Produk-traum (X, d). ⊓⊔

Wir charakterisieren nun den Abschluß einer Teilmenge eines metrischenRaumes durch konvergente Folgen.

Page 64: Grundkurs Analysis

56 2 Metrische Raume

Satz 2.14 Sei A eine beliebige Teilmenge eines metrischen Raumes (X, d).Dann gilt fur den Abschluß von A

x ∈ cl(A) ⇐⇒ Es existiert eine Folge (an) mit an ∈ A, so dass limn→∞

an = x.

Beweis. (=⇒) Sei x ∈ cl(A). Dann gilt K(x, ε) ∩ A 6= ∅ fur alle ε > 0. Sein ∈ N und ε = 1

n. Dann existiert ein Element an ∈ K(x, 1

n)∩A. Wir erhalten

also eine Folge a1, a2, a3 . . . in A mit d(x, an) < 1n

. Die Folge der Abstande(d(x, an)) konvegiert gegen Null (Archimedisches Axiom) , somit konvergiertdie Folge (an) gegen x.(⇐=) Sei (an) eine Folge in A, die gegen x konvergiert und ε > 0. Dannexistiert ein n0 ∈ N, so dass an ∈ K(x, ε) fur alle n ≥ n0. Folglich ist K(x, ε)∩A 6= ∅, also x ∈ cl(A). ⊓⊔

Folgerung 2.1 Sei (X, d) ein metrischer Raum. Dann gilt:

1. Eine Teilmenge A ⊂ X ist genau dann abgeschlossen, wenn der Grenzwertjeder konvergenten, vollstandig in A liegenden Folge gleichfalls in A liegt.

2. Eine Teilmenge A ⊂ X ist genau dann dicht im metrischen Raum (X, d),wenn fur jedes x ∈ X eine Folge (an) von Punkten aus A existiert, diegegen x konvergiert.

Beweis. A ⊂ X ist genau dann abgeschlsooen, wenn cl(A) = A. A ⊂ X istgenau dann dicht, wenn cl(A) = X . Die Charakterisierung von cl(A) aus Satz2.14 liefert dann die Behauptung. ⊓⊔

Definition 2.16. Sei (xn) eine Folge in einer Menge X. Unter einer Teilfolgevon (xn) verstehen wir eine unendliche Auswahl von Elementen dieser Folge,d.h. eine Folge (xnj

)∞j=1, wobei n1, n2, n3, . . . eine Teilmenge vonN mit n1 <n2 < n3 < . . . ist.

Offensichtlich gilt

Satz 2.15 Sei (X, d) ein metrischer Raum und (xn) eine gegen x ∈ X kon-vergente Folge. Dann konvergiert jede Teilfolge von (xn) ebenfalls gegen x.

Definition 2.17. Sei (xn) eine Folge im metrischen Raum (X, d). Ein Punktx ∈ X heißt Haufungspunkt der Folge (xn), wenn es eine Teilfolge (xnj

)∞j=1

von (xn) gibt mit limj→∞

xnj= x.

Die Menge der Haufungspunkte von (xn) bezeichnen wir mit HP (xn).

Beispiele:

1. Sei (X, d) ein metrischer Raum und (xn) eine gegen x ∈ X konvergenteFolge. Dann gilt nach Satz 2.15, dass HP (xn) = x.

Page 65: Grundkurs Analysis

2.3 Folgen in metrischen Raumen 57

2. Sei X = R mit der Standardmetrik und (xn) die folgende Folge

xn :=

1n

falls n gerade1 falls n ungerade

Dann gilt HP (xn) = 0, 1.

Satz 2.16 Sei (X, d) ein metrischer Raum und (xn) eine Folge in X. DieMenge der Haufungspunkte von (xn) ist abgeschlossen.

Beweis. Das uberlassen wir dem Leser als Ubungsaufgabe 26. ⊓⊔

2.3.2 Spezielle Eigenschaften von konvergenten Folgen imVektorraum Ck bzw. Rk

In diesem Abschnitt betrachten wir spezielle Eigenschaften konvergenter Fol-gen im Vektorraum Ck bzw. Rk, den wir mit der in Kapitel 1.4 eingefuhrtenStandardmetrik

d(z, w) := ‖z − w‖ :=√|z1 − w1|2 + . . .+ |zk − wk|2

z = (z1, . . . , zk) , w = (w1, . . . , wk) ∈ Ck bzw. Rk

versehen. Da der metrische Raum Rk ein Teilraum des metrischen RaumesCk ist, gelten alle Eigenschaften, die wir im folgenden fur Folgen in Ck for-mulieren, auch fur Folgen in Rk. Aus Satz 2.13 folgt als Spezialfall sofort

Satz 2.17

1. Eine Folge von Vektoren (zn = (zn1, . . . , znk))∞n=1 aus Ck konvergiert ge-

nau dann gegen den Vektor z∗ = (z∗1 , . . . , z∗k) ∈ Ck, wenn die Folge der

Komponenten (znj)∞n=1 fur jedes j ∈ 1, ..., k in C gegen z∗j konvergiert.

2. Eine Folge komplexer Zahlen (wn) konvergiert genau dann gegen w ∈ C,wenn die Folge der Realteile (Re(wn)) gegen Re(w) und die Folge derImaginarteile (Im(wn)) gegen den Imaginarteil Im(w) konvergiert.

3. Eine Folge komplexer Zahlen (wn) konvergiert genau dann gegen w ∈ C,wenn die Folge (wn) gegen w konvergiert.

Der folgende Satz fasst die wichtigsten Rechenregeln fur Folgen in Ck (bzw.in Rk) zusammen.

Page 66: Grundkurs Analysis

58 2 Metrische Raume

Satz 2.18 (Rechenregeln fur konvergente Folgen in Ck)

1. Seien (zn) und (wn) zwei konvergente Folgen in Ck mit den Grenzwertenlimn→∞

zn = z ∈ Ck und limn→∞

wn = w ∈ Ck . Dann gilt:

(a) limn→∞

(zn + wn) = limn→∞

zn + limn→∞

wn = z + w

(b) limn→∞

µ · zn = µ · limn→∞

zn = µ · z ∀ µ ∈ C

(c) limn→∞

〈zn, wn〉 = 〈 limn→∞

zn, limn→∞

wn〉 = 〈z, w〉(d) lim

n→∞‖zn‖ = ‖ lim

n→∞zn‖ = ‖z‖.

2. Seien (zn) und (wn) zwei konvergente Folgen komplexer Zahlen mit denGrenzwerten lim

n→∞zn = z und lim

n→∞wn = w in C. Dann gilt:

(a) limn→∞

zn · wn = limn→∞

zn · limn→∞

wn = z · w(b) Ist w 6= 0, so ist auch wn 6= 0 fur alle n großer als ein n0 ∈ N, und es

gilt

limn→∞

znwn

=limn→∞

zn

limn→∞

wn=z

w.

3. Seien (xn) und (yn) zwei konvergente Folgen reeller Zahlen mit den Grenz-werten lim

n→∞xn = x und lim

n→∞yn = y.

(a) Gilt xn ≤ yn fur fast alle1 n ∈ N, so folgt x ≤ y.

(b) Sei (un) eine weitere Folge reeller Zahlen mit xn ≤ un ≤ yn fur fastalle n ∈ N und sei x = y. Dann ist die Folge (un) ebenfalls konvergentund es gilt lim

n→∞un = x.

Beweis. Zu 1. (a) Es gilt

‖(zn + wn) − (z + w)‖ ≤ ‖zn − z‖ + ‖wn − w‖

und fur alle ε > 0 existieren n0, n∗0 ∈ N, so dass

‖zn − z‖ < ε

2∀ n ≥ n0 und ‖wn − w‖ < ε

2∀ n ≥ n∗

0.

Daraus folgt ‖(zn + wn) − (z + w)‖ < ε fur alle n ≥ max(n0, n∗0) und somit

limn→∞

(zn + wn) = (z + w).

(b) Ist µ = 0, so gilt die Behauptung trivialerweise. Sei µ 6= 0. Dann gilt

‖µz − µzn‖ = |µ| · ‖z − zn‖.

Da (zn) gegen z konvergiert, existiert fur ε > 0 ein n0 ∈ N, so dass

1 fur fast alle n ∈ N bedeutet, dass die Aussage mit eventueller Ausnahme vonendlich vielen naurlichen Zahlen gilt

Page 67: Grundkurs Analysis

2.3 Folgen in metrischen Raumen 59

‖z − zn‖ <ε

|µ| ∀ n ≥ n0.

Folglich gilt ‖µz − µzn‖ = |µ| · ‖z − zn‖ < ε fur alle n ≥ n0, und somitlimn→∞

µzn = µz.

(c) Mittels der Cauchy-Schwarzschen Ungleichung erhalt man die folgendeAbschatzung

|〈zn, wn〉 − 〈z, w〉| = |〈zn − z, wn〉 − 〈z, wn − w〉|≤ |〈zn − z, wn〉| + |〈z, wn − w〉|≤ ‖zn − z‖ ‖wn‖ + ‖z‖ ‖wn − w‖. (∗)

Da die Folge (wn) konvergiert, ist die Menge w1, w2, . . . beschrankt. Somitexistiert ein M ∈ R+ mit ‖wn‖ ≤ M fur alle n ∈ N. Sei nun ε > 0 gegeben.Dann existieren n0 und n∗

0, so dass

‖z − zn‖ <ε

2M∀ n ≥ n0 und ‖w − wn‖ ≤ ε

2M∀ n ≥ n∗

0.

OBdA sei z 6= 0, denn ansonsten tritt der letzte Summand in (∗) nicht auf.Wir erhalten

|〈zn, wn〉 − 〈z, w〉| ≤ ε

2+ε

2= ε ∀ n ≥ max(n0, n

∗0).

Daraus folgt limn→∞

〈zn, wn〉 = 〈z, w〉.(d) Sei zn −→ z. Aus der Dreiecksungleichung fur die Norm in Ck folgt

| ‖zn‖ − ‖z‖ | ≤ ‖zn − z‖ < ε ∀ n ≥ n0.

Also konvergiert (‖zn‖) gegen ‖z‖.

Zu 2. (a) zn · wn = 〈zn, wn〉(1c)−→ 〈z, w〉 = z · w.

(b) Da w 6= 0 und (wn) gegen w konvergiert, existiert eine positive reelle Zahlη so dass 0 < η < |wn| fur alle n großer als ein n0. Man erhalt

∣∣∣∣znwn

− z

w

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣zn · w − wn · z

wn · w

∣∣∣∣ =|(zn − z)w − (wn − w)z|

|wn| · |w|

≤ |zn − z||w| + |wn − w||z||wn| · |w|

.

Daraus folgt

∣∣∣∣znwn

− z

w

∣∣∣∣ ≤ |zn − z| · |w|η|w| + |wn − w| · |z|

η|w| ≤ ε ∀ n ≥ n0.

Also konvergiert die Folge ( zn

wn) gegen z

w.

Page 68: Grundkurs Analysis

60 2 Metrische Raume

Zu 3. (a) Angenommen, es ware x > y. Wir setzen ε = x − y > 0. Dannexistiert ein n0 ∈ N, so dass

|xn − x| < ε

2und |yn − y| < ε

2∀ n ≥ n0.

Deshalb ist xn > x − ε2 = y + ε

2 > yn fur alle n ≥ n0. Dies steht aber imWiderspruch zur Voraussetzung und somit ist die Annahme x > y falsch.(b) Den Beweis dieser Aussage uberlassen wir dem Leser als Ubungsaufgabe(Ubungsaufgabe 28). ⊓⊔

Definition 2.18. Eine Folge (zn)∞n=1 in Ck, die gegen den Nullvektor

0 = (0, . . . , 0) konvergiert, heißt Nullfolge.

Bemerkung: Aus Satz 2.18 folgt dann

• Eine Folge von Vektoren (zn) in Ck ist genau dann eine Nullfolge, wenndie Folge der reellen Zahlen (‖zn‖) eine Nullfolge ist.

• Eine Folge von Vektoren (zn) konvergiert genau dann gegen den Vektor z,wenn (zn − z) eine Nullfolge ist.

• Ist (zn) eine Nullfolge von Vektoren und µ ∈ C, so ist auch (µ · zn) eineNullfolge.

• Sind (zn) und (wn) Nullfolgen von Vektoren, so ist auch (zn + wn) eineNullfolge.

• Ist (zn) eine Nullfolge und (wn) eine konvergente Folge von Vektoren, soist die Folge der Skalarprodukte (〈zn, wn〉) ebenfalls eine Nullfolge.

• Ist (yn) eine Nullfolge reller Zahlen und xn eine weitere Folge reeller Zahlenmit 0 ≤ xn ≤ yn fur fast alle n ∈ N, dann ist (xn) ebenfalls eine Nullfolge.

Wichtige Beispiele konvergenter Folgen in R bzw. C:

1. Sei q eine positive rationale Zahl. Dann gilt in R

limn→∞

(1

n

)q= 0.

Dies gilt, da nach dem Archimedischen Axiom zu jedem ε > 0 ein n0 ∈ N

existiert, so dass 1n0

≤ ε1q . Folglich ist |

(1n

)q | < ε fur alle n ≥ n0, woraus dieBehauptung folgt.

2. Sei x eine positive reelle Zahl. Dann gilt in R

limn→∞

n√x = 1.

Um dies einzusehen, betrachten wir zunachst x > 1. Sei xn := n√x− 1. Dann

gilt xn > 0 und aus der Bernoullischen Ungleichung erhalten wir

Page 69: Grundkurs Analysis

2.3 Folgen in metrischen Raumen 61

x = (1 + xn)n ≥ 1 + n · xn.

Also gilt 0 < xn ≤ x−1n

. Da (x−1n

) eine Nullfolge ist, konvergiert (xn) ebenfallsgegen Null, und somit ( n

√x) gegen 1.

Ist 0 < x < 1, so folgt 1x> 1 und wir erhalten mittels Satz 2.18 und dem

gerade Bewiesenen limn→∞

n√x = lim

n→∞1

n√

1x

= 1.

3. Im metrischen Raum R gilt

limn→∞

n√n = 1.

Zum Beweis betrachten wir die Folge xn := n√n− 1. Es gilt xn ≥ 0. Aus der

binomischen Formel folgt

n = (1 + xn)n ≥ 1

2n(n− 1)x2

n.

Folglich gilt 0 ≤ xn ≤√

2n−1 . Nach 1. ist (

√2

n−1 ) eine Nullfolge, somit ist

(xn) ebenfalls eine Nullfolge und folglich gilt limn→∞

n√n = 1.

4. Sei z ∈ C mit |z| < 1. Dann gilt im metrischen Raum C

limn→∞

zn = 0.

Dies sieht man folgendermaßen: Da 0 ≤ |z| < 1, existiert fur jedes ε > 0 einn0 ∈ N mit |z|n0 < ε. Da | z | < 1 ist, erhalt man |z|n < |z|n0 fur alle n ≥ n0,das heißt |z|n = |zn| < ε fur alle n ≥ n0. Folglich gilt lim

n→∞zn = 0.

5. Sei k ∈ N eine fixierte naturliche Zahl und z ∈ C mit |z| > 1. Dann gilt immetrischen Raum C

limn→∞

nk

zn= 0.

Dies bedeutet, dass fur |z| > 1 die Folge der Potenzen |z|n schneller wachstals jede noch so große Potenz von n.Zum Beweis setzen wir x := |z| − 1 und wahlen eine naturliche Zahl p > k.Fur jedes n > 2p folgt aus der binomischen Formel

(1 + x)n >

(n

p

)· xp =

p−Faktoren︷ ︸︸ ︷n(n− 1) · . . . · (n− (p− 1))

p!·xp.

Da p < n2 , ist jeder der Faktoren n, (n − 1), . . . , (n − (p − 1)) großer als n

2 .

Es folgt (1 + x)n > (n2 )p · xp

p! und somit

0 <nk

|z|n <2p · p!

xp · np−k ≤ 2p · p!xp︸ ︷︷ ︸

konstant

· 1n.

Page 70: Grundkurs Analysis

62 2 Metrische Raume

Auf der rechten Seite steht eine Nullfolge, also ist limn→∞

nk

zn = 0.

2.3.3 Spezielle Eigenschaften konvergenter Folgen in R

In diesem Abschnitt betrachten wir spezielle Eigenschaften von Folgen immetrischen Raum R, der immer mit der Standardmetrik d(x, y) := |x−y| ver-sehen sei. Wir nutzen dabei aus, dass R ein vollstandiger angeordneter Korperist.

Um spater Formulierungen vereinheitlichen zu konnen, betrachten wir zunachsteine spezielle Sorte von divergenten Folgen reeller Zahlen und ordnen diesenden Grenzwert +∞ oder −∞ zu.

Definition 2.19. Sei (xn) eine Folge reeller Zahlen.Wir sagen, dass (xn) gegen +∞ strebt, falls zu jedem M ∈ R ein n0 ∈ N

existiert mit xn ≥M fur alle n ≥ n0.Wir sagen, dass (xn) gegen −∞ strebt, falls zu jedem M ∈ R ein n0 ∈ N

existiert mit xn ≤M fur alle n ≥ n0.

Fur Folgen reeller Zahlen, die gegen +∞ bzw. −∞ streben, benutzen wir dieSchreibweise

limn→∞

xn = +∞ bzw. limn→∞

xn = −∞.

Man nennt diese Sorte divergenter Folgen reeller Zahlen oft auch bestimmt di-vergent oder uneigentlich konvergent (je nach Autor des benutzten Buches)und ±∞ den uneigentlichen Grenzwert.

Beispiele:

• Ist xn = n oder xn = n2, so gilt limn→∞

xn = +∞• Die Folge 1, 0, 2, 0, 3, 0, 4, 0, . . . ist in R divergent und konvergiert

nicht gegen +∞, obwohl sie beliebig große Glieder enthalt.• Aus xn −→ +∞ und yn −→ +∞ folgt xn + yn −→ +∞ und xn · yn −→

+∞.• Aus xn −→ +∞ und yn −→ a fur a > 0 folgt xn + yn −→ +∞ und

xn · yn −→ +∞ .• Wenn xn −→ +∞ , so 1

xn−→ 0 .

• Wenn xn −→ 0 und xn > 0, so 1xn

−→ +∞ .

Bemerkung: Aus xn −→ +∞ und yn −→ 0 kann man i.a. nichts uber dasVerhalten von xn · yn folgern, wie die folgenden Beispiele zeigen.

• Sei xn = n2 und yn = 1n, so gilt xn · yn = n −→ +∞.

• Sei xn = n2 und yn = 1n2 , so gilt xn · yn = 1 −→ 1.

Page 71: Grundkurs Analysis

2.3 Folgen in metrischen Raumen 63

• Sei xn = n2 und yn = 1n3 , so gilt xn · yn = 1

n−→ 0.

• Fur xn = n und yn =

1nn gerade

12n n ungerade

gilt

xn · yn =

1 n gerade12 n ungerade

.

Folglich konvergiert xn · yn uberhaupt nicht.

Eine wichtige Folgerung aus dem Vollstandigkeitsaxiom der reellen Zahlen istdie folgende Eigenschaft beschrankter Folgen.

Satz 2.19 (Satz von Bolzano/Weierstraß2) Jede beschrankte Folge reel-ler Zahlen (xn) besitzt einen Haufungspunkt, d.h. eine konvergente Teilfolge.

Beweis. Nach Voraussetzung existiert ein M > 0 mit −M < xn < M fur allen ∈ N. Wir betrachten die folgende Menge A ⊂ R:

A := x ∈ R1 | x ≤ xn fur unendlich viele n.1. A ist nicht leer, da −M ∈ A.2. A ist nach oben beschrankt, da zum Beispiel M eine obere Schranke ist.

Nach dem Satz 1.7 existiert ein Supremum g = supA der Menge A. Sei ε > 0.Aus der Definition des Supremums erhalten wir

(i) g + ε 6∈ A.D.h. fur hochstens endlich viele xn gilt die Ungleichung g + ε ≤ xn.

(ii) Es existiert ein x ∈ A mit g − ε < x.Somit sind unendlich viele Folgenglieder xn großer oder gleich x, alsogroßer als g − ε.

Insgesamt folgt also, dass unendlich viele Glieder der Folge (xn) im Intervall(g − ε, g + ε) liegen.Wir konstruieren jetzt eine Teilfolge (xnk

) von (xn) auf folgende Weise.

ε = 1 =⇒ ∃ xn1 : g − 1 < xn1 < g + 1

ε =1

2=⇒ ∃ xn2 : g − 1

2< xn2 < g +

1

2, n2 > n1,

...

ε =1

k=⇒ ∃ xnk

: g − 1

k< xnk

< g +1

k, nk > nk−1 . . .

Damit haben wir eine Teilfolge (xnk) von (xn) gefunden mit |xnk

− g| < 1k

furalle k ∈ N. Somit ist lim

k→∞xnk

= g. ⊓⊔

Page 72: Grundkurs Analysis

64 2 Metrische Raume

Definition 2.20. Eine Folge reeller Zahlen (xn) heißt monoton wachsend,falls

x1 ≤ x2 ≤ x3 ≤ . . .

und monoton fallend, falls

x1 ≥ x2 ≥ x3 ≥ . . .

Eine Folge heißt monoton, wenn sie monoton wachsend oder monoton fallendist.

Satz 2.20 Jede monoton wachsende, nach oben beschrankte Folge reller Zah-len (xn)∞n=1 konvergiert gegen supxn | n ∈ N.Jede monoton fallende, nach unten beschrankte Folge reeller Zahlen (xn)∞n=1

konvergiert gegen infxn | n ∈ N.

Beweis. Sei (xn) monoton wachsend und nach oben beschrankt. Nach Satz1.7 existiert das Supremum g = supxn | n ∈ N. Wir zeigen, dass xn −→ g.Sei ε > 0. Nach Definition des Supremums existiert ein m0 ∈ N mit xm0 >g− ε, also mit xm0 ∈ (g− ε, g]. Da (xn) monoton wachsend ist, gilt xn ≥ xm0

fur alle n ≥ m0. Folglich konvergiert (xn) gegen g.Den Beweis fur monoton fallende, nach unten beschrankte Folgen fuhrt mananalog. ⊓⊔

Das Supremum und das Infimum einer beschrankten Teilmenge A ⊂ R liegtim Abschluss cl(A). Ist A ⊂ R beschrankt und abgeschlossen, so existiert folg-lich das Maximum max(A) und das Minimum min(A) von A.

Sei nun (xn) eine beschrankte Folge reeller Zahlen. Dann ist die Menge derHaufungspunke HP (xn) nicht leer (Satz 2.19) und abgeschlossen (Satz 2.16).Folglich existiert das Maximum maxHP (xn), d.h. ein großter Haufungspunktvon (xn), und das Minimum minHP (xn), d.h. ein kleinster Haufungspunktvon (xn).

Definition 2.21. Sei (xn) eine beschrankte Folge reeller Zahlen. Man nenntden großten Haufungspunkt von (xn) auch limes superior von (xn) und be-zeichnet ihn mit

lim supn→∞

xn := lim xn := maxHP (xn).

Den kleinsten Haufungspunkt von (xn) nennt man auch limes inferior von(xn) und bezeichnet ihn mit

lim infn→∞

xn := lim xn := minHP (xn).

Page 73: Grundkurs Analysis

2.3 Folgen in metrischen Raumen 65

Ist (xn) nicht nach oben beschrankt, so setzen wir lim supn→∞

xn := +∞.

Ist (xn) nicht nach unten beschrankt, so setzen wir lim infn→∞

xn := −∞.

Satz 2.21 Sei (xn) eine beschrankte Folge reeller Zahlen. Dann gilt

limn→∞

xn = g ⇐⇒ lim supn→∞

xn = lim infn→∞

xn = g.

Beweis. (1) Sei (xn) gegen g ∈ R konvergent. Dann gilt HP (xn) = g undsomit lim inf

n→∞xn = lim inf

n→∞xn = g.

(2) Sei umgekehrt lim supn→∞

xn = lim infn→∞

xn = g Dann gilt HP (xn) = g, das

heißt jede konvergente Teilfolge von (xn) konvergiert gegen g. Angenommen(xn) wurde nicht gegen g konvergieren. Dann existiert ein ε > 0, so daß gilt

∀ n0 ∃ n ≥ n0 mit |xn − g| ≥ ε.

Wir konstruieren jetzt eine Teilfolge von (xn) folgendermaßen:

n0 = 1 =⇒ ∃ n1 ≥ 1 : |xn1 − g| ≥ ε,

n0 = n1 + 1 =⇒ ∃ n2 > n1 : |xn2 − g| ≥ ε, . . . ,

n0 = nk−1 + 1 =⇒ ∃ nk > nk−1 : |xnk− g| ≥ ε, . . .

Dadurch erhalten wir eine Teilfolge (xnk) von (xn) mit |xnk

− g| ≥ ε, dieebenfalls beschankt ist. Nach Satz von Bolzano–Weierstraß enthalt sie einekonvergente Teilfolge (xnki

), deren Grenzwert g∗ nach Konstruktion von gverschieden ist. Dies ist ein Widerspruch zu unserer Voraussetzung. ⊓⊔

Anwendung: Die Eulerzahl e

Satz 2.22 Die Folge der reellen Zahlen (an) mit

an :=

(1 +

1

n

)n

ist in R konvergent.Der Grenzwert der Folge (an) heißt Eulerzahl e.

Beweis. Wir zeigen, dass (an) eine monoton wachsende, nach oben beschrank-te Folge ist. Nach Satz 2.20 existiert dann ein Grenzwert fur (an).

1. Beschranktheit von (an): Aus der binomischen Formel folgt

an =

(1 +

1

n

)n=

n∑

k=0

(n

k

)·(

1

n

)k.

Page 74: Grundkurs Analysis

66 2 Metrische Raume

Wir schatzen den Term(nk

)·(

1n

)kfur 1 ≤ k ≤ n ab:

(n

k

)·(

1

n

)k=

k−Faktoren︷ ︸︸ ︷n(n− 1) · . . . · (n− (k − 1))

k! · n · n · . . . · n︸ ︷︷ ︸k−mal

=1

k!· 1 ·

(1 − 1

n

)·(

1 − 2

n

)· . . . ·

(1 − (k − 1)

n

)

︸ ︷︷ ︸≤1

(∗)

≤ 1

k!

Folglich gilt fur alle n ∈ N

an =

(1 +

1

n

)n

≤ 1 +1

1!+

1

2!+

1

3!+ . . .+

1

n!

= 1 +1

1+

1

2 · 3 +1

2 · 3 · 4 + . . .+1

2 · 3 · . . . · n≤ 1 +

1

20+

1

21+

1

22+

1

23+ . . .+

1

2n−1

= 1 +n−1∑

k=0

(1

2

)k

= 1 +1 − (1

2 )n

12

(geometrische Summe)

< 3.

2. Monotonie von (an): Gleichung (∗) zeigt, dass

(n

k

)·(

1

n

)k<

(n+ 1

k

)·(

1

n+ 1

)k.

Somit gilt an < an+1 fur alle n ∈ N. ⊓⊔

Satz 2.23 Die Folge der rellen Zahlen (bn) mit

bn := 1 +1

1!+

1

2!+

1

3!+ . . .+

1

n!=

n∑

k=0

1

k!

konvergiert in R und es gilt

Page 75: Grundkurs Analysis

2.3 Folgen in metrischen Raumen 67

limn→∞

bn = limn→∞

(1 +

1

n

)n= e.

Beweis. Aus dem Beweis von Satz 2.22 folgt an ≤ bn < 3 fur alle n ∈ N.Folglich ist (bn) eine nach oben beschrankte, monoton wachsende Folge. NachSatz 2.20 existiert deshalb ein Grenzwert von (bn) und es gilt

e = limn→∞

an ≤ limn→∞

bn.

Andererseits gilt fur m ≤ n wegen Formel (∗) aus dem Beweis von Satz 2.22

an =

(1 +

1

n

)n=

n∑

k=0

(n

k

)(1

n

)k

= 1 + 1 +(1 − 1

n)

2!+

(1 − 1n)(1 − 2

n)

3!+ . . .+

(1 − 1n) · . . . · (1 − n−1

n)

n!

≥ 1 + 1 +(1 − 1

n)

2!+ . . .+

(1 − 1n) · . . . · (1 − m−1

n)

m!.

Wir halten m fest und gehen in dieser Ungleichung mit n gegen +∞. Dannfolgt

e = limn→∞

an ≥ 1 + 1 +1

2!+ . . .+

1

m!= bm ∀ m ∈ N.

Deshalb gilt limm→∞

bm ≤ e und wir erhalten zusammenfassend e = limn→∞

bn. ⊓⊔

Um die Eulerzahl genauer berechnen zu konnen, beweisen wir die folgendeFehlerabschatzung.

Satz 2.24 Es sei bn =n∑k=0

1k! . Dann gilt fur jedes n ∈ N die folgende

Abschatzung fur die Eulerzahl e:

bn < e < bn +1

n · n!

Beweis. Fur festes n gilt e− bn = limk→∞

(bk − bn) . Fur k > n erhalten wir

bk − bn =1

(n+ 1)!+ . . .+

1

k!

=1

(n+ 1)!

(1 +

1

(n+ 2)+

1

(n+ 2)(n+ 3)+ . . .+

1

(n+ 2) · . . . · k

)

<1

(n+ 1)!

(1 +

1

(n+ 2)+

1

(n+ 2)2+ . . .+

1

(n+ 2)k−n−1

)

=1

(n+ 1)!·1 − ( 1

n+2 )k−n

1 − ( 1n+2 )

(geometrische Summe)

<1

(n+ 1)!· 1

1 − 1n+2

=1

(n+ 1)!· n+ 2

n+ 1=

1

n · n!· n(n+ 2)

(n+ 1)2.

Page 76: Grundkurs Analysis

68 2 Metrische Raume

Der Grenzubergang in dieser Ungleichung fur k gegen +∞ liefert

e− bn ≤ 1

n · n!· n(n+ 2)

(n+ 1)2<

1

n · n!∀ n ∈ N.

⊓⊔

Bemerkung: Mittels der Fehlerabschatzung aus Satz 2.24 kann man Nahe-rungswerte fur e angeben. Man erhalt zum Beispiel fur n = 10:

b10 =

10∑

k=0

1

k!= 2.7182815 . . .

1

10 · 10!= 0.00000002 . . .

Folglich ist 2.7182815 < e < 2.7182815 + 0.00000002 und somit

e ≈ 2.7182815 .

Als weitere Anwendung der Fehlerabschatzung beweisen wir

Satz 2.25 Die Eulerzahl e ist irrational.

Beweis. Angenommen e ware eine rationale Zahl. Dann konnen wir e in derForm e = p

qfur p, q ∈ N darstellen. Fur q ∈ N gilt nach Satz 2.24

0 < e− bq <1

q · q! .

Daraus folgt 0 < e · q! − bq · q! < 1q. Da e = p

q, ist e · q! ganzzahlig. Wegen

bq =1

0!+

1

1!+

1

2!+ . . .+

1

q!

ist bq · q! ganzzahlig. Somit ist auch e · q!− bq · q! ganzzahlig. Das ist aber einWiderspruch zu 0 < e · q! − bq · q! < 1

q< 1. ⊓⊔

2.4 Vollstandige metrische Raume

In diesem Abschnitt lernen wir eine Klasse von metrischen Raumen kennen,in denen man die Konvergenz einer Folge uberprufen kann, ohne ihren Grenz-wert zu kennen.

Page 77: Grundkurs Analysis

2.4 Vollstandige metrische Raume 69

Definition 2.22. Sei (X, d) ein metrischer Raum. Eine Folge (xn) in (X, d)heißt Cauchy–Folge, wenn zu jedem ε > 0 ein (von ε abhangiges) n0 ∈ N

existiert, so dass d(xn, xm) < ε fur alle n,m ≥ n0.

Satz 2.26 Jede konvergente Folge in einem metrischen Raum ist eine Cauchy–Folge.

Beweis. Sei (xn) eine gegen x konvergente Folge und ε > 0. Dann existiertein n0 ∈ N mit d(xn, x) <

ε2 fur alle n ≥ n0. Fur n,m ≥ n0 folgt dann aus

der Dreiecksungleichung

d(xn, xm) ≤ d(xn, x) + d(x, xm) <ε

2+ε

2= ε.

Somit ist (xn) eine Cauchy-Folge. ⊓⊔

Bemerkung: Die Umkehrung gilt i.a. nicht. Wir betrachten dazu den metri-schen Raum (X, d) mit X = (0, 1) ⊂ R und der Metrik d(x, y) = |x − y|. Seixn := 1

n. Dann existiert fur jedes ε > 0 ein n0 ∈ N mit

d(xn, xm) =

∣∣∣∣1

n− 1

m

∣∣∣∣ ≤1

min (n,m)< ε ∀ n,m ≥ n0.

Die Folge (xn) ist also eine Cauchy-Folge in (X, d). Sie konvergiert aber in(X, d) nicht.

Satz 2.27 Jede Cauchy-Folge in einem metrischen Raum ist beschrankt.

Beweis. Sei ε = 1. Dann existiert ein n0 ∈ N so dass d(xn, xm) < 1 fur allen,m ≥ n0. Insbesondere bedeutet das, dass xn ∈ K(xn0 , 1) fur alle n ≥ n0.Wir setzen

r := max d(xn0 , x1), d(xn0 , x2), . . . , d(xn0 , xn0−1) + 1.

Dann gilt xn ∈ K(xn0 , r) fur alle n ∈ N. Folglich ist die Folge (xn) beschrankt.⊓⊔

Definition 2.23. Ein metrischer Raum (X, d) heißt vollstandig, wenn jedeCauchy–Folge in (X, d) konvergiert.

Bemerkung: In einem vollstandigen, metrischen Raum kann man also dieKonvergenz einer Folge untersuchen, ohne ihren Grenzwert zu kennen. Manpruft dafur die Cauchy–Bedingung

∀ ε > 0 ∃ n0 ∈ N mit d(xn, xm) < ε ∀ n,m ≥ n0.

Page 78: Grundkurs Analysis

70 2 Metrische Raume

Satz 2.28 Der metrische Raum (R, d(x, y) = |x− y|) ist vollstandig.

Beweis. Sei (xn) eine Cauchy–Folge reeller Zahlen. Dann ist (xn) beschrankt.Nach dem Satz von Bolzano-Weierstraß existiert eine konvergente Teilfolge(xnk

) von (xn). Sei x = limk→∞

xnkund ε > 0. Dann existieren k0, n0 ∈ N, so

dass|x− xnk

| < ε2 ∀ k ≥ k0

|xn − xm| < ε2 ∀ n,m ≥ n0.

Sei nun n ≥ n0. Wir wahlen ein k ≥ k0 mit nk ≥ n0. Dann folgt aus derDreiecksungleichung

|xn − x| ≤ |xn − xnk| + |xnk

− x| < ε

2+ε

2< ε .

Also konvergiert die Folge (xn) gegen x. ⊓⊔

Bemerkung: Der metrische Raum der rationalen Zahlen Q (mit der Stan-dardmetrik) ist nicht vollstandig.

• Wir betrachten die Folge rationaler Zahlen (xn), definiert durch

x0 := 1 und xn+1 :=1

2

(xn +

2

xn

)∀ n ∈ N.

Wir wissen, dass (xn) in R gegen√

2 konvergiert (siehe Ubungsaufgabe31). Die Folge (xn) ist also eine Cauchy–Folge in R und somit auch in Q.Aber

√2 ist keine rationale Zahl. Folglich konvergiert (xn) nicht in Q.

• Wir betrachten die Folge der rationalen Zahlen yn :=(1 + 1

n

)n. (yn) ist

eine Cauchyfolge in Q, konvergiert aber in Q nicht, da die Eulerzahl eirrational ist.

Satz 2.29 Sind (X1, d1), . . . , (Xk, dk) vollstandige metrische Raume, so istauch das Produkt (X, d) dieser metrischen Raume vollstandig.

Beweis. Sei (xn := (xn1, . . . , xnk)) eine Cauchy–Folge im Produktraum(X = X1 × . . .×Xk, d) und ε > 0. Dann existiert ein n0 ∈ N, so dass

d(xn, xm) =

√√√√k∑

i=1

di(xni, xmi)2 < ε ∀ n,m ≥ n0.

Daraus erhalten wir di(xni, xmi) < ε fur alle n,m ≥ n0 und jedes i ∈1, . . . , k. Folglich sind die Folgen (xni)

∞n=1 Cauchy–Folgen in (Xi, di) fur

jedes i ∈ 1, . . . , k. Da (Xi, di) vollstandige metrische Raume sind, konver-gieren die Folgen (xni)

∞n=1 gegen ein yi ∈ Xi. Somit gilt nach Satz 2.13

Page 79: Grundkurs Analysis

2.4 Vollstandige metrische Raume 71

limn→∞

xn = (y1, . . . , yk) ∈ X1 × . . .×Xk.

⊓⊔

Folgerung 2.2 Die metrischen Raume C, Rn und Cn (jeweils mit der Stan-dardmetrik) sind vollstandig.

Satz 2.30 Sei (X, d) ein vollstandiger metrischer Raum und A ⊂ X eineTeilmenge. Dann ist der metrische Raum (A, d|A×A

) genau dann vollstandig,wenn A abgeschlossen ist.

Beweis. (⇐=): Sei A abgeschlossen und (an) eine Cauchy–Folge in (A, d) (ZurAbkurzung bezeichnen wir die Einschrankung von d auf A ×A ebenfalls mitd). Dann ist (an) auch Cauchy–Folge in (X, d), die, da (X, d) vollstandig ist,gegen ein x ∈ X konvergiert. Da A abgeschlossen ist, liegt jeder Grenzwerteiner Folge von Elementen aus A wieder in A. Somit ist x ∈ A, das heißt (an)konvergiert in A. Folglich ist (A, d) ein vollstandiger metrischer Raum.(=⇒): Sei nun (A, d) vollstandig. Wir zeigen, dass dann A abgeschlossen ist.Sei x ∈ cl(A). Dann existiert eine Folge an ∈ A mit lim

n→∞an = x. Damit ist

(an) eine Cauchy–Folge in (A, d) und somit in A konvergent. Das heißt, x liegtin A. Folglich gilt cl(A) ⊂ A. Die Teilmenge A ⊂ X ist also abgeschlossen. ⊓⊔

Folgerung 2.3 Jede abgeschlossene Teilmenge A ⊂ Rn bzw. A ⊂ Cn ist einvollstandiger metrischer Raum (mit Standardmetrik).

Wir wissen, dass nicht jeder metrische Raum vollstandig ist. Man kann aberjeden metrischen Raum vervollstandigen. Abschließend behandeln wir dieseVervollstandigungsprozedur, die uns zeigt, dass man jeden metrischen Raumals dichten Teilraum eines gewissen vollstandigen metrischen Raumes auffas-sen kann. Diese Prozedur wird in der Analysis vielfaltig angewendet.

Satz 2.31 (Vervollstandigung metrischer Raume)Zu jedem metrischen Raum (X, d) gibt es einen vollstandigen metrischen

Raum (X, d) und eine Abbildung ϕ : X −→ X, fur die gilt:

1. ϕ : (X, d) −→ (ϕ(X), d) ist eine Isometrie.

2. ϕ(X) ⊂ X ist dicht.

(X, d) ist bis auf Isometrie eindeutig bestimmt, d.h. ist (X ′, d′) ein weiterervollstandiger metrischer Raum und ϕ′ : X −→ X ′ eine Abbildung mit denEigenschaften 1. und 2., dann existiert eine Isometrie F : (X, d) −→ (X ′, d′)so dass F ϕ = ϕ′.

Page 80: Grundkurs Analysis

72 2 Metrische Raume

Definition 2.24. Der metrische Raum (X, d) aus Satz 2.31 heißt Vervollstandi-gung von (X, d).

Beweis. Den Beweis fuhren wir in mehreren Schritten.

1. Schritt: Definition der Menge X.Dazu betrachten wir die Menge CF(X, d) der Cauchy-Folgen des metrischenRaumes (X, d). Zwei Cauchy-Folgen (xn), (yn) ∈ CF(X, d) bezeichnen wir alsaquivalent (symbolisch: (xn) ∼ (yn)), wenn

d(xn, yn) → 0 fur n→ +∞.

Dies definiert eine Aquivalenzrelation auf dem Raum CF(X, d).Aus d(xn, xn) = 0 und d(xn, yn) = d(yn, xn) ergeben sich unmittelbar dieReflexitat und die Symmetrie der Relation ∼. Aus der Dreiecksungleichung

0 ≤ d(xn, zn) ≤ d(xn, yn) + d(yn, zn)

folgt, dass mit d(xn, yn) → 0 und d(yn, zn) → 0 stets d(xn, zn) → 0 gilt. Dies

zeigt die Transitivitat von ∼. Die Menge X sei die Menge der Aquivalenzklas-sen von Cauchy-Folgen bzgl. der Relation ∼:

X := CF(X, d)/ ∼ .

Die Aquivalenzklasse der Cauchy-Folge (xn) ∈ CF(X, d) bezeichnen wir mit[(xn)].

2. Schritt: Definition des Abstandes d auf X.Seien (xn), (yn) ∈ CF(X, d) zwei Cauchy-Folgen von (X, d). Nach der Vier-ecksungleichung gilt

|d(xm, ym) − d(xn, yn)| ≤ d(xm, xn) + d(ym, yn) .

Folglich ist die Folge der reellen Zahlen (d(xn, yn)) eine Cauchy-Folge im me-trischen Raum R. Da R vollstandig ist, konvergiert diese Folge, d.h. es existiertlimn→∞

d(xn, yn) . Wir definieren fur zwei Elemente ξ = [(xn)] und η = [(yn)]

von X den Abstandd(ξ, η) := lim

n→∞d(xn, yn) .

Diese Definition ist korrekt, d.h. sie hangt nicht von der Wahl der Reprasen-tanten (xn) bzw. (yn) in den Aquivalenzklassen ξ bzw. η ab. Sind namlich(xn) ∼ (x′n) und (yn) ∼ (y′n), so gilt nach Vierecksungleichung

|d(x′n, y′n) − d(xn, yn)| ≤ d(x′n, xn) + d(y′n, yn) .

Benutzt man nun die Definition von ∼, so folgt

limn→∞

d(xn, yn) = limn→∞

d(x′n, y′n) .

Page 81: Grundkurs Analysis

2.4 Vollstandige metrische Raume 73

Die Abbildung d : X× X → R ist ein Abstand auf X: Die Symmetrie und diePositivitat von d sind offensichtlich wegen der analogen Eigenschaften von d.Die Aquivalenzrelation ∼ auf CF(X, d) ist gerade so definiert, dass

d(ξ, η) = 0 ⇐⇒ limn→∞

d(xn, yn) = 0 ⇐⇒ (xn) ∼ (yn) ⇐⇒ ξ = η.

Die Dreiecksungleichung folgt ebenfalls aus derjenigen von d:Seien ξ = [(xn)], η = [(yn)], ρ := [(wn)]. Dann gilt

d(ξ, η) = limn→∞

d(xn, yn)

≤ limn→∞

(d(xn, wn) + d(wn, yn))

= d(ξ, ρ) + d(ρ, η) .

Damit haben wir einen metrischen Raum (X, d) definiert.

3. Schritt: Definition der Abbildung ϕ:Sei x ∈ X . Wir betrachten die konstante Folge (xn := x) in X und bezeichnen

mit x ∈ X ihre Aquivalenzklasse x := [(xn := x)] in (X, d). Die Abbildung ϕdefinieren wir durch

ϕ : X −→ Xx 7−→ x

Die Abbildung ϕ : X −→ ϕ(X) ist offensichtlich bijektiv und es gilt nachDefinition von d

d(ϕ(x), ϕ(y)) = d(x, y) = limn→∞

d(x, y) = d(x, y).

(X, d) ist also isometrisch zum Teilraum (ϕ(X), d) von (X, d).

4. Schritt: Der metrische Raum (X, d) ist vollstandig.

Sei (ξk)∞k=1 eine beliebige Cauchy-Folge aus (X, d). Wir zeigen, dass (ξk) in

(X, d) konvergiert. Zunachst wahlen wir in jeder Aquivalenzklasse ξk einenReprasentanten (xkn)∞n=1 ∈ CF(X, d). In jeder dieser Cauchy-Folgen wahlenwir dann ein Folgenglied xknk

∈ X so, dass

d(xkn, xknk) <

1

k∀ n > nk . (∗)

Wir zeigen nun, dass die Folge (xknk)∞k=1 eine Cauchy-Folge in (X, d) ist. Aus

der Isometrie zwischen (X, d) und (ϕ(X), d), der Dreiecksungleichung und (∗)folgt

d(xknk, xk′nk′ ) = d(xknk

, xk′nk′ )

≤ d(xknk, ξk) + d(ξk, ξk′) + d(ξk′ , xk′nk′ )

= limn→∞

d(xknkxkn) + d(ξk, ξk′ ) + lim

n→∞d(xk′n, xk′nk′ )

<1

k+ d(ξk, ξk′ ) +

1

k′.

Page 82: Grundkurs Analysis

74 2 Metrische Raume

Da (ξk)∞k=1 eine Cauchy-Folge in (X, d) ist, existiert zu vorgegebenem ε > 0

ein Index k0 ∈ N, so dass

d(ξk , ξk′ ) ,1

k,

1

k′<ε

6∀ k, k′ ≥ k0 .

Folglich ist

d(xknk, xk′nk′ ) <

ε

2∀ k, k′ ≥ k0. (∗∗)

und somit (xknk)∞k=1 eine Cauchy-Folge in (X, d). Die Aquivalenzklasse dieser

Folge sei ξ := [(xknk)]. Wir zeigen, dass (ξk) in (X, d) gegen ξ konvergiert.

Aus (∗) und (∗∗) folgt

d(ξk, ξ) ≤ d(ξk, xknk) + d(xknk

, ξ)

= limn→∞

d(xkn, xknk) + lim

k′→∞d(xknk

, xk′nk′ )

< ε ∀ k > k0 .

Folglich konvergiert die Cauchy-Folge (ξk)∞k=1 im Raum (X, d) gegen ξ ∈ X.

5. Schritt: Wir zeigen, dass die Menge ϕ(X) dicht in X ist.

Sei ξ ∈ X ein beliebiges Element und (xn)∞n=1 eine Cauchy-Folge in der Aqui-valenzklasse ξ. Wir betrachten die entsprechende Folge (xn) in ϕ(X). Furε > 0 existiert ein n0 ∈ N mit

d(xn, ξ) = limm→∞

d(xn, xm) < ε ∀ n > n0 .

Folglich konvergiert (xn) gegen ξ und die Dichtheit von ϕ(X) in X ist bewie-sen.

6. Schritt: (X, d) ist bis auf Isometrie eindeutig bestimmt:Sei (X ′, d′) ein weiterer vollstandiger metrischer Raum und ϕ′ : X −→ X ′ eineAbbildung, so dass ϕ′ : (X, d) −→ (ϕ′(X), d′) eine Isometrie und ϕ′(X) ⊂ X ′

dicht ist. Dann definiert die Abbildung

f : ϕ(X) −→ ϕ′(X)

ϕ(x) 7−→ ϕ′(x)

offensichtlich eine Isometrie zwischen den metrischen Raumen (ϕ(X), d) und

(ϕ′(X), d′). Wir erweitern f zu einer Isometrie F zwischen (X, d) und (X ′, d′):

Sei ξ ∈ X und ξ = limn→∞

xn fur eine Folge (xn) aus ϕ(X). Da (xn) eine Cauchy-

Folge in ϕ(X) ist, ist auch ihr Bild (f(xn)) eine Cauchy-Folge in ϕ′(X). Seiξ′ := lim

n→∞f(xn) ∈ X ′. ξ′ ist korrekt definiert, d.h. unabhangig von der Wahl

der Folge (xn). Sei namlich (yn) eine weitere Folge mit ξ = limn→∞

yn, so gilt

d(xn, yn) = d′(f(xn), f(yn)) → 0 , also limn→∞

f(yn) = ξ′. Wir erhalten somit

eine Fortsetzung von f zu einer Abbildung

Page 83: Grundkurs Analysis

2.5 Kompakte und folgenkompakte Teilmengen metrischer Raume 75

F : X −→ X ′

ξ = limn→∞

xn 7−→ ξ′ = limn→∞

f(xn) .

F ist offensichtlich bijektiv. Fur ξ = limn→∞

xn ∈ X und η = lim yn ∈ X gilt

d(ξ, η) = limn→∞

d(xn, yn) = limn→∞

d′(f(xn), f(yn)) = d′(ξ′, η′) = d′(F (ξ), F (η)).

Die Abbildung F ist folglich eine Isometrie zwischen (X, d) und (X ′, d′). Ausder Definition von F folgt sofort, dass F ϕ = ϕ′. Damit ist Satz 2.31vollstandig bewiesen. ⊓⊔

Bemerkung: Eine Moglichkeit zur Konstruktion der reellen Zahlen aus denrationalen Zahlen besteht darin, die in Satz 2.31 beschriebene Vervollstandi-gungsprozedur fur die Menge der rationalen Zahlen Q mit dem Abstandd(x, y) = |x − y| auszufuhren. Die entstehende Menge Q erfullt dann dieAxiome der reellen Zahlen aus Kapitel 1.

2.5 Kompakte und folgenkompakte Teilmengenmetrischer Raume

Definition 2.25. Eine Teilmenge A eines metrischen Raumes (X, d) heißtfolgenkompakt, falls jede Folge (an) von Punkten aus A einen Haufungspunktin A hat, d.h. eine in A konvergente Teilfolge besitzt.Ist X ⊂ X folgenkompakt, so nennt man den metrischen Raum (X, d) folgen-kompakt.

Bemerkung: Sei (X, d) ein metrischer Raum und A ⊂ X . Dann ist A ⊂ Xgenau dann folgenkompakt, wenn der metrische Raum (A, d|A×A) folgenkom-pakt ist.

Satz 2.32 Im metrischen Raum R (mit Standardmetrik) ist jede beschrankteund abgeschlossene Menge folgenkompakt.

Beweis. Sei A ⊂ R eine abgeschlossene und beschrankte Menge und (an)eine Folge in A. Dann ist (an) ebenfalls beschrankt. Nach dem Satz vonBolzano-Weierstraß existiert ein Haufungspunkt von (an). Wir zeigen, dass je-der Haufungspunkt von (an) in A liegt. Sei x ∈ HP (an) und (anj

) eine gegenx ∈ R konvergente Teilfolge von (an). Dann gilt x = limsn→+∞an ∈ cl(A).Da A abgeschlossen ist, ist A = cl(A), also liegt x in A. Die Menge A istdemnach folgenkompakt. ⊓⊔

Page 84: Grundkurs Analysis

76 2 Metrische Raume

Beispiel: Die abgeschlossenen Intervalle [a, b] ⊂ R sind folgenkompakt.

Satz 2.33 Sei (X, d) das Produkt der metrischen Raume (X1, d1), . . . , (Xk, dk)und seien Aj ⊂ Xj folgenkompakte Mengen, j = 1, . . . k. Dann ist die Pro-duktmenge A := A1 ×A2 × . . .×Ak folgenkompakt in (X, d).

Beweis. Den Beweis uberlassen wir dem Leser als Ubungsaufgabe (Aufgabe36). ⊓⊔

Beispiel: Die ’Wurfel’ W := [a1, b1] × [a2, b2] × . . . × [ak, bk] ⊂ Rk sind fol-genkompakte Teilmengen des metrischen Raumes Rk.

Satz 2.34 Sei (X, d) ein metrischer Raum und B ⊂ X folgenkompakt. IstA ⊂ X abgeschlossen und A ⊂ B, so ist A ebenfalls folgenkompakt.

Beweis. Sei (an) eine beliebige Folge in A. Dann ist (an) auch Folge in B undbesitzt, da B folgenkompakt ist, eine in B konvergente Teilfolge (anj

). Seib = lim

j→∞anj

∈ cl(A). Da A abgeschlossen ist, ist cl(A) = A und somit b ∈ A.

Also enthalt (an) eine in A konvergente Teilfolge. Damit ist A folgenkompakt.⊓⊔

Satz 2.35 Jede folgenkompakte Teilmenge eines metrischen Raumes (X, d)ist beschrankt und abgeschlossen.

Beweis. Sei A ⊂ X folgenkompakt.(1) Angenommen A ware nicht abgeschlossen. Dann existiert ein Punktx ∈ cl(A) \A. Sei (an) eine Folge in A, die gegen x konvergiert. Dann konver-giert jede Teilfolge von (an) ebenfalls gegen x 6∈ A, woraus HP (an) ∩ A = ∅folgt. Dies widerspricht der Vorraussetzung, dass A folgenkompakt ist.(2) Angenommen A ware nicht beschrankt. Wir fixieren einen Punkt x0 ∈ X .Dann gilt A 6⊂ K(x0, n) fur alle n ∈ N. Folglich existiert eine Folge (an) inA, so dass d(x0, an) > n fur alle n ∈ N. Damit ist jede Teilfolge von (an)unbeschrankt und kann folglich nicht konvergieren, d.h. HP (an) = ∅. Dieswiderspricht der Vorraussetzung, dass A folgenkompakt ist. ⊓⊔

Bemerkung: Die Umkehrung von Satz 2.35 gilt im allgemeinen nicht. Umdas einzusehen, betrachten wir eine unendliche Menge X mit der diskretenMetrik

d(x, y) =

0 x = y1 x 6= y.

Jede Teilmenge A ⊂ X ist abgeschlossen und beschrankt. Eine abzahlbar un-endliche Teilmenge A = a1, a2, . . . , ⊂ X ist aber nicht folgenkompakt, da

Page 85: Grundkurs Analysis

2.5 Kompakte und folgenkompakte Teilmengen metrischer Raume 77

eine Folge in (X, d) genau dann konvergiert, wenn sie ab einem bestimmtenIndex konstant ist.

Satz 2.36 Eine Teilmenge im metrischen Raum Rn (mit Standardmetrik) istgenau dann folgenkompakt, wenn sie abgeschlossen und beschrankt ist.

Beweis. Wegen Satz 2.35 genugt es zu zeigen, dass eine abgeschlossene, be-schrankte Teilmenge A ⊂ Rn folgenkompakt ist. Da A beschrankt ist, existiertein Wurfel W = [a1, b1] × [a2, b2] × . . . × [an, bn] ⊂ Rn, der A enthalt. W istfolgenkompakt und A abgeschlossen, folglich ist A nach Satz 2.34 folgenkom-pakt. ⊓⊔Beispiele:

• Die n–dimensionale Sphare vom Radius r > 0

Snr := x ∈ Rn+1 | ‖x‖ = r ⊂ Rn+1

ist folgenkompakt.

• Der n–dimensionale Torus T n := S1 × . . .× S1 ⊂ R2n ist folgenkompakt.

• Die abgeschlossene Kugel Dnr = x ∈ Rn | ‖x‖ ≤ r ⊂ Rn ist folgenkom-

pakt.

Wir untersuchen nun weitere Eigenschaften folgenkompakter metrischer Raume.

Definition 2.26. Sei (X, d) ein metrischer Raum und A ⊂ X. A heißt totalbeschrankt, falls es zu jedem ε > 0 endlich viele Punkte x1, x2, . . . , xk ∈ X

gibt mit A ⊂k⋃i=1

K(xi, ε).

Ist die gesamte Menge X total beschrankt, so sagt man, dass der metrischeRaum (X, d) total beschrankt ist.

Satz 2.37 Jeder folgenkompakte metrische Raum ist total beschrankt.

Beweis. Sei (X, d) folgenkompakt. Angenommen (X, d) ware nicht total be-schrankt. Dann existiert ein ε0 > 0, so dass fur alle k ∈ N und fur allex1, . . . , xk ∈ X

K(x1, ε0) ∪ . . . ∪K(xk, ε0) 6= X.

Wir betrachten zunachst k = 1 und x1 ∈ X beliebig. Dann ist K(x1, ε0) 6= X .Wir wahlen einen Punkt x2 ∈ X \ K(x1, ε0). Dann gilt d(x1, x2) ≥ ε0 > 0.Da K(x1, ε0) ∪K(x2, ε0) 6= X , existiert ein x3 ∈ X \ (K(x1, ε0) ∪K(x2, ε0)).Also gilt d(x3, x1) ≥ ε0 > 0 und d(x3, x2) ≥ ε0 > 0 . Wir fuhren diesesVerfahren fort und erhalten eine Folge von Punkten x1, x2, x3, . . . in X mitder Eigenschaft d(xi, xj) ≥ ε0 > 0 fur alle i 6= j. Diese Folge kann aber keinekonvergente Teilfolge enthalten. Dies widerspricht der Folgenkompaktheit von(X, d) ⊓⊔

Page 86: Grundkurs Analysis

78 2 Metrische Raume

Definition 2.27. Ein metrischer Raum heißt separabel, falls eine abzahlbare,dichte Teilmenge A ⊂ X existiert.

Beispiele: R, C, Rn und Cn sind separable metrische Raume, denn Q ⊂ R,(Q + iQ) ⊂ C, Qn ⊂ Rn und (Q + iQ)n ⊂ Cn sind jeweils dichte und abzahl-bare Teilmengen.

Satz 2.38 Jeder folgenkompakte metrische Raum (X, d) ist separabel.

Beweis. Sei (X, d) folgenkompakt. Nach Satz 2.37 ist (X, d) total beschrankt.Wir verschaffen uns dadurch abzahlbar viele Punkte von X :

ε = 1 =⇒ ∃ x11, . . . , x1k1 ∈ X : X =k1⋃i=1

K(x1i, 1).

ε = 12 =⇒ ∃ x21, . . . , x2k2 ∈ X : X =

k2⋃i=1

K(x2i,12 ) . . .

ε = 1n

=⇒ ∃ xn1, . . . , xnkn∈ X : X =

kn⋃i=1

K(xni,1n).

Wir betrachten die abzahlbare Menge A :=∞⋃n=1

kn⋃i=1

xni ⊂ X und zeigen, dass

A dicht in X ist. Wir mussen dazu zeigen, dass jedes x ∈ X der Grenzwerteiner Folge von Elementen aus A ist. Sei x ∈ X . Fur jedes n ∈ N gilt x ∈kn⋃i=1

K(xni,1n). Demnach existiert ein in ∈ 1, . . . , kn so dass x ∈ K(xnin ,

1n).

Wir setzen an := xnin ∈ A, und erhalten dadurch eine Folge (an) in A mitd(an, x) <

1n. Die Folge (an) konvergiert somit gegen x. ⊓⊔

Satz 2.39 (Satz von Cantor fur folgenkompakte metrische Raume)Sei (X, d) ein folgenkompakter metrischer Raum und (Fn) eine Familie abge-schlossener Teilmengen von (X, d) mit F1 ⊃ F2 ⊃ F3 ⊃ . . . . Dann gilt

∞⋂

n=1

Fn 6= ∅.

Beweis. Wir wahlen aus jeder Menge Fn einen Punkt xn ∈ Fn. Da (X, d)folgenkompakt ist, existiert eine Teilfolge (xnk

) von (xn), die gegen einen

Punkt x ∈ X konvergiert. Wir zeigen, dass x ∈∞⋂n=1

Fn.

Sei m ∈ N fixiert. Dann gilt xn ∈ Fm fur alle n ≥ m. Insbesondere exisiertein km ∈ N so dass xnk

∈ Fm fur alle k ≥ km. Daraus folgt wegen derAbgeschlossenheit von Fm

Page 87: Grundkurs Analysis

2.5 Kompakte und folgenkompakte Teilmengen metrischer Raume 79

x = limk→∞

xnk∈ cl(Fm) = Fm

und somit x ∈∞⋂m=1

Fm. ⊓⊔

Bemerkung: Im Unterschied zum Satz von Cantor fur vollstandige me-trische Raume (Ubungsaufgabe 35) benotigt man nicht die Voraussetzung

diam(Fn) → 0. Die Menge∞⋂n=1

Fn kann aus mehreren Punkten bestehen.

Beispiel (Cantorsches Diskontinuum): Wir definieren die folgende Familievon Teilmengen aus R

C0 := [0, 1], C1 := C0 \ (1

3,2

3), C2 := C1 \ ((

1

9,2

9) ∪ (

7

9,8

9)), . . .

(Es werden also immer die offenen, mittleren Drittel aus den abgeschlossenenIntervallen entfernt). Damit sind die Voraussetzungen des Satzes 2.39 erfullt:X = [0, 1] ist folgenkompakt, C0 ⊃ C1 ⊃ C2 ⊃ . . . und alle Mengen Cn sindabgeschlossen. (Der Durchmesser jeder Menge Cn ist 1). Wir betrachten

C :=

∞⋂

n=1

Cn 6= ∅.

C wird das Cantorsche Diskontinuum genannt. C ist folgenkompakt, da Cbeschrankt und als Durchschnitt abgeschlossener Mengen selbst abgeschlos-sen ist.

Nachdem wir bisher folgenkompakte Teilmengen betrachtet haben, die durchspezielle Eigenschaften von Folgen definiert wurden, betrachten wir im Fol-genden einen Kompaktheitsbegriff, der mit Hilfe von offenen Mengen definiertwird.

Definition 2.28. Sei (X, d) ein metrischer Raum und A ⊂ X eine Teilmenge.Eine Familie U = Uii∈I von Teilmengen von X heißt offene Uberdeckungvon A, falls die folgenden beiden Eigenschaften gelten

(1) Ui ⊂ X ist offen fur alle i ∈ I.(2) A ⊂ ⋃

i∈IUi.

Eine Teilmenge U ⊂ U der Uberdeckung U heißt Teiluberdeckung, wenn

A ⊂⋃

U∈U

U.

Eine Teiluberdeckung heißt endlich, wenn sie endlich viele Elemente enthalt.

Page 88: Grundkurs Analysis

80 2 Metrische Raume

Definition 2.29. Sei (X, d) ein metrischer Raum. Eine Teilmenge A ⊂ Xheißt kompakt, wenn man aus jeder offenen Uberdeckung von A eine endlicheTeiluberdeckung auswahlen kann.Ist die gesamte Menge X kompakt, so sagt man, dass der metrische Raum(X, d) kompakt ist.

Es gilt wiederum, dass eine Teilmenge A eines metrischen Raumes (X, d) ge-nau dann kompakt ist, wenn der metrische Raum (A, d|A×A) kompakt ist.

Satz 2.40 Ein metrischer Raum (X, d) ist genau dann kompakt, wenn erfolgenkompakt ist.

Beweis. 1. (X, d) kompakt =⇒ (X, d) folgenkompakt:Sei (X, d) kompakt und (xn) eine Folge in X . Wir betrachten die MengeFn := cl(xn+1, xn+2, . . .). Fn ist abgeschlossen fur alle n ∈ N und es gilt

. . . ⊃ Fn ⊃ Fn+1 ⊃ Fn+2 ⊃ . . .

Dann ist Un := X \ Fn offen und

. . . ⊂ Un ⊂ Un+1 ⊂ Un+2 ⊂ . . . (∗)

Im Folgenden zeigen wir, dass U := Un keine Uberdeckung von X ist. ZumBeweis nehmen wir an, dass U eine Uberdeckung von X ware. Da X kompaktist, wurde eine endliche Teiluberdeckung existieren mit

X = Un1 ∪ . . . ∪ Unk(n1 < n2 < . . . < nk).

Wegen (∗) folgt X = Unk= X \ Fnk

. Also ist Fnkleer. Dies steht aber im

Widerspruch zur Definition der Mengen Fn. Die Annahme war also falsch, dasheißt U = Un ist keine Uberdeckung von X . Es folgt

∞⋃

n=1

Un =∞⋃

n=1

(X \ Fn) = X \ (∞⋂

n=1

Fn) 6= X.

Also gilt∞⋂n=1

Fn 6= ∅. Sei nun x ∈∞⋂n=1

Fn. Dann ist x ∈ Fn fur alle n ∈ N. Wir

konstruieren uns nun eine gegen x konvergente Teilfolge:

x ∈ F1 = cl(x1, x2, . . .) ⇒ ∃ xn1 : d(x, xn1 ) < 1

x ∈ Fn1 = cl(xn1+1, xn1+2, . . .) ⇒ ∃ xn2 : d(x, xn2 ) <12 , n1 < n2

x ∈ Fn2 = cl(xn2+1, xn2+2, . . .) ⇒ ∃ xn3 : d(x, xn3 ) <13 , n2 < n3 . . .

Folgern wir so weiter, so erhalten wir eine Teilfolge (xnk)∞k=1 von (xn)∞n=1 mit

d(x, xnk) < 1

k. Demnach konvergiert (xnk

) gegen x ∈ X . Folglich ist (X, d)

Page 89: Grundkurs Analysis

2.5 Kompakte und folgenkompakte Teilmengen metrischer Raume 81

folgenkompakt.

(2) (X, d) folgenkompakt =⇒ (X, d) kompakt:

Sei (X, d) folgenkompakt und U eine offene Uberdeckung von X . Wir mussenzeigen, dass U eine endliche Teiluberdeckung besitzt.

(a) Wir zeigen zunachst, dass U eine abzahlbare Teiluberdeckung enthalt.Nach Satz 2.38 ist (X, d) separabel. Folglich existiert eine abzahlbare Teil-menge A ⊂ X mit cl(A) = X . Wir definieren die Menge

Λ = (a, q) ∈ A× Q+ | ∃ U ∈ U : K(a, q) ⊂ U ⊂ A× Q+.

Λ ist abzahlbar, da A×Q+ abzahlbar ist. Ist (a, q) ∈ Λ, so existiert ein U ∈ Umit K(a, q) ⊂ U . Wir wahlen eine dieser Mengen U und bezeichnen sie mitU(a, q). Dann ist

U∗ := U(a, q)(a,q)∈Λ

eine abzahlbare Teilfamilie von U . Wir zeigen nun, dass U∗ eine Uberdeckungvon X ist, das heißt dass

X =⋃

(a,q)∈ΛU(a, q).

Sei x ∈ X . Da U eine Uberdeckung von X ist, existiert ein U0 ∈ U mitx ∈ U0. Da U0 offen ist, gibt es eine Kugel K(x, ε0) ⊂ U0. Da A ⊂ X dichtliegt, enthalt X \ A keine Kugel. Insbesondere liegt die Kugel K(x, ε03 ) nichtvollstandig in X \ A. Somit existiert ein a ∈ A ∩K(x, ε03 ). Wir wahlen einerationale Zahl q ∈ Q+ mit ε0

3 < q < 23 · ε0. Wir zeigen nun, dass x ∈ U(a, q).

Wegen d(x, a) < ε03 < q folgt x ∈ K(a, q). Sei y ∈ K(a, q) ein beliebiges

Element dieser Kugel. Dann erhalten wir

d(x, y) ≤ d(x, a) + d(a, y) <ε03

+ q <ε03

+2

3· ε0 < ε0.

Demnach gilt y ∈ K(x, ε0) und somit K(a, q) ⊂ K(x, ε0) ⊂ U0.Die Definition von Λ besagt dann, dass (a, q) zu Λ gehort. Folglich istx ∈ K(a, q) ⊂ U(a, q). Damit ist X =

⋃(a,q)∈Λ

U(a, q) bewiesen.

(b) Es bleibt zu zeigen, dass man in jeder abzahlbaren, offenen Uberdeckungeine endliche Teiluberdeckung findet.Sei U = U1, U2, . . . eine abzahlbare, offene Uberdeckung von X . Wir be-trachten

Fn = X \ (U1 ∪ . . . ∪ Un)︸ ︷︷ ︸offen

.

Dann ist F1 ⊃ F2 ⊃ . . . eine absteigende Folge abgeschlossener Mengen. Wirzeigen nun, dass ein n ∈ N existiert mit Fn = ∅. Ware keine dieser MengenFn leer, so hatte man nach dem Satz 2.39

Page 90: Grundkurs Analysis

82 2 Metrische Raume

∞⋂

n=1

Fn 6= ∅.

Wegen

∅ 6=∞⋂

n=1

Fn =

∞⋂

n=1

(X \n⋃

i=1

Ui) = X \ (

∞⋃

n=1

n⋃

i=1

Ui) = X \ (

∞⋃

n=1

Un)

ware U dann keine Uberdeckung von X , was im Widerspruch zur Vorausset-zung steht. Folglich ist Fn = ∅ fur ein n ∈ N und es gilt X = U1 ∪ . . . ∪ Un.Wir haben somit eine endliche Teiluberdeckung in U gefunden, das heißt (X, d)ist kompakt. ⊓⊔

Folgerung 2.4 Eine Teilmenge eines metrischen Raumes ist genau dannkompakt, wenn sie folgenkompakt ist. Insbesondere gelten fur kompakte Teil-mengen metrischer Raume die folgenden Eigenschaften:

1. Jede kompakte Menge ist total beschrankt, insbesondere beschrankt.2. Jede kompakte Menge ist abgeschlossen.3. Jede abgeschlossene Teilmenge einer kompakten Menge ist selbst kompakt.4. Eine Teilmenge im metrischen Raum Rn ist genau dann kompakt, wenn

sie beschrankt und abgeschlossen ist.

Weitere Eigenschaften kompakter Mengen findet man in den Ubungsaufgaben.

Folgerung 2.5 (Klassischer Uberdeckungssatz von Heine/Borel)Sei [a, b] ⊂ R ein abgeschlossenes Intervall und U = (ai, bi)i∈I eine Familie(beliebig vieler) offener Intervalle, deren Vereinigung [a, b] uberdeckt:

[a, b] ⊂⋃

i∈I(ai, bi).

Dann existieren endlich viele Intervalle (ai1 , bi1), . . . , (ain , bin) ∈ U , die [a, b]bereits uberdecken, dh.

[a, b] ⊂n⋃

j=1

(aij , bij ).

Wir wissen, dass eine Teilmenge im Rn genau dann kompakt ist, wenn siebeschrankt und abgeschlossen ist. Eine ahnliche Charakterisierung kompakterMengen in allgemeinen metrischen Raumen ist nicht moglich. Man hat aberfur vollstandige metrische Raume das folgende Kriterium fur Kompaktheit.

Satz 2.41 Sei (X, d) ein vollstandiger metrischer Raum. Eine Teilmenge in(X, d) ist genau dann kompakt, wenn sie abgeschlossen und total beschranktist.

Page 91: Grundkurs Analysis

2.5 Kompakte und folgenkompakte Teilmengen metrischer Raume 83

Beweis. =⇒ folgt aus den Satzen 2.40, 2.37 und 2.34⇐= findet man z.B. im Buch von Dieudonne: Grundzuge der modernen Ana-lysis, Bd. 1. ⊓⊔

Abschließend sei noch ein Satz erwahnt, der oft als technisches Hilfsmittel beiBeweisen und Konstruktionen in der Topologie benutzt wird.

Satz 2.42 (Die Lebesgue-Zahl einer Uberdeckung)Sei (X, d) ein metrischer Raum, A ⊂ X eine kompakte Teilmenge und U eineoffene Uberdeckung von A. Dann existiert eine reelle Zahl ℓ(U) > 0, so dassfolgendes gilt: Jede Teilmenge B ⊂ A, deren Durchmesser kleiner als ℓ(U) ist,liegt vollstandig in einer der offenen Mengen U ∈ U .ℓ(U) heißt Lebesgue-Zahl der Uberdeckung U .

Beweis. Das uberlassen wir dem Leser als Ubungsaufgabe. ⊓⊔

Bemerkung: Wenn man sich den Satz 2.40 ansieht, fragt man sich naturlich,warum man denn uberhaupt zwei verschiedene Kompaktheitsbegriffe defi-niert, wenn diese dann doch ubereinstimmen. Ein Grund dafur ist, dass mandie kompakten Mengen dadurch auf zwei vollig verschiedene Weisen charak-terieren kann (einmal durch Eigenschaften von Folgen, zum anderen durchEigenschaften offener Uberdeckungen). Beide Varianten haben zum Nachweisvon Kompaktheit in verschiedenen Situationen jeweils Vorteile.Der tieferliegende Grund ist aber der folgende: Die metrischen Raume sindeine spezielle Klasse der sogenannten topologischen Raume, die wir hier kurzerganzend einfuhren wollen:

Sei X eine nichtleere Menge. Eine Topologie auf X ist eine Familie T vonTeilmengen von X , die folgende Eigenschaften hat:

1. X, ∅ ∈ T .2. Die Vereinigung beliebig vieler Teilmengen aus T ist ebenfalls in T .3. Der Durchschnitt endlich vieler Teilmengen aus T ist ebenfalls in T .

Das Paar (X, T ) nennt man dann topologischen Raum. Die Elemente in Theißen die offenen Mengen des topologischen Raumes (X, T ).

Ist (X, d) ein metrischer Raum, so bilden die offenen Mengen des metrischenRaumes nach Satz 2.2 eine Topologie auf X . Jeder metrische Raum ist folglichein spezieller topologischer Raum. In topologischen Raumen kann man kom-pakte und folgenkompakte Mengen auf die gleiche Weise definieren, wie immetrischen Raum. Man kann dann zeigen, dass es sowohl topologische Raumegibt mit kompakten Mengen, die nicht folgenkompakt sind als auch topolo-gische Raume mit folgenkompakten Mengen, die nicht kompakt sind !!. Furtopologische Raume, die zu den Grundstrukturen der Analysis gehoren, fallendie beiden Kompaktheitsbegriffe also nicht mehr zusammen.

Page 92: Grundkurs Analysis

84 2 Metrische Raume

2.6 Zusammenhangende Teilmengen eines metrischenRaumes

Definition 2.30. Sei (X, d) ein metrischer Raum. Eine Teilmenge A ⊂ Xheißt zusammenhangend, wenn es keine offenen und zueinander disjunktenTeilmengen U, V ⊂ X gibt, so dass A ⊂ U ∪ V , A ∩ U 6= ∅ und A ∩ V 6= ∅.Ist die Menge X selbst zusammenhangend, so nennt man den metrischenRaum (X, d) zusammenhangend.

Beispiel: Sei X = R2, U, V ⊂ X offene Teilmengen von X und A ⊂ X wieim Bild. Dann ist A nicht zusammenhangend.

A

U

V

Bemerkung: Nach Definition ist ein metrischer Raum (X, d) zusammenhan-gend, wenn er sich nicht in die disjunkte Vereinigung zweier offener nichtleererMengen zerlegt. Man kann wiederum zeigen, dass eine Teilmenge A eines me-trischen Raumes (X, d) genau dann zusammenhangend ist, wenn der metrischeRaum (A, d|A×A) zusammenhangend ist.

Wir beschreiben nun die zusammenhangenden Mengen im metrischen RaumR mit der Standardmetrik d(x, y) = |x− y|.

Satz 2.43 Eine Teilmenge A ⊂ R ist genau dann zusammenhangend, wennsie mit je zwei Punkten a, b ∈ A auch das Intervall [a, b] vollstandig enthalt.Die einzigen zusammenhangenden Teilmengen in R sind folglich R, (−∞, b),(−∞, b], (a,∞), [a,∞), (a, b), [a, b], (a, b], [a, b) und a.

Beweis. (=⇒) Sei A ⊂ R zusammenhangend. Angenommen es existierena, b ∈ A mit [a, b] 6⊂ A. Dann gibt es ein x ∈ [a, b] mit x 6∈ A. Wir be-trachten die Mengen U := (−∞, x) und V := (x,∞). U und V sind disjunkteoffene Teilmengen in R mit A ⊂ U ∪ V = R \ x. Außerdem ist A ∩ U 6= ∅,da a ∈ A ∩ U und A ∩ V 6= ∅, da b ∈ A ∩ V . Dies widerspricht aber derVoraussetzung, dass A zusammenhangend ist.(⇐=) Sei A ⊂ R eine Teilmenge, die mit 2 Punkten a, b ∈ A, a ≤ b, auch dasIntervall [a, b] enthalt. Wir nehmen an, A sei nicht zusammenhangend. Dannexistieren offene disjunkte Teilmengen U, V ⊂ R mit A ⊂ U ∪ V , A ∩ U 6= ∅und A∩V 6= ∅. Wir wahlen a ∈ A∩U und b ∈ A∩V . OBdA gelte a < b. Wirbetrachten z := sup(U ∩ [a, b]). Dann gilt

Page 93: Grundkurs Analysis

2.6 Zusammenhangende Teilmengen eines metrischen Raumes 85

z ∈ cl(U ∩ [a, b]) ⊂ cl(R \ V ) = R \ V (da V offen ist),

z ∈ cl(U ∩ [a, b]) ⊂ cl([a, b]) = [a, b] ⊂ A.

Da U ∪ V die Menge A uberdeckt, liegt z in U . Da U offen ist, existiert einε > 0 mit (z − ε, z + ε) ⊂ U . Also gilt (z − ε, z + ε) ∩ [a, b] ⊂ U ∩ [a, b]. Esfolgt minz + ε, b = sup((z − ε, z + ε) ∩ [a, b]) ≤ sup(U ∩ [a, b]) = z. Dannmuss b ≤ z gelten. Da andererseits z ∈ [a, b], folgt b = z und somit z ∈ V . DaU und V disjunkt sind und z ∈ U , kann das nicht gelten. Damit war unsereAnnahme, dass A nicht zusammenhangend ist, falsch. ⊓⊔

Bemerkung: Der analoge Beweis liefert, dass jede Verbindungstecke zwischenzwei Punkten im metrischen Raum Rn zusammenhangend ist.

Weitere zusammenhangende Teilmengen erhalt man durch die folgenden bei-den Satze.

Satz 2.44 Sei (X, d) ein metrischer Raum und A ⊂ X eine zusammenhangen-de Teilmenge. Gilt A ⊂ B ⊂ cl(A), so ist B ebenfalls zusammenhangend.Insbesondere ist der Abschluss einer zusammenhangenden Menge selbst zu-sammenhangend.

Beweis. Angenommen B ware nicht zusammenhangend. Dann existieren of-fene, disjunkte Mengen U, V ⊂ X mit B ⊂ U ∪ V, B ∩U 6= ∅ und B ∩ V 6= ∅.Wir zeigen nun, dass dann A auch nicht zusammenhangend ist. Wegen A ⊂ Bgilt A ⊂ U ∪ V . Es bleibt zu zeigen, dass A ∩ V 6= ∅ und A ∩ U 6= ∅. Wirnehmen A ∩ U = ∅ an. Dann gilt A ⊂ X \ U und somit, da U offen ist,B ⊂ cl(A) ⊂ cl(X \ U) = X \ U . Dann ware B ∩ U = ∅ im Gegensatzzur Wahl von U . Folglich war unsere Annahme, dass A und U disjunkt sind,falsch. Die analogen Betrachtungen beweisen A ∩ V 6= ∅. Somit ist A nichtzusammenhangend, was den Voraussetzungen widerspricht. ⊓⊔

Satz 2.45 Sei (X, d) ein metrischer Raum und Ai, i ∈ I, beliebig viele zu-sammenhangende Teilmengen mit nichtleerem Durchschnitt B :=

⋂i∈I

Ai 6= ∅.Dann ist auch die Vereinigung A :=

⋃i∈I

Ai zusammenhangend.

Beweis. Wir nehmen an, A ware nicht zusammenhangend. Dann existierenoffene, disjunkte Mengen U, V ⊂ X mit A ⊂ U ∪V, A∩U 6= ∅ und A∩V 6= ∅.Fur i ∈ I gilt dann auch Ai ⊂ U ∪ V . Da Ai zusammenhangend ist, mussentweder Ai ∩ U = ∅ oder Ai ∩ V = ∅ gelten. Wir setzen

I1 := i ∈ I | Ai ⊂ V und I2 := i ∈ I | Ai ⊂ U.

Da A ∩ U 6= ∅ und A ∩ V 6= ∅ gilt I1 6= ∅ 6= I2. Wir erhalten

Page 94: Grundkurs Analysis

86 2 Metrische Raume

A =⋃

i∈IAi =

( ⋃

i∈I1Ai

)∪( ⋃

i∈I2Ai

)

und ( ⋃

i∈I1Ai

)∩( ⋃

i∈I2Ai

)⊂ V ∩ U = ∅.

Da fur alle i ∈ I gilt ∅ 6= B :=⋂k∈I

Ak ⊂ Ai, folgt

B ⊂( ⋃

i∈I1Ai

)∩( ⋃

i∈I2Ai

)= ∅.

Dies ist ein Widerspruch. Folglich war die Annahme falsch und A ist zusam-menhangend. ⊓⊔

Wir zeigen abschließend, dass sich jeder metrische Raum in disjunkte zusam-menhangende Teilmengen zerlegt.

Definition 2.31. Sei (X, d) ein metrischer Raum und x ∈ X. Die Menge

C(x) :=⋃

A zush.

x∈A

A

heißt die durch x bestimmte Zusammenhangskomponente von X.

Bemerkung:(1) Nach Satz 2.45 ist C(x) zusammenhangend. Somit ist C(x) die großte zu-sammenhangende Teilmenge von X , die x enthalt.

(2) Jede Zusammenhangskomponente von (X, d) ist abgeschlossen.Nach Satz 2.44 ist namlich der Abschluss cl(C(x)) der Zusammenhangskom-ponente C(x) ebenfalls zusammenhangend. Folglich gilt cl(C(x)) ⊂ C(x), alsocl(C(x)) = C(x). Somit ist C(x) abgeschlossen.

(3) Sind x, y ∈ X , so gilt entweder C(x) = C(y) oder C(x) ∩ C(y) = ∅.Wir betrachten den Fall, dass C(x) ∩ C(y) 6= ∅. Dann ist C(x) ∪ C(y) zusam-menhangend (nach Satz 2.45) und enthalt x und y. Folglich gilt C(x)∪C(y) ⊂C(x) und C(x) ∪ C(y) ⊂ C(y) und somit C(x) = C(y) = C(x) ∪ C(y).

Dies beweist den folgenden Satz

Satz 2.46 Sei (X, d) ein metrischer Raum. Dann zerlegt sich X in disjunkteZusammenhangskomponenen, d.h.

X =⋃

i∈ICi,

wobei die Mengen Ci zusammenhangend, abgeschlossen und paarweise disjunktsind.

Page 95: Grundkurs Analysis

2.7 Banachraume und Hilbertraume 87

2.7 Banachraume und Hilbertraume

In diesem Abschnitt betrachten wir spezielle vollstandige metrische Raume,deren Basismenge Vektorraume sind und deren Metrik durch eine Norm bzw.durch ein Skalarprodukt gegeben ist.

Definition 2.32. Ein Vektorraum uber dem Korper K (oder ein K-Vektorraum)ist ein Tripel [V,+, ·], wobei V eine nichtleere Menge und + und · zwei Ope-rationen

+ : V × V −→ V (Addition)(v, w) 7−→ v + w

· : K × V −→ V (Multiplikation mit Skalaren)(λ, v) 7−→ λ · v

mit den folgenden Eigenschaften sind:

1. [V,+] ist eine abelsche Gruppe.2. Es gelten die Distributivgesetze:

λ · (v + w) = λ · v + λ · w und (λ+ µ) · v = λ · v + µ · v3. λ · (µ · v) = (λ · µ) · v und 1 · v = v,

wobei λ, µ ∈ K und v, w ∈ V .

Wir werden Vektorraume auch kurz mit V bezeichnen, wenn die Operationen+ und · klar sind. Ist K der Korper der reellen Zahlen, so heißt V reellerVektorraum, ist K der Korper der komplexen Zahlen, so heißt V komplexerVektorraum. Die algebraische Theorie von Vektorraumen wird in der Vorle-sung uber lineare Algebra behandelt. Insbesondere wird dort erklart werden,was die Dimension eines Vektorraumes ist.

Definition 2.33. Sei V ein reeller oder komplexer Vektroraum. Eine Normauf V ist eine Abbildung ‖ · ‖ : V −→ R mit den folgenden Eigenschaften:

1. ‖x‖ ≥ 0 fur alle x ∈ V und ‖x‖ = 0 ⇐⇒ x = 0.2. ‖α · x‖ = |α| · ‖x‖ fur alle α ∈ K und x ∈ V .3. ‖x+ y‖ ≤ ‖x‖ + ‖y‖ (Dreiecksungleichung).

Das Paar (V, ‖ · ‖) heißt normierter Vektorraum.

Beispiele fur normierte Vektorraume:

1. Die Vektorraume Rn bzw. Cn mit den folgenden Normen

‖x‖p :=( n∑

j=1

|xj |p) 1

p

, p ∈ N, und ‖x‖∞ := maxj=1,...,n

|xj | ,

Page 96: Grundkurs Analysis

88 2 Metrische Raume

wobei x = (x1, . . . , xn). Die Norm ‖ ·‖2 auf dem Rn bzw. Cn ist die in Kapitel1.4 betrachtete Euklidische Norm.

2. Sei X eine nichtleere Menge und bezeichne Fb(X) den Vektorraum allerbeschrankten reellwertigen Funktionen

Fb(X) := f : X −→ R | f(X) ⊂ R beschrankt.

Die Operationen + und · sind hierbei auf folgende Weise definiert:

Fb(X) ×Fb(X) −→ Fb(X)(f1, f2) 7−→ f1 + f2 mit (f1 + f2)(x) := f1(x) + f2(x)

R ×Fb(X) −→ Fb(X)(λ, f) 7−→ λ · f mit (λ · f)(x) := λ · f(x).

Dann ist durch‖f‖∞ := sup

x∈X|f(x)| , f ∈ Fb(X)

eine Norm auf Fb(X) gegeben.

3. Sei BF(Rn) der Vektorraum aller beschrankten Folgen (xn) von Vektorenim Rn mit den Operationen

(xn) + (yn) := (xn + yn)

λ · (xn) := (λ · xn) ,

wobei λ ∈ R, (xn), (yn) ∈ BF(Rn). Dann ist durch

‖(xn)‖∞ := sup‖xn‖2 | n ∈ N , (xn) ∈ BF(Rn)

eine Norm auf BF(Rn) gegeben.

Auf jedem normierten Vektorraum ist auf kanonische Weise eine Metrik defi-niert, die wir im folgenden auch immer auf normierten Vektorraumen festlegenwerden:

Satz 2.47 Sei (V, ‖ · ‖) ein normierter Raum. Dann ist die Abbildung

d‖·‖ : V × V −→ R

(x, y) 7−→ d‖·‖(x, y) := ‖x− y‖

eine Metrik auf V .

Beweis. Der Beweis wird genauso wie fur die Euklidische Norm in Kapitel1.4. gefuhrt. ⊓⊔

Page 97: Grundkurs Analysis

2.7 Banachraume und Hilbertraume 89

Definition 2.34. Ein normierter Vektorraum (V, ‖ · ‖) heißt Banachraum,wenn er (als metrischer Raum) vollstandig ist.

Beispiele:

1. Rn und Cn mit der Euklidischen Norm ‖ · ‖2 sind endlich-dimensionaleBanachraume (siehe Kapitel 2.4).

2. Die Raume der beschrankten reellwertigen Funktionen Fb(X) und der be-schrankten Folgen BF(Rn) sind mit der Supremum-Norm ‖·‖∞ unendlich-dimensionale Banachraume (Ubungsaufgabe 42).

Wir werden nun zeigen, dass die endlich-dimensionalen Vektorraume Rn undCn mit jeder Norm Banachraume sind. Dazu fuhren wir die folgende Aquiva-lenzrelation fur Normen ein:

Definition 2.35. Sei V ein reeller oder komplexer Vektorraum. Zwei Normen‖·‖1 und ‖·‖2 auf V heißen aquivalent, wenn es positive Konstanten a, b ∈ R+

gibt, so dass gilt

a · ‖x‖1 ≤ ‖x‖2 ≤ b · ‖x‖1 ∀ x ∈ V. (∗)

Satz 2.48 Seien ‖·‖1 und ‖·‖2 zwei aquivalente Normen auf dem VektorraumV . Dann stimmen alle topologischen Eigenschaften von (V, ‖·‖1) und (V, ‖·‖2)uberein. Insbesondere gilt fur Folgen (xn) in V und fur Teilmengen A ⊂ V :

1. (xn) −→ x ∈ V bzgl. ‖ · ‖1 gdw. (xn) −→ x ∈ V bzgl. ‖ · ‖2.2. (xn) ist Cauchy-Folge bzgl. ‖ · ‖1 gdw. (xn) ist Cauchy-Folge bzgl. ‖ · ‖2.3. A ist offen bzgl. ‖ · ‖1 gdw. A ist offen bzgl. ‖ · ‖2.4. A ist abgeschlossen bzgl. ‖ · ‖1 gdw. A ist abgeschlossen bzgl. ‖ · ‖2.5. A ist kompakt bzgl. ‖ · ‖1 gdw. A ist kompakt bzgl. ‖ · ‖2.6. A ist zusammenhangend bzgl. ‖ · ‖1 gdw. A ist zusammenhangend bzgl.

‖ · ‖2.

Beweis. Aus (∗) folgen fur die Kugeln Ki(x, ε) bzgl. der Norm ‖ · ‖i die fol-genden Beziehungen

K1(x, ε) ⊂ K2(x, b · ε) , K2(x, ε) ⊂ K1(x,ε

a) ∀ ε > 0.

Da alle topologischen Begriffe fur metrische Raume mittels Kugeln definiertsind, folgen die Behauptungen des Satzes unmittelbar aus diesen Beziehungender Kugeln zueineinander. ⊓⊔

Satz 2.49 Alle Normen auf den Vektorraumen Rn bzw. Cn sind zueinanderaquivalent.

Page 98: Grundkurs Analysis

90 2 Metrische Raume

Beweis. Wir beweisen die Behauptung fur den reellen Vektorraum Rn. DerBeweis fur Cn wird analog gefuhrt.Sei ‖ · ‖2 : Rn −→ R die Euklidische Norm auf dem Rn und N : Rn −→ R

eine beliebige Norm. Da die Aquivalenz von Normen eine Aquivalenzrelationist, genugt es zu zeigen, dass die Normen ‖ · ‖2 und N aquivalent sind. Wirmussen also positive reelle Konstanten a und b finden, so dass

a · ‖x‖2 ≤ N(x) ≤ b · ‖x‖2 fur alle x ∈ Rn.

(1) Es existiert ein b ∈ R+ mit N(x) ≤ b · ‖x‖2 fur alle x ∈ Rn:Jeder Vektor x ∈ Rn hat die Form x = (x1, . . . , xn) =

∑nj=1 xjej , wobei

ej = (0, . . . , 0, 1, 0, . . . , 0) mit 1 an der j.-Stelle. Dann gilt wegen der Normei-genschaften und der Cauchy–Schwarzschen Ungleichung (siehe Satz 1.24)

N(x) = N( n∑

j=1

xj · ej)

≤n∑

j=1

N(xj · ej) =

n∑

j=1

|xj | ·N(ej)

√√√√n∑

j=1

|xj |2 ·

√√√√n∑

j=1

N(ej)2

︸ ︷︷ ︸=:b>0

= b · ‖x‖2.

(2) Es existiert ein a ∈ R+ mit a · ‖x‖2 ≤ N(x) fur alle x ∈ Rn:Sei x ∈ Rn ein vom Nullvektor verschiedener Vektor. Dann gilt

N(x) = N(‖x‖2 ·

x

‖x‖2

)= ‖x‖2 ·N

( x

‖x‖2

).

Wir setzen a := infN(y) | ‖y‖2 = 1 ≥ 0 . Dann gilt N(x) ≥ a · ‖x‖2 fur allex ∈ Rn. Es bleibt zu zeigen, dass a > 0.Angenommen a = 0. Sei Sn−1 := y ∈ Rn | ‖y‖2 = 1 die Sphare vomRadius 1 im Rn. Nach Definition von a existiert eine Folge (xn) in Sn−1 mitN(xn) −→ a = 0. Da die Sphare Sn−1 in Rn beschrankt und abgeschlos-sen bzgl. der Euklidischen Norm ‖ · ‖2 ist, ist sie folgenkompakt bzgl. ‖ · ‖2

(siehe Satz 2.36). Folglich existiert eine Teilfolge (xnk) von (xn), die gegen

einen Vektor y0 ∈ Sn−1 bzgl. ‖ · ‖2 konvergiert. Wir erhalten dann aus derDreiecksungleichung fur N und der in (1) bewiesenen Ungleichung

0 ≤ N(y0) ≤ N(y0 − xnk) +N(xnk

) ≤ b · ‖y0 − xnk‖2 +N(xnk

).

Bei k gegen +∞ konvergiert die rechte Seite dieser Ungleichung gegen 0.Folglich ist N(y0) = 0 und somit y0 = 0. Dies widerspricht y0 ∈ Sn−1. Somitist a > 0. ⊓⊔

Da Rn und Cn mit der Euklidischen Norm vollstandig sind, folgt aus den

Page 99: Grundkurs Analysis

2.7 Banachraume und Hilbertraume 91

Satzen 2.48 und 2.49, dass die Vektroraume Rn und Cn mit jeder Norm Ba-nachraume sind. In der Vorlesung uber lineare Algebra wird beweisen, dassjeder reelle Vektorraum der Dimension n < +∞ isomorph zu Rn und jederkomplexe Vektorraum der Dimension n < +∞ isomorph zu Cn ist. Dies liefert

Folgerung 2.6 Jeder endlich-dimensionale, reelle oder komplexe normierteVektorraum ist ein Banachraum.

Fur ∞–dimensionale Vektorraume gilt Satz 2.49 und die daraus abgeleite-te Folgerung nicht mehr. Im Laufe der Analysis-Vorlesung werden wir wei-tere vollstandige und unvollstandige unendlich-dimensionale normierte Vek-torraume kennenlernen.Abschließend befassen wir uns mit dem Begriff des Skalarproduktes auf einemVektorraum, den wir bereits in einem Spezialfall in Kapitel 1.4. betrachtet ha-ben.

Definition 2.36. Sei H ein reeller oder komplexer Vektorraum und bezeichneK den dazugehorigen Korper der reellen bzw. komplexen Zahlen. Ein Skalar-produkt auf H ist eine Abbildung 〈·, ·〉 : H ×H −→ K mit

(1) 〈x, y〉 = 〈y, x〉 fur x, y ∈ H,(2) 〈x+ y, z〉 = 〈x, z〉 + 〈y, z〉 fur x, y, z ∈ H,(3) 〈λx, y〉 = λ〈x, y〉 = 〈x, λy〉 fur λ ∈ K und x, y ∈ H,(4) 〈x, x〉 ≥ 0 und 〈x, x〉 = 0 ⇔ x = 0.

Satz 2.50 (Cauchy–Schwarzsche Ungleichung (CSU))Sei 〈·, ·〉 ein Skalarprodukt auf dem Vektorraum H. Dann gilt

|〈x, y〉|2 ≤ 〈x, x〉 · 〈y, y〉

Die Gleichheit tritt genau dann ein, wenn x und y linear abhangig sind.

Beweis. Fur λ ∈ K und x, y ∈ H gilt

0 ≤ 〈x + λy, x+ λy〉 = 〈x, x〉 + λ〈y, x〉 + |λ|2〈y, y〉 + λ〈x, y〉. (∗)

Es genugt, die Behauptung fur y 6= 0 zu beweisen. Fur y = 0 ist sie trivial.

Sei λ := − 〈x,y〉〈y,y〉 . Dann folgt

0 ≤ 〈x, x〉 − 2〈x, y〉〈x, y〉〈y, y〉 +

|〈x, y〉|2〈y, y〉 = 〈x, x〉 − |〈x, y〉|2

〈y, y〉 .

Daraus folgt |〈x, y〉|2 ≤ 〈x, x〉 · 〈y, y〉 . Nach (∗) gilt die Gleichheit genau dannwenn x = −λy. ⊓⊔

Page 100: Grundkurs Analysis

92 2 Metrische Raume

Satz 2.51 Ist 〈·, ·〉 ein Skalarprodukt auf H, so ist durch

‖x‖ :=√〈x, x〉

eine Norm und durch

d(x, y) :=√〈x− y, x− y〉 = ‖x− y‖

eine Metrik auf H definiert.

Beweis. Wir mussen die Dreiecksungleichung fur die Norm beweisen, der Restist trivial bzw. schon bekannt.

‖x+ y‖2 = 〈x+ y, x+ y〉= 〈x, x〉 + 〈y, y〉 + 〈x, y〉 + 〈y, x〉= 〈x, x〉 + 〈y, y〉 + 2 · Re〈x, y〉≤ 〈x, x〉 + 〈y, y〉 + 2 · |〈x, y〉|

CSU≤ 〈x, x〉 + 〈y, y〉 +

√〈x, x〉 ·

√〈y, y〉

= (‖x‖ + ‖y‖)2.⊓⊔

Bemerkung: Ein Vektorraum (H, 〈·, ·〉) mit Skalarprodukt ist im Folgendenimmer mit der Topologie der von 〈·, ·〉 erzeugten Norm ‖x‖ =

√〈x, x〉 verse-

hen.

Ist eine Norm gegeben, so mochte man gern wissen, ob diese durch ein Ska-larprodukt wie oben beschrieben definiert ist. Dies ist nicht immer der Fall.Ein Kriterium dafur liefert der Satz

Satz 2.52 Sei (V, ‖·‖) ein normierter Vektorraum. Die Norm ‖·‖ wird genaudann durch ein Skalarprodukt 〈·, ·〉 definiert, wenn das Parallelogrammgesetzgilt:

‖x+ y‖2 + ‖x− y‖2 = 2(‖x‖2 + ‖y‖2) ∀x, y ∈ E.

Beweis. Ubungsaufgabe 43. ⊓⊔

Definition 2.37. Ein Hilbertraum ist ein Vektorraum H mit Skalarprodukt〈·, ·〉, dessen zugehoriger normierter Raum (H, ‖·‖ =

√〈·, ·〉) ein Banachraum

ist.

Beispiele fur Hilbertraume:

• Rn mit dem Skalarprodukt 〈x, y〉 :=n∑j=1

xj · yj

• Cn mit dem Skalarprodukt 〈z, w〉 :=n∑j=1

zj · wj

Page 101: Grundkurs Analysis

3

Reihen in Banachraumen

In diesem Kapitel werden wir Reihen in Banachraumen und Kriterien furihre Konvergenz behandeln. Reihen sind eines der wichtigsten Hilfsmittel zurKonstruktion und Darstellung von Funktionen.Im gesamten Kapitel bezeichnet E einen Banachraum uber dem Korper derreellen oder der komplexen Zahlen mit der Norm ‖·‖. Als Spezialfall kann mansich an Stelle von E z.B. die Banachraume R, C, Rn oder Cn (mit beliebigerNorm) vorstellen.

In einem Vektorraum kann man jeder Folge von Vektoren eine neue Folgezuordnen: die Folge der Partialsummen. Sei (xk)

∞k=1 eine Folge von Vektoren

aus E. Wir bilden daraus eine neue Folge

sn := x1 + x2 + · · · + xn =n∑

k=1

xk ∈ E, also

s1 := x1

s2 := x1 + x2

s3 := x1 + x2 + x3

s4 := x1 + x2 + x3 + x4

. . .

Definition 3.1. Die Folge (sn)∞n=1 heißt Reihe in E mit den Gliedern xk.

Man schreibt fur diese Reihe symbolisch

∞∑

k=1

xk oder x1 + x2 + x3 + . . .

Den Vektor sn := x1 + . . .+ xn =n∑k=1

xk nennt man die n-te Partialsumme

der Reihe.

Page 102: Grundkurs Analysis

94 3 Reihen in Banachraumen

Eine Reihe∞∑k=1

xk in E heißt konvergent, falls die Folge der Partialsummen

(sn) in E konvergiert. Ist (sn) konvergent, so heißt s := limn→∞

sn Wert der

Reihe und man schreibt

s =

∞∑

k=1

xk.

Eine Reihe, die in E nicht konvergiert, heißt divergent.

Das Symbol∞∑k=1

xk hat also zwei Bedeutungen: es bezeichnet symbolisch die

Folge (sn) der Partialsummen und im Konvergenzfall auch ihren Grenzwert.

Sei speziell E = R. Wenn limn→∞

sn = +∞ oder limn→∞

sn = −∞ , so schreibt

man symbolisch∞∑

k=1

xk = +∞ oder

∞∑

k=1

xk = −∞.

Die Reihe ist in diesem Fall in R divergent. Gilt xk ≥ 0 fur alle k ∈ N, sobedeutet die Schreibweise ∞∑

k=1

xk < +∞,

dass die Reihe in R konvergiert.

Definition 3.2. Eine Reihe∞∑k=1

xk im Banachraum E heißt absolut–konvergent,

wenn die Reihe der reellen Zahlen∞∑k=1

‖xk‖ in R konvergiert.

Im nachsten Abschnitt behandeln wir wichtige Konvergenzkriterien fur Reihenin Banachraumen.

3.1 Konvergenzkriterien fur Reihen in Banachraumen

Satz 3.1 (Cauchy–Kriterium) Eine Reihe∞∑k=1

xk in einem Banachraum

E ist genau dann konvergent, wenn zu jedem ε > 0 ein n0 ∈ N existiert, sodass

‖xn + . . .+ xm‖ < ε ∀ m ≥ n ≥ n0 (∗)gilt.

Page 103: Grundkurs Analysis

3.1 Konvergenzkriterien fur Reihen in Banachraumen 95

Beweis. Da der Banachraum E vollstandig ist, konvergiert die Folge der Par-tialsummen sn = x1 + . . . + xn genau dann, wenn sie eine Cauchy-Folge ist.Dies ist nach Definition der Cauchy-Folge genau dann erfullt, wenn zu jedemε > 0 ein n0 ∈ N existiert, so dass fur alle m ≥ n ≥ n0 die Ungleichung‖sm − sn−1‖ < ε gilt, was aquivalent zum Cauchy–Kriterium (∗) ist. ⊓⊔

Der folgende Satz gibt ein nutzliches notwendiges Kriterium fur die Konver-genz einer Reihe an:

Satz 3.2 Ist eine Reihe∞∑k=1

xk im Banachraum E konvergent, so ist die Folge

der Reihenglieder (xk) eine Nullfolge in E.

Beweis. Zum Beweis nutzen wir das Cauchy–Kriterium im Fall m = n. Kon-

vergiert∞∑k=1

xk, dann existiert fur alle ε > 0 ein n0 ∈ N, so dass ‖xn‖ < ε fur

alle n ≥ n0. Daraus folgt limn→∞

xn = 0. ⊓⊔

Die Umkehrung dieses Satzes gilt im allgemeinen nicht.

Beispiel 1: Die harmonische Reihe

Sei E = R. Wir betrachten die harmonische Reihe

∞∑

k=1

1

k= 1 +

1

2+

1

3+

1

4+ . . .

Behauptung: Die harmonische Reihe ist in R divergent und es gilt

∞∑

k=1

1

k= +∞.

Beweis. Sei m ∈ N fixiert. Wir wahlen ein n ∈ N mit n ≥ 2m. Dann gilt

sn = 1 +1

2+ . . .+

1

n

≥ 1 +1

2+ (

1

3+

1

4) + (

1

5+ . . .+

1

8) + . . .+ (

1

2m−1 + 1+ . . .+

1

2m)

︸ ︷︷ ︸2m−1Summanden

≥ 1 +1

2+ 2 · 1

4+ 4 · 1

8+ . . .+ 2m−1 · 1

2m︸ ︷︷ ︸m Summanden

≥ 1 +m

2.

Folglich existiert zu jedem M ∈ R eine Zahl m, so dass sn ≥ 1 + m2 ≥ M fur

alle n ≥ 2m. Somit strebt die Folge der Partialsummen (sn) gegen +∞. ⊓⊔

Page 104: Grundkurs Analysis

96 3 Reihen in Banachraumen

Beispiel 2: Die geometrische Reihe

Sei E = C und z ∈ C eine fixierte komplexe Zahl. Wir betrachten die geome-trische Reihe ∞∑

k=0

zk = 1 + z + z2 + z3 + z4 + . . .

Behauptung:

1. Ist |z| < 1, so konvergiert die geometrische Reihe und es gilt∞∑k=0

zk = 11−z .

2. Ist |z| ≥ 1, so divergiert die geometrische Reihe∞∑k=0

zk.

Beweis. Sei |z| < 1. Fur die Partialsumme gilt nach Satz 1.14

sn = 1 + z + . . .+ zn =1 − zn+1

1 − z.

Da |z| < 1, ist (zn+1) eine Nullfolge und somit gilt limn→∞

sn = 11−z .

Im Falle |z| ≥ 1 ist |zk| ≥ 1 und somit (zk) keine Nullfolge. Nach Satz 3.2 ist

deshalb∞∑k=0

zk divergent. ⊓⊔

Satz 3.3 Ist eine Reihe∞∑k=1

xk im Banachraum E absolut–konvergent, so ist

sie auch konvergent und es gilt

∥∥∥∞∑

k=1

xk

∥∥∥ ≤∞∑

k=1

‖xk‖. (∗∗)

Beweis. Sei∞∑k=1

‖xk‖ konvergent. Entsprechend dem Cauchy-Kriterium gibt

es zu jedem ε > 0 ein n0 ∈ N, so dass

‖xn‖ + . . .+ ‖xm‖ < ε fur alle m ≥ n ≥ n0.

Wegen der Dreiecksungleichung fur die Norm

‖xn + . . .+ xm‖ ≤ ‖xn‖ + . . .+ ‖xm‖

gilt dann das Cauchy-Kriterium auch fur die Reihe∑∞

k=1 xk , die folglichkonvergiert. Aus den Grenzwertsatzen (analog zu Satz 2.18) erhalt man fursn = x1 + . . .+ xn

‖ limn→∞

sn‖ = limn→∞

‖sn‖ ≤ limn→∞

(‖x1‖ + . . .+ ‖xn‖) =

∞∑

k=1

‖xk‖.

Dies zeigt die Abschatzung (∗∗). ⊓⊔

Page 105: Grundkurs Analysis

3.1 Konvergenzkriterien fur Reihen in Banachraumen 97

Reihen im Banachraum E kann man addieren und mit reellen bzw. komple-xen Zahlen multiplizieren. Im folgenden bezeichnet K den Korper der reellenZahlen, falls E ein reeller Banachraum ist, bzw. den Korper der komplexenZahlen, falls E ein komplexer Banachraum ist.

Satz 3.4 Seien (xk) und (yk) Folgen im Banachraum E und λ, µ ∈ K. Kon-

vergieren die Reihen∞∑k=1

xk und∞∑k=1

yk gegen x bzw. y , so konvergiert die

Reihe∞∑k=1

(λxk + µyk) gegen λx+ µy.

Beweis. Seien

sn :=

n∑

k=1

xk sn :=

n∑

k=1

yk s∗n :=

n∑

k=1

(λxk + µyk).

Dann gilt s∗n = λsn + µsn. Die Behauptung folgt dann aus den Grenz-wertsatzen fur Folgen in Vektorraumen (analog zu Satz 2.18). ⊓⊔

Satz 3.5 (Majorantenkriterium)

Sei∞∑k=1

xk eine Reihe im Banachraum E und (ck) eine Folge reeller Zahlen,

so dass ‖xk‖ ≤ ck fur alle k ∈ N. Konvergiert die Reihe∞∑k=1

ck in R, so ist

die Reihe∞∑k=1

xk in E absolut–konvergent und es gilt

∥∥∥∞∑

k=1

xk

∥∥∥ ≤∞∑

k=1

‖xk‖ ≤∞∑

k=1

ck. (∗ ∗ ∗)

Beweis. Wir nutzen wiederum das Cauchy–Kriterium. Sei∞∑k=1

ck konvergent.

Dann gibt es fur alle ε > 0 ein n0 ∈ N, so dass

cn + . . .+ cm < ε ∀ m ≥ n ≥ n0.

Nach Voraussetzung ist ‖xn‖+ . . .+ ‖xm‖ ≤ cn + . . .+ cm . Folglich gilt das

Cauchy-Kriterium auch fur die Reihe∞∑k=1

‖xk‖ . Somit ist die Reihe∞∑k=1

xk

absolut–konvergent, also auch konvergent. Die Ungleichung (∗ ∗ ∗) folgt wieim Beweis von Satz 3.3. ⊓⊔

Page 106: Grundkurs Analysis

98 3 Reihen in Banachraumen

Beispiel 3: Sei E = C. Wir betrachten eine Folge komplexer Zahlen ak ∈ C

mit |ak| ≤ 1 fur alle k ∈ N und z ∈ C mit |z| < 1.

Behauptung: Die Reihe∞∑k=0

akzk ist absolut–konvergent und es gilt:

∣∣∣∣∣

∞∑

k=0

akzk

∣∣∣∣∣ ≤1

1 − |z| .

Beweis. Dies folgt aus dem Majorantenkriterium und der Konvergenz dergeometrischen Reihe, da

|akzk| = |ak| · |z|k ≤ |z|k und

∞∑

k=0

|z|k =1

1 − |z| .

⊓⊔

Satz 3.6 (Wurzelkriterium)

Sei∞∑k=1

xk eine Reihe im Banachraum E und α := lim supk→∞

k√‖xk‖ .

1. Ist α < 1, so ist die Reihe∞∑k=1

xk absolut–konvergent.

2. Ist α > 1, so ist die Reihe∞∑k=1

xk divergent.

Beweis. 1. Sei α = lim supk→∞

k√‖xk‖ < 1. Da α der großte Haufungspunkt der

Folge ( k√‖xk‖) ist, sind hochstens endlich viele dieser Folgeglieder großer als

α. Es existiert folglich ein k0 ∈ N so dass

k√‖xk‖ ≤ α <

1 + α

2< 1 ∀ k ≥ k0.

Somit gilt

‖xk‖ <(

1 + α

2

)k∀ k ≥ k0.

Da 1+α2 < 1, konvergiert die geometrische Reihe

∞∑k=1

(1+α

2

)k. Aus dem Majo-

rantenkriterium folgt dann die absolute Konvergenz der Reihe∞∑k=1

xk.

2. Sei α = lim supk→∞

k√‖xk‖ > 1. Dann existiert eine Teilfolge (xkj

) von (xk) mit

kj

√‖xkj

‖ ≥ 1, also mit ‖xkj‖ ≥ 1. Somit ist (xk) keine Nullfolge und

∞∑k=1

xk

konvergiert nicht (Satz 3.2). ⊓⊔

Page 107: Grundkurs Analysis

3.1 Konvergenzkriterien fur Reihen in Banachraumen 99

Satz 3.7 (Quotientenkriterium)

Sei∞∑k=1

xk eine Reihe im Banachraum E, deren Glieder xk alle vom Nullvek-

tor verschieden sind.

1. Ist α := lim supk→∞

‖xk+1‖‖xk‖ < 1, so ist die Reihe

∞∑k=1

xk absolut–konvergent.

2. Ist β := lim infk→∞

‖xk+1‖‖xk‖ > 1, so ist die Reihe

∞∑k=1

xk divergent.

Beweis. 1. Sei α = lim supk→∞

‖xk+1‖‖xk‖ < 1 . Dann existiert ein k0 ∈ N, so dass

‖xk+1‖‖xk‖

≤ α <1 + α

2< 1 ∀ k ≥ k0.

Folglich gilt

‖xk+1‖ ≤(

1 + α

2

)‖xk‖ ∀ k ≥ k0

und somit

‖xk0+j‖ ≤(

1 + α

2

)j‖xk0‖ ∀j ≥ 0.

Da α+12 < 1, konvergiert die geometrische Reihe

∞∑j=0

(α+12 )j . Aus dem Majo-

rantenkriterium folgt dann, dass die Reihe∞∑k=1

xk absolut konvergiert.

2. Sei nun β = lim infk→∞

‖xk+1‖‖xk‖ > 1 . Dann sind hochstens endlich viele der

Zahlen‖xk+1‖‖xk‖ kleiner als 1. Folglich existiert ein k0 ∈ N, so dass 0 < ‖xk‖ ≤

‖xk+1‖ fur alle k ≥ k0 gilt. Also ist (xk) keine Nullfolge. Nach Satz 3.2 ist

deshalb die Reihe∞∑k=1

xk divergent. ⊓⊔

Beispiel 4: Ob man das Wurzel- oder das Quotientenkriterium anwendet,muß man anhand der Gestalt der Reihenglieder entscheiden. Das Wurzel-kriterium ist leistungsfahiger als das Quotientenkriterium. Betrachten wir

z.B. E = R und die Reihe∞∑k=1

xk, wobei xk := 2−k fur gerade k und

xk := 8−k fur ungerades k sei. Das Wurzelkriterium zeigt Konvergenz an,da lim sup k

√xk = 1

2 gilt, wahrend das Quotientkriterium keine Aussage lie-fert, da lim inf xk+1

xk= 0 und lim sup xk+1

xk= +∞ gilt.

Beispiel 5: Fur jede komplexe Zahl z ∈ C ist die Reihe

∞∑

k=0

zk

k!= 1 + z +

z2

2!+z3

3!+z4

4!+ . . .

Page 108: Grundkurs Analysis

100 3 Reihen in Banachraumen

absolut–konvergent.

Beweis. Wir benutzen das Quotientenkriterium mit xk = zk

k! :

∣∣∣∣xk+1

xk

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣zk+1 · k!

zk · (k + 1)!

∣∣∣∣ =|z|k + 1

−→ 0

Beispiel 6: Sei E = C, z ∈ C eine fixierte komplexe Zahl und p ∈ Q+ einepositive rationale Zahl. Die Reihe

∞∑

k=1

kp

zk

ist fur |z| > 1 absolut-konvergent und fur |z| < 1 divergent.

Beweis. Wir benutzen das Quotientenkriterium mit xk = kp

zk .

∣∣∣∣xk+1

xk

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣(k + 1)p · zkkp · zk+1

∣∣∣∣ =(k + 1

k

)p· 1

|z| −→1

|z| .

Es gilt also lim∣∣∣xk+1

xk

∣∣∣ = lim sup∣∣∣xk+1

xk

∣∣∣ = lim inf∣∣∣xk+1

xk

∣∣∣ = 1|z| . Die Behauptung

folgt dann aus dem Quotientenkriterium. ⊓⊔

Beispiel 7: Sei E = C und z ∈ C. Die Reihe

∞∑

k=1

zk

k

ist absolut-konvergent, falls |z| < 1 und divergent, falls |z| > 1.

Beweis. Wir benutzen das Wurzelkriterium. Mit xk := zk

kist k

√|xk| = |z|

k√k

.

Da lim k√k = 1 gilt, konvergiert k

√|xk| gegen |z|. Damit ist lim sup

k→∞k√|xk| = |z|

und das Wurzelkriterium liefert die Behauptung. ⊓⊔Wir interessieren uns naturlich auch dafur, was mit der Konvergenz fur z ∈ C

mit |z| = 1 passiert. Fur z = 1 ist die obige Reihe gerade die harmonischeReihe, also divergent. Um die anderen Falle mit |z| = 1 behandeln zu konnen,beweisen wir ein weiteres Kriterium.

Page 109: Grundkurs Analysis

3.1 Konvergenzkriterien fur Reihen in Banachraumen 101

Satz 3.8 (Abel–Dirichlet–Kriterium)Sei x1, x2, x3, . . . eine Folge im Banachraum E, deren Partialsummenfolge

(sn = x1 + x2 + . . .+ xn) beschrankt ist. Sei weiterhin a1, a2, a3, . . . eine mo-noton fallende Nullfolge positiver reeller Zahlen. Dann konvergiert die Reihe

∞∑

k=1

akxk

im Banachraum E.

Beweis. Seien sn = x1 + x2 + . . . + xn und σn = a1x1 + . . . + anxn . NachVoraussetzung existiert eine reelle Zahl C, so dass ‖sn‖ ≤ C fur alle n ∈ N.Fur m > n erhalten wir

σm − σn = an+1xn+1 + an+2xn+2 + . . .+ amxm

= an+1(sn+1 − sn) + an+2(sn+2 − sn+1) + . . .+ am(sm − sm−1)

= −an+1sn + (an+1 − an+2)sn+1 + . . .+ (am−1 − am)sm−1 + amsm.

Da nach Voraussetzung ak − ak+1 ≥ 0 gilt, folgt

‖σm − σn‖ ≤ C ·(an+1 + (an+1 − an+2) + (an+2 − an+3) + . . .

+(am−1 − am) + am

)

= 2C · an+1.

Da (an) eine Nullfolge ist, existiert zu jedem ε > 0 ein n0 ∈ N, so dass‖σm − σn‖ < ε fur alle m > n ≥ n0. Damit ist (σn) eine Cauchy–Folge undkonvergiert im Banachraum E. ⊓⊔

Beispiel 7 (Fortsetzung):

Die Reihe∞∑k=1

zk

kist konvergent fur z ∈ C mit |z| = 1 und z 6= 1.

Beweis. Seien ak := 1k, xk := zk und sn := z + z2 + . . .+ zn . Es gilt

sn = z + z2 + . . .+ zn = z

(1 − zn

1 − z

).

Da |z| = 1, folgt |sn| = |z| · |1−zn||1−z| ≤ 2

|1−z| . Somit ist die Folge der Partial-

summen (sn) beschrankt. Aus dem Abel-Dirichlet-Kriterium folgt dann, dass

die Reihe∞∑k=1

zk

kkonvergiert. ⊓⊔

Page 110: Grundkurs Analysis

102 3 Reihen in Banachraumen

Das folgende Bild zeigt das Konvergenzverhalten der Reihe∞∑k=1

zk

k.

-

6

R

iR

1

i

absolut konvergent

divergent konvergent

Spezialfall (z = −1): Die alternierende harmonische Reihe

∞∑

k=1

(−1)k1

k= −1 +

1

2− 1

3+

1

4± . . .

ist konvergent. Wir werden spater sehen, dass ihr Wert ln 2 ist.Als nachstes betrachten wir Reihen reeller Zahlen, die sich so verhalten wiedie alternierende harmonische Reihe.

Definition 3.3. Eine Reihe∞∑k=1

xk reeller Zahlen heißt alternierend, wenn

xk+1 > 0 ⇐⇒ xk < 0 ∀ k ∈ N.

Satz 3.9 (Leibnitz–Kriterium fur alternierende Reihen)Sei (bk) eine monoton fallende Nullfolge positiver reeller Zahlen. Dann gilt:

1. Die alternierende Reihe∞∑k=1

(−1)kbk konvergiert.

2. Es gilt die folgende Fehlerabschatzung fur den Wert s der Reihe∞∑k=1

(−1)kbk :

∣∣∣∣∣s−n∑

k=1

(−1)kbk

∣∣∣∣∣ ≤ bn+1

Beweis. Zum Beweis benutzen wir das Abel–Dirichlet–Kriterium. Wir setzenin Satz 3.8 xk := (−1)k und ak := bk. Dann ist sn = x1 + . . .+ xn ∈ 0,−1,also beschrankt, und (ak) eine monoton fallende Nullfolge. Folglich konvergiertn∑k=1

(−1)kbk . Fur den Wert s dieser Reihe gilt

Page 111: Grundkurs Analysis

3.1 Konvergenzkriterien fur Reihen in Banachraumen 103

s = s2m − b2m+1 + b2m+2 − b2m+3 + . . .

= s2m+1 + b2m+2 − b2m+3 + b2m+4 − . . . .

Da die Folge (bk) monoton fallend ist, gilt

s2m+1 < s < s2m

und somit|s− sn| < |sn+1 − sn| = bn+1.

Dies zeigt die Fehlerabschatzung. ⊓⊔

Beispiel 8: Die Leibnitz-ReiheDie Reihe ∞∑

k=0

(−1)k1

2k + 1= 1 − 1

3+

1

5− 1

7+

1

9− . . .

konvergiert nach dem Leibnitz-Kriterium. Wir werden spater sehen, dass derGrenzwert π

4 ist.

Satz 3.10 (Cauchysches Verdichtungskriterium)Sei (xk) eine monoton fallende Folge positiver reeller Zahlen. Dann gilt

∞∑

k=1

xk konvergiert ⇐⇒∞∑

j=0

2jx2j konvergiert.

Beweis. Wir betrachten die Partialsummen beider Reihen

sn := x1 + . . .+ xn

tm := x1 + 2x2 + 4x4 + . . .+ 2mx2m .

Zunachst schatzen wir diese beiden Partialsummen gegeneinander ab. NachVoraussetzung ist die Folge (xk) monoton fallend. Somit gilt fur alle n < 2m+1

sn = x1 + . . .+ xn ≤ x1 + (x2 + x3) + . . .+ (

2m Summanden︷ ︸︸ ︷x2m + . . .+ x2m+1−1)

≤ x1 + 2x2 + . . .+ 2mx2m = tm.

Folglich giltsn ≤ tm ∀ n < 2m+1 (∗).

Andererseits folgt fur n ≥ 2m

Page 112: Grundkurs Analysis

104 3 Reihen in Banachraumen

sn = x1 + . . .+ x2k + . . .+ xn

≥ x1 + x2 + (x3 + x4) + . . .+ (

2m−1 Summanden︷ ︸︸ ︷x2m−1+1 + . . .+ x2m)

≥ 1

2x1 + x2 + 2x4 + . . .+ 2m−1x2m =

1

2tm.

Folglich gilt2sn ≥ tm ∀ n ≥ 2m (∗∗).

Nun zum Beweis der behaupteten Aquivalenz:

(=⇒): Sei∞∑k=1

xk konvergent. Dann ist die Folge (sn) konvergent und folglich

beschrankt. Wegen (∗∗) ist dann auch die Folge (tm) beschrankt. Außerdemist (tm) monoton wachsend. Nach Satz 2.20 konvergiert dann die Folge (tm),

also die Reihe∞∑j=0

2jx2j .

(⇐=): Sei∞∑j=0

2jx2j konvergent. Dann ist die Folge (tm) konvergent und folg-

lich beschrankt. Wegen (∗) ist dann auch die Folge (sn) beschrankt. Außerdemist (sn) monoton wachsend. Nach Satz 2.20 konvergiert dann die Folge (sn),

also die Reihe∞∑k=1

xk. ⊓⊔

Beispiel 9: Sei p eine positive rationale Zahl. Die Reihe

∞∑

k=1

1

kp

ist genau dann konvergent, wenn p > 1.

Beweis. Da p > 0, sind die Voraussetzungen von Satz 3.10 erfullt. Dann gilt

∞∑

k=1

1

kpkonvergiert ⇐⇒

∞∑

j=0

2j1

(2j)p=

∞∑

j=0

(2(1−p))j konvergiert.

Die geometrische Reihe∞∑j=0

(2(1−p))j konvergiert genau dann, wenn 2(1−p) < 1

d.h. genau dann, wenn p > 1 gilt. ⊓⊔

Das Cauchy–Produkt von Reihen komplexer Zahlen

Wir haben bereits gesehen, dass man konvergente Reihen in Banachraumenaddieren und mit Skalaren multiplizieren kann. Betrachtet man nur Reihenim Banachraum der komplexen Zahlen (E = C), so kann man sie auch aufbestimmte Weise multiplizieren.

Page 113: Grundkurs Analysis

3.1 Konvergenzkriterien fur Reihen in Banachraumen 105

Definition 3.4. Seien∞∑k=0

ak und∞∑k=0

bk zwei Reihen in C. Wir betrachten

eine neue Reihe∞∑k=0

ck mit den Reihengliedern

ck :=

k∑

j=0

aj · bk−j = a0bk + a1bk−1 + · · · + ak−1b1 + akb0

Die Reihe∞∑k=0

ck heißt Cauchy–Produkt der Reihen∞∑k=0

ak und∞∑k=0

bk.

Wir wollen die Frage behandeln, unter welchen Bedingungen aus der Kon-

vergenz der Reihen∞∑k=0

ak und∞∑k=0

bk die Konvergenz des Cauchy-Produktes

∞∑k=0

ck folgt. Im allgemeinen folgt sie nicht.

Beispiel 10: Wir betrachten die alternierenden Reihen

∞∑

k=0

ak =

∞∑

k=0

bk =

∞∑

k=0

(−1)k√k + 1

= 1 − 1√2

+1√3− 1√

4± . . . .

Diese Reihen konvergieren nach dem Leibnitz–Kriterium fur alternierende Rei-

hen. Betrachten wir aber die Folge ck =k∑j=0

ajbk−j , so erhalten wir

ck =

k∑

j=0

(−1)j√j + 1

· (−1)k−j√k − j + 1

=

k∑

j=0

(−1)k√(j + 1)(k − j + 1)

.

Es gilt

(k − j + 1)(j + 1) =

(1

2k + 1

)2

−(

1

2k − j

)2

≤(

1

2k + 1

)2

und folglich

|ck| ≥k + 112k + 1

=2(k + 1)

k + 2−→ 2.

Damit ist (ck) keine Nullfolge und die Reihe∞∑k=0

ck somit divergent.

Page 114: Grundkurs Analysis

106 3 Reihen in Banachraumen

Satz 3.11 Seien∞∑k=0

ak und∞∑k=0

bk konvergente Reihen komplexer Zahlen und

sei mindestens eine der beiden Reihen absolut–konvergent. Dann konvergiert

ihr Cauchy–Produkt∞∑k=0

ck und es gilt

∞∑

k=0

ck =

( ∞∑

k=0

ak

)·( ∞∑

k=0

bk

).

Beweis. Sei OBdA∞∑k=0

ak absolut–konvergent. Wir setzen

An =n∑

k=0

ak Bn :=n∑

k=0

bk Cn =n∑

k=0

ck.

Weiterhin bezeichne A := limn→∞

An, B = limn→∞

Bn und βn = Bn − B . Dann

erhalten wir

Cn = c0 + c1 + . . .+ cn

= a0b0 + (a0b1 + a1b0) + . . .+ (a0bn + a1bn−1 + . . .+ anb0)

= a0 ·Bn + a1 ·Bn−1 + . . .+ an ·B0

= a0(βn +B) + a1(βn−1 +B) + . . .+ an(β0 +B)

= An · B + a0βn + a1βn−1 + . . .+ anβ0︸ ︷︷ ︸=:γn

.

Es bleibt somit γn −→ 0 zu zeigen, da An ·B gegen A ·B konvergiert.Sei ε > 0 gegeben. Da Bn gegen B konvergiert, existiert ein n0 ∈ N so dass

|βn| = |Bn −B| < ε ∀ n ≥ n0.

Damit schatzen wir |γn| ab.

|γn| = |a0βn + a1βn−1 + . . .+ anβ0|≤ |a0βn + . . .+ an−n0βn0 | + |an−n0+1βn0−1 + . . .+ anβ0|≤ ε(|a0| + . . .+ |an−n0 |) + |an−n0+1βn0−1 + . . .+ anβ0|

≤ ε ·( ∞∑

k=0

|ak|)

︸ ︷︷ ︸=:A∗

+|an−n0+1||βn0−1| + . . .+ |an||β0|

≤ εA∗ + |an−n0+1||βn0−1| + . . .+ |an||β0| ∀ n ≥ n0.

A∗ ist endlich, da die Reihe∞∑k=0

ak nach Voraussetzung absolut konvergiert.

Da (an) eine Nullfolge ist, erhalten wir

Page 115: Grundkurs Analysis

3.1 Konvergenzkriterien fur Reihen in Banachraumen 107

limn→∞

|γn| ≤ εA∗ ∀ ε > 0.

Somit konvergiert γn gegen 0 und Cn = An · B + γn gegen A ·B. ⊓⊔

Satz 3.12 Das Cauchy-Produkt zweier absolut-konvergenter Reihen ist abso-lut konvergent.

Beweis. Ubungsaufgabe. ⊓⊔

Beispiel 11:

∞∑

k=1

k · zk−1 =1

(1 − z)2fur |z| < 1.

Beweis. Wir betrachten die Reihen∞∑k=0

ak und∞∑k=0

bk mit ak = bk = zk.

Dann ist ck =k∑j=0

zj · zk−j = (k + 1) · zk. Also ist das Cauchy–Produkt

∞∑k=0

ck =∞∑k=1

k · zk−1. Da die geometrische Reihe∞∑k=0

zk fur |z| < 1 absolut

konvergiert und ihr Wert 11−z ist, konvergiert das Cauchy–Produkt fur |z| < 1

gegen den oben angegebenen Wert. (Die Konvergenz folgt zwar auch aus demQuotientenkriterium, aber auf diese Weise kann man auch den Wert der Reihebestimmen). ⊓⊔

Der Umordnungssatz

In einer endlichen Summe kann man die Summanden beliebig umordnen, ohneden Wert der Summe zu verandern. Dies ist fur Reihen (“unendliche Sum-men“) nicht mehr der Fall. Abschließend untersuchen wir deshalb die Frage,unter welchen Bedingungen man Reihenglieder umordnen kann, ohne die Kon-vergenz zu verlieren.

Definition 3.5. Sei∞∑k=1

xk eine Reihe im Banachraum E und f : N −→ N

eine bijektive Abbildung. Die Reihe∞∑k=1

xf(k) heißt Umordnung von∞∑k=1

xk.

Man kann die Glieder einer Reihe nicht beliebig umordnen. Betrachten wirz.B. die Reihe

1√1− 1√

1+

1√2− 1√

2+

1√3− 1√

3± . . . (∗)

Die Reihe (∗) ist konvergent, denn fur die Partialsummen gilt

Page 116: Grundkurs Analysis

108 3 Reihen in Banachraumen

s2m = 0s2m+1 = 1√

m+1

dh. sm −→ 0.

Betrachten wir nun folgende Umordnung der obigen Reihe (∗)(

1√1

+1√2− 1√

1

)+

(1√3

+1√4− 1√

2

)+

(1√5

+1√6− 1√

3

)+ . . . (∗∗)

Fur die 3n-ten Partialsummen s∗3n dieser Reihe (∗∗) gilt

s∗3n =1√n+ 1

+ . . .+1√2n︸ ︷︷ ︸

n Summanden

≥ 1√2n

+ . . .+1√2n︸ ︷︷ ︸

n Summanden

=n√2n

=

√n

2−→ ∞.

Somit ist diese Reihe (**) nicht konvergent.

Satz 3.13 (Umordnungssatz) Sei∞∑k=1

xk eine absolut–konvergente Reihe

im Banachraum E. Dann ist jede Umordnung von∞∑k=1

xk konvergent und es

gilt∞∑

k=1

xk =

∞∑

k=1

xf(k).

Beweis. Sei∞∑k=1

xf(k) eine Umordnung von∞∑k=1

xk. Nach Voraussetzung ist

∞∑k=1

xk absolut-konvergent, also auch konvergent, d.h. es existiert ein s ∈ E

mit s =∞∑k=1

xk. Es bezeichne

sn := x1 + . . .+ xn und s∗n := xf(1) + . . .+ xf(n).

Sei nun eine Zahl ε > 0 gegeben. Da∞∑k=1

xk absolut konvergiert, existiert nach

dem Cauchy-Kriterium ein n0 ∈ N, so dass

m∑

j=n

‖xj‖ < ε. ∀ m > n ≥ n0 (∗)

Da die Umordnung f : N −→ N bijektiv ist, gibt es ein p0 ∈ N, so dass1, . . . , n0 ⊂ f(1, . . . , p0). Fur p ≥ p0 ergibt sich dann

sp − s∗p = x1 + . . .+ xp − (xf(1) + . . .+ xf(p))

= Summe gewisser xi fur i > n0.

Page 117: Grundkurs Analysis

3.1 Konvergenzkriterien fur Reihen in Banachraumen 109

Aus (∗) folgt ‖sp − s∗p‖ < ε ∀ p ≥ p0. Da sp gegen s konvergiert, gibt es auchein n∗

0 ∈ N so dass‖sp − s‖ < ε ∀ p > n∗

0.

Damit erhalten wir

‖s∗n − s‖ ≤ ‖s∗n − sn‖ + ‖sn − s‖ < 2ε ∀ n ≥ maxp0, n∗0.

Folglich konvergiert die Folge (s∗n) gegen s, also gilt∞∑k=1

xf(k) = s. ⊓⊔

Ohne die Voraussetzung der absoluten Konvergenz gilt Satz 3.13 nicht mehr.Es gilt sogar

Satz 3.14 (Riemannscher Umordnungssatz)

Sei∞∑k=1

ak eine konvergente, aber nicht absolut konvergente Reihe reeller Zah-

len und sei s ∈ R eine beliebig (!) vorgegebene Zahl. Dann existiert eine bijekti-

ve Abbildung f : N → N, so dass die Umordnung∞∑k=1

af(k) gegen s konvergiert.

Beweis. Sei oBdA ak 6= 0 fur alle k ∈ N. Wir setzen

a+k :=

|ak| + ak2

=

ak falls ak > 00 falls ak < 0

a−k :=|ak| − ak

2=

0 falls ak > 0

−ak falls ak < 0

Dann gilt ak = a+k −a−k und |ak| = a+

k +a−k . Aus der Voraussetzung des Sat-

zes folgt, dass beide Reihen∞∑k=1

a+k und

∞∑k=1

a−k divergent sind. Ware namlich

eine dieser beiden Reihen konvergent, so wurde wegen der Konvergenz von∞∑k=1

ak auch die andere dieser beiden Reihen konvergieren und die Konver-

genz von∞∑k=1

|ak| folgen (Satz 3.4).

Sei nun (pm) die Teilfolge aller positiven Zahlen von (ak) und (qm) die Teil-folge aller negativen Zahlen von (ak). Offensichtlich entsteht die Folge (pm),wenn man aus der Folge (a+

k ) alle Nullen streicht und (−qm), wenn man ausder Folge (a−k ) alle Nullen streicht. Nach dem oben Gesagten sind die Reihen∞∑m=1

pm und∞∑m=1

qm divergent und es gilt

∞∑

m=1

pm = +∞ ,

∞∑

m=1

qm = −∞ (∗)

Page 118: Grundkurs Analysis

110 3 Reihen in Banachraumen

Wir konstruieren nun die gesuchte Umordnung der Reihe∞∑k=1

ak. Wegen (∗)kann man schrittweise eine Folge jeweils kleinster Indizes n0, n1, n2, . . . mitder folgenden Eigenschaft wahlen:

n0 so dassn0∑m=1

pm > s

n1 so dassn0∑m=1

pm +n1∑m=1

qm < s

n2 > n0 so dassn0∑m=1

pm +n1∑m=1

qm +n2∑

m=n0+1pm > s

n3 > n1 so dassn0∑m=1

pm +n1∑m=1

qm +n2∑

m=n0+1pm +

n3∑m=n1+1

qm < s

...

Die Reihe

p1 + . . .+pn0 + q1 + . . .+ qn1 +pn0+1 + . . .+pn2 + qn1+1 + . . .+ qn3 + . . . (∗∗)

ist eine Umordnung von∞∑k=1

ak . Aus der Minimalitatseigenschaft der Wahl

der Indizes nj erhalt man folgende Abschatzung fur die Partialsumme s∗n derReihe (∗∗):

|s− s∗n| ≤ pn2j∀ n2j−1 + n2j ≤ n < n2j + n2j+1

|s− s∗n| ≤ −qn2j+1 ∀ n2j + n2j+1 ≤ n < n2j+1 + n2j+2

Da die Reihe∞∑k=1

ak konvergiert, sind die Teilfolgen (pn2j)∞j=0 und (qn2j+1)

∞j=0

von (an) Nullfolgen. Folglich konvergiert die Folge der Partialsummen (s∗n) derUmordnung (∗∗) gegen s. ⊓⊔

3.2 Komplexe Potenzreihen

Als Anwendung der Konvergenzkriterien aus Kapitel 3.1 betrachten wir indiesem Abschnitt spezielle Reihen im Banachraum der komplexen Zahlen, diesogenannten Potenzreihen.

Definition 3.6. Sei z0 ∈ C und (an) eine Folge komplexer Zahlen. Eine Po-tenzreihe mit dem Zentrum z0 ist eine Reihe komplexer Zahlen der Form

P (z) :=

∞∑

n=0

an(z − z0)n , z ∈ C.

Page 119: Grundkurs Analysis

3.2 Komplexe Potenzreihen 111

Wir wollen die Frage untersuchen, fur welche z ∈ C die Potenzreihe P (z)konvergiert. Offensichtlich konvergiert die Potenzreihe P (z) fur z = z0.

Satz 3.15 Sei P (z) =∞∑n=0

an(z − z0)n eine Potenzreihe mit dem Zentrum z0

und sei z1 6= z0.

1. Ist P (z1) konvergent, so ist P (z) fur jedes z ∈ C mit |z − z0| < |z1 − z0|absolut-konvergent.

2. Ist P (z1) divergent, so ist P (z) fur jedes z ∈ C mit |z − z0| > |z1 − z0|divergent.

Beweis. Zu 1: Da die Reihe P (z1) =∞∑n=0

an(z1 − z0)n konvergiert, ist die

Folge (an(z1 − z0)n) eine Nullfolge, also insbesondere beschrankt. Sei C ∈ R

so gewahlt, dass |an(z1 − z0)n| ≤ C fur alle n ∈ N0. Dann gilt

|an(z − z0)n| = |an(z1 − z0)

n|∣∣∣∣z − z0z1 − z0

∣∣∣∣n

≤ C ·∣∣∣∣z − z0z1 − z0

∣∣∣∣n

.

Fur z ∈ C mit |z − z0| < |z1 − z0| folgt | z−z0z1−z0 | < 1. Aus dem Majorantenkri-

terium und dem Grenzwert der geometrischen Reihe erhalt man

∞∑

n=0

|an(z − z0)n| ≤ C

∞∑

n=0

∣∣∣∣z − z0z1 − z0

∣∣∣∣n

= C · 1

1 − | z−z0z1−z0 |

.

Insbesondere ist∞∑n=0

an(z − z0)n absolut-konvergent.

Zu 2: Sei P (z1) divergent und |z − z0| > |z1 − z0|. Ware P (z) konvergent, sowurde aus 1. folgen, dass P (z1) absolut-konvergent ware, was einen Wider-spruch liefert. ⊓⊔

Definition 3.7. Die Zahl R := sup|z−z0 | P (z) ist konvergent ∈ R∪+∞heißt Konvergenzradius der Potenzreihe P (z). Die Kreisscheibe K(z0, R) ⊂ C

heißt Konvergenzkreis von P (z).

Nach Satz 3.15 ist die Potenzreihe P (z) fur z ∈ K(z0, R) absolut-konvergentund fur z ∈ C \ cl(K(z0, R)) divergent. Aus Kapitel 3.1. wissen wir bereits

• Fur P (z) =∞∑n=0

zn ist R = 1.

• Fur P (z) =∞∑n=0

zn

nist R = 1.

• Fur P (z) =∞∑n=0

zn

n! ist R = +∞.

Page 120: Grundkurs Analysis

112 3 Reihen in Banachraumen

Die nachsten beiden Satze zeigen, wie man den Konvergenzradius einer Po-tenzreihe bestimmen kann.

Satz 3.16 Sei P (z) =∞∑n=0

an(z − z0)n eine Potenzreihe und

λ := lim supn→∞

n√|an|. Dann gilt fur den Konvergenzradius R von P (z)

R =

falls λ ∈ R+

0 falls λ = +∞∞ falls λ = 0.

Beweis. Sei

α := lim supn→∞

n√|an(z − z0)n| = lim sup

n→∞n√|an| · |z − z0| = λ · |z − z0|.

Nach dem Wurzelkriterium konvergiert P (z) fur α < 1 und divergiert furα > 1.(1) Sei 0 < λ < +∞. Dann gilt

P (z)

konvergiert fur alle z mit |z − z0| < 1

λ

divergiert fur alle z mit |z − z0| > 1λ

Folglich ist R = 1λ.

(2) Sei λ = 0, dann ist auch α = 0. Somit konvergiert P (z) fur alle z ∈ C undder Konvergenzradius R ist +∞.(3) Sei λ = +∞. Dann gilt

α =

0 z = z0

+∞ z 6= z0.

Die Reihe P (z) divergiert also fur alle z 6= z0. Somit ist R = 0. ⊓⊔

Auf analoge Weise erhalt man aus dem Quotientenkriterium

Satz 3.17 Sei P (z) =∞∑n=0

an(z−z0)n eine Potenzreihe und seien alle an von

Null verschieden. Wir setzen µ := limn→∞

|an+1

an|. Dann gilt fur den Konvergenz-

radius R von P (z)

R =

falls µ ∈ R+

0 falls µ = +∞∞ falls µ = 0.

Page 121: Grundkurs Analysis

3.3 Exponentialfunktion, Logarithmusfunktion und komplexe Potenzen 113

3.3 Exponentialfunktion, Logarithmusfunktion undkomplexe Potenzen

In Kapitel 1.2 haben wir Potenzen aq definiert, wobei a eine positive reelleZahl und der Exponent q eine rationale Zahl bezeichnet. In diesem Abschnittwollen wir Potenzen az fur komplexe Exponenten z ∈ C erklaren und dieEigenschaften dieser Potenzen untersuchen.

Dazu betrachten wir zunachst die folgende komplexe Potenzreihe:

E(z) :=

∞∑

n=0

zn

n!= 1 + z +

z2

2!+z3

3!+ . . .

Die Reihe E(z) hat folgende Eigenschaften:

(1) E(z) ist fur jedes z ∈ C absolut-konvergent.

(2) Es gilt E(0) = 1 und E(1) =∞∑n=0

1n! = e, wobei e die Eulerzahl bezeichnet.

(3) Es gilt E(z1) · E(z2) = E(z1 + z2) fur alle z1, z2 ∈ C.Dies laßt sich mit der Formel fur das Cauchy–Produkt aus Abschnitt3.1 zeigen. Das Cauchy-Produkt der beiden absolut-konvergenten ReihenE(z1) und E(z2) ist

∞∑

n=0

(n∑

k=0

zk1k!

· zn−k2

(n− k)!

)=

∞∑

n=0

1

n!

(n∑

k=0

(n

k

)zk1 · zn−k2

)

=∞∑

n=0

(z1 + z2)n

n!

= E(z1 + z2).

Folglich gilt nach Satz 3.11, dass E(z1 + z2) = E(z1) · E(z2).Insbesondere ist E(z) 6= 0 und E(z) · E(−z) = E(0) = 1 fur alle z ∈ C.

(4) Es gilt E(z) = E(z).

(5) Es gilt |E(z) − 1| ≤ |z|1−|z| fur alle z ∈ C mit 0 < |z| < 1:

Wir benutzen dazu die Konvergenzeigenschaften der geometrischen Reiheund das Majorantenkriterium und erhalten

|E(z) − 1| =

∣∣∣∣∣

∞∑

n=1

zn

n!

∣∣∣∣∣ ≤∞∑

n=1

|z|nn!

≤∞∑

n=1

|z|n = |z|( ∞∑

n=0

|z|n)

=|z|

1 − |z| .

(6) Es gilt E(q) = eq fur alle q ∈ Q:Fur n ∈ N ist

E(n) = E(1 + . . .+ 1︸ ︷︷ ︸n−mal

) = E(1) · . . . ·E(1)︸ ︷︷ ︸n−mal

= e · . . . · e︸ ︷︷ ︸n−mal

= en

Page 122: Grundkurs Analysis

114 3 Reihen in Banachraumen

Fur n ∈ −N gilt E(n) = 1E(−n) = 1

e−n = en. Folglich ist E(n) = en fur

alle n ∈ Z. Sei nun q ∈ Q und q = nm

, wobei n ∈ Z und m ∈ N. Dann ist

(eq)m = eq·m = en = E(n) = E(q ·m) = E(q + . . .+ q︸ ︷︷ ︸m−mal

)

= E(q) · . . . · E(q)︸ ︷︷ ︸m−mal

= E(q)m.

Da eq und E(q) positiv sind, folgt eq = E(q).

Die letzte Eigenschaft von E(z) rechtfertigt die folgende Definition:

Definition 3.8. Unter der komplexen Potenz ez der Eulerzahl e verstehenwir den Wert der Potenzreihe E(z), d.h.

ez := E(z) =

∞∑

n=0

zn

n!.

Die Funktionexp : C −→ C

z 7−→ ez

heißt Exponentialfunktion.

Aus den Eigenschaften der Potenzreihe E(z) folgt

Satz 3.18 Die komplexen Potenzen der Eulerzahl erfullen

1. ez+w = ez · ew fur alle z, w ∈ C.

2. |ez − 1| ≤ |z|1−|z| fur alle z ∈ C mit 0 ≤ |z| < 1.

Satz 3.19 Die Abbildung exp|R : R −→ R+ ist streng monoton wachsend undbijektiv. Es gilt

1. 1 ≤ ex fur alle x ∈ R mit x ≥ 0.2. 0 < ex ≤ 1 fur alle x ∈ R mit x ≤ 0.

Beweis. Nach Definition ist ex = E(x) ≥ 1 fur alle x ≥ 0. Da ex·e−x = e0 = 1,folgt daraus 0 < ex ≤ 1 fur alle x ≤ 0.Seien nun x und y zwei reelle Zahlen mit x < y. Dann ist

ey = ex+(y−x) = ex · ey−x > ex.

Somit ist die Funktion exp|R steng monoton wachsend. Insbesondere ist sie

deshalb injektiv. Es bleibt zu zeigen, dass exp|R : R → R+ surjektiv ist.

Page 123: Grundkurs Analysis

3.3 Exponentialfunktion, Logarithmusfunktion und komplexe Potenzen 115

Sei y ∈ R+. Wir suchen eine Zahl s ∈ R mit es = y. Dazu betrachten wir diefolgenden Mengen

A = x ∈ R | ex < y und B = x ∈ R | y ≤ ex.

Diese Mengen bilden einen Dedekindschen Schnitt (A|B) von R, denn

• R ist die disjunkte Vereinigung von A und B.

• A und B sind nichtleer, denn ey−1

y < y ≤ ey (Ubungsaufgabe 55 (2)).• Fur a ∈ A und b ∈ B gilt ea < y ≤ eb. Wegen der Monotonie der Expo-

nentialfunktion folgt a < b.

Sei s ∈ R die auf Grund des Vollstandigkeitsaxioms der reellen Zahlen existie-rende Schnittzahl des Dedekindschen Schnittes (A|B). Wir zeigen nun, dasses = y gilt.Wir wissen, dass a ≤ s ≤ b fur alle a ∈ A, b ∈ B. Sei (an) eine Folge in A,die gegen s konvergiert. Dann gilt ean < y und

|es − ean | = |ean ||e(s−an) − 1| < |y| · |s− an|1 − |s− an|

−→ 0.

Daraus folgt limn→∞

ean = es ≤ y.

Sei (bn) eine Folge in B, die gegen s konvergiert. Dann gilt ebn ≥ y und

|ebn − es| = |es||e(bn−s) − 1| ≤ |es| · |bn − s|1 − |bn − s| −→ 0.

Es folgt limn→∞

ebn = es ≥ y. Also ist y = es. ⊓⊔

Definition 3.9. Die Umkehrabbildung von exp|R bezeichnen wir mit

ln : R+ −→ R

und nennen ln(y) den naturlichen Logarithmus von y.

Die Zahl ln(y) ist also eindeutig bestimmt durch die Bedingung eln(y) = y.Daraus ergeben sich folgende Eigenschaften fur den naturlichen Logarithmus:

Satz 3.20 Es seien y, y1, y2 ∈ R+ und q ∈ Q.

1. Die Funktion ln : R+ −→ R ist bijektiv und streng monoton wachsend.2. ln(y1 · y2) = ln(y1) + ln(y2).3. ln(yq) = q · ln(y).4. ln(y1

y2) = ln(y1) − ln(y2).

5. ln(1) = 0, ln(e) = 1.6. ln(y) > 0 fur alle y > 1 und ln(y) < 0 fur alle 0 < y < 1.

Page 124: Grundkurs Analysis

116 3 Reihen in Banachraumen

Das folgende Bild zeigt den Funktionsverlauf der reellen Funktionen exp|R undln.

6

-

R

R

. ................................. ..............................................................

.........................................................

..........................

.........................

........................

..........................

...........................

.............................

..............................

................................

..................................

...................................

1

e

1

ex

.

.................................

................................

..............................

.............................

............................

..........................

.........................

........................

..........................

...........................

.............................

..............................................................

..................................................................... ln(x)

Sei a ∈ R+. Dann gilt fur die Potenz ax, x ∈ R, die Formel

ax = eln(a)·x =

∞∑

n=0

(x · ln(a))n

n!.

Dies rechtfertigt die folgende Definition der komplexen Potenzen einer belie-bigen positiven reellen Zahl:

Definition 3.10. Sei a ∈ R+ und z ∈ C. Unter der Potenz az verstehen wirdie komplexe Zahl

az := E(z · ln(a)) =

∞∑

n=0

(z · ln(a))n

n!= ez·ln(a).

Aus den Eigenschaften der Potenzreihe E(z) ergibt sich unmittelbar

Satz 3.21 (Potenzgesetze fur komplexe Potenzen)Es seien a, b ∈ R+, x ∈ R und z, w ∈ C. Dann gilt:

1. 1z = 1 und a0 = 1.2. az · bz = (ab)z.3. az · aw = az+w.4. a−z = 1

az .5. (ax)z = ax·z.

Sei a ∈ R+ \ 1. Dann ist die Abbildung

Page 125: Grundkurs Analysis

3.3 Exponentialfunktion, Logarithmusfunktion und komplexe Potenzen 117

expa : R −→ R+

x 7−→ ax

bijektiv, streng monoton wachsend, falls a > 1, und streng monoton fallend,falls 0 < a < 1. Die Umkehrabbildung zu expa bezeichnen wir mit

loga : R+ −→ R

und nennen loga(y) den Logarithmus von y zur Basis a. Aus den Potenzge-setzen folgen dann unmittelbar die Aussagen des folgenden Satzes.

Satz 3.22 Die Funktion loga : R+ −→ R ist bijektiv, streng monoton wach-send, falls a > 1, und streng monoton fallend, falls 0 < a < 1.Es seien x, y ∈ R+, ρ ∈ R und a ∈ R+. Dann gilt:

1. loga x = lnxlna .

2. loga(x · y) = loga x+ loga y.3. loga(x

ρ) = ρ · loga x.4. loga(

xy) = loga(x) − loga(y).

5. loga(1) = 0, loga(a) = 1.

Page 126: Grundkurs Analysis
Page 127: Grundkurs Analysis

4

Stetige Abbildungen zwischen metrischenRaumen

4.1 Der Grenzwert einer Abbildung in einem Punkt

In diesem Abschnitt bezeichnen (X, dX) und (Y, dY ) metrische Raume, A ⊂ Xeine Teilmenge von X und f : A ⊂ X −→ Y eine auf A definierte Abbildung.

Definition 4.1. Sei x ∈ X ein Haufungspunkt von A. Ein Punkt y ∈ Y heißtGrenzwert der Abbildung f im Punkt x, falls fur jede Folge (an) von Punktenaus A mit an 6= x und an −→ x, die Folge der Bildwerte (f(an)) gegen ykonvergiert. Wir schreiben dafur symbolisch:

y = lima→x

f(a).

Bemerkung: Der Punkt x muss nicht unbedingt im Definitionsbereich A vonf liegen. Wir benotigen lediglich, dass er der Grenzwert einer Folge von Punk-ten aus A ist, d.h. dass x ∈ HP (A).

Beispiel 1: Es sei X = R2, A = R2 \ (0, 0) und Y = R. Wir betrachten dieAbbildung f : A −→ R mit

f(x, y) :=x3 − y3

x2 + y2.

Behauptung: lim(x,y)→(0,0)

f(x, y) = 0.

Beweis. Sei (x, y) 6= (0, 0). Dann gilt

x3 − y3

x2 + y2=

(x− y)(x2 + xy + y2)

x2 + y2= (x− y)(1 +

xy

x2 + y2).

Wegen∣∣∣ xyx2+y2

∣∣∣ ≤ 12 , folgt

Page 128: Grundkurs Analysis

120 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

|f(x, y)| ≤ 3

2|x− y|.

Sei nun ((xn, yn)) eine beliebige gegen (0, 0) konvergente Folge. Dann giltxn −→ 0 und yn −→ 0 , somit xn − yn −→ 0 und folglich |f(xn, yn)| −→ 0.Also ist lim

n→∞f(xn, yn) = 0 fur alle Folgen (xn, yn) −→ (0, 0) und es gilt

lim(x,y)→(0,0)

f(x, y) = 0. ⊓⊔

Beispiel 2: Es sei X = R2, A = R2 \ (0, 0) und Y = R. Wir betrachten dieAbbildung f : A −→ R mit

f(x, y) =xy2

x2 + y4

Behauptung: lim(x,y)→(0,0)

f(x, y) existiert nicht.

Beweis. Wir betrachten die Folgen (an) und (bn) im R2 mit

an :=( 1

n,1

n

)und bn :=

( 1

n2,1

n

).

Dann gilt

an =( 1

n,1

n

)−→ (0, 0), f(an) =

1n3

1n2 + 1

n4

=n

n2 + 1−→ 0

bn =( 1

n2,1

n

)−→ (0, 0), f(bn) =

1n4

1n4 + 1

n4

=1

2−→ 1

2.

Folglich hat f in (0, 0) keinen Grenzwert. ⊓⊔

Satz 4.1 Sei f : A ⊂ X −→ Y eine Abbildung und x ∈ HP (A). Dann sinddie folgenden Bedingungen aquivalent:

1. lima→x

f(a) = y.

2. Fur alle ε > 0 existiert ein δ > 0, so dass

f(A ∩KX(x, δ) \ x

)⊂ KY (y, ε),

d.h. so dass fur alle a ∈ A mit 0 < dX(x, a) < δ gilt dY (f(a), y) < ε.

Beweis. (1) =⇒ (2): Sei lima→x

f(a) = y. Angenommen 2. gilt nicht, das heißt

es existiert ein ε0 > 0, so dass es zu jedem δ > 0 ein a ∈ A gibt mit0 < dX(x, a) < δ und dY (f(a), y) ≥ ε0. Wir wahlen speziell δ = 1

n. Dann

Page 129: Grundkurs Analysis

4.1 Der Grenzwert einer Abbildung in einem Punkt 121

erhalten wir eine Folge (an) in A mit an 6= x, so dass dX(x, an) < 1n

unddY (f(an), y) ≥ ε0 gilt. Daraus folgt an −→ x aber f(an) 6−→ y. Dies stehtaber im Widerspruch zu der Voraussetzung lim

n→∞f(an) = y.

(2) =⇒ (1): Sei 2. erfullt. Wir betrachten eine gegen x konvergente Folge (an)in A mit an 6= x. Sei ε > 0. Nach Voraussetzung existiert ein δ > 0, so dass

f(A ∩KX(x, δ) \ x

)⊂ KY (y, ε).

Da an gegen x konvergiert, existiert ein n0 ∈ N, so dass dX(x, an) < δ fur allen ≥ n0. Folglich ist dY (y, f(an)) < ε fur alle n ≥ n0. Also konvergiert (f(an))gegen y und zwar fur jede Folge (an) in A mit an 6= x und an −→ x. ⊓⊔

Wir betrachten nun den Fall, dass der metrische Raum Y ein Produktraumist.

Satz 4.2 Sei (Y, dY ) das Produkt von metrischen Raumen Y1, Y2, . . . , Yn undf : A ⊂ X −→ Y = Y1 × Y2 × . . .× Yn. Wir bezeichnen mit fj : A −→ Yj diedurch

f(a) = (f1(a), f2(a), . . . , fn(a))

definierten Abbildungen. Dann gilt

lima→x

fj(a) = yj ∀ j ∈ 1, . . . , n ⇐⇒ lima→x

f(a) = (y1, . . . , yn).

Beweis. Die Behauptung folgt aus dem Satz 2.13 uber die Konvergenz vonFolgen in Produktraumen. ⊓⊔

Spezialfall: Sei f : A ⊂ X −→ C eine Abbildung mit komplexen Werten.Dann gilt

lima→x

f(a) = lima→x

Re(f(a)) + i · lima→x

Im(f(a)).

Die speziellen Rechenregeln fur konvergente Folgen im Vektorraum Rn bzw.Cn, siehe Satz 2.18, liefern unmittelbar die folgenden Aussagen uber Grenz-werte von Abbildungen mit Werten in Vektorraumen:

Satz 4.3 (Grenzwerte von Abbildungen mit Werten in Rn bzw. Cn)Sei K der Korper der reellen bzw. der komplexen Zahlen und sei 〈·, ·〉 ein Ska-larprodukt und ‖ · ‖ eine Norm auf Kn.

1. Seien f, g : A −→ Kn zwei Abbildungen, fur die die Grenzwerte lima→x

f(a)

und lima→x

g(a) existieren. Dann gilt:

Page 130: Grundkurs Analysis

122 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

(a) Es existiert lima→x

(g + f)(a) und es gilt

lima→x

(g + f)(a) = lima→x

g(a) + lima→x

f(a).

(b) Es existiert lima→x

〈f, g〉(a) und es gilt:

lima→x

〈f, g〉(a) = 〈 lima→x

f(a), lima→x

g(a)〉.

(c) Es existiert lima→x

‖f‖(a) und es gilt:

lima→x

‖f‖(a) = ‖ lima→x

f(a)‖.

2. Seien f : A −→ Kn und h : A −→ K zwei Abbildungen, fur die dieGrenzwerte lim

a→xf(a) und lim

a→xh(a) existieren. Dann existiert auch der

Grenzwert lima→x

(h · f)(a) und es gilt

lima→x

(h · f)(a) = lima→x

h(a) · lima→x

f(a).

3. Seien h : A −→ K und p : A −→ K zwei Abbildungen, fur die dieGrenzwerte lim

a→xh(a) und lim

a→xp(a) existieren und sei h(a) 6= 0 fur alle

a ∈ A und lima→x

h(a) 6= 0 . Dann existiert der Grenzwert lima→x

( ph)(a) und

es gilt

lima→x

(ph

)(a) =

lima→x

p(a)

lima→x

h(a).

⊓⊔

Im metrischen Raum R hatten wir außer den konvergenten Folgen auch Fol-gen betrachtet, die gegen +∞ oder −∞ streben und diesen den uneigentlichenGrenzwert ±∞ zugeordnet. Wir betrachten die analoge Situation fur Grenz-werte von Abbildungen f : X −→ Y , wobei X = R oder Y = R ist.

1. Fall: Sei X ein beliebiger metrischer Raum, Y = R undf : A ⊂ X −→ R.

Man sagt, dass der (uneigentliche) Grenzwert von f in x gleich +∞ ist, fallslimn→∞

f(an) = +∞ fur jede gegen x konvergente Folge (an) in A mit an 6= x .

Analog wird lima→x

f(a) = −∞ definiert.

Satz 4.4 Sei f : A ⊂ X −→ R eine Abbildung von einer Teilmenge einesmetrischen Raumes X in die reellen Zahlen. Dann sind folgende Bedingungenaquivalent:

1. lima→x

f(a) = +∞.

Page 131: Grundkurs Analysis

4.1 Der Grenzwert einer Abbildung in einem Punkt 123

2. Fur alle M > 0 existiert ein δ > 0 , so dass f(a) > M fur alle a ∈ A mit0 < dX(a, x) < δ.

Beweis. Der Beweis wird analog zum Beweis von Satz 4.1 gefuhrt. ⊓⊔

Beispiel: Wir betrachten die Funktion f : R2 \(0, 0) −→ R definiert durch

f(x, y) =1

x2 + y2.

Dann gilt lim(x,y)→(0,0)

f(x, y) = +∞.

2. Fall: Sei X = R, Y ein beliebiger metrischer Raum undf : (c,+∞) ⊂ R −→ Y .

Man sagt, dass lima→+∞

f(a) existiert und gleich y ∈ Y ist, falls

limn→+∞

f(an) = y fur jede Folge (an) in (c,+∞) mit an −→ +∞.

Wir schreiben in diesem Fall lima→+∞

f(a) = y .

Analog definiert man lima→−∞

f(a) = y.

Satz 4.5 Mit den obigen Bezeichnungen sind folgende Bedingungen aquiva-lent:

1. lima→+∞

f(a) = y.

2. Fur alle ε > 0 existiert ein M > 0 so dass dY (f(a), y) < ε fur alle a > M .

Beweis. Der Beweis wird analog zum Beweis von Satz 4.1 gefuhrt. ⊓⊔

Beispiel: Seien f1, f2 : (0,+∞) ⊂ R −→ C gegeben durch

f1(t) :=1

t(cos t+ i sin t) f2(t) := cos t+ i sin t

Dann gilt limt→+∞

f1(t) = 0 wahrend der GW von f2 fur t gegen +∞ nicht

existiert.

Beweis. Die erste Behauptung folgt, da |f(t)| = 1t. Fur die 2. Behauptung

betrachte man die Folge tn = nπ. Da f2(2kπ) = 1 und f2((2k + 1)π) = −1 ,hat die Bildfolge f(tn) zwei verschiedene Haufungspunkte. ⊓⊔

3. Fall: Seien X = Y = R und f : (c,+∞) ⊂ R −→ R.

Dann gilt lima→+∞

f(a) = ±∞ genau dann, wenn fur alle Folgen (an) in

(c,+∞), die gegen +∞ streben, die Folge f(an) gegen ±∞ strebt.Analog wird der uneigentliche Grenzwert von f fur a gegen −∞ definiert.

Page 132: Grundkurs Analysis

124 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

Im Fall von reellen Funktionen f : A ⊂ R −→ R kann man einseitige Grenz-werte definieren.

Definition 4.2. Sei f : A ⊂ R −→ R und x ∈ (α, β) ⊂ A.Man sagt, dass der linksseitige Grenzwert von f in x existiert und gleichy ∈ R ist, falls lim

n→∞f(an) = y fur jede gegen x konvergente Folge (an) in A

mit an < x.Wir bezeichnen den linksseitigen Grenzwert mit lim

a→x−f(a) = y.

Man sagt, dass der rechtsseitige Grenzwert von f in x existiert und gleichy ∈ R ist, falls lim

n→∞f(an) = y fur jede gegen x konvergente Folgen (an) in

A mit an > x.Wir bezeichnen den rechtsseitigen Grenzwert mit lim

a→x+f(a) = y.

Satz 4.6 Sei f : (α, β) ⊂ R −→ R eine monoton wachsende Funktion. Dannexistieren fur jedes x ∈ (α, β) die einseitigen Grenzwerte und es gilt

lima→x−

f(a) = supf(t) | α < t < x,

lima→x+

f(a) = inff(t) | x < t < β.

Die analoge Aussage gilt fur monoton fallende Funktionen.

Beweis. Da f monoton wachst, ist die Menge f(t) | α < t < x von obendurch f(x) beschrankt. Folglich existiert das Supremum

y := supf(t) | α < t < x ≤ f(x).

Nach Definition des Supremums gibt es zu jedem ε > 0 ein t∗ ∈ (α, x), so dassy − ε < f(t∗) ≤ y. Da f monoton wachsend ist, gilt desweiteren

y − ε < f(t∗) ≤ f(t) ≤ y ∀ t ∈ (t∗, x) (∗)

Sei nun δ := x − t∗. Dann folgt aus (∗), dass fur alle |x − t| < δ mit t < xdie Abschatzung |y − f(t)| < ε gilt. Somit ist lim

t→x−f(t) = y .

Analog beweist man limt→x+ f(t) = inff(t) | β > t > x. ⊓⊔

Beispiel 1: Sei a > 1 gegeben. Dann gilt limx→+∞

ax

x= +∞.

Beweis. Es ist

ax = ex·ln(a) = 1 + x · ln(a) +x2 · ln2(a)

2!+ . . . .

Fur a > 1 ist ln(a) > 0. Fur x > 0 erhalten wir somit

Page 133: Grundkurs Analysis

4.1 Der Grenzwert einer Abbildung in einem Punkt 125

ax

x=

1

x+ ln(a)

︸ ︷︷ ︸>0

+x · ln2(a)

2!+ . . .︸︷︷︸

>0

≥ ln2(a)

2· x.

Da offensichtlich limx→+∞

x = +∞, folgt limx→+∞

ax

x= +∞. ⊓⊔

Beispiel 2: Es gilt limx→0

ln(1+x)x

= 1 .

Beweis. Fur x > −1 gilt nach Ubungsaufgabe 55

x

1 + x≤ ln(1 + x) ≤ x.

Daraus folgt

1

1 + x≤ ln(1 + x)

x≤ 1 falls x > 0.

1

1 + x≥ ln(1 + x)

x≥ 1 falls − 1 < x < 0.

Da limx→0

11+x = 1, folgt aus den Grenzwertsatzen lim

x→0

ln(1+x)x

= 1. ⊓⊔

Beispiel 3: Es gilt limx→0

(1 + x)1x = e und lim

x→+∞(1 + 1

x)x = e .

Beweis. Nach Satz 3.18 gilt

|ex − 1| ≤ |x|1 − |x| ∀ |x| < 1.

Folglich ist limn→∞

ean = 1 fur jede Nullfolge (an). Sei nun (xn) eine beliebige

Nullfolge in R mit xn 6= 0 und zn := ln(1+xn)xn

− 1 . Aus Beispiel 2 ergibt sich,dass (zn) eine Nullfolge ist. Also gilt

1 = limn→∞

ezn = limn→∞

eln (1+xn)· 1xn · e−1 = lim

n→∞(1 + xn)

1xn · e−1

und somitlimn→∞

(1 + xn)1

xn = e.

⊓⊔

Beispiel 4: Es gilt limx→+∞

xln(x) = +∞ .

Beweis. Wir wissen, dass xln(x) = eln(x)

ln(x) . Sei (xn) eine gegen +∞ konvergente

Folge. Dann gilt yn := ln(xn) −→ +∞, da ln streng monoton wachsend und

bijektiv ist. Aus Beispiel 1 erhalten wir limn→+∞

eln(xn)

ln(xn) = +∞. ⊓⊔

Page 134: Grundkurs Analysis

126 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

4.2 Stetige Abbildungen (Definition und Beispiele)

Definition 4.3. Es seien (X, dX) und (Y, dY ) metrische Raume undf : X −→ Y eine Abbildung.

1. f heißt stetig im Punkt x0 ∈ X, falls zu jedem ε > 0 ein δ > 0 existiert,so dass

f(KX(x0, δ)) ⊂ KY (f(x0), ε).

(Die Große von δ hangt von ε und von x0 ab).2. f heißt folgenstetig im Punkt x0 ∈ X, falls fur jede Folge (xn) in X, die

gegen x0 konvergiert, die Bildfolge (f(xn)) in Y gegen f(x0) konvergiert.3. Die Abbildung f heißt stetig (folgenstetig), wenn sie in jedem Punkt x ∈ X

stetig (folgenstetig) ist.

-

6

X

Y

x0

f(x0)6?2ε

graph(f)

Satz 4.7 Sei f : X −→ Y eine Abbildung zwischen metrischen Raumen.Dann sind folgende Bedingungen aquivalent:

1. f : X −→ Y ist in x0 ∈ X stetig.2. f : X −→ Y ist in x0 ∈ X folgenstetig.3. x0 ist ein isolierter Punkt von X oder x0 ist ein Haufungspunkt von X

und es gilt limx→x0

f(x) = f(x0).

Beweis. (1) =⇒ (2) : Sei f : X −→ Y stetig in x0 ∈ X und (xn) eine(beliebige) gegen x0 konvergente Folge in X . Wir mussen zeigen, dass dieFolge (f(xn)) gegen f(x0) konvergiert.Sei ε > 0. Nach Definition der Stetigkeit existiert ein δ > 0 , so dass

f(KX(x0, δ)) ⊂ KY (f(x0), ε).

Da die Folge (xn) gegen x0 konvergiert, existiert ein n0 ∈ N, so dass xn ∈KX(x0, δ) fur alle n ≥ n0. Folglich ist f(xn) ∈ KY (f(x0), ε) fur alle n ≥ n0.

Page 135: Grundkurs Analysis

4.2 Stetige Abbildungen (Definition und Beispiele) 127

Also konvergiert (f(xn)) gegen f(x0).

(2) =⇒ (3) : Jeder Punkt x0 ∈ X ist entweder isoliert oder ein Haufungspunktvon X . Ist der Punkt x0 ∈ HP (X), so existiert eine gegen x0 konvergenteFolge (xn) in X mit xn 6= x0. Nach (2) konvergiert dann fur jede dieserFolgen die Bildfolge (f(xn)) gegen f(x0), das heißt es gilt lim

x→x0

f(x) = f(x0).

(3) =⇒ (1) : Wenn x0 ein isolierter Punkt ist, so existiert ein δ > 0, so dassKX(x0, δ) = x0. Dann ist

f(KX(x0, δ)) = f(x0) ⊂ KY (f(x0), ε)

fur alle ε > 0. Somit ist f in x0 stetig.Sei nun x0 ein Haufungspunkt von X und lim

x→x0

f(x) = f(x0). Nach Satz 4.1

existiert fur alle ε > 0 ein δ > 0, so dass

f(KX(x0, δ)) ⊂ KY (f(x0), ε).

Folglich ist f in x0 stetig. ⊓⊔

Als nachstes betrachten wir spezielle Kriterien fur die Stetigkeit reeller Funk-tionen f : A ⊂ R −→ R.

Satz 4.8 Sei f : A ⊂ R −→ R eine reelle Funktion und x0 ∈ (α, β) ⊂ A.Dann ist f in x0 genau dann stetig, wenn die beiden einseitigen Grenzwerteexistieren und

limx→x0

−f(x) = lim

x→x0+f(x) = f(x0).

Beweis. (=⇒) folgt aus Satz 4.7 als Spezialfall.(⇐=) Wir setzen voraus, dass die beiden einseitigen Grenzwerte existierenund dass

limx→x0

−f(x) = lim

x→x0+f(x) = f(x0).

Angenommen, f sei in x0 nicht stetig. Dann existiert ein ε0 > 0, so dass eszu jedem δ > 0 ein x ∈ A gibt mit der Eigenschaft, dass |x0 − x| < δ und|f(x0) − f(x)| ≥ ε0. Wahlen wir speziell δ = 1

n, so erhalten wir eine Folge

xn ∈ A mit |x0 − xn| < 1n

und |f(x0)− f(xn)| ≥ ε0. Insbesondere konvergiertdie Folge (xn) gegen x0 und es existiert eine Teilfolge (xnk

) von (xn) mitxnk

< x0 oder eine Teilfolge (xnk) von (xn) mit xnk

> x0, fur die f(xnk)

nicht gegen f(x0) konvergiert. Betrachten wir diese Teilfolge, so erhalten wireinen Widerspruch zur Voraussetzung lim

x→x0−f(x) = lim

x→x0+f(x) = f(x0). ⊓⊔

Satz 4.8 zeigt, dass es genau drei verschiedene Typen von Unstetigkeitsstelleneiner reellen Funktion gibt. f : A ⊂ R −→ R ist genau dann in x0 ∈ (α, β) ⊂A unstetig, wenn einer der folgenden Falle vorliegt:

Page 136: Grundkurs Analysis

128 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

(1) Hebbare UnstetigkeitsstelleBeide einseitigen Grenzwerte von f in x0 existieren und stimmen uberein,sind aber ungleich f(x0). In diesem Fall kann man die Unstetigkeit von fin x0 durch Abanderung von f(x0) beheben.

Beispiel:

f(x) :=

0 x = 0

1 x 6= 0

Der Punkt x0 = 0 ist eine heb-bare Unstetigkeitsstelle.

-

6

R

R

) (

f

(2) SprungstelleDie beiden einseitigen Grenzwerte von f in x0 existieren, sind aber von-einander verschieden. Unter dem Sprung σ(f, x0) von f in x0 verstehenwir die Differenz der einseitigen Grenzwerte

σ(f, x0) := limx→x0

+f(x) − lim

x→x0−f(x).

Beispiel:

f(x) :=

x+ x

|x| x 6= 0

0 x = 0

Dann ist der Punkt x0 = 0 eineSprungstelle und der Sprungσ(f, x0) = 2.

-

6

R

R

•−1

1 (

)

f

(3) Unstetigkeitsstelle 2. ArtMindestens einer der beiden einseitigen Grenzwerte von f in x0 existiertnicht in R.

Wir betrachten z.B. die Dirichlet-Funktion

h(x) :=

1 x ∈ Q

0 x 6∈ Q

Jeder Punkt x0 ∈ R ist eine Unstetigkeitsstelle zweiter Art von h.

Page 137: Grundkurs Analysis

4.2 Stetige Abbildungen (Definition und Beispiele) 129

Sei

f(x) :=

1x

x 6= 0

0 x = 0

Der Punkt x0 = 0 ist eineUnstetigkeitsstelle zweiter Art,denn lim

x→0+f(x) = +∞

und limx→0−

f(x) = −∞.

-

6

R

R

f

Satz 4.9

1. Eine monotone Funktion f : A ⊂ R −→ R ist in x0 ∈ (α, β) ⊂ A genaudann stetig, wenn

limx→x0

+f(x) = lim

x→x0−f(x).

2. Eine monotone Funtion f : (α, β) ⊂ R −→ R, −∞ < α < β < +∞, hathochstens abzahlbar viele Unstetigkeitsstellen. Jede Unstetigkeitsstelle isteine Sprungstelle.

3. Sei A ⊂ R ein (verallgemeinertes) Intervall und f : A ⊂ R −→ R einestreng monotone Funktion. Dann ist f : A −→ f(A) bijektiv und dieUmkehrabbildung f−1 : f(A) −→ A stetig.

Beweis. Ubungsaufgabe 60. ⊓⊔

Als nachstes stellen wir einige Eigenschaften stetiger Abbildungen zwischenmetrischen Raumen zusammen, die sich unmittelbar aus der Definition derStetigkeit, der Aquivalenz zur Folgenstetigkeit und den Rechenregeln fur kon-vergente Folgen ergeben.

Satz 4.10 Seien f : X −→ Y und g : Y −→ Z zwei Abbildungen zwischenmetrischen Raumen, f in x0 ∈ X und g in f(x0) ∈ Y stetig. Dann ist g fin x0 stetig. Insbesondere ist die Verknupfung stetiger Abbildungen ebenfallsstetig.

Beweis. Sei (xn) eine Folge in X , die gegen x0 konvergiert. Da f in x0 stetigund somit folgenstetig ist, konvergiert die Folge (f(xn)) in Y gegen f(x0).Wegen der Stetigkeit von g in f(x0) konvergiert dann die Folge (g(f(xn)) =(g f)(xn)) gegen g(f(x0)) = (g f)(x0). Folglich ist g f in x0 folgenstetigund somit stetig. ⊓⊔

Page 138: Grundkurs Analysis

130 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

Satz 4.11 Seien (X, dX) und (Y, dY ) metrische Raume und A eine Teilmengevon X. Ist f : X −→ Y stetig, so ist auch die Einschrankung f|A : A −→ Ystetig bzgl. der auf A durch X induzierten Metrik dA := (dX)|A×A.

Beweis. Sei (an) eine Folge in A, die im metrischen Raum (A, dA) gegen a ∈ Akonvergiert. Dann konvergiert (an) auch bzgl. der Metrik dX von X gegen a.Nach Voraussetzung konvergiert (f(an)) gegen f(a) in Y , also ist f|A in afolgenstetig und somit stetig. ⊓⊔

Satz 4.12

1. Sei f : X −→ Y1 × . . . × Yn eine Abbildung in das Produkt metrischerRaume und f = (f1, . . . , fn) die Komponentendarstellung von f . Die Ab-bildung f ist genau dann in x0 stetig, wenn jede Komponentefj : X −→ Yj in x0 stetig ist, j = 1, . . . , n.

2. Sei f : X1 ×X2 −→ Y stetig in (x1, x2) ∈ X1 ×X2. Dann ist

h1 : X1 −→ Y in x1 stetig ,

x 7→ f(x, x2)

h2 : X2 −→ Y in x2 stetig .

x 7→ f(x1, x)

Satz 4.13 Sei X ein metrischer Raum und K der Korper der reellen oderder komplexen Zahlen, 〈·, ·〉 ein Skalarprodukt und ‖ · ‖ eine Norm auf Kn.

1. Seien f, g : X −→ Kn in x0 ∈ X stetig. Dann gilt(a) f + g : X −→ Kn ist in x0 stetig.(b) 〈f, g〉 : X −→ K ist in x0 stetig.(c) ‖f‖ : X −→ R ist in x0 stetig.

2. Seien f : X −→ Kn und h : X −→ K in x0 stetig. Dann ist auchh · f : X −→ Kn in x0 stetig.

3. Seien h, p : X −→ K in x0 stetig und sei p(x0) 6= 0. Dann ist auch dieAbbildung h

p: A = x ∈ X | p(x) 6= 0 ⊂ X −→ K in x0 stetig.

4. Eine Abbildung f : X −→ C ist genau dann in x0 stetig, wenn sowohl derRealteil Re(f) als auch der Imaginarteil Im(f) in x0 stetig sind.f : X −→ C ist genau dann in x0 stetig, wenn die konjugiert-komplexeAbbildung f : X −→ C in x0 stetig ist.

Page 139: Grundkurs Analysis

4.2 Stetige Abbildungen (Definition und Beispiele) 131

Wir betrachten nun einige Beispiele fur stetige Abbildungen:

Beispiel 1: Sei (X, d) ein metrischer Raum und x0 ∈ X .

(a) Die identische Abbildung idX : X −→ X , idX(x) := x , ist stetig.(b) Die konstante Abbildung cx0 : X −→ X , cx0(x) := x0 , ist stetig.

Beispiel 2: Sei P (z) =∑nk=0 akz

k ein Polynom mit komplexen Koeffizientena0, a1, . . . , an. Dann ist die polynomiale Funktion

P : C −→ C

z 7→ P (z) = anzn + an−1z

n−1 + . . .+ a1z + a0

stetig.

Beispiel 3: Seien P1 und P2 zwei Polynome mit komplexen Koeffizienten,d.h.

P1(z) = anzn + an−1z

n−1 + . . .+ a1z + a0

P2(z) = bmzm + bm−1z

m−1 + . . .+ b1z + b0

wobei alle aj und bj komplexe Zahlen sind. Dann ist die rationale Funktionf := P1

P2: A := z ∈ C | P2(z) 6= 0 ⊂ C −→ C

f(z) =anz

n + an−1zn−1 + . . .+ a1z + a0

bmzm + bm−1zm−1 + . . .+ b1z + b0

auf A stetig.

Beispiel 4: Die Abbildung ln : R+ −→ R ist stetig.

Beweis. Dies folgt aus Satz 4.9, denn die Logarithmus-Funktion ist die Um-kehrfunktion der bijektiven und monotonen Exponentialfunktion exp : R −→R+. ⊓⊔

Beispiel 5: Die Abbildung

f : R+ × C −→ C

(a, z) 7→ az

ist stetig.

Beweis. Sei (a0, z0) ∈ R+ × C. Wir betrachten eine beliebige gegen (a0, z0)konvergente Folge ((an, zn)). Dann gilt an −→ a0 und zn −→ z0. Da nachBeispiel 4 der naturliche Logarithmus stetig ist, folgt

Page 140: Grundkurs Analysis

132 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

limn→∞

ln(an) · zn = ln(a0) · z0 .

Aus Satz 3.18 erhalten wir dann fur n hinreichend groß∣∣∣aznn − az00

∣∣∣ =∣∣∣eln(an)·zn − eln(a0)·z0

∣∣∣

=∣∣∣eln(a0)·z0

∣∣∣∣∣∣eln(an)·zn−ln(a0)·z0 − 1

∣∣∣

≤∣∣∣eln(a0)·z0

∣∣∣| ln(an) · zn − ln(a0) · z0|

1 − | ln(an) · zn − ln(a0) · z0|(∗)

Die rechte Seite von (*) konvergiert bei n → +∞ gegen 0 und somit giltlimn→∞

aznn = az00 . Folglich ist f in (a0, z0) folgenstetig, also stetig. ⊓⊔

Beispiel 6: Seien a0 ∈ R+ und z0 ∈ C fixiert. Aus Satz 4.12 und Beispiel 5folgt die Stetigkeit der Abbildungen

expa0: C −→ C und pz0 : R+ −→ C

z 7−→ az0 a 7−→ az0 .

Beispiel 7: Sei (X, d) ein metrischer Raum. Die Abstandsfunktion

d : X ×X −→ R

(x, y) 7→ d(x, y)

ist stetig.

Beweis. Sei (x, y) ∈ X × X und ((xn, yn)) eine Folge, die in X × X gegen(x, y) konvergiert. In einem metrischen Raum gilt die Vierecksungleichung

|d(xn, yn) − d(x, y)| ≤ d(xn, x) + d(yn, y).

Da xn −→ x und yn −→ y, folgt d(xn, x) −→ 0 und d(yn, y) −→ 0 und somitd(xn, yn) −→ d(x, y). ⊓⊔

Beispiel 8: Sei V ein Vektorraum uber dem Korper K der reellen oder derkomplexen Zahlen. Dann ist jede Norm

‖ · ‖ : V −→ R

und jedes Skalarprodukt

〈·, ·〉 : V × V −→ K

stetig bezuglich der von der Norm bzw. vom Skalarprodukt induzierten Me-trik.

Page 141: Grundkurs Analysis

4.2 Stetige Abbildungen (Definition und Beispiele) 133

Beweis. Dies folgt aus dem Verhalten des Skalarproduktes und der Normbei konvergenten Folgen (Satz 2.18), welches die Folgenstetigkeit der beidenAbbildungen zeigt. ⊓⊔

Als nachstes definieren wir zwei Stetigkeitsbegriffe, die starker als die gewohn-liche Stetigkeit sind.

Definition 4.4.

1. Eine Abbildung f : X −→ Y heißt gleichmaßig stetig, wenn zu jedem ε > 0ein δ > 0 existiert, so dass

f(KX(x, δ)) ⊂ KY (f(x), ε)

fur alle x ∈ X.(Im Unterschied zur Definition der Stetigkeit hangt hier die Große von δnur von ε, aber nicht von x ab.)

2. Eine Abbildung f : X −→ Y heißt lipschitzstetig, wenn es eine positiveKonstante L ∈ R+ gibt, so dass fur alle x1, x2 ∈ X gilt

dY (f(x1), f(x2)) ≤ L · dX(x1, x2).

L heißt Lipschitz–Konstante von f .

Satz 4.14 Sei f : X −→ Y eine Abbildung zwischen metrischen Raumen.Dann gilt:

1. f ist lipschitzstetig =⇒ f ist gleichmaßig stetig.2. f ist gleichmaßig stetig =⇒ f ist stetig.

Beweis. Stetigkeit folgt per Definition aus gleichmaßiger Stetigkeit. Wir mussenalso nur zeigen, dass jede lipschitzstetige Abbildung gleichmaßig stetig ist.Sei f lipschitzstetig mit Lipschitz–Konstante L und ε > 0. Wir setzen δ := ε

L.

Sei x0 ∈ X fixiert und x ∈ KX(x0, δ), d.h. dX(x, x0) < δ = εL

. Aus derLipschitzstetigkeit folgt dann

dY (f(x), f(x0)) ≤ L · dX(x, x0) < L · δ = ε,

also f(x) ∈ KY (f(x0), ε). Somit ist f gleichmaßig stetig. ⊓⊔

Die folgenden beiden Beispiele zeigen, dass die Umkehrung der Aussagen desSatzes 4.14 nicht gilt.

Page 142: Grundkurs Analysis

134 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

Beispiel 1:

Die Abbildung

f : R+ −→ R

x 7−→ 1

x

ist stetig, aber nicht gleichmaßigstetig.

6

-

Y

X

.

.........

.........

.........

.........

.

.........

.........

.........

.......

.........

.........

.........

...

.........

.........

.........

.........

.........

......

.........

.........

...

.........

........

..............

...........

........................................................................................................................................................................................................................

....................

..................

.................

..................

...................

( )

ε

δ

Fur ein fixes ε mußδ fur x −→ 0 im-mer kleiner gewahltwerden.

)(δ

ε

Beweis. Sei δ > 0 eine fixierte Zahl und x ∈ R+. Dann gilt

∣∣∣∣f(x+δ

2) − f(x)

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣∣1

x+ δ2

− 1

x

∣∣∣∣∣ =δ

2x(x+ δ2 )

(∗)

Die rechte Seite von (∗) konvergiert bei x −→ 0 gegen +∞. Man kann alsofur ein gegebenes ε > 0 kein δ > 0 finden, so dass die rechte Seite von (∗) furjedes x > 0 kleiner als ε bleibt. Folglich ist f nicht gleichmaßig stetig. ⊓⊔

Beispiel 2: Die Abbildung

f : R+ −→ R+

x 7−→ √x

ist gleichmaßig stetig, aber nicht lipschitzstetig.

Beweis. Es gilt

|√x−√y| ≤

√|x− y| ∀ x, y ∈ R+.

(siehe Ubungsaufgabe 10). Fur ε > 0 setzen wir δ := ε2. Ist |x − y| < δ, sofolgt |√x−√

y| ≤ ε. Somit ist f gleichmaßig stetig.Angenommen f ware lipschitzstetig mit der Lipschitz-Konstanten L, das heißt

|√x−√y| ≤ L|x− y| ∀ x, y ∈ R+.

Dann gilt ∣∣∣∣√x−√

y

x− y

∣∣∣∣ =1√

x+√y≤ L ∀ x, y ∈ R+.

Fur hinreichend kleine x und y kann man aber 1√x+

√y

beliebig groß machen.

Dies ergibt den Widerspruch. ⊓⊔

Page 143: Grundkurs Analysis

4.3 Eigenschaften stetiger Abbildungen 135

4.3 Eigenschaften stetiger Abbildungen

In einem metrischen Raum sind Teilmengen mit speziellen Eigenschaften aus-gezeichnet, wie offene, abgeschlossene, kompakte oder zusammenhangendeTeilmengen. Wir untersuchen in diesem Abschnitt, was mit diesen Eigenschaf-ten bei stetigen Abbildungen passiert.

Satz 4.15 Sei f : X −→ Y eine Abbildung zwischen metrischen Raumen.Dann sind folgende Bedingungen aquivalent:

1. f ist stetig.2. Das Urbild jeder offenen Menge ist offen.3. Das Urbild jeder abgeschlossenen Menge ist abgeschlossen.

Beweis. (1. =⇒ 2.) Sei f : X −→ Y stetig und U ⊂ Y offen. Wir wollenzeigen, dass das Urbild

f−1(U) := x ∈ X | f(x) ∈ U ⊂ X

dann ebenfalls offen ist. Ist f−1(U) = ∅, so ist die Behauptung erfullt. Seialso f−1(U) 6= ∅ und x0 ∈ f−1(U) ein beliebig gewahlter Punkt. Dann giltf(x0) ∈ U , und da U ⊂ Y offen ist, existiert ein ε > 0 mit KY (f(x0), ε) ⊂ U .Da f in x0 stetig ist, gibt es ein δ > 0, so dass

f(KX(x0, δ)) ⊂ KY (f(x0), ε) ⊂ U.

Wir erhalten daraus durch Betrachten der Urbilder

KX(x0, δ) ⊂ f−1(f(KX(x0, δ))

)⊂ f−1(U).

Somit ist f−1(U) offen in X .

(2. =⇒ 1.) Sei f−1(U) ⊂ X offen fur jede offene Menge U ⊂ Y . Wirwahlen einen beliebigen Punkt x0 ∈ X und ein beliebiges ε > 0. Da dieKugel KY (f(x0), ε) in Y offen ist, ist nach Voraussetzung auch das Urbildf−1(KY (f(x0), ε)) in X offen. Es enthalt den Punkt x0. Folglich existiert einδ > 0, so dass KX(x0, δ) ⊂ f−1(KY (f(x0), ε)). Wenden wir auf diese Inklu-sion f an, so erhalten wir f(KX(x0, δ) ⊂ KY (f(x0), ε). Das bedeutet aber,dass f in x0 stetig ist. Da x0 ∈ X beliebig gewahlt war, ist f stetig.

(2. ⇐⇒ 3.) Um dies einzusehen, erinnern wir uns daran, dass die folgendeBeziehung zwischen offenen und abgeschlossenen Mengen eines metrischenRaumes X gilt:

B ⊂ X ist abgeschlossen ⇐⇒ X \B ⊂ X ist offen .

Desweiteren gilt fur das Urbild einer Komplementmenge

Page 144: Grundkurs Analysis

136 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

f−1(Y \M) = X \ f−1(M).

Sei nun das Urbild f−1(U) jeder offenen Menge U ⊂ Y offen. Wir betrachteneine beliebige abgeschlossene Menge A ⊂ Y . Dann ist Y \ A offen in Y undfolglich f−1(Y \ A) = X \ f−1(A) offen in X . Dies bedeutet, dass f−1(A)abgeschlossen in X ist. Damit ist 2. =⇒ 3. bewiesen. Die Umkehrung zeigtman analog. ⊓⊔

Wir betrachten als nachstes das Verhalten von zusammenhangenden Mengenbei stetigen Abbildungen:

Satz 4.16 Sei f : X −→ Y eine stetige Abbildung zwischen metrischenRaumen. Dann ist das Bild jeder zusammenhangenden Menge ebenfalls zu-sammenhangend.

Beweis. Sei A ⊂ X eine zusammenhangende Menge. Wir wollen zeigen, dassdann auch das Bild f(A) ⊂ Y zusammenhangend ist. Angenommen f(A) ⊂ Yware nicht zusammenhangend. Dann existieren offene Mengen U, V ⊂ Y mit

• U ∩ V = ∅,• f(A) ⊂ U ∪ V ,• f(A) ∩ U 6= ∅ und f(A) ∩ V 6= ∅.Da f stetig ist, sind nach Satz 4.15 die Urbilder f−1(U) und f−1(V ) ebenfallsoffen. Desweiteren gilt fur diese Urbilder

• f−1(U) ∩ f−1(V ) = f−1(U ∩ V ) = f−1(∅) = ∅,• A ⊂ f−1(f(A)) ⊂ f−1(U ∪ V ) = f−1(U) ∪ f−1(V ),• A∩ f−1(U) 6= ∅ und A∩ f−1(V ) 6= ∅ , da ein a ∈ A mit f(a) ∈ U und ein

b ∈ A mit f(b) ∈ V existieren.

Folglich ist A nicht zusammenhangend, was ein Widerspruch zur Vorausset-zung ist. ⊓⊔

Als Anwendung erhalten wir fur Abbildungen mit reellen Werten:

Satz 4.17 (Zwischenwertsatz) Sei f : X −→ R eine stetige Abbildungvon einem metrischen Raum X in die reellen Zahlen und sei A ⊂ X einezusammenhangende Teilmenge. Seien desweiteren a, b ∈ f(A) Bildpunkte mita < b. Dann gilt [a, b] ⊂ f(A).Insbesondere hat jede reellwertige Abildung, die auf A einen negativen undeinen positiven Wert annimmt, auf A eine Nullstelle, d.h. es existiert einx0 ∈ A mit f(x0) = 0.

Beweis. Nach Satz 4.16 ist f(A) ⊂ R zusammenhangend und deshalb nachSatz 2.43 ein (verallgemeinertes) Intervall. Das heißt mit a, b ∈ f(A) und a < bist auch [a, b] ⊂ f(A). ⊓⊔

Page 145: Grundkurs Analysis

4.3 Eigenschaften stetiger Abbildungen 137

Wir definieren nun noch einen weiteren Zusammenhangsbegriff.

Definition 4.5. Sei (X, d) ein metrischer Raum. Eine Teilmenge A ⊂ Xheißt bogenzusammenhangend (oder wegezusammenhangend), falls zu je zweiPunkten a, b ∈ A eine stetige Abbildung ω : [0, 1] ⊂ R −→ A ⊂ X existiert,so dass ω(0) = a und ω(1) = b.Die Abbildung ω heißt Weg in A von a nach b.

Beispiele:

1. Konvexe Mengen im Rn:Eine Teilmenge A ⊂ Rn heißt konvex, wenn mit je zwei Punkten x, y ∈ Aauch die Verbindungsstrecke xy := x+t(y−x) | t ∈ [0, 1] vollstandig inAliegt. Jede konvexe Menge ist bogenzusammenhangend, da die Abbildungω : [0, 1] −→ A

ω(t) := x+ t(y − x)

stetig ist und die Punkte x und y verbindet.Zum Beispiel ist jede Kugel K(x0, r) konvex.

2. Sternformige Mengen im Rn:Eine Teilmenge A ⊂ Rn heißt sternformig, wenn ein Punkt x0 ∈ Aexistiert, so dass fur jeden Punkt x ∈ A die Verbindungsstrecke x0xvollstandig in A liegt. Jede sternformige Menge ist bogenzusammenhan-gend. Sind x, y ∈ A, so ist die Vereinigung der Strecken xx0 ∪ x0y in Aenthalten und man kann sie als Bild eines Weges von x nach y darstellen.

3. Jede bogenzusammenhangende Menge ist auch zusammenhangend (sieheUbungsaufgabe 67). Die Umkehrung gilt nicht. Z.B. ist die Menge Flohund Kamm aus der Ubungsaufgabe 41 zusammenhangend, aber nicht bo-genzusammenhangend. Es gilt jedoch, dass jede offene zusammenhangen-de Menge des Rn auch bogenzusammenhangend ist.

Satz 4.18 Sei f : X −→ Y eine stetige Abbildung. Dann ist das Bild jederbogenzusammenhangenden Teilmenge ebenfalls bogenzusammenhangend.

Beweis. Sei A ⊂ X bogenzusammenhangend. Wir wollen zeigen, dass das Bildf(A) ebenfalls bogenzusammenhangend ist. Seien x, y ∈ f(A) zwei Punkte inf(A). Dann existieren a, b ∈ A mit x = f(a), y = f(b). Da A bogenzusam-menhangend ist, gibt es einen (stetigen) Weg ω : [0, 1] −→ A von a nach b.Wir betrachten die Abbildung f ω : [0, 1] −→ f(A) ⊂ Y . Da f und ω stetigsind, ist f ω ebenfalls stetig. Weiterhin gilt (f ω)(0) = f(ω(0)) = f(a) = xund (f ω)(1) = f(ω(1)) = f(b) = y, d.h. f ω ist ein Weg in f(A) von xnach y. ⊓⊔

Page 146: Grundkurs Analysis

138 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

Als nachstes beschaftigen wir uns mit dem Verhalten von kompakten Mengenbei stetigen Abbildungen:

Satz 4.19 Sei f : X −→ Y eine stetige Abbildung. Dann ist das Bild jederkompakten Menge ebenfalls kompakt.

Beweis. Sei K ⊂ X eine kompakte Teilmenge. Wir wollen zeigen, dass dannauch das Bild f(K) ⊂ Y kompakt ist. Sei U = Uii∈I eine beliebige offeneUberdeckung von f(K), das heißt die Mengen Ui sind offen in Y und es gilt

f(K) ⊂⋃

i∈IUi.

Da f stetig ist, sind die Urbilder f−1(Ui) in X offen (siehe Satz 4.15). Außer-dem gilt

K ⊂ f−1(f(K)) ⊂ f−1(⋃

i∈IUi

)=⋃

i∈If−1(Ui).

Folglich ist die Mengenfamilie

U∗ := f−1(Ui)i∈Ieine offene Uberdeckung vonK. DaK ⊂ X kompakt ist, existiert eine endlicheTeiluberdeckung von K aus U∗, das heißt es existieren i1, . . . , in ∈ I, so dass

K ⊂ f−1(Ui1) ∪ . . . ∪ f−1(Uin).

Durch Anwenden von f erhalten wir

f(K) ⊂ f(f−1(Ui1) ∪ . . . ∪ f−1(Uin)

)⊂ Ui1 ∪ . . . ∪ Uin .

Somit ist Ui1 , . . . , Uin eine endliche Teiluberdeckung von f(K) aus U . Folg-lich ist f(K) kompakt. ⊓⊔

Die folgenden beiden Satze sind Anwendungen der gerade bewiesenen Eigen-schaft stetiger Abbildungen.

Satz 4.20 (Satz von Weierstraß)Sei f : X −→ R eine stetige Abbildung von einem metrischen Raum X in diereellen Zahlen und sei K ⊂ X eine kompakte Teilmenge. Dann nimmt f aufK ein Maximum und ein Minimum an, d.h. es existieren Punkte a, b ∈ K mitf(a) = minf(x) | x ∈ K und f(b) = maxf(x) | x ∈ K .

Beweis. Sei K ⊂ X kompakt. Dann ist f(K) ⊂ R ebenfalls kompakt, undsomit insbesondere beschrankt und abgeschlossen (Folgerung 2.4). Da f(K) ⊂R beschrankt ist, existieren das Infimum S∗ := inf(f(K)) und das SupremumS∗ := sup(f(K)). Da f(K) abgeschlossen ist, liegen sowohl das SupremumS∗ als auch das Infimum S∗ in f(K). D.h. es existieren Punkte a, b ∈ K mitS∗ = f(a) = minf(x) | x ∈ K und S∗ = f(b) = maxf(x) | x ∈ K . ⊓⊔

Page 147: Grundkurs Analysis

4.3 Eigenschaften stetiger Abbildungen 139

Satz 4.21 (Satz von Heine)Sei f : X −→ Y eine stetige Abbildung zwischen metrischen Raumen undK ⊂ X eine kompakte Teilmenge. Dann ist f auf K sogar gleichmaßig stetig.

Beweis. Angenommen f|K : K −→ Y ware nicht gleichmaßig stetig. Dannexistiert ein ε0 > 0, so dass es fur alle δ > 0 einen Punkt xδ ∈ K gibt mitf(KX(xδ, δ) ∩K) 6⊂ KY (f(x), ε0) .Wir setzen δ = 1

n. Dann erhalten wir fur jedes n ∈ N zwei Punkte xn, x

∗n ∈ K

mit

dX(xn, x∗n) <

1

nund dY (f(xn), f(x∗n)) ≥ ε0.

Betrachten wir nun die Folgen (xn) und (x∗n) in K genauer. Da K kompakt,also nach Satz 2.40 folgenkompakt ist, existiert eine Teilfolge (xnk

) von (xn),die gegen einen Punkt x0 ∈ K konvergiert. Wir zeigen, dass die Teilfolge (x∗nk

)von (x∗n) ebenfalls gegen x0 konvergiert. Es gilt

d(x0, x∗nk

) ≤ d(x0, xnk)︸ ︷︷ ︸

→0

+ d(xnk, x∗nk

)︸ ︷︷ ︸

< 1nk

.

Daher gilt x∗nk−→ x0 ∈ K. Da f stetig, also auch folgenstetig ist, konvergieren

dann die Bildfolgen f(xnk) und f(x∗nk

) fur k gegen +∞ gegen f(x0). Somitist

0 < ε0 ≤ d(f(xnk), f(x∗nk

)) ≤ d(f(xnk), f(x0))︸ ︷︷ ︸

→0

+ d(f(x0), f(x∗nk))

︸ ︷︷ ︸→0

.

Dies ist aber ein Widerspruch. ⊓⊔

Wir wenden uns jetzt der folgenden Frage zu:Sei f : X −→ Y eine bijektive stetige Abbildung zwischen metrischen Raumen.Dann existiert die Umkehrabbildung (inverse Abbildung) f−1 : Y −→ X . Istf−1 dann auch stetig? Im Allgemeinen gilt das nicht.

Beispiel: Sei X = (0, 1) ∪ 2 ⊂ R und Y = (0, 1] ⊂ R. Wir betrachten dieAbbildung f : X −→ Y gegeben durch

f(t) :=

t falls t ∈ (0, 1)1 falls t = 2.

f ist stetig und bijektiv, da f|(0,1)= id(0,1) und 2 ∈ X ein isolierter Punkt ist.

Aber f−1 : (0, 1] −→ (0, 1) ∪ 2 ist nicht stetig, da (0, 1] zusammenhangend,aber f−1((0, 1]) = (0, 1) ∪ 2 nicht zusammenhangend ist.

Page 148: Grundkurs Analysis

140 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

Definition 4.6. Seien X und Y metrische Raume.Eine Abbildung f : X −→ Y heißt Homoomorphismus, wenn f bijektiv istund f und f−1 stetig sind.Die metrischen Raume X und Y heißen homoomorph, falls es einen Homoo-morphismus f : X −→ Y gibt.Bezeichnung: X ≃ Y .

Da die Verknupfung stetiger Abbildungen stetig ist, folgt aus X ≃ Y undY ≃ Z, dass X ≃ Z gilt. Die Homoomorphie ist also eine Aquivalenzrelationauf der Menge der metrischen Raume.

Beispiel : Der Rn ist homoomorph zur Kugel K(x0, r) um einen Punkt x0 ∈Rn vom Radius r. Die folgende Abbildung ist ein Homoomorphismus:

f : K(x0, r) −→ Rn

x 7−→ x−x0

r−‖x−x0‖2

Dabei bezeichnet ‖ · ‖2 die Euklidische Norm auf Rn. (Ubungsaufgabe 68).

Alle topologischen Eigenschaften von Teilmengen bleiben bei Homoomorphis-men erhalten:

Satz 4.22 Sei f : X −→ Y ein Homoomorphismus zwischen metrischenRaumen. Dann gilt:

1. A ⊂ X ist offen (abgeschlossen, kompakt, zusammenhangend bzw. bogen-zusammenhangend) genau dann wenn f(A) ⊂ Y offen (abgeschlossen,kompakt, zusammenhangend bzw. bogenzusammenhangend) ist.

2. Eine Folge (xn) konvergiert in X gegen x0 genau dann, wenn die Bildfolge(f(xn)) in Y gegen f(x0) konvergiert.

Beweis. Dies folgt aus den vorherigen Satzen uber das Verhalten von offe-nen, abgeschlossenen, kompakten, zusammenhangenden bzw. bogenzusam-menhangenden Mengen bei stetigen Abbildungen und aus der Aquivalenz vonStetigkeit und Folgenstetigkeit. ⊓⊔

Will man nachweisen, dass eine bijektive stetige Abbildung ein Homoomor-phismus ist, so muß man die Stetigkeit der inversen Abbildung nachweisen.Ist der Urbildraum kompakt, so kann man sich diesen Nachweis sparen, dennes gilt der folgende Satz:

Satz 4.23 (Satz uber die Stetigkeit der inversen Abbildung)Sei f : X −→ Y eine bijektive stetige Abbildung und X ein kompakter metri-scher Raum. Dann ist die inverse Abbildung f−1 : Y −→ X stetig.

Page 149: Grundkurs Analysis

4.3 Eigenschaften stetiger Abbildungen 141

Beweis. Sei U ⊂ X offen. Wir zeigen, dass (f−1)−1(U) = f(U) ⊂ Y offenist. Da U ⊂ X offen ist, ist X\U ⊂ X abgeschlossen. Wir wissen aus Folge-rung 2.4, dass jede abgeschlossene Teilmenge einer kompakten Menge selbstkompakt ist. Nach Vorrausetzung ist X kompakt, folglich ist X \U kompakt.Wegen der Stetigkeit von f ist dann nach Satz 4.19 auch das Bild f(X \U) inY kompakt und insbesondere abgeschlossen (Folgerung 2.4). Nun ist f bijek-tiv und folglich f(X\U) = Y \f(U). Also ist die Teilmenge f(U) ⊂ Y offen.Nach Satz 4.15 ist die Abbildung f−1 deshalb stetig. ⊓⊔

Definition 4.7. Sei X ein metrischer Raum. Eine Abbildung f : X −→ Xheißt kontrahierende Abbildung (oder Kontraktion), wenn sie lipschitzstetigmit einer Lipschitzkonstanten 0 < L < 1 ist, das heißt wenn

d(f(x), f(y)) ≤ L · d(x, y) fur alle x, y ∈ X.

Fur kontrahierende Abbildungen in vollstandigen metrischen Raumen gilt derfolgende sehr nutzliche Fixpunktsatz.

Satz 4.24 (Banach’scher Fixpunktsatz)Sei (X, d) ein vollstandiger metrischer Raum und f : X −→ X eine kontra-hierende Abbildung. Dann existiert genau ein Fixpunkt von f , d.h. genau einPunkt x∗ ∈ X mit f(x∗) = x∗.Sei x0 ∈ X ein beliebiger Punkt und xn := f . . . f︸ ︷︷ ︸

n−mal

(x0) =: fn(x0). Dann

konvergiert die Folge (xn) gegen x∗.

Beweis. (1) Eindeutigkeit des Fixpunktes: Angenommen es existieren zweiFixpunkte x∗ und y∗ von f , dh. es gelte f(x∗) = x∗ und f(y∗) = y∗ . Ausder Kontraktivitat von f erhalt man

d(x∗, y∗) = d(f(x∗), f(y∗)) ≤ L · d(x∗, y∗).

Da aber 0 < L < 1 gilt, folgt d(x∗, y∗) = 0, also x∗ = y∗.

(2) Existenz des Fixpunktes: Sei x0 ∈ X ein beliebig gewahlter Punkt. Wirdefinieren eine Folge von Punkten in X durch

x1 := f(x0),

x2 := f(x1) = f2(x0),

...

xn := f(xn−1) = f2(xn−2) = . . . = fn(x0).

Dann gilt

Page 150: Grundkurs Analysis

142 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

d(xn+1, xn) = d(f(xn), f(xn−1))

≤ L · d(xn, xn−1) = L · d(f(xn−1), f(xn−2))

≤ L2 · d(xn−1, xn−2) = L2 · d(f(xn−2), f(xn−3))

...

≤ Ln · d(x1, x0).

Fur n > m folgt mit der Dreiecksungleichung und der Formel fur die geome-trische Summe

d(xn, xm) ≤ d(xn, xn−1) + d(xn−1, xn−2) + . . .+ d(xm+1, xm)

≤ (Ln−1 + . . .+ Lm) · d(x0, x1)

= Lm (L0 + L1 + . . .+ Ln−1−m) · d(x0, x1)

= Lm · 1 − Ln−m

1 − L· d(x0, x1)

=Lm − Ln

1 − L· d(x0, x1)

<Lm

1 − L· d(x0, x1).

Da 0 < L < 1, ist (Lm) eine Nullfolge. Somit ist (xn) eine Cauchyfolge inX . Da der metrische Raum X vollstandig ist, konvergiert diese Cauchyfolgegegen einen Punkt x∗ ∈ X .Wir zeigen nun, dass dieser Grenzwert x∗ der gesuchte Fixpunkt von f ist.Dazu betrachten wir

d(f(x∗), x∗) ≤ d(f(x∗), xn) + d(xn, x∗)

= d(f(x∗), f(xn−1)) + d(xn, x∗)

≤ Ld(x∗, xn−1)︸ ︷︷ ︸→0

+ d(xn, x∗)︸ ︷︷ ︸

→0

.

Daraus folgt d(f(x∗), x∗) = 0, also f(x∗) = x∗. ⊓⊔

4.4 Folgen stetiger Abbildungen

In diesem Abschnitt bezeichnen X und Y wiederum metrische Raume mit denMetriken dX bzw. dY . Wir betrachten jetzt Folgen von stetigen Abbildungenfn : X −→ Y , n = 1, 2, 3, . . ., und untersuchen, unter welchen Bedingungenderen Grenzfunktion ebenfalls stetig ist.

Page 151: Grundkurs Analysis

4.4 Folgen stetiger Abbildungen 143

Definition 4.8. Die Folge der Abbildungen (fn) heißt punktweise konvergent,falls fur jedes x ∈ X die Folge (fn(x)) in Y konvergiert. Die durch

f(x) := limn→∞

fn(x)

definierte Funktion f : X −→ Y heißt Grenzfunktion von (fn).Schreibweise: fn −→ f .

Im allgemeinen ist die Grenzfunktion einer punktweise konvergenten Folge ste-tiger Abbildungen nicht notwendiger Weise stetig. Wir betrachten dazu dasfolgende Beispiel:

Seien X = [0, 1], Y = R undfn : [0, 1] −→ R die stetigen Funktionenfn(x) := xn. Dann ist die Grenzfunktion

f(x) := limn→∞

fn(x) =

0 falls 0 ≤ x < 11 falls x = 1

offensichtlich nicht stetig.

6

-

R

R

1

1).

..........................................................

............................

............................

............................

............................

...............................

.................................

...................................

.....................................

. ............................ .....................................................

.........................

........................

.......................

........................

..........................

............................

..............................

................................

..................................

. .............................. .......................................................

.................................................

.......................

.....................

.......................

........................

..........................

............................

.............................

...............................f2f3f4

f1

Wir benotigen fur die Stetigkeit der Grenzfunktion f eine starkere Konver-genzeigenschaft der Folge (fn).

Definition 4.9. Die Folge der Abbildungen (fn) konvergiert gleichmaßig ge-gen eine Grenzfunktion f : X −→ Y , falls zu jedem ε > 0 ein n0 ∈ N existiert,so dass dY (fn(x), f(x)) < ε fur alle n ≥ n0 und fur alle x ∈ X.Schreibweise: fn f .

Bei gleichmaßiger Konvergenz, konvergiert die Folge (fn(x)) fur jeden Punktx ∈ X mit der “gleichen Geschwindigkeit“ gegen f(x).Aus gleichmaßiger Konvergenz folgt offensichtlich die Konvergenz der Folge(fn).

Satz 4.25 Seien fn : X −→ Y stetige Abbildungen, n = 1, 2, 3, . . . , und dieFolge (fn) gleichmaßig gegen f : X −→ Y konvergent. Dann ist die Grenz-funktion f stetig.

Beweis. Sei x0 ∈ X beliebig fixiert. Wir zeigen, dass f in x0 stetig ist. Seiε > 0. Da (fn) gleichmaßig gegen f konvergiert, existiert ein n0 ∈ N mit

dY (fn(x), f(x)) <ε

3∀ n ≥ n0 , ∀ x ∈ X.

Page 152: Grundkurs Analysis

144 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

Die Abbildung fn0 ist in x0 stetig, folglich gibt es ein δ > 0, so dass

fn0(KX(x0, δ)) ⊂ KY (fn0(x0),ε

3).

Fur x ∈ KX(x0, δ) erhalten wir damit

dY (f(x), f(x0)) ≤ dY (f(x), fn0(x)) + dY (fn0(x), fn0(x0)) + dY (fn0(x0), f(x0))

≤ ε

3+ε

3+ε

3= ε.

Somit istf(KX(x0, δ)) ⊂ KY (f(x0), ε),

also f in x0 ∈ X stetig. ⊓⊔

Satz 4.26 (Vertauschbarkeit von Grenzwerten)Seien fn : X −→ Y , n = 1, 2, 3, . . ., stetige Abbildungen und sei die Folge (fn)gleichmaßig konvergent. Dann gilt in jedem Haufungspunkt x0 ∈ X

limx→x0

( limn→∞

fn(x)) = limn→∞

( limx→x0

fn(x)).

Beweis. Sei f die Grenzfunktion der Folge (fn), d.h. f(x) = limn→∞

fn(x). Nach

Satz 4.25 ist f in x0 stetig. Folglich existiert der Grenzwert

f(x0) = limx→x0

f(x) = limx→x0

limn→∞

fn(x).

Da die Abbildungen fn in x0 stetig sind, gilt andererseits

f(x0) = limn→∞

fn(x0) = limn→∞

limx→x0

fn(x).

⊓⊔

Fur spezielle Funktionenfolgen impliziert die punktweise Konvergenz bereitsdie gleichmaßige Konvergenz. Wir wollen jetzt einen solchen Fall betrachten.

Definition 4.10. Eine Folge von Funktionen fn : X → R, n = 1, 2, . . ., heißt

• monoton wachsend, falls fn(x) ≤ fn+1(x) ∀ x ∈ X , ∀ n ∈ N und• monoton fallend, falls fn(x) ≥ fn+1(x) ∀ x ∈ X , ∀ n ∈ N.

Satz 4.27 (Satz von Dini)Sei fn : X −→ R, n = 1, 2, 3, . . ., eine monotone Folge stetiger Funktionen,die punktweise gegen eine stetige Grenzfunktion f : X −→ Y konvergiert, undsei X kompakt. Dann konvergiert (fn) sogar gleichmaßig gegen f .

Page 153: Grundkurs Analysis

4.5 Funktionenreihen 145

Beweis. Wir nehmen OBdA an, dass die Funktionenfolge (fn) monoton wach-send ist. Dann gilt f(x) ≥ fn(x) fur alle x ∈ X und alle n ∈ N. Sei ε > 0.Da (fn) gegen f konvergiert, existiert zu jedem Punkt x ∈ X ein Indexn0(x, ε) ∈ N so dass

0 ≤ f(x) − fn(x) < ε fur alle n ≥ n0(x, ε).

Da fn und f stetig sind, ist die Abbildung F := f − fn0(x,ε) : X −→ R inx ∈ X stetig. Folglich gibt es ein δx > 0 mit

0 ≤ F (y) = f(y) − fn0(x,ε)(y) < ε ∀ y ∈ KX(x, δx).

Aus der Monotonie der Funktionenfolge (fn) folgt dann

0 < f(y) − fn(y) < ε ∀ n ≥ n0(x, ε) , ∀ y ∈ KX(x, δx).

Wir betrachten nun die folgende offene Uberdeckung von X

U := KX(x, δx) | x ∈ X.

Da X kompakt ist, gibt es eine endliche Teiluberdeckung, d.h. es existierenendlich viele Punkte x1, x2, . . . , xp ∈ X mit

X = KX(x1, δ1) ∪KX(x2, δ2) ∪ . . . ∪KX(xp, δp).

Wir setzen m0 := maxn0(xj , ε) | j = 1, 2, . . . , p. Sei nun z ∈ X . Dann istz ∈ KX(xj , δxj

) fur ein j ∈ 1, 2, . . . , p und folglich

0 < f(z) − fn(z) < ε ∀ n ≥ m0.

Dies bedeutet, dass die Funktionenfolge (fn) gleichmaßig gegen f konvergiert.⊓⊔

4.5 Funktionenreihen

In diesem Abschnitt wenden wir die im vorigen Abschnitt uber Funktionen-folgen erhaltenen Resultate auf Funktionenreihen an. Insbesondere wollen wirweitere Aussagen uber Potenzreihen machen.

Im folgenden bezeichnet (X, d) einen beliebigen metrischen Raum und (E, ‖·‖)einen Banachraum. Da E ein Vektorraum ist, konnen wir zwei Abbildungenh, f : X −→ E addieren. Die Abbildung f + h : X −→ E ist gegeben durch

(f + h)(x) := f(x) + h(x) ∀ x ∈ X.

Seien fn : X −→ E Abbildungen von X nach E, n = 0, 1, 2, . . .. Wir bildenaus der Folge (fn) eine neue Funktionenfolge durch

Page 154: Grundkurs Analysis

146 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

s0 := f0

s1 := f0 + f1

s2 := f0 + f1 + f2...

sm := f0 + f1 + f2 + · · · + fm

Definition 4.11. Die Folge(sm :=

m∑n=0

fn

)heißt Funktionenreihe mit den

Gliedern fn. Wir bezeichnen sie symbolisch mit∞∑n=0

fn .

Die Funktionenreihe∞∑n=0

fn heißt punktweise konvergent, falls die Funktionen-

folge (sm) punktweise konvergiert.

Die Funktionenreihe∞∑n=0

fn heißt gleichmaßig konvergent, falls die Funktio-

nenfolge (sm) gleichmaßig konvergiert.

Aus den Satzen 4.25 und 4.26 erhalt man dann sofort

Satz 4.28 Sind fn : X −→ E stetige Abbildungen, n = 0, 1, 2, . . ., und kon-

vergiert die Funktionenreihe∞∑n=0

fn gleichmaßig, so ist die durch

f(x) :=

∞∑

n=0

fn(x) ∀ x ∈ X

definierte Grenzfunktion f : X −→ E stetig. Insbesondere gilt fur jedenHaufungspunkt x0 ∈ X

limx→x0

∞∑

n=0

fn(x) =∞∑

n=0

limx→x0

fn(x).

⊓⊔

Als nachstes beweisen wir ein Kriterium fur die gleichmaßige Konvergenz vonFunktionenreihen.

Page 155: Grundkurs Analysis

4.5 Funktionenreihen 147

Satz 4.29 (Weierstraßsches Majorantenkriterium)Seien fn : X −→ E beschrankte Abbildungen, n = 0, 1, 2, . . ., d.h. sei

‖fn(x)‖ ≤Mn ∀ n ∈ N0 und ∀ x ∈ X ,

und sei die Reihe der Schranken∞∑n=0

Mn in R konvergent. Dann ist die Funk-

tionenreihe∞∑n=0

fn gleichmaßig konvergent und die durch f(x) :=∞∑n=0

fn(x)

definierte Grenzfunktion f : X −→ E stetig.

Beweis. Sei ε > 0. Da die Reihe∞∑n=0

Mn konvergiert, gibt es nach dem

Cauchy–Kriterium (Satz 3.1) ein n0 ∈ N0, so dass

Mm+1 +Mm+2 + · · · +Mn < ε fur alle n > m ≥ n0.

Nach Voraussetzung gilt fur alle x ∈ X

‖sn(x) − sm(x)‖ = ‖fn(x) + . . .+ fm+1(x)‖≤ ‖fn(x)‖ + . . . ‖fm+1(x)‖≤ Mn + . . .+Mm+1.

Wir erhalten daraus fur jedes x ∈ X

‖sn(x) − sm(x)‖ < ε ∀ n > m ≥ n0 . (∗)Also ist die Folge (sn(x)) fur jedes x ∈ X eine Cauchy–Folge im BanachraumE. Da E vollstandig ist, konvergiert die Folge (sn(x)). Sei s(x) := lim

n→∞sn(x) .

Die Funktionenreihe∞∑n=0

fn konvergiert somit punktweise gegen die Grenz-

funktion s : X −→ E. Gehen wir in (∗) mit n gegen ∞, so folgt wegen derStetigkeit der Norm

limn→∞

‖sn(x) − sm(x)‖ = ‖s(x) − sm(x)‖ < ε ∀x ∈ X ∀ m > n0

Somit konvergiert die Funktionenreihe∞∑n=0

fn sogar gleichmaßig gegen s. Die

Stetigkeit der Grenzfunktion folgt aus dem vorigen Satz. ⊓⊔

Wir wenden diese Satze nun auf komplexe Potenzreihen an.Sei (an) eine Folge komplexer Zahlen, z0 ∈ C und

P (z) :=

∞∑

n=0

an(z − z0)n, z ∈ C,

die Potenzreihe mit den Koeffizienten an und dem Zentrum z0.R := sup|z − z0| | P (z) konvergiert bezeichne den Konvergenzradius derPotenzreihe P . Aus Kapitel 3.2 wissen wir bereits, dass

Page 156: Grundkurs Analysis

148 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

1. R =

1

lim supn→∞n√

|an|1

limn→∞

|an+1an

|

falls diese Werte in [0,+∞) ∪ +∞ existieren (siehe Satze 3.16und 3.17).

2. P (z) konvergiert absolut fur alle z ∈ K(z0, R).

3. P (z) divergiert fur z ∈ C \ cl(K(z0, R)).

Wir beweisen nun, dass die durch die Potenzreihe P auf dem Konvergenzkreisdefinierte Funktion stetig ist.

Satz 4.30 Sei P (z) :=∞∑n=0

an(z − z0)n eine Potenzreihe mit dem Konver-

genzradius R. Dann gilt

1. P (z) =∞∑n=0

an(z − z0)n konvergiert gleichmaßig auf jeder kompakten

Teilmenge K ⊂ K(z0, R).

2. Die Abbildung P : z ∈ K(z0, R) 7−→ P (z) ∈ C ist stetig.

Beweis. (1) Sei K ⊂ K(z0, R) kompakt. Dann ist K abgeschlossen. Folglichist

η(K) := sup|z − z0| | z ∈ K < R.

Wir betrachten ein z1 ∈ K(z0, R) mit η(K) < |z1 − z0| < R. Da die Reihe

P (z1) =∞∑n=0

an(z1 − z0)n konvergiert, sind ihre Reihenglieder eine Nullfolge,

also insbesondere beschrankt. Somit existiert eine Zahl M > 0 , so dass|an(z1 − z0)

n| < M fur alle n ∈ N0. Wir erhalten daraus

|an(z − z0)n| =

∣∣∣∣an(z1 − z0)n · (z − z0)

n

(z1 − z0)n

∣∣∣∣ ≤M ·(

η(K)

|z1 − z0|

)n

︸ ︷︷ ︸=:Mn

∀ z ∈ K.

Nach Wahl von z1 ist η(K)|z1−z0| < 1 . Folglich ist die geometrische Reihe

∞∑n=0

Mn

konvergent. Nach Satz 4.29 konvergiert dann P (z) gleichmaßig auf K.

(2) Sei z ∈ K(z0, R) gegeben. Wir wahlen ein ε(z) > 0, so dass

cl(K(z, ε(z))) ⊂ K(z0, R).

Da die Menge cl(K(z, ε(z))) sowohl abgeschlossen als auch beschrankt ist, istsie kompakt. Folglich konvergiert die Funktionenreihe P (z) auf cl(K(z, ε(z)))gleichmaßig und die Grenzfunktion P|cl(K(z,ε(z))) : cl(K(z, ε(z)) −→ C ist

Page 157: Grundkurs Analysis

4.5 Funktionenreihen 149

stetig. Da dies fur alle z ∈ K(z0, R) gilt, ist P auf dem gesamten Konvergenz-kreis K(z0, R) stetig. ⊓⊔

Wir betrachten nun eine spezielle Sorte von Potenzreihen P (z). Es sei

P (z) =

∞∑

n=0

an(z − x0)n

eine Potenzreihe mit reellem Zentrum x0 und endlichem Konvergenzradius0 < R < +∞. Dann definiert P eine stetige Funktion

P : (x0 −R, x0 +R) −→ C .x 7−→ P (x)

In den Randpunkten des Definitionsintervalls gilt der

Satz 4.31 (Abelscher Grenzwertsatz)

Sei P (z) =∞∑n=0

an(z−x0)n eine Potenzreihe mit reellem Zentrum x0 ∈ R und

Konvergenzradius 0 < R <∞.

1. Ist P (x0 +R) konvergent, so ist P|(x0−R,x0+R]in x0 +R linksseitig stetig,

d.h. es gilt limx→(x0+R)−

P (x) = P (x0 +R) =∞∑n=0

anRn.

2. Ist P (x0 −R) konvergent, so ist P|[x0−R,x0+R)in x0 −R rechtsseitig stetig,

d.h. es gilt limx→(x0−R)+

P (x) = P (x0 −R) =∞∑n=0

(−1)nanRn.

Beweis. Wir beweisen die erste Behauptung. Der Beweis der zweiten Behaup-tung erfolgt analog. Nach Voraussetzung konvergiert die Folge der Partialsum-

men sm =m∑n=0

anRn gegen s = P (x0 +R). Wir mussen zeigen, dass fur jedes

ε > 0 ein δ > 0 existiert, so dass |P (x)− s| < ε fur alle x ∈ (x0 −R, x0 +R)mit x0 +R − x < δ .Wir setzen y := x− x0. Aus den Eigenschaften der geometrischen Reihe unddem Cauchy–Produkt von Reihen folgt fur alle y mit |y| < R

Page 158: Grundkurs Analysis

150 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

P (y + x0) =∞∑

n=0

anyn

=(1 − y

R

)(1 − y

R

)−1

·∞∑

n=0

anyn

=(1 − y

R

∞∑

n=0

( yR

)n

︸ ︷︷ ︸abs. konv.

·∞∑

n=0

anyn

︸ ︷︷ ︸abs. konv.

=(1 − y

R

) ∞∑

m=0

m∑

k=0

( yR

)kam−ky

m−k

=(1 − y

R

) ∞∑

m=0

(( yR

)m· sm

).

Außerdem gilt

s =(1 − y

R

)(1 − y

R

)−1

· s =(1 − y

R

) ∞∑

m=0

s ·( yR

)m.

Folglich ist fur |y| < R

P (y + x0) − s =(1 − y

R

) ∞∑

m=0

(sm − s)( yR

)m.

Sei nun ε > 0 gegeben. Da sm gegen s konvergiert, existiert ein n0 ∈ N mit

|sm − s| < ε

2∀ m ≥ n0.

Wir setzen M :=n0−1∑m=0

|sm − s| und δ := minR, ε·R2M . Fur |y| < R mit

R− y < δ gilt

0 < 1 − y

R<

δ

R.

Daraus folgt

|P (y + x0) − s| ≤(1 − y

R

)·(n0−1∑

m=0

|sm − s| ·( yR

)m+

∞∑

m=n0

|sm − s| ·( yR

)m)

R·n0−1∑

m=0

|sm − s| +(1 − y

R

)· ε2

∞∑

m=n0

( yR

)m

︸ ︷︷ ︸abs. konv.

≤ δ

R·M +

ε

2

≤ ε

2+ε

2= ε.

Page 159: Grundkurs Analysis

4.5 Funktionenreihen 151

Somit ist die Funktion P im Punkt x0 +R linksseitig stetig. ⊓⊔

Als Anwendung der Stetigkeit der Grenzfunktion von Potenzreihen beweisenwir abschließend den folgenden Identitatssatz.

Satz 4.32 (Identitatssatz fur Potenzreihen)

Seien P (z) =∞∑n=0

an(z− z0)n und Q(z) =

∞∑n=0

bn(z− z0)n zwei Potenzreihen

mit dem Zentrum z0 ∈ C und den Konvergenzradien RP > 0 bzw. RQ > 0.Es bezeichne R = minRP , RQ.Existiert eine Folge komplexer Zahlen z∗m ∈ K(z0, R)\z0, m ∈ N , mit

1. P (z∗m) = Q(z∗m) fur alle m ∈ N und

2. limm→∞

z∗m = z0,

so gilt an = bn fur alle n ∈ N0, das heißt die Potenzreihen P und Q sindidentisch. Insbesondere sind P und Q identisch, wenn sie auf einer (beliebigkleinen) offenen Umgebung des Zentrums z0 ubereinstimmen.

Beweis. Sei (z∗m) eine Folge in K(z0, R) \ z0 , die gegen z0 konvergiert undfur die P (z∗m) = Q(z∗m) gilt. Wir beweisen an = bn durch Induktion uber denIndex n.Ind.–Anfang: Es ist zu zeigen, dass a0 = b0 gilt. Da z∗m gegen z0 konvergiertund P und Q auf K(z0, R) stetig sind, folgt

a0 = P (z0) = limm→∞

P (z∗m) = limm→∞

Q(z∗m) = Q(z0) = b0.

Ind.–Schritt : Es gelte a0 = b0, a1 = b1, . . . , an = bn. Es ist zu zeigen, dassan+1 = bn+1 gilt. Dazu betrachten wir die Potenzreihen

P1(z) =

∞∑

k=n+1

ak(z − z0)k−(n+1),

Q1(z) =

∞∑

k=n+1

bk(z − z0)k−(n+1).

Die Potenzreihen P1 und Q1 konvergieren auf K(z0, R), denn fur z 6= z0 gilt

P1(z) =

P (z) −n∑k=0

ak(z − z0)k

(z − z0)n+1,

Q1(z) =

Q(z) −n∑k=0

bk(z − z0)k

(z − z0)n+1.

Page 160: Grundkurs Analysis

152 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

Nach Induktionsvoraussetzung gilt Q1(z∗m) = P1(z

∗m) fur alle m ∈ N . Da Q1

und P1 auf K(z0, R) stetig sind, folgt

an+1 = P1(z0) = limm→∞

P1(z∗m) = lim

m→∞Q1(z

∗m) = Q1(z0) = bn+1.

⊓⊔

4.6 Die trigonometrischen und die Hyperbelfunktionen

Wir betrachten zunachst nochmal die Exponentialfunktion. Wie wir wissen,

konvergiert die Potenzreihe ez =∞∑n=0

zn

n! fur jedes z ∈ C und erfullt

ez+w = ez · ew. (∗)

Die Konvergenz der Exponentialreihe ist gleichmaßig auf jedem kompaktenBereich in C. Folglich ist die Exponentialfunktion exp : z ∈ C 7−→ ez ∈ C

stetig und man kann limz→z0

mit∞∑n=0

vertauschen. Wir erhalten insbesondere

limz→0

ez − 1

z= lim

z→0

∞∑

n=1

zn−1

n!=

∞∑

n=1

limz→0

zn−1

n!= 1. (∗∗)

Wir werden nun sehen, dass die Exponentialfunktion exp : C → C die einzigeFunktion mit den Eigenschaften (∗) und (∗∗) ist. Wir beweisen dazu zunachstfolgendes Lemma

Lemma 4.12. Sei (zn) eine Folge komplexer Zahlen mit limn→∞

zn = z. Dann

gilt

limn→∞

(1 +

znn

)n= ez.

Beweis. Aus Beispiel 3 in Abschnitt 4.1. wissen wir, dass limx→0

(1 + x)1x = e .

Da zn → z gilt zn

n→ 0. Daraus folgt

limn→∞

(1 +

znn

)n= lim

n→∞

[(1 +

znn

) nzn

]zn

=

[limn→∞

(1 +

znn

) nzn

] limn→∞

zn

= ez.

⊓⊔

Daraus erhalten wir die folgende funktionale Charakterisierung der Exponen-tialfunktion.

Page 161: Grundkurs Analysis

4.6 Die trigonometrischen und die Hyperbelfunktionen 153

Satz 4.33 Sei f : C −→ C eine Funktion, die die folgenden Eigenschaftenerfullt:

1. f(z + w) = f(z) · f(w) fur alle z, w ∈ C.

2. limz→0

f(z)−1z

= 1.

Dann gilt: f(z) = ez fur alle z ∈ C.

Beweis. Sei z ∈ C. Aus der 1. Eigenschaft von f folgt fur alle n ∈ N:

f(z) = f(n · z

n

)= f

( zn

)n.

Wir betrachten die Folge

zn := n ·(f(z

n) − 1

)

Dann gilt

f(z) = f( zn

)n=(1 +

znn

)n.

Aus der 2. Eigenschaft von f folgt

limn→∞

znz

= limn→∞

f( zn) − 1zn

= 1,

also limn→∞

zn = z. Aus Lemma 4.12 folgt

f(z) = limn→∞

(1 +

znn

)n= ez.

⊓⊔

Mit Hilfe der Exponentialfunktion definieren wir jetzt die trigonometrischenFunktionen. Wir betrachten zunachst die Exponentialfunktion auf der ima-ginaren Achse. Fur eit mit t ∈ R gilt

|eit|2 = eit · eit = eit · e−it = e0 = 1.

Die komplexe Zahl eit liegt also auf der Kreislinie S1 := z ∈ C | |z| = 1. DerRealteil von eit heißt der Cosinus der reellen Zahl t, der Imaginarteil heißtSinus von t. Also ist

cos(t) :=eit + e−it

2und sin(t) :=

eit − e−it

2i.

Dann erhalt man unmittelbar die sogenannte Eulersche Formel

eit = cos(t) + i sin(t)

und wegen |eit| = 1 istcos2(t) + sin2(t) = 1.

Page 162: Grundkurs Analysis

154 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

-

6

R

iR

eit

1

i

cos t

sin t

t

Wir erweitern die Definition von Sinus und Cosinus auf die komplexen Zahlenund definieren sin, cos : C −→ C durch

cos(z) :=eiz + e−iz

2sin(z) :=

eiz − e−iz

2i∀ z ∈ C.

Dann gilt

sin(z) = z − z3

3!+z5

5!− z7

7!+ . . . =

∞∑

n=0

(−1)nz2n+1

(2n+ 1)!,

cos(z) = 1 − z2

2!+z4

4!− z6

6!. . . =

∞∑

n=0

(−1)nz2n

(2n)!.

Diese Potenzreihen haben Konvergenzradius∞, sind also absolut und gleichmaßigkonvergent auf jeder kompakten Teilmenge von C.

Eigenschaften der trigonometrischen Funktionen sin, cos:

1. sin : C −→ C und cos : C −→ C sind stetige Funktionen.

2. sin2(z) + cos2(z) = 1 ∀ z ∈ C :

sin2(z) + cos2(z) = −1

4(e2iz + e−2iz − 2) +

1

4(e2iz + e−2iz + 2) = 1.

3. eiz = cos(z) + i · sin(z) ∀ z ∈ C (Eulersche Formel):

cos(z) + i · sin(z) =1

2(eiz + e−iz) +

1

2(eiz − e−iz) = eiz.

4. Additionstheoreme: Fur alle z1, z2 ∈ C gilt

sin(z1 + z2) = sin(z1) cos(z2) + sin(z2) cos(z1)

cos(z1 + z2) = cos(z1) cos(z2) − sin(z1) sin(z2).

Page 163: Grundkurs Analysis

4.6 Die trigonometrischen und die Hyperbelfunktionen 155

5. Die Funktion sin ist ungerade, die Funktion cos ist gerade, d.h. es gelten

sin(−z) = − sin(z)

cos(−z) = + cos(z) ∀ z ∈ C

6. Fur reelle Zahlen x ∈ R sind auch sin(x) und cos(x) reell und es gilt

| sin(x)| ≤ 1 | cos(x)| ≤ 1.

Warnung: Fur komplexe Zahlen z ∈ C gilt das im allgemeinen nicht mehr.Z.B. ist

limt→∞

| sin(it)| = limt→∞

1

2|e−t − et| = +∞.

Zur Definition der Zahl π:

Fur die stetige Funktion cos|R : R −→ R gilt cos(0) = 1 und cos(2) < − 13 ,

denn

cos(2) =

∞∑

n=0

(−1)n22n

(2n)!

= 1 − 2 +2

3+

∞∑

n=3

(−1)n22n

(2n)!

= −1

3−

∞∑

r=2

(24r−2

(4r − 2)!− 24r

(4r)!

)

= −1

3−

∞∑

r=2

24r−2

(4r − 2)!·(

1 − 4

4r(4r − 1)

)

︸ ︷︷ ︸>0

< −1

3.

Andererseits gilt fur sin|R : R −→ R, dass sin(x) > 0 auf x ∈ (0, 2), denn

sin(x) =

∞∑

n=0

(−1)nx2n+1

(2n+ 1)!

=

∞∑

r=1

(x4r−3

(4r − 3)!− x4r−1

(4r − 1)!

)

=

∞∑

r=1

x4r−3

(4r − 3)!·(

1 − x2

(4r − 1)(4r − 2)

)

︸ ︷︷ ︸>0

> 0 ∀ x ∈ (0, 2).

Page 164: Grundkurs Analysis

156 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

Satz 4.34 Die Funktion cos|R hat auf dem Intervall (0, 2) genau eine Null-stelle.

Beweis. Da cos(0) = 1 > 0, cos(2) < − 13 < 0 und cos|R : R −→ R stetig ist,

folgt aus dem Zwischenwertsatz, dass ein ξ ∈ (0, 2) mit cos(ξ) = 0 existiert.Es bleibt die Eindeutigkeit von ξ zu zeigen. Seien also ξ1, ξ2 ∈ (0, 2), ξ1 < ξ2mit cos(ξ1) = cos(ξ2) = 0. Dann gilt ξ2±ξ1

2 ∈ (0, 2) und aus den Additions-theoremen folgt

cos(ξ1) − cos(ξ2) = 2 sin(ξ2 − ξ1

2) · sin(

ξ2 + ξ12

) > 0.

Dies steht aber im Widerspruch zu cos(ξ1) = cos(ξ2) = 0. ⊓⊔

Definition 4.13. Die Nullstelle von cos|R auf dem Intervall (0, 2) heißtπ

2.

Es gilt also cos(π2 ) = 0 und sin(π2 ) = 1 , woraus eiπ2 = i, eiπ = −1 und

e2πi = 1 folgt. Insbesondere folgt dann aus den Produkt-Eigenschaften derExponentialfunktion

ei(ρ+π2 ) = eiρ · ei π

2 = i eiρ ei(ρ+π) = eiρ · eiπ = −eiρ.

Die Eulersche Forml liefert dann die folgenden Beziehungen zwischen Sinusund Cosinus:

Folgerung 4.1 Fur alle ρ ∈ R gilt

sin(ρ+π

2) = + cos(ρ) sin(ρ+ π) = − sin(ρ) cos(ρ+ π) = − cos(ρ)

-

6

R

R

π2 π 3

2π 2π

1

−1

sinx

Page 165: Grundkurs Analysis

4.6 Die trigonometrischen und die Hyperbelfunktionen 157

-

6

R

R

π2 π 3

2π 2π

1

−1

cosx

Satz 4.35 1. Die Exponentialfunktion ez ist periodisch mit der Periode 2πi,das heißt es gilt

ez = ez+2πi ∀ z ∈ C.

2. Die Funktionen sin : R −→ R und cos : R −→ R sind periodisch mit derkleinsten Periode 2π, das heißt 2π ist die kleinste positive reelle Zahl Lmit

sin(x+ L) = sin(x), cos(x+ L) = cos(x) ∀ x ∈ R.

3. ez = 1 ⇐⇒ z = 2πki fur ein k ∈ Z.4. Zu jedem z ∈ S1 = z ∈ C | |z| = 1 existiert genau eine reelle Zahl

t ∈ [0, 2π) mitz = eit = cos(t) + i sin(t).

Beweis.(1) Nach der Eulerschen Formel gilt e2πi = cos(2π) + i sin(2π) = 1 . Darausfolgt e(z+2πi) = ez · e2πi = ez.(2) Nach (1) ist die Funktion x ∈ R 7−→ eix = cos(x) + i sin(x) ∈ C 2π-periodisch, folglich gilt dies auch fur ihren Realtteil cos(x) und ihren Ima-ginarteil sin(x). Da cos(ρ) > 0 fur alle ρ ∈ (−π

2 ,π2 ) und cos(ρ) < 0 fur alle

ρ ∈ (π2 ,3π2 ) (siehe Folgerung 4.1), gibt es keine kleinere Periode als 2π.

(3) (⇐=) Sei z = 2πki fur ein k ∈ Z. Dann gilt

ez = e2πik = (e2πi)k = 1k = 1.

(=⇒) Sei ez = 1 und z = x+ iy mit x, y ∈ R. Dann gilt

1 = ex+iy = ex · eiy = ex(cos(y) + i sin(y)) und somit

1 = ex| cos(y) + i sin(y)| = ex ·√

cos2(y) + sin2(y)︸ ︷︷ ︸

=1

.

Da die Exponentialfunktion exp|R : R −→ R+ bijektiv ist, folgt x = 0. Somiterhalten wir z = iy und aus 1 = cos(y) + i sin(y) folgt cos(y) = 1, sin(y) = 0.Damit ist y = 2πk, also z = 2πki.

Page 166: Grundkurs Analysis

158 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

(4) Sei z ∈ S1 = z ∈ C | |z| = 1. Wir wollen zeigen, dass es genau eint ∈ [0, 2π) gibt, mit z = eit = cos(t) + i sin(t). Sei z = x + iy, dann giltx2 +y2 = 1 sowie |x| ≤ 1. Wir beweisen nun durch Fallunterscheidung: (a) Seix = 1. Dann ist y = 0 und t = 0 eindeutige Losung von x = cos t, y = sin t.(b) Sei x = −1. Dann ist y = 0 und t = π eindeutige Losung von x =cos t, y = sin t.(c) Bleibt also noch der Fall x ∈ (−1, 1) zu betrachten. Sei x ∈ (−1, 1). Dannexistieren genau zwei Werte α, β mit

α ∈ (0, 2π), β ∈ (0, 2π), x = cosα = cosβ.

Dabei gilt sinα > 0 und sinβ < 0 und es folgt

|y| =√

1 − x2 =√

1 − cos2 α = | sinα| = | sinβ|.

Ist y > 0, so ist y = sinα und t = α die Losung. Ist y < 0, so ist y = sinβund t = β die Losung. ⊓⊔

Die trigonometrischen Funktionen Tangens und Cotangens

Wir definieren die Funktionen Tangens (tan) und Cotangens (cot) durch

tan : C\π

2+ kπ | k ∈ Z

−→ C

z 7−→ tan(z) :=sin(z)

cos(z)

cot : C\kπ | k ∈ Z

−→ C

z 7−→ cot(z) :=cos(z)

sin(z)

Aus den Eigenschaften der Funktionen Sinus und Cosinus erhalt man diefolgenden Eigenschaften der Tangens und Cotangens-Funktion:

1. tan und cot sind stetige Funktionen.2. tan und cot sind ungerade Funktionen, die π-periodisch sind, denn

sin(z + π) = − sin(z), cos(z + π) = − cos(z).

3. Es gelten folgende Additionstheoreme:

tan(z + w) =tan(z) + tan(w)

1 − tan(z) · tan(w), cot(z + w) =

cot(z) · cot(w) − 1

cot(z) + cot(w).

Page 167: Grundkurs Analysis

4.6 Die trigonometrischen und die Hyperbelfunktionen 159

Die Umkehrfunktionen der trigonometrischen Funktionen

Da die trigonometrischen Funktionen auf R betrachtet periodisch sind, existie-ren keine globalen Umkehrfunktionen. Es existieren aber Umkehrfunktionenauf jedem Monotoniebereich der trigonometrischen Funktionen. Nach Satz 4.9sind diese Umkehrfunktionen ebenfalls stetig.

Definition 4.14. Die Umkehrfunktion von sin|[− π2

, π2

]heißt Arcussinus und

wird mit arcsin bezeichnet.

arcsin : [−1, 1] −→ [− π2 ,

π2 ] ist bijektiv, stetig und streng monoton wachsend.

Die Umkehrfunktion von sin|[ 2k−1

2π,

2k+12

π], k ∈ Z , ist nach den Additionstheo-

remenfk(x) = (−1)k · arcsinx+ k · π.

Diese fk(x) werden auch Zweige der Umkehrfunktion von Sinus genannt.

Definition 4.15. Die Umkehrfunktion von cos|[0,π]heißt Arcuscosinus und

wird mit arccos bezeichnet.

arccos : [ − 1, 1] −→ [0, π] ist bijektiv, stetig und streng monoton fallend.Die Umkehrfunktion von cos|[kπ,(k+1)π]

, k ∈ Z, ist nach den Additionstheore-men

gk(x) = (−1)k · arccosx+2k + 1 − (−1)k

2· π.

Definition 4.16. Die Umkehrfunktion von tan|[− π2

, π2

]heißt Arcustangens und

wird mit arctan bezeichnet.

arctan : R −→ [ − π2 ,

π2 ] ist bijektiv, stetig und streng monoton wachsend.

Die Umkehrfunktion von tan|[ 2k−1

2π,

2k+12

π], k ∈ Z, ist nach den Additionstheo-

remenhk(x) = arctanx+ k · π.

Definition 4.17. Die Umkehrfunktion von cot|[0,π]heißt Arcuscotangens und

wird mit arccot bezeichnet.

arccot : R −→ [0, π] ist bijektiv, stetig und streng monoton fallend.Die Umkehrfunktion von cot|[kπ,(k+1)π]

, k ∈ Z, ist nach den Additionstheore-men

Page 168: Grundkurs Analysis

160 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

ik(x) = arccot x+ k · π.

Die Hyperbelfunktionen

Unter den Hyperbelfunktionen Sinus hyperbolicus sinh : C −→ C und Co-sinus hyperbolicus cosh : C −→ C versteht man die folgenden komplexenFunktionen:

sinh(z) =ez − e−z

2

cosh(z) =ez + e−z

2.

Aus der Reihendarstellung fur ez folgt

sinh(z) =

∞∑

n=0

z2n+1

(2n+ 1)!= z +

z3

3!+z5

5!+ . . .

cosh(z) =

∞∑

n=0

z2n

(2n)!= 1 +

z2

2!+z4

4!+ . . .

Eigenschaften der hyperbolischen Funktionen sinh, cosh

1. Die Funktionen sinh : C −→ C und cosh : C −→ C sind stetig.2. sinh(iz) = i sin(z) und cosh(iz) = cos(z) fur alle z ∈ C.3. cosh2(z) − sinh2(z) = 1 ∀ z ∈ C :

cosh2(z) − sinh2(z) = cos2(−iz) − (i · sin(−iz))2= cos2(−iz) + sin2(−iz)= 1.

4. Additionstheoreme:

cosh(z1 + z2) = cosh(z1) cosh(z2) + sinh(z1) sinh(z2)

sinh(z1 + z2) = sinh(z1) cosh(z2) + cosh(z1) sinh(z2).

5. cosh(z) = cosh(−z), sinh(z) = − sinh(−z).6. Die Funktion sinh|R : R −→ R ist bijektiv und hat nur die Nullstellex = 0. Die Funktion cosh|R : R −→ R nimmt ihre Werte in [1,+∞) anund ist bijektiv von [0,+∞) auf [1,+∞).

Page 169: Grundkurs Analysis

4.6 Die trigonometrischen und die Hyperbelfunktionen 161

Definition 4.18. Die Umkehrfunktion von sinh|R : R −→ R heißt Areasinushyperbolicus und wird mit arsinh bezeichnet.Die Umkehrfunktion von cosh|[0,+∞)

: [0,+∞) −→ [1,+∞) heißt Areacosinushyperbolicus und wird mit arcosh bezeichnet.

Die Umkehrfunktionen konnen durch den naturlichen Logarithmus ausge-druckt werden:

arsinh(x) = ln(x +√x2 + 1) x ∈ R

arcosh(x) = ln(x +√x2 − 1) x ≥ 1

Analog definieren wir die Hyperbelfunkionen Tangens hyperbolicus (tanh)und Cotangens hyperbolicus (coth):

tanh : C −→ C

z 7−→ tanh(z) =sinh(z)

cosh(z)=e2z − 1

e2z + 1

coth : C\0 −→ C

z 7−→ coth(z) =cosh(z)

sinh(z)=e2z + 1

e2z − 1

Fur Tangens hyperbolicus gilt das folgenden Additionstheorem

tanh(z + w) =tanh(z) + tanh(w)

1 + tanh(z) · tanh(w).

Die Funktion tanh|R : R −→ (−1, 1) ⊂ R ist streng monoton wachsend undbijektiv. Die Funktion coth|R\0

: R\0 −→ R\[ − 1, 1] ist streng monotonwachsend und bijektiv.

Definition 4.19. Die Umkehrfunktion von tanh|R heißt Areatangens hyper-bolicus artanh : (−1, 1) −→ R .Die Umkehrfunktion von coth|R\0

heißt Areacotangens hyperbolicus arcoth :R\[ − 1, 1] −→ R\0.Es gilt

artanh(x) =1

2ln(1 + x

1 − x

)|x| < 1

arcot(x) =1

2ln(x+ 1

x− 1

)|x| > 1.

Page 170: Grundkurs Analysis

162 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

4.7 Der metrische Raum der stetigen Abbildungen

In diesem Abschnitt wollen wir die Eigenschaften des Raumes aller stetigenAbbildungen zwischen metrischen Raumen genauer untersuchen. Wir betrach-ten dazu einen kompakten metrischen Raum (X, dX) und einen beliebigen me-trischen Raum (Y, dY ) und bezeichnen mit C(X,Y ) die Menge aller stetigenAbbildungen von X nach Y

C(X,Y ) := f : X −→ Y | f stetig .

Da die Metrik dY stetig ist und eine stetige Abbildung F : X −→ R von einemkompakten metrischen X in die reellen Zahlen immer ein Maximum besitzt,ist fur zwei stetige Abbildungen f, h ∈ C(X,Y ) die Zahl

d∞(f, h) := maxdY (f(x), h(x)) | x ∈ X

korrekt definiert. Aus den Eigenschaften der Metrik dY erhalt man ohne Pro-bleme, dass d∞ eine Metrik auf C(X,Y ) ist.

Ist der Bildraum ein Vektorraum V , so tragt auch die Menge der stetigen Ab-bildungen C(X,V ) eine Vektoraumstruktur. Fur f, h ∈ C(X,V ) und λ ∈ K

definieren wir

(f + h)(x) := f(x) + h(x) und (λ · f)(x) := λ · f(x) ∀ x ∈ X.

Jede Norm ‖ · ‖ auf V liefert dann eine Norm ‖ · ‖∞ auf dem VektorraumC(X,V )

‖f‖∞ := max‖f(x)‖ | x ∈ X.Die durch ‖ · ‖∞ gegebene Metrik auf C(X,V ) stimmt mit der Metrik d∞

uberein, die auf C(X,V ) durch die durch ‖ · ‖ gegebene Metrik d‖·‖ von Vinduziert wird

d∞(f, h) = maxd‖.‖(f(x), h(x)) | x ∈ X= max‖f(x) − h(x)‖ | x ∈ X= ‖f − h‖∞.

Im folgenden sind die Mengen C(X,Y ) bzw. die Vektorraume C(X,V ) immermit der Metrik d∞ bzw. der Norm ‖ · ‖∞ versehen.

Satz 4.36 Sei X ein kompakter metrischer Raum und Y ein beliebiger me-trischer Raum.

1. Sei (fn) eine Folge stetiger Abbildungen fn ∈ C(X,Y ). Die Folge (fn)konvergiert im metrischen Raum C(X,Y ) genau dann gegen f ∈ C(X,Y ),wenn die Funktionenfolge (fn) gleichmaßig gegen f konvergiert.

2. Ist Y vollstandig, so ist C(X,Y ) vollstandig.

Page 171: Grundkurs Analysis

4.7 Der metrische Raum der stetigen Abbildungen 163

3. Ist E ein Banachraum, so ist C(X,E) ebenfalls ein Banachraum.

Beweis. (1) Die erste Behauptung folgt aus der Aquivalenz der folgendenBedingungen:

fn −→ f in C(X,Y )

⇐⇒ ∀ ε > 0 ∃ n0 ∈ N so dass d∞(fn, f) < ε ∀ n ≥ n0

⇐⇒ ∀ ε > 0 ∃ n0 ∈ N so dass maxdY (fn(x), f(x)) | x ∈ X < ε ∀ n ≥ n0

⇐⇒ ∀ ε > 0 ∃ n0 ∈ N so dass dY (fn(x), f(x)) < ε ∀ n ≥ n0 ∀ x ∈ X.

⇐⇒ (fn) konvergiert gleichmaßig gegen f .

(2) Sei (Y, dY ) vollstandig. Wir zeigen, dass dann auch (C(X,Y ), d∞) voll-standig ist. Sei (fn) Cauchy–Folge in C(X,Y ) und ε > 0. Dann existiert einn0 ∈ N, so dass fur alle x ∈ X

dY (fn(x), fm(x)) ≤ d∞(fn, fm) < ε ∀ n,m ≥ n0. (∗)

Folglich ist die Folge (fn(x)) fur jedes x ∈ X eine Cauchy–Folge in Y . Da Yvollstandig ist, existiert f(x) := lim

n→∞fn(x) auf X . Da die Metrik dY stetig

ist, folgt aus (∗) fur jedes x ∈ X

limm→∞

dY (fn(x), fm(x)) = dY (fn(x), limm→∞

fm(x))

= dY (fn(x), f(x)) < ε ∀n ≥ n0.

Dies zeigt, dass die Funktionenfolge (fn) gleichmaßig gegen f konvergiert.Nach Satz 4.25 ist f stetig und nach (1) konvergiert die Folge (fn) in C(X,Y )gegen f .

(3) ist ein Spezialfall von (2). ⊓⊔

In verschiedenen Situationen kann man stetige Abbildungen durch “einfache“stetige Abbildungen approximieren. Zunachst betrachten wir Falle, wo manPolynome fur diese Approximation benutzen kann.Dazu sei [a, b] ⊂ R ein kompaktes Intervall und E ein reeller Banachraummit der Norm ‖ ·‖. Wir wollen im Raum der stetigen Abbildungen C([a, b], E)eine Menge von Polynomen finden, die in diesem Raum dicht liegt, mit derenHilfe man also eine beliebige stetige Abbildung f ∈ C([a, b], E) approximierenkann.Wir bezeichnen mit E[x] den Vektorraum der Polynome mit Koeffizienten inE

E[x] :=p(x) =

n∑

k=0

akxk | ak ∈ E

.

Ist p ∈ E[x], so ist die durch p definierte Abbildung

Page 172: Grundkurs Analysis

164 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

p : [a, b] −→ E

t 7−→ p(t) =n∑k=0

aktk

stetig. Mit P bezeichnen wir die Menge dieser als Abbildungen aufgefasstenPolynome. Es gilt also P ⊂ C([a, b], E).

Satz 4.37 (Weierstraßscher Approximationssatz)Sei E ein reeller Banachraum. Dann ist die Menge der Polynome dicht inC([a, b], E), das heißt, fur jede stetige Funktion f : [a, b] −→ E existiert eineFolge von Polynomen pn : [a, b] −→ E , die auf [a, b] gleichmaßig gegen fkonvergiert.

Beweis. (1) Es genugt, die Behauptung fur das Intervall [0, 1] zu zeigen:Sei die Behauptung fur das Intervall [0, 1] bewiesen und [a, b] ein beliebigesIntervall. Wir betrachten den Homoomorphismus

φ : [0, 1] −→ [a, b]t 7−→ a+ (b− a)t

Die inverse Abbildung φ−1 ist durch

φ−1(x) =x− a

b− a

gegeben. Sei nun f ∈ C([a, b], E) und h := f φ ∈ C([0, 1], E). Nach unsererAnnahme existiert eine Polynomfolge (Pn), die auf [0, 1] gleichmaßig gegenh konvergiert. Dann ist Qn := Pn φ−1 eine Polynomfolge, die gleichmaßiggegen f = h φ−1 konvergiert.

(2) Sei f ∈ C([0, 1], E). Unter dem n-ten Bernstein–Polynom zu f verstehenwir das folgende Polynom n- ten Grades:

B[f ]n(x) :=n∑

k=0

f(kn

)(nk

)(1 − x)n−k · xk

︸ ︷︷ ︸=:βk,n(x)

.

Die Polynome βk,n(x) haben folgende Eigenschaften:

(1) βk,n(x) ≥ 0 ∀ x ∈ [0, 1],

(2)n∑k=0

βk,n(x) = (1 − x+ x)n = 1 ∀ x ∈ [0, 1],

(3)n∑k=0

(k − nx)2 · βk,n(x) = nx(1 − x) ∀ x ∈ [0, 1].

Im folgenden zeigen wir, dass die Bernstein-PolynomeB[f ]n auf [0, 1] gleichmaßiggegen f konvergieren.

Page 173: Grundkurs Analysis

4.7 Der metrische Raum der stetigen Abbildungen 165

Da f stetig und [0, 1] kompakt ist, ist f([0, 1]) ⊂ E ebenfalls kompakt, alsoinsbesondere beschrankt. Es existiert also eine Konstante C > 0 so dass

‖f(x)‖ ≤ C fur alle x ∈ [0, 1] . (∗)

Da [0, 1] kompakt ist, ist die Funktion f sogar gleichmaßig stetig. Folglichexistiert zu jedem ε > 0 ein δ > 0 so dass

‖f(x1) − f(x2)‖ <ε

2∀ x1, x2 ∈ [0, 1] mit |x1 − x2| < δ. (∗∗)

Wir setzen n0(ε) := Cε·δ2 und zeigen nun, dass

‖B[f ]n(x) − f(x)‖ < ε ∀ n ≥ n0, ∀ x ∈ [0, 1].

Fur x ∈ [0, 1] und n ∈ N definieren wir die folgenden Mengen

J1,n(x) :=k ∈ 1, 2, . . . , n

∣∣∣∣∣∣k

n− x∣∣∣ < δ

J2,n(x) :=k ∈ 1, 2, . . . , n

∣∣∣∣∣∣k

n− x∣∣∣ ≥ δ

.

Dann erhalten wir

‖B[f ]n(x) − f(x) ‖ (2)=

∥∥∥n∑

k=0

(f(kn

)− f(x)

)· βk,n(x)

∥∥∥

≤∥∥∥

k∈J1,n(x)

(f(kn

)− f(x)

)βk,n(x)

∥∥∥

︸ ︷︷ ︸:=S1(x)

+∥∥∥

k∈J2,n(x)

(f(kn

)− f(x)

)· βk,n(x)

∥∥∥

︸ ︷︷ ︸:=S2(x)

.

Fur den Summanden S1(x) ergibt sich

S1(x)(1)

≤∑

J1,n(x)

∥∥∥f(kn

)− f(x)

∥∥∥ · βk,n(x)

(∗∗)≤ ε

2·∑

J1,n(x)

βk,n(x)

≤ ε

2

n∑

k=0

βk,n(x)(2)=

ε

2.

Ist k ∈ J2,n(x), so gilt ( kn−x)2 ≥ δ2 , also (k−nx)2

n2δ2≥ 1 . Fur den Summanden

S2(x) ergibt sich

Page 174: Grundkurs Analysis

166 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

S2(x) ≤∑

J2,n(x)

∥∥∥f(kn

)∥∥∥+ ‖f(x)‖· βk,n(x) ·

(k − nx)2

n2δ2︸ ︷︷ ︸≥1

(∗),(3)≤ 2C

n2δ2·n∑

k=0

(k − nx)2βk,n(x)

︸ ︷︷ ︸=nx(1−x)

=2C

nδ2x(1 − x).

Sei nun n ≥ n0 = Cεδ2

. Dann ist 2Cnδ2

< 2ε . Fur x ∈ [0, 1] ist außerdem

x(1 − x) = x− x2 = −(x− 1

2)2 +

1

4<

1

4.

Folglich ist S2(x) <ε2 . Insgesamt erhalten wir

‖B[f ]n(x) − f(x)‖ < ε fur alle n ≥ n0 und x ∈ [0, 1].

Somit konvergiert die Folge der Bernstein-Polynome (B[f ]n) gleichmaßig ge-gen f . ⊓⊔

Wir wollen den Weierstraßschen Approximationssatz nun verallgemeinern.Wir betrachten dazu einen beliebigen kompakten metrischen Raum X undden Banachraum C(X,R) der stetigen reellwertigen Funktionen auf X mitder Norm ‖ · ‖∞.Unter einer Unteralgebra von C(X,R) verstehen wir einen linearen Unter-raum1 R ⊂ C(X,R) mit der zusatzlichen Eigenschaft, dass mit zwei Funk-tionen f, h ∈ R auch das Produkt f ·h, definiert durch (f ·h)(x) = f(x) ·h(x),in R liegt. Ein Beispiel fur eine Unteralgebra ist die im Weierstraßschen Ap-proximationssatz betrachtete Menge der Polynome P ⊂ C([a, b],R).Wir wollen nun Bedingungen dafur angeben, dass eine Unteralgebra R ⊂C(X,R) dicht in C(X,R) liegt. Als Hilfsmittel beweisen wir zunachst folgen-de Lemmata.

Lemma 4.20. Sei X ein kompakter metrischer Raum. Ist R ⊂ C(X,R) eineUnteralgebra im Banachraum der stetigen reellwertigen Funktionen auf X, soist auch der Abschluss cl(R) ⊂ C(X,R) eine Unteralgebra.

Beweis. Seien f, g ∈ cl(R) ⊂ C(X,R) stetige Funktionen, die im Abschlussder Unteralgebra R liegen. Dann existieren Folgen stetiger Funtionen (fn)und (gn) mit fn, gn ∈ R, die bzgl. ‖ · ‖∞ gegen f bzw. g konvergieren. Da R1 d.h. eine Teilmenge von C(X, R), die abgeschlossen gegenuber den Vektorraum-

Operationen ist

Page 175: Grundkurs Analysis

4.7 Der metrische Raum der stetigen Abbildungen 167

eine Unteralgebra ist, liegen die stetigen Funktionen fn+ gn, λ ·fn und fn · gnebenfalls in R, wobei λ eine reelle Zahl bezeichnet. Mit den Normeigenschaf-ten sieht man sofort, dass die Folgen (fn + gn) und (λ · fn) bzgl. ‖ · ‖∞ gegenf + g bzw. λ · f konvergieren, somit liegen f + g und λ · f in cl(R). Es bleibtzu zeigen, dass auch f · g in cl(R) liegt.Da die Folge (fn) konvergiert, ist sie beschrankt, d.h. es existiert eine Kon-stante C ∈ R+ mit

|fn(x)| ≤ ‖fn‖∞ ≤ C ∀ n ∈ N ∀ x ∈ X.

Da g stetig und X kompakt ist, hat g auf X ein Maximum. Es existiert alsoeine Konstante M ∈ R+ so dass

|g(x)| ≤ ‖g‖∞ ≤M ∀ x ∈ X.

Damit erhalten wir

‖f · g − fn · gn‖∞ = ‖f · g − fn · g + fn · g − fn · gn‖∞= ‖g(f − fn) + fn(g − gn)‖∞≤ ‖g(f − fn)‖∞ + ‖fn(g − gn)‖∞= max

x∈X|g(x)| ‖f(x) − fn(x)‖ + max

x∈X|fn(x)| ‖g(x) − gn(x)‖

≤ M‖f − fn‖∞ + C‖g − gn‖∞

Da (fn) gegen f und (gn) gegen g konvergiert, folgt aus dieser Ungleichung,dass fn · gn gegen f · g konvergiert. Somit ist f · g ∈ cl(R). ⊓⊔

Lemma 4.21. Sei X ein kompakter metrischer Raum und R ⊂ C(X,R)eine Unteralgebra, die alle konstanten Funktionen enthalt. Dann liegen furzwei Funktionen f, g ∈ R die Funktionen |f | , maxf, g und minf, g imAbschluss cl(R).

Beweis. (1) Sei f ∈ R. Da X kompakt und f stetig ist, besitzt f auf X einMaximum, d.h. es existiert ein C ∈ R+ mit |f(x)| ≤ C fur alle x ∈ X . Wirbetrachten die stetige Funktion w : x ∈ [0, C2] 7−→ √

x ∈ R . Sei Pn eine Folgevon Polynomen, die auf [0, C2] gleichmaßig gegen w konvergiert. Eine solcheFolge existiert nach Satz 4.37. Dann konvergiert die Funktionenfolge (Pnf2)auf X gleichmaßig gegen w f2 = |f | . Folglich konvergiert die Folge (Pn f2)im metrischen Raum (C(X,R), ‖ · ‖∞) gegen |f |. Da R eine Algebra ist, istmit f ∈ R auch jede Potenz f i ∈ R. Seien Pn(x) =

∑ni=0 anix

i die obigenPolynome. Da R alle konstanten Funktionen enthalt, folgt

Pn f2 =

n∑

i=1

ain(f2)i ∈ R.

Page 176: Grundkurs Analysis

168 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

Somit ist |f | der Grenzwert einer Folge von Elementen aus R und folglich gilt|f | ∈ cl(R).(2) Seien f, g ∈ R. Dann sind f + g und f − g Elemente in R, weil R einUnterraum von C(X,R) ist. Aus (1) folgt |f − g| ∈ cl(R) und |f + g| ∈ cl(R).Daraus erhalten wir

maxf, g = 12 (f + g + |f − g|)

minf, g = 12 (f + g − |f − g|)

∈ cl(R).

⊓⊔

Mit Hilfe dieser Lemmata beweisen wir den folgenden Approximationssatzfur reellwertige Funktionen:

Satz 4.38 (Approximationssatz von Stone–Weierstraß(1))Sei X ein kompakter metrischer Raum und R ⊂ C(X,R) eine Unteralgebra imBanachraum der reellwertigen Funktionen auf X mit folgenden Eigenschaften

1. R enthalt alle konstanten Funktionen,2. R trennt Punkte, d.h. fur beliebige voneinander verschiedene Punkte

x, y ∈ X existiert eine Funktion f ∈ R mit f(x) 6= f(y).

Dann ist R dicht in (C(X,R), ‖.‖∞), d.h. zu jedem f ∈ C(X,R) existierteine Folge von Funktionen f1, f2, . . . ∈ R, die auf X gleichmaßig gegen fkonvergiert.

Beweis. (1) Wir zeigen zunachst die folgende Eigenschaft von R:Sind x0 und y0 zwei verschiedene Punkte in X und r1 und r2 zwei reelleZahlen, so existert eine Funktion h ∈ R mit h(x0) = r1 und h(y0) = r2:Da die Algebra R Punkte trennt, existiert eine Funktion f ∈ R mit f(x0) 6=f(y0). Sei g die stetige Funktion

g :=f − f(x0)

f(y0) − f(x0).

Da R alle konstanten Funktionen enthalt, liegt g in R. Wir betrachten nundie Funktion

h := (r1 − r2) · g + r1 ∈ R.Dann gilt offensichtlich

h(x0) = (r1 − r2)g(x0) + r1 = r1 und h(y0) = (r1 − r2)g(y0) + r1 = r2.

(2) Wir zeigen nun, dass R dicht in C(X,R) liegt.Sei f ∈ C(X,R). Wir mussen zeigen, dass fur jedes ε > 0 ein fε ∈ R existiert,so dass ‖f − fε‖∞ < ε:Seien a, b ∈ X zwei beliebige Punkte. Nach (1) existiert eine Funktion ha,b ∈R mit ha,b(a) = f(a) und ha,b(b) = f(b). (Falls a = b, so setzen wir in (1)

Page 177: Grundkurs Analysis

4.7 Der metrische Raum der stetigen Abbildungen 169

x0 = a = b, r1 = f(a) und y0, r2 beliebig). Da f und ha,b stetig sind, ist dieTeilmenge

Ua,b :=x ∈ X | ha,b(x) > f(x) − ε

2

= (ha,b − f)−1

((−ε

2,+∞)

)⊂ X

offen. Nach Definition ist a ∈ Ua,b. Sei b ∈ X ein fixiertes Element. Dann istUb := Ua,ba∈X eine offene Uberdeckung von X . Da X kompakt ist, existierteine endliche Teiluberdeckung U∗

b ⊂ Ub, d.h. es existieren endlich viele Punktea1, a2, . . . , an ∈ X , so dass

X = Ua1,b ∪ Ua2,b ∪ . . . ∪ Uan,b.

Wir betrachten die Funktion

fb := maxha1,b, . . . , han,b.

Nach Lemma 4.21 ist fb ∈ cl(R). Ist x ∈ X , so gilt x ∈ Uaj,b fur einen Indexj ∈ 1, . . . , n. Damit erhalten wir

fb(x) ≥ haj ,b(x) > f(x) − ε

2.

Wir haben zur Funktion f ∈ C(X,R) also zunachst fur jedes b ∈ X eineFunktion fb ∈ cl(R) gefunden, so dass

fb(x) > f(x) − ε

2∀ x ∈ X. (∗)

Da f und fb stetig sind, ist die Teilmenge

Vb :=x ∈ X | fb(x) < f(x) +

ε

2

= (fb − f)−1

((−∞,

ε

2))⊂ X

offen. Aus der Definition der Funktionen ha,b folgt, dass fb(b) = f(b). Folglichist V := Vbb∈X eine offene Uberdeckung vonX . DaX kompakt ist, existierteine endliche Teiluberdeckung V∗ ⊂ V , d.h. es existieren endlich viele Punkteb1, b2, . . . , bk ∈ X , so dass

X = Vb1 ∪ Vb2 ∪ . . . ∪ Vbk.

Wir betrachten die stetige Funktion

g := minfb1, . . . , fbk.

Aus den Lemmata 4.20 und 4.21 folgt g ∈ cl(R). Ist x ∈ X , so gilt x ∈ Vbi

fur einen Index i ∈ 1, . . . , k. Damit erhalten wir

g(x) ≤ fbi(x) < f(x) +

ε

2.

Andererseits existiert fur x ∈ X ein l ∈ 1, . . . , k mit g(x) = fbl(x) und

folglich gilt wegen (∗)

Page 178: Grundkurs Analysis

170 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

g(x) = fbl(x) > f(x) − ε

2.

Wir haben also eine stetige Funktion g ∈ cl(R) gefunden, so dass

f(x) − ε

2< g(x) < f(x) − ε

2∀ x ∈ X,

also‖f − g‖∞ <

ε

2.

Da g im Abschluss von R liegt, gibt es eine Funktion fε ∈ R mit

‖g − fε‖∞ <ε

2.

Wir erhalten somit

‖f − fε‖∞ ≤ ‖f − g‖∞ + ‖g − fε‖∞ <ε

2+ε

2= ε.

Damit ist bewiesen, dass die Unteralgebra R dicht in C(X,R) liegt. ⊓⊔

Als nachstes beweisen wir einen analogen Approximationssatz fur komplex-wertige Funtionen.

Satz 4.39 (Approximationssatz von Stone–Weierstraß (2))Sei X ein kompakter, metrischer Raum und R ⊂ C(X,C) eine Unteralgebraim Banachraum der stetigen, komplexwertigen Funktionen auf X mit folgen-den Eigenschaften

1. R enthalt alle konstanten Funktionen,2. R trennt Punkte,3. Wenn f ∈ R, so f ∈ R.

Dann gilt cl(R) = C(X,C), das heißt R ist dicht in (C(X,C, ‖.‖∞).

Beweis. Wir betrachten die folgende Teilmenge im Raum der reellwertigenstetigen Funktionen

R∗ := f ∈ R | Im(f) = 0 ⊂ C(X,R).

Dann gilt

1. Da R eine komplexe Unteralgebra in C(X,C) ist, ist R∗ eine reelle Un-teralgebra in C(X,R).

2. Da R alle komplexen Konstanten enthalt, enthalt R∗ alle reellen Kon-stanten.

Page 179: Grundkurs Analysis

4.7 Der metrische Raum der stetigen Abbildungen 171

3. R∗ trennt ebenfalls Punkte: Seien x, y ∈ X zwei verschiedene Punkte.Wie im 1. Teil des Beweises von Satz 4.38 zeigt man, dass eine Funktionf ∈ R existiert, so dass f(x) = 0 und f(y) = 1 gilt. Dann gilt fur dieFunktion f∗ = f + f ∈ R∗, dass f∗(x) = 0 und f∗(y) = 2. f∗ trennt alsodie Punkte x und y.

Nach dem Approximationssatz von Stone-Weierstrass fur reellwertige Funk-tionen (Satz 4.38), liegt dann R∗ dicht im Banachraum C(X,R). Folglich istdie Menge der Funktionen R∗ + iR∗ dicht im Banachraum C(X,R). Da Reine (komplexe) Unteralgebra ist und R∗ ⊂ R, gilt R∗ + iR∗ ⊂ R . Darauserhalt man

C(X,C) = cl(R∗ + iR∗) ⊂ cl(R) ⊂ C(X,R),

also cl(R) = C(X,C) . ⊓⊔

Wir wenden nun die Approximationssatze von Stone-Weierstraß auf einigeSpezialfalle an.

Beispiel 1: Approximation reellwertiger Funktionen f ∈ C([a, b],R) durchPolynome mit reellen Koeffizienten.

Wir betrachten die Menge PR aller Polynome mit reellen Koeffinzienten

PR :=P ∈ C([a, b],R)

∣∣∣ P (t) :=n∑

k=0

aktk , ak ∈ R , n ∈ N

.

Wir hatten bereits bemerkt, dass PR eine Unteralgebra von C([a, b],R) ist.Offensichtlich enthalt PR alle konstanten Funktionen (Polynome 0. Grades).PR trennt außerdem Punkte, denn sind x, y ∈ [a, b] verschiedene reelle Zahlen,so gilt p(x) 6= p(y) fur das Polynom p(t) = t.Nach dem Satz von Stone-Weierstraß fur reellwertige Funktionen liegt dieMenge der reellen Polynome PR dicht im BanachraumC([a, b],R), d.h. fur jedestetige Funktion f ∈ C([a, b],R) existiert eine Folge von Polynomen Pn ∈ PR,n ∈ N, die auf [a, b] gleichmaßig gegen die Funktion f konvergiert.

Wir haben dieses Beispiel hier nur als Musterbeispiel angefuhrt. Die Aussageist naturlich als Spezialfall des Approximationssatzes von Weierstraß (Satz4.37) bereits bekannt. Im Beweis von Satz 4.37 haben wir sogar ein konstuk-tives Verfahren fur die approximierende Folge von Polynomen angegeben.

Beispiel 2: Approximation komplexwertiger Funktionen f ∈ C([a, b],C)durch Polynome mit komplexen Koeffizienten.

Wir betrachten die Menge der Polynome mit komplexen Koeffizienten

PC :=P ∈ C([a, b],C)

∣∣∣ P (t) :=

n∑

k=0

aktk , ak ∈ C , n ∈ N

.

Page 180: Grundkurs Analysis

172 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

Genau wie fur den reellen Fall sieht man leicht, dass PC eine Unteralgebravon C([a, b],C) ist, die alle Voraussetzungen des Satzes 4.39 erfullt. Somiterhalten wir

Folgerung 4.2 Die Menge der komplexen Polynome PC dicht im Banach-raum C([a, b],C), d.h. fur jede stetige Funktion f ∈ C([a, b],C) existiert eineFolge von Polynomen Pn ∈ PC, n ∈ N, die auf [a, b] gleichmaßig gegen dieFunktion f konvergiert.

Beispiel 3: Approximation reellwertiger periodischer stetiger Funktionendurch reelle trigonometrische Polynome.

In diesem Beispiel betrachten wir auf R definierte reellwertige stetige 2π-periodische Funktionen. Wir bezeichen den Vektorraum dieser Funktionenmit

C(R,R)per := f ∈ C(R,R) | f(x+ 2π) = f(x) ∀ x ∈ R.Da die Werte von f ∈ C(R,R)per durch diejenigen von f|[0,2π] vollstandig

bestimmt sind, ist‖f‖∞ := max

x∈R

|f(x)|

definiert und eine Norm auf C(R,R)per .Eine auf R definierte 2π-periodische Funktion kann man als Funktion auf S1

auffassen, wobei

S1 := z ∈ C | |z| = 1 = eit | t ∈ R ⊂ C

die Menge der komplexen Zahlen vom Betrag 1 ist. S1 ist beschrankt und ab-geschlossen in C, also mit der durch C induzierten Metrik ein kompakter me-trischer Raum. Man ordnet f ∈ C(R,R)per dabei die Funktion f∗ ∈ C(S1,R)zu

f∗(eit) := f(t).

Diese Definition ist durch die Periodizitatsbedingung korrekt. Die Abbildung

φ : C(R,R)per −→ C(S1,R)f 7−→ f∗

ist bijekjtiv und erfullt ‖φ(f)‖∞ = ‖f‖∞. Die normierten Vektorraume(C(R,R)per , ‖·‖∞) und (C(S1,R), ‖·‖∞) sind also isometrisch zueinander. Wirkonnen deshalb den Approximationssatz von Stone-Weierstraß (Satz 4.38)auch auf die auf R definierten periodischen Funktionen anwenden.

Definition 4.22. Ein reelles trigonometrisches Polynom ist eine 2π-periodi-sche Funktion f ∈ C(R,R)per mit

f(t) := a0 +

n∑

k=1

(ak cos(kt) + bk sin(kt)

)∀ t ∈ R,

wobei a0, a1, . . . , an, b1, . . . , bn ∈ R und n ∈ N.

Page 181: Grundkurs Analysis

4.7 Der metrische Raum der stetigen Abbildungen 173

Wir bezeichnen mit PperR

die Menge der reellen trigonometrischen Polynome.Wegen der Additionstheoreme

cos(kt) · cos(lt) =1

2cos((k + l)t) + cos((l − k)t)

cos(kt) · sin(lt) =1

2sin((k + l)t) + sin((l − k)t)

sin(kt) · sin(lt) =1

2cos((k + l)t) + cos((l − k)t)

ist PperR

eine Unteralgebra von C(R,R)per . Diese Unteralgebra enthalt diekonstanten Funktionen (a1 = . . . = an = b1 = . . . = bn = 0.) Sie trenntauch Punkte. Sind x, y ∈ R und x 6= y + k2π, so ist cos(x) 6= cos(y) odersin(x) 6= sin(y). Dann trennt das trigonometrische Polynom p(t) = cos(t)oder das trigonometrische Polynom p(t) = sin(t) die Punkte x und y. AusSatz 4.38 folgt somit

Folgerung 4.3 Die Menge der reellen trigonometrischen Polynome PperR

istdicht im Banachraum C(R,R)per der auf R definierten stetigen reellwertigen2π-periodischen Funktionen. D.h. fur jede auf R definierte 2π-periodische re-ellwertige stetige Funktion f existiert eine Folge von reellen trigonometrischenPolynomen Pn ∈ Pper

R, n ∈ N, die auf R gleichmaßig gegen die Funktion f

konvergiert.

Beispiel 4: Approximation komplexwertiger periodischer stetiger Funktionendurch komplexe trigonometrische Polynome.

In diesem Beispiel betrachten wir auf R definierte komplexwertige stetige 2π-periodische Funktionen. Wir bezeichnen den Vektorraum dieser Funktionenmit

C(R,C)per := f ∈ C(R,C) | f(x+ 2π) = f(x) ∀ x ∈ R.Wie im letzten Beispiel erhalten wir, dass die Banachraume (C(R,C)per , ‖ ·‖∞) und (C(S1,C), ‖ · ‖∞) isometrisch sind. Wir konnen somit den Approxi-mationssatz von Stone-Weierstraß (Satz 4.39) auf die auf R definierten kom-plexwertigen 2π-periodischen Funktionen anwenden.

Definition 4.23. Ein komplexes, trigonometrisches Polynom ist eine 2π–periodische Funktion f ∈ C(R,C)per mit

f(t) =

N∑

k=−ncke

ikt,

wobei n,N ∈ N0 und ck ∈ C.

Page 182: Grundkurs Analysis

174 4 Stetige Abbildungen zwischen metrischen Raumen

Wir bezeichnen die Menge der komplexen trigonometrischen Polynome mitPper

C. Pper

Cist eine Unteralgebra von C(R,C)per , die die konstanten Funktio-

nen enthalt, Punkte trennt und abgeschlossen gegenuber komplexer Konjuga-tion ist. Aus Satz 4.39 erhalten wir deshalb

Folgerung 4.4 Die Menge der komplexen trigonometrischen Polynome PperC

ist dicht im Banachraum C(R,C)per der auf R definierten komplexwerti-gen stetigen 2π-periodischen Funktionen. D.h. fur jede auf R definierte 2π-periodische komplexwertige stetige Funktion f existiert eine Folge von komple-xen trigonometrischen Polynomen Qn ∈ Pper

R, n ∈ N, die auf R gleichmaßig

gegen die Funktion f konvergiert.

Page 183: Grundkurs Analysis

5

Differentialrechnung fur Funktionen einerreellen Veranderlichen

Die Grundidee der Differentialrechnung ist die Approximation einer Funktionin der Umgebung eines Punktes durch lineare Abbildungen. Dadurch kannman viele Aussagen uber das lokale Verhalten der Funktion machen.

5.1 Differenzierbare Abbildungen

Sei E ein reeller normierter Vektorraum, U ⊂ R und x0 ∈ U Haufungspunktvon U .

Definition 5.1. Eine Abbildung f : U ⊂ R −→ E heißt differenzierbar imHaufungspunkt x0 ∈ U , falls der Grenzwert

f ′(x0) :=df

dx(x0) := lim

x→x0

f(x) − f(x0)

x− x0

existiert. Dieser Grenzwert heißt Ableitung von f in x0.

Bemerkung: Ist U offen oder ein Intervall, so ist jeder Punkt von U einHaufungspunkt.

Definition 5.2. Sei jeder Punkt der Menge U ⊂ R ein Haufungspunkt.f : U −→ E heißt auf U differenzierbar, falls f in jedem Punkt x0 ∈ Udifferenzierbar ist. In diesem Fall heißt die Abbildung

f ′ : U ⊂ R −→ E

x 7→ f ′(x)

1. Ableitung von f .

Page 184: Grundkurs Analysis

176 5 Differentialrechnung fur Funktionen einer reellen Veranderlichen

Geometrische Interpretation: Die Motivation fur die Entwicklung der Dif-ferentialrechnung durch Leibniz war das Tangentenproblem: Man approximie-re eine gegebene Kurve moglichst gut durch eine Gerade, die durch einen festenPunkt der Kurve geht.

Sei f : U −→ E, x0 ∈ U . Wir betrachtendie Sekante durch P0 = (x0, f(x0)) und P =(x0 + h, f(x0 + h)). Dies ist die Gerade, diedurch die Abbildung

Sh(x) := f(x0) +f(x0 + h) − f(x0)

h︸ ︷︷ ︸Anstieg

·(x− x0)

gegeben ist.

-

6

X

E

• •

x0 x0 + h

f(x0)

graph(Tx0)

graph(Sh)

graph(f)

Was passiert mit den Sekanten Sh bei h → 0 ? Ist f in x0 differenzierbar, sogilt

f ′(x0) = limh→0

f(x0 + h) − f(x0)

h,

das heißt, bei h → 0 konvergieren die Anstiege der Sekanten gegen f ′(x0).Somit konvergieren die Sekanten Sh bei h → 0 gegen die Geraden, die durchdie Funktion

Tx0(x) := f(x0) + f ′(x0)(x− x0)

gegeben sind. Die durch Tx0 definierte Gerade heißt Tangente an die Kur-ve graph(f) im Punkt P0. Tx0 ”

approximiert f in erster Naherung in einerUmgebung um x0 “, das heißt, es gilt

(1) f(x0) = Tx0(x0),

(2) limx→x0

f(x)−Tx0(x0)

x−x0= 0.

Bemerkung: In der Mechanik wurde die Differentialrechnung insbesonderedurch Newton benutzt, um ein mathematisches Modell fur Großen wie dieGeschwindigkeit oder die Beschleunigung zu entwickeln. Sei zum Beispiel Pein Massepunkt und s(t) ∈ R3 gebe den Ort von P zur Zeit t an. Dann ist dieOrtsanderung pro Zeiteinheit

s(t) − s(t0)

t− t0.

Folglich gibt s′(t0) = limt→t0

s(t)−s(t0)t−t0 die Geschwindigkeit von P zur Zeit t = t0

an.

Satz 5.1 Sei f : U ⊂ R −→ E. Ist f in einem Haufungspunkt x0 ∈ Udifferenzierbar, so ist f in x0 stetig.

Page 185: Grundkurs Analysis

5.1 Differenzierbare Abbildungen 177

Beweis: Sei (xn) ⊂ U eine Folge die gegen x0 konvergiert. Es ist zu zeigen,dass dann auch (f(xn) gegen f(x0) konvergiert. Es gilt

‖f(xn) − f(x0)‖ = |xn − x0|∥∥∥∥f(xn) − f(x0)

xn − x0

∥∥∥∥n→∞−→ 0 · ‖f ′(x0)‖.

Somit ist f(xn)) gegen f(x0) konvergent. ⊓⊔

Folgerung 5.1 Sei jeder Punkt von U ⊂ R ein Haufungspunkt. Ist f : U −→E differenzierbar, so ist f : U −→ E stetig.

Rechenregeln fur differenzierbare Funktionen

Satz 5.2 Sei K = R,C und E ein normierter K-Vektorraum. Sei weiterhinU ⊂ R und x0 ∈ U sei Haufungspunkt von U . Die Abbildungen f, g : U −→ Eund h : U −→ K seien in x0 differenzierbar. Dann gilt:

(1) – Summenregelf + g : U −→ E ist in x0 differenzierbar und

(f + g)′(x0) = f ′(x0) + g′(x0).

(2) – Produktregelh · f : U −→ E ist in x0 differenzierbar und

(h · f)′(x0) = h′(x0) · f(x0) + h(x0) · f ′(x0).

(3) – QuotientenregelSei weiterhin h(x0) 6= 0. Dann ist f

h: x ∈ U | h(x) 6= 0 → K in x0

differenzierbar und

(f

h

)′(x0) =

f ′(x0)h(x0) − h′(x0)f(x0)

h2(x0).

Insbesondere gilt auch

(1

h

)′(x0) = − h′(x0)

h2(x0).

Beweis: (1) Da f und g in x0 stetig sind, folgt durch Limesbildung aus

f(x) + g(x) − (f(x0) + g(x0))

x− x0=f(x) − f(x0)

x− x0+g(x) − g(x0)

x− x0.

sofort die Behauptung.

Page 186: Grundkurs Analysis

178 5 Differentialrechnung fur Funktionen einer reellen Veranderlichen

(2) Wegen der Stetigkeit von f und h in x0 folgt auch hier wieder mit Limes-bildung aus

(h · f)(x) − (h · f)(x0)

x− x0= h(x) · f(x) − f(x0)

x− x0+h(x) − h(x0)

x− x0· f(x0).

die Behauptung.

(3) Es gilt

( 1h)(x) − ( 1

h)(x0)

x− x0=

1h(x) − 1

h(x0)

x− x0=h(x0) − h(x)

x− x0· 1

h(x)h(x0)

x→x0−→ −h′(x0) ·1

h2(x0).

Durch Limesbildung folgt dann die zweite Behauptung. Mit Hilfe der Pro-duktregel erhalt man sofort die Quotientenregel. ⊓⊔

Beispiel 5.1Jedes Polynom P (x) = xnan + xn−1an−1 + . . . + a0, ai ∈ E fur alle i ∈0, . . . , n, ist auf R differenzierbar und es gilt

P ′(x) = nanxn−1 + (n− 1)an−1x

n−2 + . . .+ 2a2x+ a1,

denn f(x) = x ist differenzierbar und f ′(x) = 1 nach Definition. Dann ist auchfk(x) = xk = x · . . . · x︸ ︷︷ ︸

k−mal

differenzierbar und nach Satz 5.2 gilt f ′k(x) = k ·xk−1.

Beispiel 5.2Sei

R(x) =P (x)

Q(x)=a0 + a1x+ . . .+ anx

n

b0 + b1x+ . . .+ bmxm

eine rationale Funktion auf R \ x ∈ R | Q(x) = 0 und ai, bj ∈ R oderai, bj ∈ C. Dann ist R : R \ x ∈ R | Q(x) = 0 −→ R (C) differenzierbar.

Satz 5.3 (Kettenregel) Seien U1, U2 ⊂ R, f : U1 −→ E, g : U2 −→ U1

und E ein normierter Vektorraum. Sei g in einem Haufungspunkt x0 ∈ U2

differenzierbar und sei f im Haufungspunkt g(x0) ∈ U1 differenzierbar. Dannist f g : U2 −→ E in x0 differenzierbar und es gilt 1

(f g)′(x0) = g′(x0) · f ′(g(x0)).

1 Die Reihenfolge der Faktoren wurde so gewahlt, weil man die Vektoren aus E

nach Vereinbarung von links mit den Skalaren multipliziert.

Page 187: Grundkurs Analysis

5.1 Differenzierbare Abbildungen 179

Beweis: Fur g(x) 6= g(x0) gilt

(f g)(x) − (f g)(x0)

x− x0=g(x) − g(x0)

x− x0· f(g(x)) − f(g(x0))

g(x) − g(x0).

Sei (xn) eine gegen x0 konvergente Folge mit xn 6= x0 fur alle n ∈ N.(1) Sei g(xn) 6= g(x0) fur alle n ≥ n0. Da g in x0 stetig ist, folgt dann

g(xn)n→∞−→ g(x0). Folglich gilt

f(g(xn)) − f(g(x0))

xn − x0

n→∞−→ f ′(g(x0)) · g′(x0).

(2) Es gelte nun g(xn) = g(x0) fur unendlich viele n ∈ N. Da g in x0 und fin g(x0) differenzierbar ist, gilt

g′(x0) = limn→∞

g(xn) − g(x0)

xn − x0= 0,

und wegenf(g(xn)) − f(g(x0))

xn − x0= 0 = g′(x0) · f ′(g(x0))

fur alle n mit g(xn) = g(x0), gilt die Behauptung auch fur den zweiten Fall.⊓⊔

Satz 5.4 (Ableitung der inversen Abbildung) Es seien U1, U2 ⊂ R undf : U1 −→ U2 sei bijektiv. Sei x0 ∈ U1 ein Haufungspunkt von U1 und f(x0) ∈U2 ein Haufungspunkt von U2. Es gelte:

(1) f−1 ist in f(x0) stetig,(2) f ist in x0 differenzierbar und f ′(x0) 6= 0.

Dann ist f−1 : U2 −→ U1 in f(x0) differenzierbar und es gilt

(f−1)′(f(x0)) =1

f ′(x0).

Beweis: Fur y ∈ U2 mit y = f(x) gilt

f−1(y) − f−1(f(x0))

y − f(x0)=

x− x0

f(x) − f(x0)=

1f(x)−f(x0)

x−x0

.

Sei nun (yn) = (f(xn)) eine Folge in U2, die gegen f(x0) konvergiert. Da f−1

in f(x0) stetig ist, konvergiert xn = f−1(yn) gegen x0 = f−1(f(x0)). Da f inx0 differenzierbar ist, folgt dann

f−1(yn) − f−1(f(x0))

yn − f(x0)

n→∞−→ 1

f ′(x0).

⊓⊔

Page 188: Grundkurs Analysis

180 5 Differentialrechnung fur Funktionen einer reellen Veranderlichen

Bemerkung: Satz 5.4 gilt nicht ohne die Voraussetzung f ′(x0) 6= 0, denn seizum Beispiel

f : R −→ R

x 7→ x3.

Dann ist f bijektiv und differenzierbar. Es gilt f(0) = 0 und f ′(0) = 0. Dieinverse Abbildung

f−1 : R −→ R

x 7→ 3√x

ist in 0 nicht differenzierbar, denn der Grenzwert fur x gegen 0 von

f−1(x) − f−1(0)

x=

3√x

x=

13√x2

existiert nicht in R.

Ableitungen elementarer Funktionen

(1) Die Exponentialfunktion

exp : R −→ R

x 7→ ex =

∞∑

n=0

xn

n!

ist differenzierbar und es gilt (ex)′ = ex.

Beweis: Die Potenzreihe

eh − 1

h=

∞∑

n=1

hn−1

n!= 1 +

h

2!+h2

3!+ . . .

ist auf cl(K(0, 1)) gleichmaßig konvergent. Deswegen sind lim und∑

ver-tauschbar und es gilt

limh→0

eh − 1

h= 1

und folglich

exp′(x0) = limh→0

ex0+h − ex0

h= lim

h→0ex0 · e

h − 1

h= ex0 .

2

Page 189: Grundkurs Analysis

5.1 Differenzierbare Abbildungen 181

(2) Die Logarithmusfunktion

ln : R+ −→ R

x 7→ ln(x)

ist differenzierbar und es gilt ln′(x) = 1x.

Beweis: ln ist die Umkehrfunktion von exp : R −→ R+, ln ist stetig, expist differenzierbar und exp′(x) = exp(x) 6= 0 fur alle x ∈ R. Somit sind dieVoraussetzungen des Satzes 5.4 erfullt und es folgt

ln′(ex) =1

(ex)′=

1

ex.

Somit ist

ln′(y) =1

y∀ y ∈ R+.

2

(3) Die Potenzfunktion

Wir betrachten fur a ∈ R die Funktion

pa : R+ −→ R

x 7→ xa = eln(x)·a.

pa ist differenzierbar und p′a(x) = a · xa−1.

Beweis: Nach der Kettenregel (Satz 5.3) gilt:

p′a(x) = exp′(ln(x) · a) · a · ln′(x) = eln(x)·a · a · 1

x=xa

x· a = a · xa−1.

2

(4) Die Exponentialfunktion zur Basis a

Die Funktion

expa : R −→ R+

x 7→ ax = eln(a)·x

ist fur a ∈ R+ differenzierbar und es gilt

(expa)′(x) = eln(a)·x · ln(a) = ln(a) · ax.

2

Page 190: Grundkurs Analysis

182 5 Differentialrechnung fur Funktionen einer reellen Veranderlichen

(5) Sinus-und Cosinusfunktion

Die Funktionen cos, sin : R −→ R sind differenzierbar und es gilt

cos′(x) = − sin(x), sin′(x) = cos(x).

Beweis: Die Reihen∞∑n=0

(−1)n x2n+1

(2n+1)! = sin(x) und∞∑n=0

(−1)n x2n

(2n)! = cos(x)

sind gleichmaßig konvergent auf jeder kompakten Menge. Es folgt

limh→0

sin(h)

h=

∞∑

n=0

(−1)n1

(2n+ 1)!· limh→0

h2n = 1

und

limh→0

cos(h) − 1

h=

∞∑

n=1

(−1)n limh→0

h2n+1

(2n)!= 0.

Daher gilt

sin(x+ h) − sin(x)

h=

sin(x) cos(h) + cos(x) sin(h) − sin(x)

h

= cos(x)sin(h)

h+ sin(x)

cos(h) − 1

hh→0−→ cos(x)

und

cos(x+ h) − cos(x)

h=

cos(x) cos(h) − sin(x) sin(h) − cos(x)

h

= cos(x)cos(h) − 1

h− sin(x)

sin(h)

hh→0−→ − sin(x).

2

(6) Die Funktionen sinh und cosh

Die Funktionen sinh, cosh : R −→ R sind differenzierbar und es gilt(sinh)′(x) = cosh(x), (cosh)′(x) = sinh(x).

Beweis: Nach Definition gilt

sinh(x) =1

2

(ex − e−x

)und cosh(x) =

1

2

(ex + e−x

)

Daraus folgt sofort

Page 191: Grundkurs Analysis

5.1 Differenzierbare Abbildungen 183

(sinh)′(x) =1

2(ex + e−x) = cosh(x),

(cosh)′(x) =1

2(ex − e−x) = sinh(x).

2

Definition 5.3. Sei f : U ⊂ R −→ E differenzierbar und x0 ∈ U einHaufungspunkt von U . f heißt in x0 2-mal differenzierbar, falls die Ableitungvon f ′ : U −→ E in x0 existiert.

Bezeichnung: limh→0

f ′(x0+h)−f ′(x0)h

=: f ′′(x0)

Bemerkung: Allgemein definiert man die n–te Ableitung f (n)(x0) als Ab-leitung (f (n−1))′(x0), falls die (n− 1)–te Ableitung f (n−1) : U −→ E existiert(und differenzierbar ist).

Bezeichnung: f (n)(x0) = dnfdxn (x0).

Definition 5.4. Eine Abbildung f : U ⊂ R −→ E heißt stetig differenzierbar,wenn f auf U differenzierbar und f ′ : U −→ E stetig ist. f : U ⊂ R −→ Eheißt n–mal stetig differenzierbar, falls alle Ableitungen f (1), f (2), . . . , f (n)

existieren und stetig sind.Eine Abbildung f : U ⊂ R −→ E heißt glatt, wenn sie beliebig oft differenzier-bar ist, das heißt, wenn fur alle n ∈ N die Ableitungen f (n) existieren (undstetig sind).

Bezeichnung: C(k)(U ;E) bezeichne den Vektorraum aller k-fach stetig dif-ferenzierbaren Abbildungen von U nach E. C∞(U ;E) bezeichne den Vektor-raum aller glatten Abbildungen von U nach E.

Beispiel 5.1Wir betrachten die Funktion f : R −→ R, defniert durch

f(x) :=

x2 sin

(1x

), x 6= 0

0, x = 0.

Die Funktion f ist differenzierbar und f ′ ist in 0 unstetig: Wenn x 6= 0 ist,dann ist

f ′(x) = 2x · sin(

1

x

)+ x2 · cos

(1

x

)·(− 1

x2

)= 2x · sin

(1

x

)− cos

(1

x

).

Sei nun x = 0. Dann gilt

Page 192: Grundkurs Analysis

184 5 Differentialrechnung fur Funktionen einer reellen Veranderlichen

f(h) − f(0)

h=h2 · sin( 1

h)

h= h · sin

(1

h

)

︸ ︷︷ ︸beschrankt

h→0−→ 0

und daher f ′(0) = 0. Da cos( 1x) fur x gegen 0 keinen Grenzwert hat, hat auch

f ′ keinen Grenzwert in x = 0. Somit ist f ′ nicht stetig in x = 0. Insbesondereist f nicht 2–mal differenzierbar in x = 0.

Beispiel 5.2Folgende Betrachtungen (Tagaki, 1903) liefern uns eine auf ganz R stetige,aber nirgends differenzierbare Funktion. Wir betrachten die stuckweise lineareFunktion f0 : R −→ R definiert durch

f0(x) :=

x− [x] falls x ∈ [[x], [x] + 1

2 ]

1 − x+ [x] falls x ∈ [[x] + 12 , [x] + 1]

, (5.1)

wobei [x] wie ublich das kleinste Ganze von x bezeichnet (Gaußklammer-Funktion) .

-

6

R

R

12

12 1− 1

2−1

f0

f1

Die Funktion f0 hat also die Periode 1. Wir definieren nun

fn(x) := 4−nf0(4n · x).

Dann hat fn die Periode 4−n. Sei weiterhin f :=∞∑n=0

fn. Dann gilt

(1) fn : R −→ R ist stetig.(2) Es gilt |fn(x)| ≤ 1

24−n = Mn fur alle x ∈ R. Aus den Eigenschaften dergeometrischen Reihe folgt

∞∑

n=0

Mn =1

2

∞∑

n=0

(1

4

)n=

2

3<∞.

Somit ist∞∑n=0

fn gleichmaßig konvergent auf R.

Page 193: Grundkurs Analysis

5.2 Der Mittelwertsatz der Differentialrechnung 185

Aus (1) und (2) folgt, dass f : R −→ R stetig ist. Trotzdem ist f nirgendsdifferenzierbar.

Beweis: Sei x ∈ R beliebig gegeben. Sei n ∈ N und hn := 14 · 4−n oder

hn := − 14 ·4−n, so dass fn zwischen x und x+hn linear ist. Nach Konstruktion

ist fk fur alle k ≤ n zwischen x und x+hn linear. Da die linearen Abschnittevon fn den Anstieg ±1 haben, folgt

fk(x+ hn) − fk(x)

hn= ±1 ∀ k ≤ n.

Fur k > n ist hn = 4−(n+1) eine Periode von fk. Folglich ist fk(x+hn)−fk(x)hn

= 0fur alle k > n und daher gilt

f(x+ hn) − f(x)

hn=

n∑

k=0

fk(x+ hn) − fk(x)

hn=

n∑

k=0

±1,

und diese Partialsummenfolge kann nicht (fur n→ ∞) konvergent sein, denn

die Basisfolge ist keine Nullfolge. Somit existiert f ′(x) = limn→∞

f(x+hn)−f(x)hn

nicht. ⊓⊔

5.2 Der Mittelwertsatz der Differentialrechnung

Definition 5.5. Sei f : [a, b] −→ R. Man sagt: f nimmt in x0 ∈ (a, b) einlokales Maximum (bzw. Minimum) an, falls ein ε > 0 existiert, so dass furalle y ∈ [a, b] mit |y − x0| < ε gilt

f(y) ≤ f(x0) bzw. (f(y) ≥ f(x0)).

6

-

R

R

lok. Maximum

lok. Minimum

f(x01)

f(x02)

x01 x02a b

Satz 5.5 Ist f : [a, b] −→ R differenzierbar und hat f in x0 ∈ (a, b) einlokales Maximum (Minimum), so gilt f ′(x0) = 0.

Page 194: Grundkurs Analysis

186 5 Differentialrechnung fur Funktionen einer reellen Veranderlichen

Beweis: Sei f(x0) lokales Maximum von f . Dann existiert einerseits ein ε > 0,so dass fur alle x > x0 mit |x− x0| < ε

f(x) − f(x0)

x− x0≤ 0

gilt und somit

limx→x+

0

f(x) − f(x0)

x− x0≤ 0. (⋆)

Andererseits einerseits ein ε > 0, so dass fur alle x < x0 mit |x− x0| < ε

f(x) − f(x0)

x− x0≥ 0

gilt und daher

limx→x−

0

f(x) − f(x0)

x− x0≥ 0. (⋆⋆)

Da f ′(x0) = limx→x0

f(x)−f(x0)x−x0

existiert, muss gelten

f ′(x0) = limx→x+

0

f(x) − f(x0)

x− x0= lim

x→x−0

f(x) − f(x0)

x− x0.

Aus (⋆) und (⋆⋆) folgt dann, dass f ′(x0) = 0 ist. ⊓⊔

Bemerkung: Aus f ′(x0) = 0 folgt im Allgemeinen nicht, dass f in x0 einlokales Maximum oder Minimum hat. Wir betrachten zum Beispiel f(x) = x3.Dann ist f ′(0) = 0, aber 0 ist kein lokaler Extremwert von f .

Satz 5.6 (Satz von Rolle) Sei f : [a, b] −→ R stetig und f : (a, b) −→ R

differenzierbar. Weiterhin gelte f(a) = f(b). Dann existiert ein Punkt x0 ∈(a, b) mit f ′(x0) = 0.

Beweis: Ist f konstant auf [a, b], so ist die Behauptung trivial. Ist f nichtkonstant, so existiert ein x1 ∈ (a, b), so dass entweder

f(x1) > f(a) = f(b)

oderf(x1) < f(a) = f(b)

gilt. Wir betrachten zunachst den ersten Fall. Da f : [a, b] −→ R stetig und[a, b] kompakt ist, nimmt f auf [a, b] ein globales Maximum und ein globa-les Minimum an. Das Maximum liegt wegen obiger Aussage nicht auf denRandpunkten. Folglich existiert ein x0 ∈ (a, b)

f(x0) = maxf(x) | x ∈ [a, b].Nach Satz 5.5 folgt dann f ′(x0) = 0. Der Beweis fur den zweiten Fall istanalog. ⊓⊔

Page 195: Grundkurs Analysis

5.2 Der Mittelwertsatz der Differentialrechnung 187

Satz 5.7 (Verallg. Mittelwertsatz der Diff.-rechnung von Cauchy) Seienf, g : [a, b] −→ R stetig und auf (a, b) differenzierbar. Dann existiert einx0 ∈ (a, b) mit

(f(b) − f(a)) · g′(x0) = (g(b) − g(a)) · f ′(x0).

Beweis: Wir betrachten die Funktion

h(x) = [f(b) − f(a)] · g(x) − [g(b) − g(a)] · f(x).

Dann ist h stetig in [a, b] und differenzierbar in (a, b) und es gilt

h(a) = f(b)g(a) − g(b)f(a) = h(b).

Nach dem Satz von Rolle existiert ein x0 ∈ (a, b) mit h′(x0) = 0. Wir erhaltensomit

0 = h′(x0) = (f(b) − f(a))g′(x0) − (g(b) − g(a))f ′(x0).

⊓⊔

Satz 5.8 (Mittelwertsatz von Lagrange) Sei f : [a, b] −→ R stetig undin (a, b) differenzierbar. Dann existiert ein x0 ∈ (a, b), so dass

f(b) − f(a)

b− a= f ′(x0).

Beweis: Folgt aus Satz 5.7 mit g(x) := x. ⊓⊔

Geometrische Bedeutung:Es existiert ein x0 ∈ (a, b), so dass der Anstiegder Tangente in (x0, f(x0)) gleich dem Anstiegder Sekante durch (a, f(a)) und (b, f(b)) ist.

-

6

R

R

a b

x0

Anwendung des Mittelwertsatzes auf den Kurvenverlauf der durchf definierten Kurve

Satz 5.9 Sei f : (a, b) −→ R differenzierbar, a, b ∈ R ∪ ±∞. Dann gilt:

(1) Ist f ′(x) ≥ 0 fur alle x ∈ (a, b), so ist f monoton wachsend. Ist f ′(x) > 0fur alle x ∈ (a, b), so ist f streng monoton wachsend.

(2) Ist f ′(x) ≤ 0 (< 0) fur alle x ∈ (a, b), so ist f (streng) monoton fallend.(3) Ist f ′ ≡ 0 auf (a, b), so ist f konstant.

Page 196: Grundkurs Analysis

188 5 Differentialrechnung fur Funktionen einer reellen Veranderlichen

Beweis: Seien x1, x2 ∈ (a, b), x1 < x2. Wir wenden den Mittelwertsatz vonLagrange auf f |[x1,x2] an. Dann existiert ein y ∈ (x1, x2), so dass

f ′(y) =f(x2) − f(x1)

x2 − x1.

Da x2 − x1 > 0, folgen die Behauptungen aus Satz 5.8. ⊓⊔

Anwendung:

Seien c, A ∈ R gegebene Konstanten. Dann existiert genau eine differenzier-bare Funktion f : R −→ R mit f ′ = c · f und f(0) = A. Diese Funktion istgegeben durch f(x) = Aecx. Zum Beweis setzen wir F (x) = f(x) · e−cx. Danngilt

F ′(x) = f ′(x) · e−cx − c · f(x) · e−cx = (cf − cf)e−cx = 0.

Somit ist F konstant. Da F (0) = A ist, gilt A = f(x) · e−cx. Folglich istf(x) = Aecx. 2

Satz 5.10 Sei f : (a, b) −→ R differenzierbar. Weiterhin sei f in x0 ∈ (a, b)2–mal differenzierbar und es gelte

(1) f(x0) = 0,(2) f ′′(x0) < 0 (bzw. f ′′(x0) > 0).

Dann hat f in x0 ein isoliertes lokales Maximum (Minimum), das heißt, esexistiert ein ε > 0, so dass fur alle x mit 0 < |x− x0| < ε

f(x) < f(x0) (bzw. f(x) > f(x0)).

gilt.

Beweis: Wir beweisen nur den Fall f ′′(x0) < 0. (f ′′(x0) > 0 analog.) Aus

f ′′(x0) = limx→x0

f ′(x) − f ′(x0)

x− x0< 0

folgt, dass ein ε > 0 existiert, so dass fur alle x mit 0 < |x− x0| < ε

f ′(x) − f ′(x0)

x− x0< 0

gilt. Da f ′(x0) = 0 ist, erhalt man

f ′(x) < 0, fur alle x > x0 mit x− x0 < ε

undf ′(x) > 0, fur alle x < x0 mit x0 − x < ε.

Nach Satz 5.9 ist daher f |(x0−ε,x0) streng monoton wachsend, wahrend f |(x0,x0+ε)

streng monoton fallend ist. Somit hat f in x0 ein isoliertes lokales Maximum.⊓⊔

Page 197: Grundkurs Analysis

5.2 Der Mittelwertsatz der Differentialrechnung 189

Definition 5.6. Sei D ⊂ R offenes Intervall. Eine Funktion f : D −→ R

heißt

(1) konvex, falls

f(λx1 + (1 − λ)x2) ≤ λf(x1) + (1 − λ)f(x2) ∀x1, x2 ∈ D, λ ∈ (0, 1),

(2) konkav, falls

f(λx1 + (1 − λ)x2) ≥ λf(x1) + (1 − λ)f(x2) ∀x1, x2 ∈ D, λ ∈ (0, 1).

Geometrische Bedeutung:

Ist f konvex, so liegt die Kurve graph(f) unterhalb der Geraden durch(x1, f(x1)) und (x2, f(x2)) fur beliebige x1, x2 ∈ D. Ist f konkav, so liegtgraph(f) oberhalb der Geraden durch (x1, f(x1) und (x2, f(x2)) fur beliebigex1, x2 ∈ D.

-

6

R

R

x1 x2

f ist konkav

f(x1)

f(x2)

-

6

R

R

x1 x2

f ist konvex

f(x1)

f(x2)

Satz 5.11 Sei D ⊂ R ein offenes Intervall und f : D −→ R zweimal diffe-renzierbar. Dann gilt:

(1) f ist genau dann konvex, wenn f ′′(x) ≥ 0 fur alle x ∈ D.(2) f ist genau dann konkav, wenn f ′′(x) ≤ 0 fur alle x ∈ D.

Beweis: Wir zeigen nur die Behauptung (1). Der Beweis der Behauptung (2)ist analog.(⇐)Sei f ′′(x) ≥ 0 fur alle x ∈ D. Nach Satz 5.9 ist f ′ auf D monoton wachsend.Seien x1, x2 ∈ D, λ ∈ (0, 1). Wir setzen x := λx1 + (1 − λ)x2 mit x1 < x2.Dann ist x1 < x < x2. Nach dem Mittelwertsatz existieren ein ξ1 ∈ (x1, x)und ein ξ2 ∈ (x, x2), so dass

f(x) − f(x1)

x− x1= f ′(ξ1) ≤ f ′(ξ2) =

f(x2) − f(x)

x2 − x.

Da x− x1 = (1 − λ)(x2 − x1) und x2 − x = λ(x2 − x1) gilt, erhalten wir

Page 198: Grundkurs Analysis

190 5 Differentialrechnung fur Funktionen einer reellen Veranderlichen

f(x) − f(x1)

1 − λ≤ f(x2) − f(x)

λ.

Daraus folgtf(x) ≤ λf(x1) + (1 − λ)f(x2).

Somit ist f konvex.

(⇒)Sei f konvex. Wir nehmen an, dass ein x0 ∈ D existiert mit f ′′(x0) < 0.Sei c := f ′(x0) und ϕ := f(x) − c(x − x0) fur x ∈ D. Dann ist ϕ zweimaldifferenzierbar und es gilt ϕ′(x0) = 0, ϕ′′(x0) < 0. Nach Satz 5.10 hat daherϕ in x0 ein isoliertes lokales Maximum, das heißt, es existiert ein h > 0 mit[x0 − h, x0 + h] ⊂ D, so dass

ϕ(x0 − h) < ϕ(x0), wahrend ϕ(x0 + h) < ϕ(x0)

ist. Deshalb gilt

f(x0) = ϕ(x0) >1

2(ϕ(x0 − h) + ϕ(x0 + h)) =

1

2(f(x0 − h) + f(x0 + h)).

Mit λ = 12 , x1 = x0 − h und x2 = x0 + h folgt, dass f nicht konvex ist. ⊓⊔

Definition 5.7. Sei D ⊂ R ein offenes Intervall und f : D −→ R stetig. DerPunkt x0 ∈ D heißt Wendepunkt, wenn eine Umgebung (x0 − ε, x0 + ε) ⊂ Dvon x0 existiert, so dass entweder f |(x0−ε,x0) konkav und f |(x0,x0+ε) konvexist oder Umgekehrtes gilt.

Satz 5.12 Sei f : (a, b) ⊂ R −→ R zweimal stetig differenzierbar. Ist x0 ∈(a, b) ein Wendepunkt von f , so gilt f ′′(x0) = 0.

Beweis: Folgerung aus Satz 5.11 ⊓⊔

Bemerkung: Der Mittelwertsatz der Differentialrechnung gilt nicht fur vek-torwertige Funktionen. Wir betrachten dazu die Funktion

f : [0, 2π] −→ R2

t 7→ f(t) = (cos(t), sin(t)).

Es gilt f(2π)− f(0) = (0, 0), also f(2π)−f(0)2π−0 = 0. Betrachten wir aber die Ab-

leitung f ′, dann erhalten wir f ′(t) = (− sin(t), cos(t)). Somit ist |f ′(t)| = 1,d.h. f ′(t) 6= 0 fur alle t ∈ [0, 2π]. 2

Page 199: Grundkurs Analysis

5.2 Der Mittelwertsatz der Differentialrechnung 191

Satz 5.13 (Mittelwertsatz fur Vektorfunktionen) Sei (E, ‖·‖) ein nor-mierter Vektorraum, f : [a, b] −→ E stetig und auf (a, b) differenzierbar. Dannexistiert ein Punkt x0 ∈ (a, b), so dass gilt

‖f(b) − f(a)‖ ≤ (b − a)‖f ′(x0)‖.

Zum Beweis des Satzes benotigen wir das folgende Lemma:

Lemma 5.8. Sei f : [a, b] −→ E in x0 ∈ (a, b) differenzierbar, seien

(αk), (βk) ⊂ [a, b] Folgen mit αk < x0 < βk, αkk→∞−→ x0, und βk

k→∞−→ x0

fur alle k ∈ N. Dann gilt

limk→∞

f(βk) − f(αk)

βk − αk= f ′(x0).

Beweis: Wir betrachten yk := βk−x0

βk−αk∈ (0, 1). Es gilt

f(βk) − f(αk)

βk − αk− f ′(x0)

= yk︸︷︷︸beschr.

(f(βk) − f(x0)

βk − x0− f ′(x0)

)

︸ ︷︷ ︸k→∞−→0

+ (1 − yk)︸ ︷︷ ︸beschr.

(f(αk) − f(x0)

αk − x0− f ′(x0)

)

︸ ︷︷ ︸k→∞−→0

.

Damit folgt die Behauptung. ⊓⊔

Beweis:[des Satzes 5.13]Sei L := b−a

3 und M := ‖f(b) − f(a)‖. Wir betrachten die Funktion g :[a, a+ 2L] ⊂ R −→ E, definiert durch g(s) := f(s+ L) − f(s). Dann folgt

g(a) + g(a+ L) + g(a+ 2L) = f(b) − f(a)

und somitM ≤ ‖g(a)‖ + ‖g(a+ L)‖ + ‖g(a+ 2L) (⋆).

Wir zeigen zunachst, dass ein s1 ∈ (a, a + 2L) mit ‖g(s1)‖ ≥ 13M existiert.

Wir nehmen an, dass fur alle s1 ∈ (a, a + 2L) gilt ‖g(s1)‖ < 13M . Da g :

[a, a+ 2L] −→ E stetig ist, erhalten wir auch

‖g(a)‖ ≤ 1

3M, ‖g(a+ 2L)‖ ≤ 1

3M,

im Widerspruch zu (⋆). Sei nun t1 := s1 + L ∈ (a, b). Dann gilt

(1) a < s1 < t1 < b und t1 − s1 = L =b− a

3,

(2) ‖g(s1)‖ = ‖f(t1) − f(s1)‖ ≥ 1

3M.

Page 200: Grundkurs Analysis

192 5 Differentialrechnung fur Funktionen einer reellen Veranderlichen

Wir wiederholen nun diese Konstruktion, indem wir statt des Intervalls [a, b]das Intervall [s1, t1] betrachten. Dadurch erhalten wir Folgen (sn) und (tn),so dass gilt

tn − sn =1

3n(b− a), ‖f(tn) − f(sn)‖ ≥ 1

3n·M, [sn, tn] ⊂ [sn−1, tn−1].

Wir haben also eine Intervallschachtelung In := [sn, tn], bei der die Lange derIntervalle In gegen 0 konvergiert. Nach dem Satz uber die Intervallschachte-

lung existiert dann ein x0 ∈ R mit∞⋂n=1

In = x0. Es gilt somit

sn −→ x0, tn −→ x0, sn < x0 < tn

und‖f(tn) − f(sn)‖

tn − sn≥ M

(tn − sn) · 3n=

M

b − a.

Aus Lemma 5.8 folgt nun

f ′(x0) = limn→∞

f(tn) − f(sn)

tn − sn

und damit

‖f ′(x0)‖ = ‖ limn→∞

f(tn) − f(sn)

tn − sn‖ = lim

n→∞‖f(tn) − f(sn)‖

tn − sn

≥ M

b− a=

‖f(b)− f(a)‖b− a

.

⊓⊔

Satz 5.14 Sei f : [a, b] −→ E stetig–differenzierbar. Dann ist f Lipschitz-stetig.

Beweis: Nach Voraussetzung ist f ′ ∈ C([a, b], E). Folglich existiert

‖f ′‖∞ := max‖f ′(x)‖E | x ∈ [a, b] ∈ R.

Seien x1, x2 ∈ [a, b] und o.B.d.A. x1 > x2. Dann folgt aus Satz 5.13, dass einξ ∈ [x2, x1] existiert, so dass

‖f(x1) − f(x2)‖ ≤ ‖f ′(ξ)‖E · |x1 − x2| ≤ ‖f ′‖∞︸ ︷︷ ︸=:L

·‖x1 − x2‖.

Dies aber bedeutet, dass f Lipschitz-stetig mit der Lipschitz-Konstanten List. ⊓⊔

Page 201: Grundkurs Analysis

5.2 Der Mittelwertsatz der Differentialrechnung 193

Die Regeln von L’Hospital

Satz 5.15 Sei [a, b] ⊂ R ein beschranktes Intervall und x0 ∈ [a, b]. Es seienf, g : (a, b) \ x0 −→ R differenzierbare Funktionen mit

(1) limx→x0

f(x) = limx→x0

g(x) ∈ 0,±∞,(2) g′(x) 6= 0 fur alle x ∈ (a, b) \ x0,(3) lim

x→x0

f ′(x)g′(x) = c ∈ R ∪ ±∞.

Dann gilt limx→x0

f(x)g(x) = c.

Beweis: 1. Fall: limx→x0

f(x) = limx→x0

g(x) = 0.

Wir setzen f und g in x0 durch f(x0) := g(x0) := 0 fort. Dann sindf, g : (a, b) −→ R stetig in x0. Wir betrachten nun eine Folge (xn), diegegen x0 konvergiert, wobei xn 6= x0 fur alle n ∈ N gelten soll. Dann sindf, g : [xn, x0] −→ R stetig und in (xn, x0) differenzierbar, falls xn < x0 (an-sonsten betrachten wir [x0, xn]). Weiterhin gilt f(x0) = g(x0) = 0. Nachdem verallgemeinerten Mittelwertsatz (5.7) existiert ein ξn ∈ (xn, x0) (bzw.ξn ∈ (x0, xn)), so dass gilt

f(xn)g′(ξn) = g(xn)f′(ξn).

Nach dem Satz von Rolle (5.6) ist g(xn) 6= 0 = g(x0). Anderenfalls existier-

te ein ξn ∈ (xn, x0) (bzw. ein ξn ∈ (x0, xn)), so dass g′(ξn) = 0 ware, imWiderspruch zur Voraussetzung (1). Damit folgt

f(xn)

g(xn)=f ′(ξn)

g′(ξn).

Da (xn) gegen x0 konvergiert, ist auch (ξn) gegen x0 konvergent und wirerhalten

limn→∞

f(xn)

g(xn)= lim

n→∞f ′(ξn)

g′(ξn)= limx→x0

f ′(x)

g′(x)= c.

2. Fall: limx→x0

g(x) = +∞ und limx→x0

f ′(x)g′(x) = 0.

Es sei ε > 0 und (xn) eine gegen x0 konvergente Folge mit xn < x0. Dannexistiert ein x⋆ ∈ (a, x0), so dass fur alle x ∈ (x∗, x0) gilt

g(x) > 0, und

∣∣∣∣f ′(x)

g′(x)

∣∣∣∣ < ε.

Weiterhin gilt

f(xn)

g(xn)=f(x⋆)

g(xn)+f(xn) − f(x⋆)

g(xn) − g(x⋆)·(

1 − g(x⋆)

g(xn)

). (⋆)

Page 202: Grundkurs Analysis

194 5 Differentialrechnung fur Funktionen einer reellen Veranderlichen

Ab einem Index n0 ist jedes xn ∈ (x⋆, x0). Durch Anwendung des verallge-meinerten Mittelwertsatzes auf das Intervall [x⋆, xn] erhalten wir daher, dassfur alle n ≥ n0 ein ξn ∈ (x⋆, xn) existiert, so dass

f(xn) − f(x⋆)

g(xn) − g(x⋆)=f ′(ξn)

g′(ξn).

Eingesetzt in Gleichung (⋆), ergibt dies

∣∣∣∣f(xn)

g(xn)

∣∣∣∣ ≤∣∣∣∣f(x⋆)

g(xn)

∣∣∣∣+∣∣∣∣f ′(ξn)

g′(ξn)

∣∣∣∣︸ ︷︷ ︸

∣∣∣∣1 − g(x⋆)

g(xn)

∣∣∣∣

und damit ∣∣∣∣f(xn)

g(xn)

∣∣∣∣ ≤∣∣∣∣f(x∗)

g(xn)

∣∣∣∣+ ε

∣∣∣∣1 − g(x∗)

g(xn)

∣∣∣∣ .

Da g(xn) gegen +∞ fur xnn→∞−→ x0 konvergiert, folgt

∣∣∣∣f(x⋆)

g(xn)

∣∣∣∣ −→ 0, limn→∞

g(x⋆)

g(xn)= 0

und somit

lim supn→∞

∣∣∣∣f(xn)

g(xn)

∣∣∣∣ < ε.

ε kann beliebige Werte annehmen kann, deshalb erhalten wir

limn→∞

∣∣∣∣f(xn)

g(xn)

∣∣∣∣ = 0

fur alle Folgen (xn) mit xn −→ x0,xn < x0.Analog behandelt man Folgen xn −→ x0 mit xn > x0. Somit gilt fur alleFolgen (xn) mit xn −→ x0

limn→∞

f(xn)

g(xn)= 0,

also

limx→x0

f(x)

g(x)= 0.

3. Fall: limx→x0

g(x) = +∞ und limx→x0

f ′(x)g′(x) = c ∈ R beliebig, aber endlich.

Wir betrachten die Funktion f1(x) := f(x) − c · g(x). Dann ist

limx→x0

f ′1(x)

g′(x)= limx→x0

f ′(x)

g′(x)− c = 0.

Da limx→x0

g(x) = ∞ ist, konnen wir den Fall 2 anwenden und erhalten

Page 203: Grundkurs Analysis

5.2 Der Mittelwertsatz der Differentialrechnung 195

limx→x0

f1(x)

g(x)= 0.

Daraus folgt

limx→x0

f(x)

g(x)= c+ lim

x→x0

f1(x)

g(x)= c.

4. Fall: limx→x0

f(x) = limx→x0

g(x) = +∞ und limx→x0

f ′(x)g′(x) = ∞.

Dann gilt limx→x0

g′(x)f ′(x) = 0 und aus Fall (2) folgt sofort lim

x→x0

g(x)f(x) = 0. Da f(x)

und g(x) fur x −→ x0 gegen +∞ konvergieren, sind f und g positiv in einer

Umgebung von x0. Folglich gilt limx→x0

f(x)g(x) = +∞.

5. Fall: limx→x0

f(x) = limx→x0

g(x) = +∞.

Dann ist limx→x0

f ′(x)g′(x) = −∞ unmoglich, denn sonst ware f oder g in einer

Umgebung von x0 eine monoton fallende Funktion. ⊓⊔

Satz 5.16 Seien f, g : (a,∞) −→ R differenzierbar und g′(x) 6= 0 fur alle

x ∈ (a,∞). Ist limx→∞

f(x) = limx→∞

g(x) ∈ 0,±∞ und limx→∞

f ′(x)g′(x) = c ∈

R ∪ ±∞, so gilt

limx→∞

f(x)

g(x)= c.

Beweis: O.B.d.A. sei a > 0. Wir betrachten die Funktionen f1(x) = f( 1x)

und g1(x) = g( 1x) auf dem Intervall (0, 1

a). Dann gilt

f ′1(x) = − 1

x2f ′(

1

x

)und g′1(x) = − 1

x2g′(

1

x

)6= 0

und daher

limx→0

f ′1(x)

g′1(x)= limx→0

f ′( 1x)

g′( 1x)

Vor.= c

Mit Satz 5.15 folgt dann

limx→∞

f(x)

g(x)= lim

x→0

f1(x)

g1(x)= c.

⊓⊔Beispiele:

(1) limx→0

ln(1+x)x

= limx→0

11+x

1 = 1,

(2) limx→0

ex−1x

= limx→0

ex

1 = 1,

(3) limx→0

(cosx)1x = lim

x→0e

1x

ln(cosx) = elimx→0

1x

ln(cosx)= e

limx→0

1cos x

·(− sin x)= e0 =

1.

Page 204: Grundkurs Analysis

196 5 Differentialrechnung fur Funktionen einer reellen Veranderlichen

5.3 Differentiation von Funktionenfolgen und -Reihen

Sei fn : [a, b] −→ R eine Folge differenzierbarer Funktionen, die gleichmaßiggegen eine Funktion f konvergiert. Dann muß (f ′

n) im Allgemeinen nichtkonvergieren. Sei zum Beispiel fn(x) = 1

nsin(nx). Dann konvergiert (fn)

gleichmaßig auf [0, 2π] gegen 0, aber f ′n(x) = cos(nx) konvergiert in keinem

Punkt x 6= 0. Fur x = π gilt z.B.

f ′k(π) =

1, k gerade

−1, k ungerade.

Satz 5.17 Sei E ein Banachraum, fn : [a, b] ⊂ R −→ E differenzierbar furalle n ∈ N und gelte(1) ∃ x0 ∈ [a, b] : (fn(x0)) konvergiert in E,(2) (f ′

n) konvergiert gleichmaßig auf [a, b].Dann konvergiert auch (fn) gleichmaßig auf [a, b] gegen eine Funktionf : [a, b] −→ E. f ist differenzierbar und es gilt

f ′(x) = limn→∞

f ′n(x).

Das heißt: lim und ddx

sind vertauschbar.

Beweis: (1) Sei ε > 0. Da (fn(x0)) konvergent ist, existiert ein n0 ∈ N, sodass fur alle m ≥ n ≥ n0

‖fn(x0) − fm(x0)‖ <ε

2(A)

gilt. Weil (f ′n) gleichmaßig konvergiert, gibt es ein n0 ∈ N, so dass fur alle

t ∈ [a, b] und fur alle m ≥ n ≥ n0

‖f ′n(t) − f ′

m(t)‖ < ε

2(b− a). (B)

gilt. Wir wenden den Mittelwertsatz fur Vektorfunktionen auf fn − fm :[a, b] −→ E an: Fur zwei Werte x, t ∈ [a, b] existiert ein ϑm,n ∈ [x, t] (bzw.∈ [t, x]) mit

‖fn(x) − fm(x) − fn(t) + fm(t)‖ ≤ |x− t| · ‖f ′n(ϑm,n) − f ′

m(ϑm,n)‖.

Mit (A) folgt dann ∀m ≥ n ≥ n0 und ∀x, t ∈ [a, b]

‖fn(x) − fm(x) − fn(t) + fm(t)‖ ≤ |x− t| · ε

2(b− a)≤ ε

2. (C)

Daher ist fur t = x0 mit (C) und (A)

‖fn(x) − fm(x)‖ ≤ ‖fn(x) − fm(x) − fn(x0) + fm(x0)‖ + ‖fn(x0) − fm(x0)‖<ε

2+ε

2= ε. (D)

Page 205: Grundkurs Analysis

5.3 Differentiation von Funktionenfolgen und -Reihen 197

fur alle m ≥ n ≥ n0 und fur alle x, t ∈ [a, b]. Somit ist (fn(x)) eine(gleichmaßige) Cauchyfolge in E. Da E vollstandig ist, existiert eine Funk-tion f : [a, b] −→ E, so dass

f(x) = limn→∞

fn(x) ∀x ∈ [a, b].

Gehen wir in (D) mit m gegen ∞, so folgt

∀x ∈ [a, b] ∀n ≥ n0 : ‖fn(x) − f(x)‖ < ε.

Daher konvergiert (fn) gleichmaßig gegen f auf [a, b].

(2) Es ist zu zeigen, dass f differenzierbar ist und f ′(x) = limn→∞

f ′n(x) gilt.

Sei x ∈ [a, b] fest. Wir definieren ϕn : [a, b] −→ E durch

ϕn(t) :=

fn(t)−fn(x)

t−x x 6= t

f ′n(x) x = t.

Da fn stetig und limt→x

fn(t)−fn(x)t−x = f ′

n(x) existiert, ist ϕn : [a, b] −→ E stetig.

Fur x 6= t gilt mit (C)

‖ϕn(t) − ϕm(t)‖ =1

|t− x| ‖fn(t) − fm(t) − fn(x) + fm(x)‖

≤ ε

2(b− a)∀n,m ≥ n0.

Da ϕn − ϕm stetig ist, haben wir auch eine Abschatzung fur x = t. Also ist

‖ϕn(t) − ϕm(t)‖ ≤ ε

2(b− a)∀n,m ≥ n0 ∀ t ∈ [a, b].

Somit konvergiert die Folge (ϕn) gleichmaßig auf [a, b] fur festes x ∈ [a, b].Wir setzen ϕ(t) = lim

n→∞ϕn(t). Da ϕn stetig ist fur alle n ∈ N und die Folge

(ϕn) gleichmaßig gegen ϕ konvergiert, ist auch ϕ stetig. Wir erhalten

ϕ(x) = limt→x

ϕ(t) = limt→x

limn→∞

ϕn(t)

= limt→x

(limn→∞

fn(t) − fn(x)

t− x

)= lim

t→x

f(t) − f(x)

t− x.

Folglich ist f in x ∈ [a, b] differenzierbar und es gilt

f ′(x) = ϕ(x) = limn→∞

ϕn(x) = limn→∞

f ′n(x).

⊓⊔Als Anwendung erhalten wir

Page 206: Grundkurs Analysis

198 5 Differentialrechnung fur Funktionen einer reellen Veranderlichen

Satz 5.18 Sei E ein Banachraum und fn : [a, b] −→ E eine Folge differen-zierbarer Funktionen mit

(1)∞∑n=1

fn(x0) konvergiert fur mindestens ein x0 ∈ [a, b].

(2)∞∑n=1

f ′n konvergiert gleichmaßig auf [a, b].

Dann konvergiert∞∑n=1

fn gleichmaßig auf [a, b], die Grenzfunktion

f(x) :=

∞∑

n=1

fn(x)

ist differenzierbar und

f ′(x) =d

dx

( ∞∑

n=1

fn(x)

)=

∞∑

n=1

f ′n(x).

Anwendung auf Potenzreihen

Satz 5.19 Sei E ein Banachraum und P (x) =∞∑n=0

an(x− x0)n eine Potenz-

reihe mit dem Zentrum x0 ∈ R, dem Konvergenzradius R und an ∈ E. Dannist P : (x0 −R, x0 +R) ⊂ R −→ E differenzierbar und es gilt

P ′(x) =

∞∑

n=1

ann(x− x0)n−1.

Beweis: Sei fn(x) := an(x − x0)n. Nach Satz 5.18 ist fn : R −→ E differen-

zierbar und es gilt

f ′n(x) = ann(x− x0)

n−1, f ′0(x) = 0.

Offensichtlich konvergiert P (x) fur x = x0. Wir betrachten nun die Reihe

Q(x) :=

∞∑

n=1

n · an(x− x0)n−1 =

∞∑

n=0

f ′n(x).

und berechnen den Konvergenzradius der Potenzreihe Q:

λ := lim supn→∞

n√n‖an‖ = lim sup

n→∞n√‖an‖ =

1

R,

wobei R der Konvergenzradius von P ist. Folglich ist R auch der Konvergenz-radius von Q.

Page 207: Grundkurs Analysis

5.3 Differentiation von Funktionenfolgen und -Reihen 199

Nach Satz 4.30 konvergiert Q gleichmaßig auf jedem kompakten Teilintervalldes Konvergenzintervalls (x0 −R, x0 +R).P ist also fur alle ε > 0 auf dem Intervall Iε = [x0 − R + ε, x0 + R − ε]differenzierbar und es gilt

P ′(x) =

∞∑

n=1

nan(x − x0)n−1 ∀x ∈ Iε.

Mit ε gegen 0 folgt die Behauptung. ⊓⊔

Anwendung: Berechnung von π.

Dazu betrachten wir arctan : R −→ (−π2 ,

π2 ).

-

6

R

R

1

π4

π2

−π2

arctan

Einerseits gilt arctan′(x) = 11+x2 (Ubungsaufgabe). Andererseits folgt aus

der geometrischen Reihe fur x ∈ (−1, 1), dass∞∑k=0

(−x2)k = 11+x2 . Folglich

gilt arctan′(x) =∞∑k=0

(−1)kx2k fur alle x ∈ (−1, 1). Die Reihe∞∑k=0

(−1)kx2k

konvergiert auf (−1, 1) und ist die Ableitung der auf (−1, 1) konvergentenPotenzreihe

Q(x) =

∞∑

k=0

(−1)kx2k+1

2k + 1.

Folglich ist arctan′(x) = Q′(x) auf (−1, 1) und es gilt

arctan(x) = Q(x) + C, Q(0) = 0, arctan(0) = 0

Daher ist C = 0 und damit

arctan(x) =∞∑

k=0

(−1)kx2k+1

2k + 1, fur alle |x| < 1.

Nach dem Leibnizkriterium fur alternierende Reihen ist Q(1) = 1 − 13 + 1

5 −17 ± . . . konvergent und es gilt Q(−1) = −Q(1).Nach dem abelschen Grenzwertsatz (Satz 4.31) ist damit Q in x = ±1 (ein-seitig) stetig und

Q(±1) = limx→±1

Q(x) = limx→±1

arctan(x) = arctan(±1).

Wir erhalten

Page 208: Grundkurs Analysis

200 5 Differentialrechnung fur Funktionen einer reellen Veranderlichen

arctanx =∞∑k=0

(−1)k x2k+1

2k+1 ∀ |x| ≤ 1.

Da arctan(1) = π4 ist, gilt die Leibnizformel

π

4= 1 − 1

3+

1

5− 1

7± . . . .

Diese Reihe konvergiert sehr langsam gegen π4 . Man benotigt 1000 Summan-

den, um π auf 3 Stellen genau zu erhalten. Schneller konvergente Reihen erhaltman folgendermaßen:

Durch Umkehrung der Additionstheoreme folgt

arctan(x) + arctan(y) = arctan

(x+ y

1 − x · y

)(x · y 6= 1)

und daher mit x = y = 15

2 arctan

(1

5

)= arctan

(5

12

),

bzw. mit x = y = 512

2 arctan

(5

12

)= arctan

(120

119

).

Einsetzen von x = 1 und y = 1239 in obige Formel liefert

arctan(1) + arctan

(1

239

)= arctan

(120

119

).

Daraus folgt

π

4= arctan(1)

= 4 · arctan1

5− arctan

1

239(∗)

= 4 ·∞∑

k=0

(−1)k

2k + 1

(1

5

)2k+1

−∞∑

k=0

(−1)k

2k + 1

(1

239

)2k+1

. (⋆⋆)

(∗) heißt die Machinsche Formel. Ist∞∑k=0

(−1)kak eine alternierende Reihe mit

monoton fallender Nullfolge (ak), ak > 0 fur alle k ∈ N0, dann erhalt man furden Fehler bei der Naherungsrechnung (nach Satz 3.9)

|s−n∑

k=0

(−1)kak| ≤ an+1.

Page 209: Grundkurs Analysis

5.4 Taylorreihen 201

Fur den Fehler F1 bei Addition von 8 Reihengliedern der ersten Reihe in (⋆⋆)gilt

F1 ≤ 4

17· 1

517︸ ︷︷ ︸=a8

< 4 · 10−13.

Fur den Fehler F2 bei Addition von 2 Reihengliedern der zweiten Reihe in(⋆⋆) gilt

F2 ≤ 1

5· 1

2395︸ ︷︷ ︸a2

< 3 · 10−13.

Somit ist der Fehler bei Addition der ersten 8 Reihenglieder kleiner als 3·10−12

und wir erhalten eine Naherung fur π:

π = 3.1415926535+R, |R| < 10−11.

5.4 Taylorreihen

Das Ziel dieses Abschnitts ist die Approximation von Funktionen durch Po-lynome und die Entwicklung von Funktionen in Reihen. Dazu werden wirzunachst zur Abkurzung einige Bezeichnungen einfuhren.

Die Landau-Symbole

Sei h : I ⊂ R → E eine Funktion mit Werten in einem reellen normiertenVektorraum E, g : I ⊂ R → R eine reellwertige Funktion und x0 ∈ I.

• h(x) = o(g(x)) fur x→ x0 , ist die Abkurzung fur die Eigenschaft

limx→x0

h(x)

g(x)= 0.

• h(x) = O(g(x)) fur x → x0 , ist die Abkurzung dafur, dass es eineKonstante C > 0 und ein Intervall (x0 − ε, x0 + ε) gibt mit

‖h(x)‖ ≤ C |g(x)| fur alle x ∈ (x0 − ε, x0 + ε) ∩ I.• h1(x) = h2(x)+o(g(x)) fur x→ x0 , ist die Abkurzung fur h1(x)−h2(x) =

o(g(x)) fur x→ x0 . Analog fur O(g(x)).• Insbesondere heißt h(x) = o((x − x0)

n) fur x→ x0 , dass

limx→x0

h(x)

(x− x0)n= 0.

h(x) geht fur x → x0 also schneller gegen 0 als (x − x0)n. Man sagt auch

”h verschwindet in x0 von hoherer als n-ter Ordnung “.

Fur h1(x) = h2(x) + o((x − x0)n) fur x → x0, sagt man auch

”h2 appro-

ximiert h1 in x0 von hoherer als n-ter Ordnung “.

Page 210: Grundkurs Analysis

202 5 Differentialrechnung fur Funktionen einer reellen Veranderlichen

• Zur Eigenschaft h(x) = O((x − x0)n) fur x→ x0 , d. h.

‖h(x)‖ ≤ C |x− x0|n, fur alle x ∈ (x0 − ε, x0 + ε) ∩ I

sagt man auch”h wachst in x0 von hochstens n-ter Ordnung “.

Definition 5.9. Sei U ⊂ R offen und E ein normierter Vektorraum. EineAbbildung

f : U ⊂ R −→ E

heißt reell–analytisch in x0 ∈ U , falls eine Potenzreihe∞∑k=0

ak(x − x0)k, mit

ak ∈ E fur alle k ∈ N0, Zentrum x0 ∈ R und positivem Konvergenzradiusρ(x0) > 0 existiert, so dass gilt

f(x) =

∞∑

k=0

ak(x − x0)k, ∀x ∈ U ∩ (x0 − ρ, x0 + ρ).

Bemerkung:(1) Man sagt auch: f ist in einer Umgebung von x0 in eine Potenzreihe ent-wickelbar.(2) f : U ⊂ R −→ E heißt reell–analytisch, wenn f in jedem Punkt x0 ∈ Ureell–analytisch ist.(3) Cw(U ;E) bezeichne den Vektorraum der reell–analytischen Funktionen.

Beispiele

(1) Jede Potenzreihe f(x) :=∞∑k=0

ak(x − x0)k mit Konvergenzradius ρ > 0 ist

in x0 reell–analytisch.(2) exp, sin, cos, sinh, cosh sind reell–analytisch auf R.

Satz 5.20 Sei E ein Banachraum und f : U ⊂ R −→ E reell–analytischin x0 ∈ U . Dann ist f in einer Umgebung U von x0 unendlich oft stetigdifferenzierbar und es gilt:

f(x) =

∞∑

n=0

f (n)(x0)

n!· (x − x0)

n, ∀x ∈ U .

Beweis: Sei f(x) =∞∑k=0

ak(x − x0)k fur alle x ∈ U ∩ (x0 − ρ, x0 + ρ) =: U .

Nach Satz 5.19 existiert f ′ auf U und

f ′(x) =

∞∑

k=1

k · ak(x − x0)k−1, ∀x ∈ U .

Page 211: Grundkurs Analysis

5.4 Taylorreihen 203

Diese Potenzreihe hat den gleichen Konvergenzradius wie f . Nach Satz 5.19existiert wiederum f ′′(x) mit

f ′′(x) =

∞∑

k=2

k(k − 1)ak(x− x0)k−2, ∀x ∈ U .

Durch weiteres Anwenden des Satzes 5.19 erhalten wir alle Ableitungen vonf in der Umgebung U von x0:

f (n)(x) =∞∑

k=n

k(k − 1) · . . . · (k − n+ 1)ak(x− x0)k−n.

Da offensichtlich fur jedes n ∈ N0

f (n)(x0) = n! · an

gilt, folgt die Behauptung. ⊓⊔

Wir suchen nun nach einer hinreichenden Bedingung dafur, dass eine Funkti-on f : U ⊂ R −→ E in einem Punkt x0 reell–analytisch ist.

Definition 5.10. Sei I ⊂ R ein beliebiges Intervall, x0 ∈ I und f : I −→ En–mal in x0 differenzierbar. Dann heißt

Tn(f, x0)(x) :=n∑

k=0

f (k)(x0)

k!(x− x0)

k

n–tes Taylorpolynom von f in x0.

Sei f : I ⊂ R −→ E unendlich oft differenzierbar in x0 ∈ U . Dann heißt dieReihe

T (f, x0)(x) :=

∞∑

k=0

f (k)(x0)

k!(x− x0)

k

Taylorreihe von f in x0 (formale Reihe).

Bemerkung:(a) Tn(f, x0)(x) ist n–te Partialsumme von T (f, x0)(x).(b) Tn(f, x0) ist n–mal differenzierbar und es gilt

dl

dxlTn(f, x0)(x0) = f (l)(x0), ∀ l ≤ n

Page 212: Grundkurs Analysis

204 5 Differentialrechnung fur Funktionen einer reellen Veranderlichen

Definition 5.11. Sei f : I → E (I ⊂ R Intervall, E Banachraum) n-fachdifferenzierbar. Dann heißt

Rn(f, x0) := f − Tn(f, x0) ∈ C(n)(I, E)

das n-te Restglied von f in x0.

Rn beschreibt also die Abweichung des n-ten Taylorpolynoms von f .

Satz 5.21 Sei f : I ⊂ R −→ E n–mal differenzierbar, x0 ∈ I. Dann gilt

(1)d(l)

(dx)(l)(Rn(f, x0))(x0) = 0, ∀ l ∈ 0, . . . , n,

(2) limx→x0

‖Rn(f, x0)(x)‖|x− x0|n

= 0.

Beweis: Wir beweisen den Satz durch Induktion uber n:Ind.–Anfang: Sei n = 1. Dann definiert T1(f, x0) die Tangente an den Graphengraph(f) der Funktion f in (x0, f(x0)), das heißt, die Behauptung ist erfullt.Ind.–Voraussetzung: Die Behauptung sei fur n richtig.Ind.–Behauptung: Die Behauptung ist fur n+ 1 richtig.Ind.–Beweis: Sei f : I ⊂ R −→ E (n+ 1)–mal differenzierbar. Dann ist

Rn+1 := Rn+1(f, x0) = f − Tn+1(f, x0)

(n+ 1)–mal differenzierbar und R(l)n+1(x0) = 0 fur alle l ∈ 0, . . . , n+ 1. Wir

betrachten nun die Funktion R′n+1 : I −→ E. Offensichtlich ist R′

n+1 n–mal

differenzierbar und es gilt (R′n+1)

(l)(x0) = 0 fur alle l ∈ 0, . . . , n. Folglichist Tn(R

′n+1, x0) ≡ 0 auf I und es gilt nach Induktionsvoraussetzung

limx→x0

‖R′n+1(x)‖

|x− x0|n= 0.

Folglich existiert fur alle ε > 0 ein δ > 0, so dass

‖R′n+1(x)‖

|x− x0|n< ε fur alle x mit 0 < |x− x0| < δ (⋆).

Sei x ∈ I mit 0 < |x − x0| < δ. Dann ist Rn+1 auf [x, x0] bzw. [x0, x] dif-ferenzierbar und nach dem Mittelwertsatz fur Vektorfunktionen existiert einξ ∈ (x, x0) bzw. ξ ∈ (x0, x), so dass gilt

‖Rn+1(x) −Rn+1(x0)︸ ︷︷ ︸=0

‖E ≤ ‖R′n+1(ξ)‖E |x− x0|

(⋆)< ε · |x− x0|n+1.

Wir erhalten ‖Rn+1(x)‖|x−x0|n+1 < ε fur alle x mit 0 < |x− x0| < δ und somit

Page 213: Grundkurs Analysis

5.4 Taylorreihen 205

limx→x0

‖Rn+1(f, x0)(x)‖|x− x0|n+1

= 0.

⊓⊔Eigenschaft (2) von Satz 5.21 besagt, dass Tn(f, x0) die Funktion f in derUmgebung von x0 in hoherer als n–ter Ordnung approximiert:

f(x) = Tn(f, x0) + o((x− x0)n) fur x→ x0.

Die Taylorreihe T (f, x0)(x) konvergiert nicht in jedem Fall und wenn sie estut, muss sie nicht notwendigerweise gegen die Funktion f konvergieren:

Beispiel 5.1Die Taylorreihe kann den Konvergenzradius 0 haben. Wir zitieren dazu denSatz von Borel:Seien c0, c1, c2, . . . beliebige reelle Zahlen. Dann existiert eine C∞–Funktionf : R −→ R mit

T (f, 0) =

∞∑

n=0

cnxn.

Diese Reihe ist im Allgemeinen nicht konvergent. Der Beweis dieses Satzeskann z.B. in

”R. Narasimham: Analysis on real and complex manifolds, Nord

Holland, 1968“, nachgelesen werden.

Beispiel 5.2Die Taylorreihe T (f, x0) kann den Konvergenzradius ρ = ∞ haben, aber esgilt T (f, x0)(x) 6= f(x). Sei zum Beispiel

f(x) :=

e−

1x2 fur x > 0

0 fur x ≤ 0.

Dann ist f (k)(0) = 0 fur alle k ∈ N0 und f eine C∞–Funktion (siehe Ubungs-aufgabe 94). Also ist T (f, 0)(x) ≡ 0, aber f(x) 6= 0 fur alle x > 0.

Wir mochten nun untersuchen, wann die Taylorreihe T (f, x0)(x) konvergiertund insbesondere, wann sie gegen f(x) konvergiert.

Satz 5.22 Sei f : I ⊂ R −→ E eine C∞–Funktion und x0 ∈ I. Wenn furx ∈ I gilt

limn→∞

‖Rn(f, x0)(x)‖E = 0,

so konvergiert T (f, x0)(x) und es gilt f(x) = T (f, x0)(x).

Beweis: Fur alle n ≥ 0 ist f(x) = Tn(f, x0)(x) +Rn(f, x0)(x). Folglich gilt

‖f(x) − Tn(f, x0)(x)‖ = ‖Rn(f, x0)(x)‖ n→∞−→ 0,

Page 214: Grundkurs Analysis

206 5 Differentialrechnung fur Funktionen einer reellen Veranderlichen

und daherlimn→∞

Tn(f, x0)(x) = T (f, x0)(x) = f(x).

⊓⊔Im Fall f : I −→ R kann man das Restglied explizit angeben:

Satz 5.23 Sei I ⊂ R ein beliebiges Intervall, x0 ∈ I, f : I −→ R (n+1)–maldifferenzierbar und Rn(f, x0) := f − Tn(f, x0) das Restglied. Dann existierenϑ, θ ∈ (0, 1), so dass gilt

Rn(f, x0)(x) =f (n+1)(x0 + ϑ(x − x0))

(n+ 1)!(x− x0)

n+1 Lagrange-Form

des Restgliedes

Rn(f, x0)(x) =f (n+1)(x0 + θ(x − x0))

n!(1 − θ)n(x− x0)

n+1 Cauchy-Form

des Restgliedes.

Beweis: Sei x ∈ I fest. Wir definieren eine differenzierbare Funktion g : I −→R durch g(y) := f(x) − Tn(f, y)(x). Dann ist g(x) = 0, g(x0) = Rn(f, x0)(x)und

g′(y) = − d

dy

(n∑

k=0

f (k)(y)

k!(x − y)k

)

= −n∑

k=0

(f (k+1)(y)

k!(x− y)k − f (k)(y)

k!k(x− y)k−1

)

= − (x− y)n

n!f (n+1)(y).

(2) Nach dem Mittelwertsatz der Differentialrechnung existiert ein θ ∈ (0, 1),so dass

g(x) − g(x0) = g′(

=y︷ ︸︸ ︷x0 + θ(x− x0)) · (x − x0)

= − (x− x0)n+1(1 − θ)n

n!f (n+1)(x0 + θ(x− x0)).

Folglich ist

Rn(f, x0)(x) =(1 − θ)n(x− x0)

n+1

n!f (n+1)(x0 + θ(x− x0)).

(1) Wir betrachten zusatzlich die differenzierbare Funktion h : I −→ R, de-finiert durch h(y) := (x − y)n+1. Dann gilt h(x) = 0, h(x0) = (x − x0)

n+1

und

Page 215: Grundkurs Analysis

5.4 Taylorreihen 207

h′(y) = −(n+ 1)(x− y)n.

Nach dem verallgemeinerten Mittelwertsatz existiert daher ein ϑ ∈ (0, 1), sodass

(g(x) − g(x0))h′(x0 + ϑ(x− x0)) = (h(x) − h(x0))g

′(x0 + ϑ(x − x0)).

Fur das Restglied folgt

Rn(f, x0)(x) · (n+ 1)(x− x0)n(1 − ϑ)n

= (x− x0)n+1 (x− x0)

n(1 − ϑ)n

n!f (n+1)(x0 + ϑ(x− x0)).

und somit

Rn(f, x0)(x) =(x− x0)

n+1

(n+ 1)!f (n+1)(x0 + ϑ(x− x0)).

⊓⊔Bemerkung: Satz 5.23 ermoglicht die Abschatzung des Fehlers bei der Ap-proximation von f(x) durch Tn(f, x0).

Beispiel 5.1Die Taylorentwicklung von f(x) = ln(1 + x) in x = 0 auf (−1, 1] ist

ln(1 + x) =∞∑n=1

(−1)n+1 · xn

n.

Insbesondere gilt fur die alternierende, harmonische Reihe

∞∑n=1

(−1)n+1

n= ln(2).

Beweis: Die Abbildung f(x) := ln(x + 1) ist auf (−1,∞) beliebig oft diffe-renzierbar und es gilt f(0) = 0 sowie

f (n)(x) =(n− 1)!(−1)n+1

(1 + x)n, ∀n > 0.

Folglich ist T (f, 0)(x) =∞∑n=1

(−1)n+1 · xn

ndie Taylorreihe von f in x0 = 0.

T (f, 0)(x) konvergiert fur alle x ∈ (−1, 1). Zum Beweis betrachten wir dieCauchy–Form des Restgliedes:

∃ θ ∈ (0, 1) : Rn(f, 0)(x) =f (n+1)(θx)

n!(1 − θ)nxn+1 =

(−1)nxn+1

(1 + θx)n+1(1 − θ)n

Ist |x| < 1, so gilt 1−θ1−θ|x| < 1. Folglich erhalten wir

Page 216: Grundkurs Analysis

208 5 Differentialrechnung fur Funktionen einer reellen Veranderlichen

|Rn(f, 0)(x)| = |x|n+1 (1 − θ)n

|1 + θx|n+1.

Es gilt 1 + θx ≥ 1 − θ|x| > 1 − |x| fur alle |x| < 1 und somit folgt

|Rn(f, 0)(x)| < |x|n+1

1 − |x| ·(

1 − θ

1 − θ|x|

)n<

|x|n+1

1 − |x|n→∞−→ 0, ∀ |x| < 1.

Nach Satz 5.22 konvergiert die Taylorreihe in x0 = 0 fur x ∈ (−1, 1) gegenf(x):

ln(1 + x) =

∞∑

n=1

(−1)n+1

nxn, ∀ |x| < 1.

Nach dem Leibnizkriterium (Satz 3.9) existiert T (f, 0)(1) = 1 − 12 + 1

3 ± . . ..Wenden wir nun den Satz von Abel (Satz 4.31) an, so gilt wegen der Stetigkeitvon ln

limx→1

ln(1 + x) = limx→1

T (f, 0)(x) = T (f, 0)(1).

Somit gilt ln(1 + x) = T (f, 0)(x) auch in x = 1.

Beispiel 5.2Sei α ∈ R. Dann gilt fur x ∈ (−1, 1):

(1 + x)α =∞∑k=0

(αk

)xk.

Die Reihe∞∑k=0

(αk

)xk heißt auch Binomialreihe.

Beweis: (1) f(x) = (1 + x)α ist auf (−1,∞) beliebig oft differenzierbar undes gilt f(0) = 1 sowie

f (k)(x) = α(α− 1) · . . . · (α− k + 1)(1 + x)α−k,

und daherf (k)(0)

k!=α(α − 1) · . . . · (α− k + 1)

k!=

k

)

Die Taylorreihe in x0 = 0 ist damit

T (f, 0)(x) =∞∑

k=0

k

)xk

(2) Wo konvergiert diese Reihe und gegen welchen Wert konvergiert sie? Wirbetrachten dazu die Cauchy–Form des Restgliedes

Page 217: Grundkurs Analysis

5.4 Taylorreihen 209

Rn(f, 0)(x) =f (n+1)(θx)

n!(1 − θx)nxn+1

=α(α − 1) · . . . · (α − n)

n!(1 + θx)α−n−1(1 − θ)nxn+1

= α ·(α− 1

n

)(1 − θ)nxn+1(1 + θx)α−n−1

= α ·(α− 1

n

)(1 − θ

1 + θx

)n

︸ ︷︷ ︸<1 fur |x|<1

xn+1(1 + θx)α−1

Daher gilt fur |x| < 1

|Rn(f, 0)(x)| ≤∣∣∣∣(α− 1

n

)xn∣∣∣∣ · |αx(1 + θx)α−1|︸ ︷︷ ︸

=M unabh. von n

.

Die BinomialreiheBα−1(x) =∞∑k=0

(α−1n

)xk ist konvergent fur alle |x| < 1 (siehe

Ubungsaufgabe 62). Folglich gilt (nach Satz 3.2)∣∣∣∣(α− 1

n

)xn∣∣∣∣n→∞−→ 0

und somit |Rn(f, 0)(x)| n→∞−→ 0 ∀ |x| < 1. Nach Satz 5.22 konvergiert dieTaylorreihe fur |x| < 1 gegen f(x) = (1 + x)α, das heißt

(1 + x)α =

∞∑

k=0

k

)xk.

Anwendung auf Extremwertaufgaben

Satz 5.24 (Hinreichende Bedingung fur lokalen Extremwert) Sei f :(a, b) −→ R n–mal differenzierbar, n ≥ 2, x0 ∈ (a, b) und sei

f (1)(x0) = f (2)(x0) = . . . = f (n−1)(x0) = 0, f (n)(x0) 6= 0.

Dann gilt:Ist n ungerade, so hat f in x0 keinen lokalen Extremwert.Ist n gerade und f (n)(x0) > 0, so hat f in x0 ein isoliertes lokales Minimum.Ist n gerade und f (n)(x0) < 0, so hat f in x0 ein isoliertes lokales Maximum.

Beweis: Sei zunachst f (n)(x0) > 0. Es gilt

f (n)(x0) = limx→x0

f (n−1)(x) − f (n−1)(x0)

x− x0= lim

x→x0

f (n−1)(x)

x− x0> 0

Page 218: Grundkurs Analysis

210 5 Differentialrechnung fur Funktionen einer reellen Veranderlichen

Deshalb gibt es ein δ > 0, so dass fur alle x mit 0 < |x− x0| < δ gilt

f (n−1)(x)

x− x0> 0.

Daraus folgt

f (n−1)(x) < 0 auf (x0 − δ, x0),

f (n−1)(x) > 0 auf (x0, x0 + δ).

Nach Voraussetzung ist

f(x) = Tn−2(f, x0) +Rn−2(f, x0)

5.23= f(x0) +

1

(n− 1)!f (n−1)(

ξ︷ ︸︸ ︷x0 + θ(x − x0))(x− x0)

n−1 fur ein θ ∈ (0, 1).

Ist n gerade, so ist f (n−1)(ξ)(x − x0)n−1 > 0 fur alle x mit 0 < |x − x0| < δ.

Somit ist f(x) > f(x0) fur alle x mit 0 < |x − x0| < δ und f hat in x0 einlokales Minimum. Ist n nun ungerade, so gilt

f (n−1)(ξ)(x − x0)n−1

> 0 auf (x0, x0 + δ)< 0 auf (x0 − δ, x0).

Folglich hat f in x0 keinen lokalen Extremwert. Analog behandelt manf (n)(x0) < 0. ⊓⊔

Bemerkung:(1) Ist f in x0 ∈ (a, b) ∞-oft differenzierbar und f (n)(x0) = 0 fur alle n, sokann man keine Aussage machen.(2) Sollen die Extrema von f auf [a, b] bestimmt werden, so sind außer denStellen x0 ∈ (a, b) mit f ′(x0) = 0 auch noch die Intervallenden zu untersuchen.

Page 219: Grundkurs Analysis

6

Differentialrechnung fur Abbildungen mehrererreeller Variablen

6.1 Ableitung, Richtungsableitung und Gradient einerAbbildung

Sei E ein reeller, normierter Vektorraum, U ⊂ Rn offen und f : U ⊂ Rn −→ Eeine Abbildung.

Erinnerung:f : U ⊂ R −→ E heißt differenzierbar in x0 ∈ U falls der Grenzwert

limh→0

f(x0 + h) − f(x0)

h=: f ′(x0)

existiert. Das lasst sich auch schreiben als

f(x0 + h) − f(x0) = L(h) + o(h) (h → 0)

wobei die lineare Abbildung L : R → E definiert ist durch

L(h) := f ′(x0) · h.

Das motiviert die folgende

Definition 6.1. f : U ⊂ Rn → E heißt in x0 differenzierbar, falls eine lineareAbbildung L : Rn −→ E existiert, so dass

f(x0 + h) − f(x0) = L(h) + o(‖h‖) (h→ 0) (⋆).

Das ist aquivalent zu

limh→0

f(x0 + h) − f(x0) − L(h)

‖h‖ = 0.

Page 220: Grundkurs Analysis

212 6 Differentialrechnung fur Abbildungen mehrerer reeller Variablen

Die lineare Abbildung L : Rn −→ E heißt Ableitung von f in x0 (auch:Differential von f in x0, Linearisierung von f in x0).f : U ⊂ Rn → E heißt differenzierbar, falls f in jedem x0 ∈ U differenzierbarist.

Symbol: L =: Df(x0)

Satz 6.1 (1) Ist f : U ⊂ Rn −→ E in x0 ∈ U differenzierbar, so ist dielineare Abbildung L : Rn −→ E aus (⋆) eindeutig bestimmt.(2) Ist f : U ⊂ Rn −→ E in x0 ∈ U differenzierbar, so ist f in x0 stetig.

Beweis: (1) Seien L, L : Rn −→ E linear mit

f(x0 + h) − f(x0) = L(h) + o(‖h‖)= L(h) + o(‖h‖) (h→ 0).

Dann folgt

limh→0

L(h) − L(h)

‖h‖ = 0.

Sei nun x ∈ Rn\0 und t ∈ R. Betrachten wir die Folgen h := tx fur t→ 0+,

so erhalten wir wegen der Linearitat von L und L

0 = limt→0+

L(tx) − L(tx)

|t| · ‖x‖ = limt→0+

|t||t|L(x) − L(x)

‖x‖

=L(x) − L(x)

‖x‖ .

Also ist L(x) = L(x) fur alle x ∈ Rn.

(2) Sei f : U ⊂ Rn −→ E in x0 ∈ U differenzierbar und xn eine gegen x0

konvergente Folge. Dann gilt

‖f(xn)−f(x0)‖E ≤ ‖f(xn) − f(x0) − L(xn − x0)‖E‖xn − x0‖︸ ︷︷ ︸

→0

· ‖xn − x0‖︸ ︷︷ ︸→0

+ ‖L(xn − x0)‖E︸ ︷︷ ︸→0

.

Da jede lineare Abbildung L : Rn −→ E stetig ist, konvergiert f(xn) gegenf(x0). Somit ist f in x0 folgenstetig, also auch stetig. ⊓⊔

Definition 6.2. Sei f : U ⊂ Rn −→ E eine Abbildung, a ∈ Rn. Man sagt: fbesitzt in x0 ∈ U eine Ableitung in Richtung a ∈ Rn, falls folgender Grenzwertexistiert

limt→0

f(x0 + ta) − f(x0)

t, t ∈ R.

Page 221: Grundkurs Analysis

6.1 Ableitung, Richtungsableitung und Gradient einer Abbildung 213

∇af(x0) := limt→0

f(x0+ta)−f(x0)t

heißt die Richtungsableitung von f in Richtung

a an der Stelle x0.

f wird also nur entlang der Geraden x0 + ta | t ∈ R betrachtet, das heißt,es gilt ∇af(x0) = h′(0), wobei h die Funktion h(t) := f(x0 + ta) ist.

Satz 6.2 Ist f : U ⊂ Rn −→ E in x0 differenzierbar, so besitzt f in x0 injeder Richtung a die Richtungsableitung und es gilt

Df(x0)(a) = ∇af(x0).

Beweis: Sei f in x0 differenzierbar und L = Df(x0), L : Rn −→ E. Wirbetrachten h = ta. Dann gilt nach Definition der Differenzierbarkeit

limt→0

‖f(x0 + ta) − f(x0) − L(ta)‖E|t| · ‖a‖ = 0.

Da L linear ist, folgt

limt→0

‖f(x0 + ta) − f(x0)

t− L(a)‖ = 0.

Damit existiert

∇af(x0) = limt→0

f(x0 + ta) − f(x0)

t= L(a) = Df(x0)(a).

⊓⊔

Eine Funktion kann aber in einem Punkt x0 eine Richtungsableitung besitzen,ohne in diesem Punkt differenzierbar zu sein:

Beispiel 6.1Die Abbildung f : R2 −→ R1

f(x, y) =

xy2

x2+y4 (x, y) 6= (0, 0)

0 (x, y) = (0, 0),

ist in x0 = (0, 0) nicht stetig (also auch nicht differenzierbar, siehe Beispielin Abschnitt 4.1), obwohl in x0 in jeder Richtung die Richtungsableitung exi-stiert:Sei a = (a1, a2) ∈ R2 ein beliebiger Vektor. Dann gilt

f(x0 + ta) − f(x0)

t=f(ta)

t=

t3a1a22

t(t2a21 + t4a4

2)=

a1a22

a21 + t2a4

2

t→0−→

a22

a1a1 6= 0

0 a1 = 0.

Somit existiert ∇af(x0) fur alle a = (a1, a2) ∈ R2.

Page 222: Grundkurs Analysis

214 6 Differentialrechnung fur Abbildungen mehrerer reeller Variablen

Beispiel 6.2Sei L : Rn −→ E eine lineare Abbildung. Dann ist L in jedem Punkt x0 ∈ Rn

differenzierbar und es gilt DL(x0) = L, denn aufgrund der Linearitat von List

limh→0

‖L(x0 + h) − L(x0) − L(h)‖E‖h‖ = lim

h→0

‖0‖‖h‖︸︷︷︸=0

= 0.

Beispiel 6.3Sei f : Rn1 × . . . × Rnk −→ E eine multilineare Abbildung. Dann ist f injedem Punkt x0 differenzierbar und es gilt

Df(x1, . . . , xk)(a1, . . . ,ak) =

k∑

j=i

f(x1, . . . , xj−1,aj , xj+1, . . . , xk).

Beweis: (1) Jede multilineare Abbildung f : Rn1 × . . .×Rnk −→ E ist stetig.Insbesondere existiert ein δ > 0, so dass ‖x1‖, . . . , ‖xk‖ ≤ δ gilt

‖f(x1, . . . , xk)‖E ≤ 1.

Folglich ist fur alle xj ∈ Rnj mit xj 6= 0

‖f(x1, . . . , xk)‖E =‖x1‖δ

· . . . · ‖xk‖δ

∥∥∥∥f(δ x1

‖x1‖, . . . ,

δ xk‖xk‖

)∥∥∥∥

≤ 1

δk‖x1‖ · . . . · ‖xk‖.

Somit existiert fur jede multilineare Abbildung f : Rn1 × . . .×Rnk −→ E eineKonstante C > 0 mit

‖f(x1, . . . , xk)‖E ≤ C · ‖x1‖ · . . . · ‖xk‖.(2) Zur Differenzierbarkeit:

f(x1 + a1, . . . , xk + ak) − f(x1, . . . , xk)

−k∑

j=1

f(x1, . . . , xj−1, aj , xj+1, . . . , xk)

︸ ︷︷ ︸L(a)

=∑

j1<j2

f(x1, . . . , aj1 , . . . , aj2 , . . . , xk)

+∑

j1<j2<j3

f(x1, . . . , aj1 , . . . , aj2 , . . . , aj3 , . . . , xk)

+ . . . + f(a1, . . . , ak).

Page 223: Grundkurs Analysis

6.1 Ableitung, Richtungsableitung und Gradient einer Abbildung 215

Folglich gilt wegen (1)

‖f(x1 + a1, . . . , xk + ak) − f(x1, . . . , xk) − L(a)‖≤C

( ∑

j1<j2

‖x1‖ · . . . · ‖aj1‖ · . . . · ‖aj2‖ · . . . · ‖xk‖

+∑

j1<j2<j3

(. . .) + . . .+ ‖a1‖ · . . . · ‖ak‖).

Da ‖aj1‖·‖aj2‖ ≤ 12 (‖aj1‖2+‖aj2‖2) ≤ 1

2‖a‖2 gilt, kann man alle Summandendurch ‖a‖2 abschatzen und es folgt

lima→0

‖f(x + a) − f(x) − L(a)‖E‖a‖ ≤ lim

a→0C(x) · ‖a‖ = 0.

⊓⊔

Satz 6.3 (Rechenregeln fur Ableitungen und Richtungsableitungen)Seien f, h : U ⊂ Rn −→ E, g : U ⊂ Rn −→ R. Dann gilt

(1) Sind f und h in x0 differenzierbar, so ist f + h in x0 differenzierbar undes gilt

D(f + h)(x0) = Df(x0) +Dh(x0).

Existieren ∇af(x0) und ∇ah(x0), so existiert ∇a(f + h)(x0) und es gilt

∇a(f + h)(x0) = ∇af(x0) + ∇ah(x0).

(2) Sind f und g in x0 differenzierbar, so gilt

D(g · f)(x0) = Dg(x0) · f(x0) +Df(x0) · g(x0).

Existieren ∇af(x0) und ∇ag(x0), so gilt

∇a(g · f)(x0) = ∇ag(x0) · f(x0) + ∇af(x0) · g(x0).

(3) Sind f, g : U ⊂ Rn −→ R in x0 differenzierbar und g(x0) 6= 0, so ist fg

ineiner Umgebung von x0 definiert, in x0 differenzierbar und es gilt

D

(f

g

)(x0) =

g(x0)Df(x0) − f(x0)Dg(x0)

g(x0)2.

(4) Kettenregel: Ist f : U ⊂ Rn −→ V ⊂ Rm in x0 differenzierbar und g :V ⊂ Rm −→ E in f(x0) differenzierbar, so ist g f : U ⊂ Rn −→ E in x0

differenzierbar und es gilt

D(g f)(x0) = Dg(f(x0)) Df(x0).

Page 224: Grundkurs Analysis

216 6 Differentialrechnung fur Abbildungen mehrerer reeller Variablen

(5) Sei f = (f1, f2) : U ⊂ Rn −→ E1 × E2. Die Abbildung f ist genau dannin x0 differenzierbar, wenn f1, f2 in x0 differenzierbar sind. Dann gilt

Df(x0) = (Df1(x0), Df2(x0)).

Beweis: Die Aussagen (1)–(3) sowie Aussage (5) folgen direkt aus der Defi-nition.(4) Seien y0 = f(x0), L = Df(x0) und L = Dg(f(x0)). Wir betrachten dieAbbildungen

ϕ(x) := f(x) − f(x0) − L(x− x0), ψ(y) = g(y) − g(y0) − L(y − y0)

sowie(x) := (g f)(x) − (g f)(x0) − (L L)(x− x0).

Nach Voraussetzung gilt

ϕ(x) = o (‖x− x0‖) , furx→ x0 und ψ(y) = o (‖y − y0‖) , fury → y0.

Es ist zu zeigen, dass (x) = o (‖x− x0‖) gilt, d.h. dass limx→x0

‖(x)‖‖x−x0‖ = 0 ist.

Da

(x) = g(f(x)) − g(f(x0)) − L(L(x− x0))

= g(f(x)) − g(y0) − L(f(x) − f(x0) − ϕ(x))

= (g(f(x)) − g(y0) − L(f(x) − y0)) + L(ϕ(x))

= ψ(f(x)) + L(ϕ(x)),

genugt es zu zeigen, dass limx→x0

‖ψ(f(x))‖‖x−x0‖ = lim

x→x0

‖L(ϕ(x))‖‖x−x0‖ = 0 ist.

(a) Da L : Rm −→ E linear ist, gilt

‖L(ϕ(x))‖E ≤ C‖ϕ(x)‖Rm .

Folglich ist

0 ≤ limx→x0

‖L(ϕ(x))‖‖x− x0‖

≤ C · limx→x0

‖ϕ(x)‖‖x− x0‖︸ ︷︷ ︸=0

= 0.

(b) Sei ε > 0 gegeben. Da limy→y0

‖ψ(y)‖‖y−y0‖ = 0 ist, existiert ein δ > 0, so dass aus

‖f(x) − y0‖ < δ folgt, dass ‖ψ(f(x))‖ < ε‖f(x) − y0‖ gilt. Da f in x0 stetigist, existiert ein δ1 > 0, so dass aus ‖x− x0‖ < δ1 folgt, dass ‖f(x)− y0‖ < δ.Fur ‖x− x0‖ < δ1 gilt also

‖ψ(f(x))‖ ≤ ε‖f(x)− y0‖ = ε‖ϕ(x)+L(x− x0)‖ ≤ ε‖ϕ(x)‖+ ε ·CL‖x−x0‖,

und damit

Page 225: Grundkurs Analysis

6.1 Ableitung, Richtungsableitung und Gradient einer Abbildung 217

‖ψ(f(x))‖‖x− x0‖

≤ ε‖ϕ(x)‖‖x− x0‖︸ ︷︷ ︸

x→x0→ 0

+ε · CL ∀|x − x0| < δ1.

Daher gilt

0 ≤ limx→x0

‖ψ(f(x))‖‖x− x0‖

≤ ε · CL ∀ε > 0.

Daraus folgt

limx→x0

‖ψ(f(x))‖‖x− x0‖

= 0,

womit die Kettenregel bewiesen ist.(3) f

g: U ⊂ Rn −→ R ist die Verknupfung folgender Abbildungen

ψ : Rn −→ R2 mit ψ(x) = (f(x), g(x)), ϕ : R2 −→ R1 mit ϕ(x, y) =x

y.

(a) Es gilt Dψ(x0) = (Df(x0), Dg(x0)).(b) Sei a = (a1, a2). Dann gilt Dϕ(x, y)(a) = ya1−xa2

y2 , denn

lima→0

|ϕ(x + a1, x+ a2) − ϕ(x, y) − ya1−xa2

y2 |‖a‖ = lim

a→0

|x+a1

y+a2− x

y− ya1−xa2

y2 |‖a‖

= lima→0

1

‖a‖ · y2|y + a2||xy2 + a1y

2 − xy2 − xya2 − y2a1 − ya1a2 + xya2 + xa22|

= lima→0

1

‖a‖ · y2|y + a2||a2| |xa2 − ya1| ≤ lim

a→0

|a2|‖a‖√x2 + y2

y2|y + a2| · ‖a‖= 0.

(c) Nach der Kettenregel gilt

D

(f

g

)(x0) = D(ϕ ψ)(x0) = Dϕ(ψ(x0)) Dψ(x0)

= Dϕ(f(x0), g(x0)) (Df(x0), Dg(x0))

(b)=

g(x0) ·Df(x0) − f(x0) ·Dg(x0)

g(x0)2.

⊓⊔

Wir betrachten eine lineare Abbildung L : Rn −→ R. Aus der Algebra istbekannt, dass ein eindeutig bestimmter Vektor vL ∈ Rn existiert, so dass gilt

L(x) = 〈x, vL〉Rn ∀x ∈ Rn.

Definition 6.3. Sei f : U ⊂ Rn −→ R eine in x0 ∈ U differenzierbareFunktion. Der Gradient von f in x0 ist der Vektor grad f(x0) ∈ Rn, definiertdurch

Df(x0)(a) = ∇af(x0) = 〈grad f(x0),a〉 ∀a ∈ Rn.

Page 226: Grundkurs Analysis

218 6 Differentialrechnung fur Abbildungen mehrerer reeller Variablen

Satz 6.4 Sei f : U ⊂ Rn −→ R1 in x0 ∈ Rn differenzierbar. Der Gradientgrad f(x0) gibt diejenige Richtung an, in der die Funktion im Punkt x0 amschnellsten wachst, das heißt die Richtung der großten Richtungsableitung.

Beweis: Sei a ∈ Rn, ‖a‖ = 1. Dann gilt mit der Cauchy-Schwarz-Ungleichung

∇af(x0) = 〈grad f(x0),a〉 ≤ ‖grad f(x0)‖ · ‖a‖ = ‖grad f(x0)‖.

Die Gleichheit gilt genau dann, wenn a = grad f(x0)‖grad f(x0)‖ . ⊓⊔

Die geometrische Bedeutung des Gradienten

Sei f : U ⊂ Rn −→ R differenzierbar, c ∈ Im(f) und

Mc := x ∈ U | f(x) = c ⊂ Rn

Dann heißt Mc Niveauflache von f zum Niveau c.

Beispiel 6.4Wir betrachten die Abbildung

f : U ⊂ R2 −→ R

(x, y) 7→ Hohe des Ortes uber dem Meeresspiegel.

x

y

z

Mc

grad f(x0)

Beispiel 6.5Sei f gegeben durch

f : R3 −→ R

(x, y, z) 7→ x2 + y2 + z2.

Dann ist Mc = (x, y, z) ∈ R | x2 + y2 + z2 = c die Sphare vom Radius√c

in R3.

Page 227: Grundkurs Analysis

6.1 Ableitung, Richtungsableitung und Gradient einer Abbildung 219

grad f(p)

p p+ TpMc

r

Mr2

grad f(p)

p p+ TpMc

Definition 6.4. Der Tangentialraum von Mc im Punkt p ∈Mc ist die Mengeder Vektoren

TpMc := X ∈ Rn | ∃ differenzierbare Kurve γ : (−ε, ε) −→Mc ⊂ Rnmit

γ(0) = p, γ′(0) = X.

Die Vektoren X heißen Tangentialvektoren und p+ TpMc heißt Tangential-ebene in p ∈Mc.

Satz 6.5 Sei f : U ⊂ Rn → R differenzierbar und sei p ∈ Mc. Dann gilt furjeden Tangentialvektor X ∈ TpMc

grad f(p)⊥X.

Beweis: Sei γ : (−ε, ε) −→Mc eine differenzierbare Kurve mit γ(0) = p undγ′(0) = X . Da Mc die Niveauflache zum Funktionswert c ist, gilt f(γ(t)) = cfur alle t ∈ (−ε, ε). Nach der Kettenregel ist dann

0 = D(f γ)(0) = Df(γ(0))(γ′(0)) = Df(p)(X) = 〈grad f(p), X〉.

Also ist grad f(p)⊥X . ⊓⊔

Bemerkung: Ist p ∈ U ein regularer Punkt von f , das heißt grad f(p) 6= 0,so gilt

TpMc = (grad f(p))⊥ := X ∈ Rn | 〈grad f(p), X〉 = 0.

Somit ist TpMc ⊂ Rn ein (n − 1)–dimensionaler Unterraum, den man als(grad f(p))⊥ berechnen kann. (Der Beweis folgt spater.)

Page 228: Grundkurs Analysis

220 6 Differentialrechnung fur Abbildungen mehrerer reeller Variablen

Satz 6.6 (MWS fur Funktionen mehrerer Veranderlicher) Sei f : U ⊂Rn −→ R differenzierbar. Seien x, y ∈ U und die Strecke xy zwischen x, y ∈ Uliege in U . Dann existiert ein ξ ∈ xy mit ξ 6= x, ξ 6= y, so dass gilt

f(y) − f(x) = 〈grad f(ξ), (y − x)〉Rn = Df(ξ)(y − x).

Beweis: Wir betrachten die Abbildung h : [0, 1] → R, h(t) := f(x+ t(y−x)).Nach Voraussetzung ist h auf [0, 1] differenzierbar. Da-her existiert nach dem Mittelwertsatz von Lagrange einθ ∈ (0, 1) mit

h(1) − h(0) = h′(θ) · (1 − 0) = h′(θ).x

y

U ⊂ Rn

Nach Definition von h und aufgrund der Kettenregel ist dies aquivalent zu

f(y) − f(x) = Df(x+ θ(y − x))(y − x) =: Df(ξ)(y − x).

⊓⊔

Satz 6.7 Sei U ⊂ Rn offen und bogenzusammenhangend und f : U −→ Edifferenzierbar. Dann ist f genau dann konstant auf U , wenn Df(x) = 0 furalle x ∈ U gilt. Ist f reellwertig, so ist Df(x) = 0 aquivalent zu grad f(x) = 0.

Beweis: (1) Wenn die Abbildung f konstant ist folgt sofort

0 = f(x0 + h) − f(x0) = Df(x0)︸ ︷︷ ︸=0, linear

+ o(‖h‖)︸ ︷︷ ︸=0

(2) Sei Df(x) = 0 fur alle x ∈ U und sei x ∈ U fix. Da U offen ist, existiertein ε(x) > 0, so dass gilt K(x, ε(x)) ⊂ U . Fur a ∈ Rn, ‖a‖ = 1 ist

x

a

U

ϕa : (−ε(x), ε(x)) −→ R

t 7→ ϕa(t) = f(x+ ta)

wohldefiniert und differenzierbar, wobei gilt

ϕ′a(t) = Df(x+ ta)(a) ≡ 0 ∀t ∈ (−ε(x), ε(x)).

Folglich ist ϕa auf (−ε(x), ε(x)) konstant. Da aber ϕa(0) = f(x) fur allea ∈ Rn, ‖a‖ = 1 gilt, ist f auf K(x, ε(x)) konstant. Seien nun x, y ∈ Ubeliebig, aber fest. Da U bogenzusammenhangend ist, existiert eine stetige

Page 229: Grundkurs Analysis

6.1 Ableitung, Richtungsableitung und Gradient einer Abbildung 221

Abbildung σ : [0, 1] −→ U ⊂ Rn mit σ(0) = x, σ(1) = y. Wir betrachten dieoffene Uberdeckung K(σ(t), ε(σ(t))t∈[0,1] von σ([0, 1]).

x

y

x1

x2

x3

x4

σ

U

Da [0, 1] kompakt und σ stetig ist, ist auch σ([0, 1]) kompakt und es existierteine endliche Teiluberdeckung K(σ(t1), ε1), . . . ,K(σ(tr), εr) von σ([0, 1]). Aufjeder dieser offenen Mengen gilt aber

f|K(σ(tj ),εj)= konst. = f(σ(tj)).

Daraus folgt

f(x) = f(σ(t1)) = f(x1) = f(σ(t2)) = f(x2) = . . . = f(σ(t2)) = f(y),

mit xi ∈ K(σ(ti), εi) ∩K(σ(ti+1), εi+1). Folglich ist f auf U konstant. ⊓⊔

Bemerkung: Sei X ein metrischer Raum und sei A ⊂ X bogenzusam-menhangend. Dann ist nach Kapitel 2, die Menge A auch zusammenhangend.Die Umkehrung gilt im Allgemeinen nicht.Fur U ⊂ Rn offen gilt hingegen ist A genau dann bogenzusammenhangend,wenn A zusammenhangend ist. Satz (6.7) gilt somit fur offene, zusam-menhangende Mengen U ⊂ Rn.

Page 230: Grundkurs Analysis

222 6 Differentialrechnung fur Abbildungen mehrerer reeller Variablen

6.2 Partielle Ableitungen

Wir betrachten zunachst reellwertige Funktionen f : U ⊂ Rn −→ R. Seie = (e1, . . . , en) die Standardbasis des Rn.

Definition 6.5. Die i–te partielle Ableitung von f in u ∈ U ist

∂f

∂xi(u) := (∇ei

f)(u) = Df(u)(ei) = limt→0

f(u+ tei) − f(u)

t∈ R.

Beispiel 6.6Wir betrachten die Abbildung

f : R2 −→ R

(x, y) 7→ f(x, y) = sin(xy2).

Die partiellen Ableitungen sind dann

∂f

∂x(x, y) = y2 cos(xy2) und

∂f

∂y(x, y) = 2xy cos(xy2).

Bemerkung: Sei f : U ⊂ Rn −→ R in u ∈ U differenzierbar. Dann istDf(u) : Rn −→ R eine lineare Abbildung. Diese entspricht bei Fixieren derBasis e in Rn der (1, n)–Matrix

M(Df(u)) := (Df(u)(e1), . . . , Df(u)(en)) =:

(∂f

∂x1(u), . . . ,

∂f

∂x1(u)

).

Ist b =n∑j=1

bjej, so gilt

Df(u)(b) =

n∑

j=1

bjDf(u)(ej) =

(∂f

∂x1(u), . . . ,

∂f

∂xn(u)

) (b1, . . . , bn)

⊤.

Insbesondere gilt fur den Gradienten von f :

grad f(u) =

(∂f

∂x1(u), . . . ,

∂f

∂xn(u)

).

Satz 6.8 (Hinreichende Bedingung fur Differenzierbarkeit) Sei U ⊂Rn offen und f : U −→ R eine Abbildung. Falls alle partiellen Ableitungen∂f∂x1

, . . . , ∂f∂xn

: U ⊂ Rn −→ R existieren und stetig sind, so ist f auf Udifferenzierbar.

Page 231: Grundkurs Analysis

6.2 Partielle Ableitungen 223

Beweis: Sei u ∈ U und h ∈ Rn. Dann gilt

f(u+ h) − f(u) = f (u1 + h1, u2, . . . , un) − f (u1, . . . , un)

+f(u1 + h1, u2 + h2, u3, . . . , un) − f(u1 + h1, u2, . . . , un) + . . .

+f (u1 + h1, . . . , un + hn) − f (u1 + h1, . . . , un−1 + hn−1, un) .

Wir betrachten die Funktion g(x) := f(x, u2, . . . , un). Nach Voraussetzungexistiert die Ableitung g′(x) = ∂f

∂x1(x, u2, . . . , un). Wenden wir den Mittel-

wertsatz auf g an, so erhalten wir ein ξ ∈ [u1, u1 + h1], so dass gilt

f (u1 + h1, u2, . . . , un) − f (u1, . . . , un) = h1 ·∂f

∂x1(ξ1, u2, . . . , un) .

Analog existiert fur alle j ∈ 1, . . . , n ein ξj ∈ [uj , uj + hj ], so dass gilt

f (u1 + h1, . . . , uj + hj, uj+1, . . . , un)−f (u1 + h1, . . . , uj−1 + hj−1, uj , . . . , uj)

= hj ·∂f

∂xj(u1 + h1, . . . , uj−1 + hj−1, ξj , uj+1, . . . , un) =: hj ·

∂f

∂xj(cj) .

mit cj ∈ Rn. Folglich gilt

∣∣∣∣∣f(u+ h) − f(u) −n∑j=1

∂f∂xj

(u)hj

∣∣∣∣∣‖h‖ =

∣∣∣∣∣n∑j=1

(∂f∂xj

(cj) − ∂f∂xj

(u))hj

∣∣∣∣∣√h2

1 + . . .+ h2n

CSU≤

√√√√n∑

j=1

(∂f

∂xj(cj) −

∂f

∂xj(u)

)2

.

Fur h = (h1, . . . , hn) −→ 0 konvergiert aber cj gegen u fur alle j ∈ 1, . . . , n.Da alle partiellen Ableitungen stetig sind, erhalten wir ∂f

∂xj(cj)

h→0−→ ∂f∂xj

(u)

und somit

limh→0

∣∣∣∣∣f(u+ h) − f(u) −n∑j=1

∂f∂xj

(u)hj

∣∣∣∣∣‖h‖ = 0.

Folglich ist f differenzierbar und es gilt

Df(u)(h) =

n∑

j=1

∂f

∂xj(u)hj

⊓⊔

Bemerkung: Die Stetigkeit der partiellen Ableitungen ist nicht notwendigfur die Differenzierbarkeit. Sei zum Beispiel

Page 232: Grundkurs Analysis

224 6 Differentialrechnung fur Abbildungen mehrerer reeller Variablen

f : R2 −→ R

(x, y) 7→ f(x, y) =

(x2 + y2) sin( 1√

x2+y2) x2 + y2 > 0

0 x = y = 0.

f ist in (0, 0) differenzierbar, aber ∂f∂x

und ∂f∂y

sind in (0, 0) nicht stetig

(Ubungsaufgabe).

Bemerkung: Sei f : U ⊂ Rn −→ R gegeben und es existiere ∂f∂xi

auf U .

Existiert die partielle Ableitung der Funktion ∂f∂xi

: U ⊂ Rn −→ R nach derj-ten Koordinate, so bezeichnet man sie mit

∂2f

∂xj∂xi:=

∂xj

(∂f

∂xi

).

Auf diese Weise entstehen partielle Ableitungen hoherer Ordnung. Die Funk-tion

∂kf

∂xi1 · · · ∂xik:=

∂xi1

(∂k−1f

∂xi2 · · · ∂xik

): U ⊂ Rn −→ R

heißt (falls sie existiert) k–te partielle Ableitung von f nach den Variablenxi1 , . . . , xik .

Bezeichnung: ∂lf∂xi...∂xi

=: ∂lf

∂xli

.

Beispiel 6.7Wir betrachten die Funktion f : R2 −→ R mit f(x, y) = x3y2. Dann erhaltenwir die partiellen Ableitungen erster und zweiter Ordnung

∂f

∂x= 3x2y2,

∂f

∂y= 2x3y sowie

∂2f

∂y∂x= 6x2y =

∂f

∂x∂y= 6x2y.

Beispiel 6.8Wir betrachten die Funktion f : R2 −→ R, definiert durch

f(x, y) =

xy · x2−y2

x2+y2 (x, y) 6= (0, 0)

0 (x, y) = (0, 0).

Dann konnen wir wieder die partiellen Ableitungen erster und zweiter Ord-nung berechnen und erhalten

∂f

∂x= y

x4 + 4x2y2 − y4

(x2 + y2)2,

∂f

∂y= x

x4 − 4x2y2 − y4

(x2 + y2)2.

In diesem Fall kann man die Reihenfolge der Ableitungen nicht vertauschen,denn

Page 233: Grundkurs Analysis

6.2 Partielle Ableitungen 225

∂2f

∂y∂x(0, 0) = lim

h→0

1

hh · −h

4

h4 = −1

aber∂2f

∂x∂y(0, 0) = lim

h→0

1

hh · h

4

h4 = 1.

Wir wollen nun untersuchen, wann man die Reihenfolge der partiellen Ablei-tungen vertauschen kann. Dazu benotigen wir die folgende

Definition 6.6. Eine Funktion f : U ⊂ Rn −→ R heißt von der Klasse Ck,k ∈ N, falls alle partiellen Ableitungen von f der Ordnung ≤ k existieren undstetig sind. Es bezeichne Ck(U,R) := f : U −→ R | f von der Klasse Ck.Offensichtlich gilt fur k ∈ N

C0(U,R) ⊃ Ck−1(U,R) ⊃ Ck(U,R).

Satz 6.9 (Satz von Schwarz) Sei f ∈ Ck(U,R). Dann sind alle partiellenAbleitungen der Ordnung ≤ k unabhangig von der Reihenfolge der Differen-tiation. Insbesondere gilt fur f ∈ C2(U,R)

∂2f

∂xi∂xj=

∂2f

∂xj∂xi.

Beweis: Es genugt zu zeigen, dass fur jede C2–Funktion f : U ⊂ R2 −→ R

gilt∂2f

∂x1∂x2=

∂2f

∂x2∂x1.

Auf Behauptung die fur partielle Ableitungen hoherer Ordnung schließt mandann induktiv.Wir betrachten u = (u1, u2) ∈ U . Seien h = (h1, h2) 6= 0 so gewahlt, dass gilt

[u1 − h1, u1 + h1] × [u2 − h2, u2 + h2] ⊂ U.

Nun betrachten wir ϕ(x) := f(x, u2 + h2) − f(x, u2). Dann ist die Funktionϕ auf [u1, u1 + h1] differenzierbar. Nach dem Mittelwertsatz existiert ein ξ1 ∈[u1, u1 + h1], so dass gilt

ϕ(u1 + h1) − ϕ(u1) = h1 · ϕ′(ξ1).

Sei nun

F (h1, h2) := f(u1 + h1, u2 + h2)− f(u1 + h1, u2)− f(u1, u2 + h2) + f(u1, u2).

Dann gilt

Page 234: Grundkurs Analysis

226 6 Differentialrechnung fur Abbildungen mehrerer reeller Variablen

F (h1, h2) = ϕ(u1 + h1) − ϕ(u1) = h1 · ϕ′(ξ1)

= h1

(∂f

∂x1(ξ1, u2 + h2) −

∂f

∂x1(ξ1, u2)

)

︸ ︷︷ ︸=:(⋆)

.

Nach dem Mittelwertsatz angewendet auf den Ausdruck (⋆) an, das heißt auf∂f∂x1

(ξ1, ·), existiert ein ξ2 ∈ [u2, u2 + h], so dass

F (h1, h2) = h1 · h2 ·∂2f

∂x2∂x1(ξ1, ξ2) (⋆⋆).

Verfahrt man analog mit der Funktion ψ(x) := f(u1 + h1, x) − f(u1, x), soexistieren nach dem Mittelwertsatz ein ξ1 ∈ [u1, u1+h1] und ein ξ2 ∈ [u2, u2+h2], so dass

F (h1, h2) = h1 · h2 ·∂2f

∂x1∂x2(ξ1, ξ2) (⋆ ⋆ ⋆).

Da h1, h2 6= 0 gilt, folgt mit (⋆⋆) und (⋆ ⋆ ⋆)

∂2f

∂x1∂x2

(ξ1, ξ2

)=

∂2f

∂x2∂x1(ξ1, ξ2) ,

wobei ξ1, ξ1 ∈ [u1, u1 + h1] und ξ2, ξ2 ∈ [u2, u2 + h2] sind. Da ∂2f∂x1∂x2

und∂2f

∂x2∂x1in (u1, u2) nach Voraussetzung stetig sind, folgt fur h = (h1, h2) −→ 0

∂2f

∂x1∂x2(u) =

∂2f

∂x2∂x1(u).

⊓⊔Bemerkung: Oft wird die folgende Bezeichnung benutzt

fx :=∂f

∂x, fxy :=

∂y

(∂f

∂x

)=

∂2f

∂x∂y.

Der Satz von Schwarz zeigt, dass die Reihenfolge der Indizes fur f ∈ Ck egalist.

Satz 6.10 Sei f : U ⊂ Rn −→ Rm in u ∈ U differenzierbar und f =(f1, . . . , fm). Dann ist die Matrix Df(u) : Rn −→ Rm in den Standardba-sen e, e des Rn bzw. Rm gegeben durch

M(Df(u)) =

∂f1∂x1

(u) . . . ∂f1∂xn

(u)

: :∂fm

∂x1(u) . . . ∂fm

∂xn(u)

,

Page 235: Grundkurs Analysis

6.2 Partielle Ableitungen 227

das heißt, fur b =n∑1biei ∈ Rn gilt

Df(u)(b) =

∂f1∂x1

(u) . . . ∂f1∂xn

(u)

: :∂fm

∂x1(u) . . . ∂fm

∂xn(u)

b1:bn

=:

(∂f

∂x1(u), . . . ,

∂f

∂xn(u)

)

︸ ︷︷ ︸Spaltenvektoren

b1:bn

.

Beweis: Ist e = (e1, . . . , en) die Standardbasis des Rm und e = (e1, . . . , en)die Standardbasis des Rn und identifiziert man

a =

m∑

j=1

aj ej mit

a1

...am

sowie b =

n∑

i=1

biei mit

b1...bn

so gilt

M(Df(u)) = (〈ej , Df(u)(ei)〉Rm)j∈1,...,m (Zeilen), i∈1,...,n (Spalten).

Da Df(u) = Df1(u)e1 + . . .+Dfm(u)em und Dfk(u)(ei) = ∂fk

∂xi(u), gilt

M(Df(u)) =

(∂fj∂xi

(u)

)

j∈1,...,m, i∈1,...,n.

⊓⊔Satz 6.11 (Kettenregel fur partielle Ableitungen)Seien g1, . . . , gm : U ⊂ Rn −→ R und f : Rm −→ R differenzierbar. SeiF (x) := f (g1(x), . . . , gm(x)) : U ⊂ Rn −→ R. Dann gilt

∂F

∂xi(x) =

m∑

j=1

∂f

∂yj(g1(x), . . . , gm(x)) · ∂gj

∂xi(x).

Beweis: Wir betrachten φ : U −→ Rm, definiert durch φ(x) = (g1(x), . . . , gm(x)).Dann gilt F = f φ und DF (x) = Df(φ(x)) Dφ(x). Gehen wir zu denMatrizen uber, die diesen linearen Abbildungen entsprechen, so erhalten wireinerseits

M(DF (x)) = M(Df(φ(x))) M(Dφ(x)),

mit

M(Df(φ(x))) =

(∂f

∂y1(g1(x), . . . , gm(x)) , . . . ,

∂f

∂ym(g1(x), . . . , gm(x))

),

M(Dφ(x)) =

∂g1∂x1

(x) . . . ∂g1∂xn

(x)

: :∂gm

∂x1(x) . . . ∂gm

∂xn(x)

.

Page 236: Grundkurs Analysis

228 6 Differentialrechnung fur Abbildungen mehrerer reeller Variablen

Andererseits gilt

M(DF (x)) =

(∂F

∂x1(x), . . . ,

∂F

∂xn(x)

).

Vergleicht man die i–ten Spalten, so erhalt man

∂F

∂xi(x) =

n∑

j=1

∂f

∂yj(g1(x), . . . , gm(x)) · ∂gj

∂xi(x).

⊓⊔

Folgerung 6.1 Sei U ⊂ Rn offen. Sind g1, . . . , gm ∈ Ck(U,R) und f ∈Ck(Rm,R), so gilt F := f(g1(·), . . . , gm(·)) ∈ Ck(U,R).

Folgerung 6.2 Sei f : U ⊂ Rn −→ Rm aus C(1)(U,Rm). Dann ist

Df : U ⊂ Rn −→ L(Rn,Rm)

x 7→ Df(x)

stetig.

6.3 Die Taylorentwicklung und Extrema fur Funktionenmehrerer reeller Veranderlicher

Definition 6.7. Ein Multiindex α = (α1, . . . , αn) ist ein n–Tupel von naturli-chen Zahlen αj ∈ N0.|α| := α1 + . . . αn heißt die Ordnung des Multiindex und wir definierenα! := (α1!) · . . . · (αn!). Fur y = (y1, . . . , yn) ∈ Rn bezeichne

yα := yα11 · . . . · yαn

n .

Fur eine Funktion f : U ⊂ Rn −→ R bezeichne (sofern existent)

∂|α|f

∂xα:=

∂|α|f

(∂x1)α1 · · · (∂xn)αn.

Satz 6.12 (Taylorformel) Sei U ⊂ Rn offen, f ∈ Ck(U,R). Seien x, y ∈ Uzwei Punkte, so dass die Strecke xy in U liegt. Dann existiert ein ξ ∈ xy, sodass gilt

f(y) =∑

|α|≤k−1

1

α!

∂|α|f

∂xα(x)(y − x)α +

|α|=k

1

α!

∂kf

∂xα(ξ)(y − x)α.

Page 237: Grundkurs Analysis

6.3 Die Taylorentwicklung und Extrema fur Funktionen mehrerer reeller Veranderlicher 229

Beweis: Wir betrachten die Funktion g : [0, 1] −→ R mit g(t) := f(x +t(y− x)). Dann ist g ∈ Ck und nach der Taylorformel fur Funktionen in einerVariablen gilt

g(1) =k−1∑

r=0

1

r!g(r)(0) +

1

k!g(k)(t0)

︸ ︷︷ ︸Restglied

fur ein t0 ∈ (0, 1).

Dabei ist

g(0)(0) = g(0) = f(x)

g(1)(0) =

n∑

i=1

∂f

∂xi(x) · (yi − xi) =

|α|=1

∂αf

∂xα(x) · (y − x)α

g(2)(0) =

n∑

i,j=1

∂2f

∂xi∂xj(x) · (yi − xi) · (yj − xj) (∗)

=∑

|α|=2

∂2f

∂xα(x)(y − x)α · 2!

α!(∗∗).

Der Faktor 2!α! in (∗∗) ist notwendig, da in (∗) ∂2f

∂xi∂xj= ∂2f

∂xj∂xizweimal auftritt,

wahrend ∂2f

∂x2i

in (∗∗) nur einmal vorhanden ist. Analog erhalt man durch

mehrfaches Anwenden der Kettenregel und etwas Kombinatorik

g(j)(0) =∑

|α|=j

j!

α!

∂|α|f

∂xα(x) · (y − x)α.

Damit folgt

f(y) =∑

|α|≤k−1

1

α!

∂|α|f

∂xα(x) · (y − x)α +

|α|=k

1

α!

∂kf

∂xα(ξ) · (y − x)α

mit ξ := x+ t0(y − x). ⊓⊔

Definition 6.8. Sei U ⊂ Rn offen, f : U ⊂ Rn −→ R differenzierbar.

(1) f nimmt in x0 ∈ U ein lokales Minimum an, falls ein ε > 0 existiert, sodass f(x) ≥ f(x0) fur alle x mit ‖x− x0‖ < ε.

(2) f hat in x0 ∈ U ein lokales Maximum, falls ein ε > 0 existiert, so dassf(x) ≤ f(x0) fur alle x mit ‖x− x0‖ < ε.

(3) x0 ∈ U heißt kritischer Punkt von f , falls Df(x0) = 0, das heißt, es gilt∂f∂xi

(x0) = 0 fur alle i ∈ 1, . . . , n.

Page 238: Grundkurs Analysis

230 6 Differentialrechnung fur Abbildungen mehrerer reeller Variablen

Definition 6.9. Sei f : U ⊂ Rn −→ R von der Klasse C2 und sei x0 ∈ U einkritischer Punkt von f . Die symmetrische Bilinearform Hfx0 : Rn×Rn −→ R

Hfx0(a,b) :=

n∑

j,i=1

∂2f

∂xi∂xj(x0) ai · bj

heißt Hessesche Form von f in x0.

Bezeichnung: Sei A : Rn × Rn −→ R eine symmetrische Bilinearform,

A(a,b) =n∑i,j

Aijaibj und sei EW (Aij) die Menge der Eigenwerte von (Aij).

Dann vereinbaren wir die folgenden Bezeichnungen:

(1) A > 0 :⇔ A positiv definit ⇔ fur alle a 6= 0 ist A(a,a) > 0⇔ fur alle λ ∈ EW (Aij) : λ > 0,

(2) A < 0 :⇔ A negativ definit ⇔ fur alle a 6= 0 ist A(a,a) < 0⇔ fur alle λ ∈ EW (Aij) : λ < 0,

(3) A ≥ 0 :⇔ A positiv semidefinit ⇔ fur alle a ist A(a,a) ≥ 0⇔ fur alle λ ∈ EW (Aij) : λ ≥ 0,

(4) A ≤ 0 :⇔ A negativ semidefinit ⇔ fur alle a ist A(a,a) ≤ 0⇔ fur alle λ ∈ EW (Aij) : λ ≤ 0.

Satz 6.13 Sei U ⊂ Rn offen, f ∈ C3(U,R).

(1) Hat f in x0 ∈ U ein lokales Maximum (lokales Minimum), so ist x0 kriti-scher Punkt von f und Hfx0 ist negativ semidefinit (positiv semidefinit).

(2) Ist x0 ∈ U ein kritischer Punkt von f und Hfx0 negativ definit (positivdefinit), so hat f in x0 ein isoliertes lokales Maximum (isoliertes lokalesMinimum).

Beweis: (1) f habe in x0 ∈ U ein lokales Maximum. Sei a ∈ Rn. Dann hatg : (−ε, ε) −→ R mit g(t) := f(x0+ta) ein lokales Maximum in t = 0. Folglichgilt wegen g(1)(0) = 0 und g(2)(0) ≤ 0

〈grad f(x0),a〉Rn =

n∑

i=1

∂f

∂xi(0) · ai = 0

und

Hfx0(a,a) =

n∑

i,j=1

∂2f

∂xi∂yj(0)aiaj ≥ 0.

Da a beliebig ist, folgt daraus grad f(x0) = 0 und Hfx0 ≤ 0. Fur ein lokalesMinimum lauft der Beweis analog.

Page 239: Grundkurs Analysis

6.3 Die Taylorentwicklung und Extrema fur Funktionen mehrerer reeller Veranderlicher 231

(2) Sei x0 ∈ U ein kritischer Punkt und Hfx0 < 0. Sei ε > 0, so dassK(x0, ε) ⊂ U . Da f ∈ C3(U,R) ist, gilt fur y ∈ K(x0, ε) die Taylorformel

f(y) = f(x0) +1

2

n∑

i,j=1

∂2f

∂xi∂xj(x0) · (yi − x0i

) · (yj − x0j)

+∑

|α|=3

1

α!

∂3f

∂xα(ξ) · (y − x0)

α

= f(x0) +1

2Hfx0(y − x0, y − x0) +

|α|=3

1

α!

∂3f

∂xα(ξ) · (y − x0)

α,

wobei ξ ∈ x0y. Sei λ1 der großte Eigenwert von Hfx0 (λ1 < 0). Dann gilt

Hfx0(y − x0, y − x0) ≤ λ1‖y − x0‖2

und folglich

f(y) − f(x0) ≤1

2λ1‖y − x0‖2 +

|α|=3

1

α!

∂3f

∂xα(ξ) · (y − x0)

α.

Sei 0 < µ < ε und 0 < ‖y − x0‖ < µ. Fur jeden Multiindex α mit |α| = 3 gilt

|(y − x0)α|

‖y − x0‖2≤ µ.

Damit folgt

2 · f(y) − f(x0)

‖y − x0‖2≤ λ1 + 2

|α|=3

1

α!

∂3f

∂xα(ξ) · (y − x0)

α

‖y − x0‖2

︸ ︷︷ ︸|...|< |λ1|

µ·µ

. (∗)

Sei nun 0 < µ < ε so gewahlt, dass

µ <|λ1|

2∑

|α|=3

sup

∣∣∣∣∂3f

∂xα(z)

∣∣∣∣ | z ∈ K(x0, ε)

︸ ︷︷ ︸existiert, da ∂3f

∂xα stetigist

gilt. Wegen (∗) gilt fur 0 < ‖y − x0‖ < µ

2 · f(y) − f(x0)

‖y − x0‖2< λ1︸︷︷︸

<0

+|λ1| = 0

und somit

Page 240: Grundkurs Analysis

232 6 Differentialrechnung fur Abbildungen mehrerer reeller Variablen

f(y) < f(x0), ∀ y ∈ K(x0, µ)\x0.Folglich hat f in x0 ein lokales isoliertes Maximum. Analog beweist man denFall Df(x0) = 0, Hfx0 > 0. ⊓⊔

Bemerkung (1) Sei A ∈MR(2, 2) eine symmetrische 2×2–Matrix. Dann gilt

(a) A > 0 ⇔ det(A) > 0 und A11 > 0,(b)A < 0 ⇔ det(A) > 0 und A11 < 0.

(2) Sei A ∈MR(n, n) und definiere A(v) durch

A(v) :=

A11 . . . A1v

......

Av1 . . . Avv

.

Dann gilt

(a’)A > 0 ⇔ det(A(v)) > 0 ∀v ∈ 1, . . . , n,(b’)A < 0 ⇔ (−1)vdet(A(v)) > 0 ∀v ∈ 1, . . . , n.

Beispiel 6.9Wir betrachten die Funktion f : R3 −→ R mit

f(x, y, z) := 35 − 6x+ 2z + x2 − 2xy + 2y2 + 2yz + 3z2.

In welchen Punkten hat f lokale Extrema? Die Bedingung Df(x, y, z) = 0 istnur im Punkt

(x, y, z) = (8, 5,−2) =: x0

erfullt. In diesem Punkt ist die Hesse-Matrix

Hfx0 =

2 −2 0−2 4 20 2 6

.

Da det(Hfx0) = 16 > 0 ist, hat f in x0 ein lokales Minimum.

6.4 Der Satz uber die Umkehrabbildung

Definition 6.10. Seien U, V ⊂ Rn offene Teilmengen. Eine Abbildung f : U −→ Vheißt Ck–Diffeomorphismus (k ≥ 1), wenn gilt1) f ist bijektiv,2) f und f−1 sind Ck–Abbildungen.

Page 241: Grundkurs Analysis

6.4 Der Satz uber die Umkehrabbildung 233

Bemerkung: Ein Diffeomorphismus heißt auch Koordinatentransformationund vereinfacht oft die Berechnung von Integralen oder das Losen von Diffe-rentialgleichungen.

Beispiel 1: Polarkoordinaten in der Ebe-ne

f : (0,∞) × (0, 2π) −→ R2\[0,∞) × 0(r, ϕ) 7→ (r cosϕ, r sinϕ)

(r, ϕ) heißen die Polarkoordinaten von(x, y). -

6

R

R

(x, y) = f(r, ϕ)

x

y

ϕ

r

Beispiel 2: Zylinderkoordinaten im R3

f : (0,∞) × (0, 2π)︸ ︷︷ ︸Polarkoordinaten

×R −→ (R2\[0,∞) × 0)× R

(r, ϕ, z) 7→ (r cosϕ, r sinϕ, z)

-

6

y

z

+

x

• Pr

z

ϕ

Zylinderkoordinaten

Beispiel 3: Kugelkoordinaten im R3

f : (0,∞) × (−π2,π

2) × (0, 2π) −→ R3\([0,∞) × 0 × R)

(r, u, v) 7→ (r cos v cosu, r sin v cosu, r sinu)

Page 242: Grundkurs Analysis

234 6 Differentialrechnung fur Abbildungen mehrerer reeller Variablen

-

6

y

z

+

x

•P

vu

r

Kugelkoordinaten

Satz 6.14 Ist f : U ⊂ Rn −→ V ⊂ Rn ein Diffeomorphismus, so ist fur allex0 ∈ U die Abbildung Df(x0) : Rn −→ Rn ein Isomorphismus und es gilt

(Df(x0))−1 = (Df−1)(f(x0)).

Beweis: Da f f−1 = idV und f−1 f = idU gilt, folgt nach der Kettenregel

Df(f−1(y0))Df−1(y0) = D(id)(y0) = idRn

undDf−1(f(x0))Df(x0) = D(id)(x0) = idRn .

Ist nun y0 = f(x0), so folgt Df−1(y0) = (Df(x0))−1. ⊓⊔

Bemerkung: Fur Funktionen in R gilt: Ist U ⊂ R offen und zusam-menhangend, f : U −→ R eine C1–Abbildung und f ′(x) 6= 0 fur alle x ∈ U ,so ist V = f(U) ⊂ R offen und zusammenhangend, f : U −→ f(U) bijektivund ein Diffeomorphismus. In hoheren Dimensionen gilt dies nicht!

Beispiel 6.10Wir betrachten die Abbildung f : R2 −→ R2 mit f(x, y) := (ex cos y, ex sin y).Dann ist f eine C1–Abbildung und wir konnen det(Df(x, y)) berechnen:

det(Df(x, y)) = det

(ex cos y −ex sin yex sin y ex cos y

)= e2x > 0.

Folglich ist Df(x, y) : R2 −→ R2 ein Isomorphismus fur alle (x, y) ∈ R2. Aberf ist nicht injektiv. Somit existiert f−1 nicht global sondern nur lokal.

Page 243: Grundkurs Analysis

6.4 Der Satz uber die Umkehrabbildung 235

Wir wollen nun untersuchen, unter welchen Bedingungen eine C1–Abbildungf : Rn −→ Rn eine lokale Umkehrfunktion besitzt.

Lemma 6.11. Sei f : U ⊂ Rn −→ Rn eine C1–Abbildung, W ⊂ U ein Wurfelund es gelte ∣∣∣∣

∂fi∂xj

(u)

∣∣∣∣ ≤M ∀u ∈ W.

Dann folgt

‖f(b)− f(a)‖ ≤ n32M‖b− a‖ ≤ n2M‖b− a‖ ∀a, b ∈ W.

Beweis: Es gilt

fi(b) − fi(a) =

n∑

j=1

(fi(b1, . . . , bj, aj+1, . . . , an) − fi(b1, . . . , bj−1, aj , . . . , an)).

Wenden wir den Mittelwertsatz von Lagrange auf die Funktion fi in der j–tenVariablen an, so erhalten wir ein ξj ∈ [aj , bj] mit

fi(b) − fi(a) =

n∑

j=1

(bj − aj)∂fi∂xj

(b1, . . . , bj−1, ξj , aj+1, . . . , an)︸ ︷︷ ︸∈W

.

Daraus folgt

|fi(b) − fi(a)| ≤n∑

j=1

|bj − aj | ·M ≤ n ·M · ‖b− a‖

und damit

‖f(b) − f(a)‖ =

(n∑

i=1

|fi(b) − fi(a)|2) 1

2

≤√n · n2 ·M2 · ‖b− a‖2

= n32M‖b− a‖.

⊓⊔

Satz 6.15 (Satz uber die Umkehrabbildung) Sei U ⊂ Rn offen, f :U −→ Rn von der Klasse Ck, k ≥ 1, x0 ∈ U und es gelte det(Df(x0)) 6= 0,das heißt Df(x0) ist Isomorphismus. Dann existieren offene Umgebungen Uvon x0 und offene Umgebungen V von f(x0), so dass gilt

(1) V = f(U),(2) f|U : U −→ V ist bijektiv,

(3) (f|U )−1 : V −→ U ist Ck–Abbildung.

Page 244: Grundkurs Analysis

236 6 Differentialrechnung fur Abbildungen mehrerer reeller Variablen

Beweis: (1) OBdA kann man Df(x0) = id annehmen: Betrachten wir dielineare, bijektive Abbildung L := Df(x0)

−1 : Rn −→ Rn. Gilt der Satz furL f : U −→ Rn, so gilt er auch fur f (lineare Abbildungen sind C∞) und esgilt

D(L f)(x0) = DL(f(x0)) Df(x0) = L Df(x0) = id.

(2) Sei f : U −→ Rn eine C1–Abbildung und Df(x0) = id, das heißt∂fi

∂xj(x0) = δij . Wir wahlen einen Wurfel K mit x0 ∈ Int(K) ⊂ K ⊂ U ,

so dass gilt

(i) det(Df(x)) 6= 0 ∀x ∈ K,

(ii)∣∣∣ ∂fi

∂xj(x) − ∂fi

∂xj(x0)

∣∣∣ < 12n2 ∀x ∈ K, ∀i, j ∈ 1, . . . , n.

Im Folgenden zeigen wir, dass f auf K injektiv ist. Wir betrachten dazu dieAbbildung g(x) = f(x) − x. Dann ist g eine C1–Abbildung und es folgt

∣∣∣∣∂gi∂xj

(x)

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣∂fi∂xj

(x) − δij

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣∂fi∂xj

(x) − ∂fi∂xj

(x0)

∣∣∣∣ <1

2n2∀x ∈ K.

Aus dem Lemma 6.11 folgt dann

‖g(b)− g(a)‖ < n2 · 1

2n2· ‖b− a‖ =

1

2‖b− a‖ ∀a, b ∈ K.

Mit Hilfe der Dreiecksungleichung erhalten wir dann

‖b− a‖− ‖f(b)− f(a)‖ ≤ ‖f(b)− b− (f(a)− a)‖ = ‖g(b)− g(a)‖ ≤ 1

2‖b− a‖.

oder kurz‖b− a‖ ≤ 2‖f(b)− f(a)‖ ∀a, b ∈ K. (∗)

Somit ist f auf K injektiv. Da x0 ∈ Int(K) ist, gilt insbesondere, dassf(x0) 6∈ f(∂K).(3) Definition der Umgebung V (f(x0)): Da K kompakt ist, ist auch ∂K kom-pakt. Aus der Stetigkeit von f folgt dann, dass f(∂K) kompakt ist. Wegenf(x0) 6∈ f(∂K) folgt

inf‖f(x0) − f(x)‖ | x ∈ ∂K = d > 0.

Wir definieren nun die Umgebung V (f(x0)) := y ∈ Rn | ‖y − f(x0)‖ < d2.

Damit erhalten wir

‖y − f(x0)‖ < ‖y − f(x)‖ ∀ y ∈ V , x ∈ ∂K. (∗∗)

U

x0

x

K

f

f(K)

f(∂K)

Vf (x0)

f(x)

d

Page 245: Grundkurs Analysis

6.4 Der Satz uber die Umkehrabbildung 237

(4) Definition der Umgebung U(x0): Die Behauptung ist, dass fur alle y ∈ Vgenau ein x ∈ Int(K) mit f(x) = y existiert. Die Eindeutigkeit wurde bereitsin (2) gezeigt. Sei nun y ∈ V gegeben. Wir betrachten die Abbildung

gy : K −→ R.

x 7→ gy(x) = ‖y − f(x)‖2 = 〈y − f(x), y − f(x)〉

Da K kompakt und gy stetig ist, nimmt gy auf K das absolute Minimum an.Da nach (∗∗) gy(x0) < gy(x) fur alle x ∈ ∂K gilt, liegt das absolute Minimumnicht auf ∂K. Das heißt, es existiert ein u0 ∈ Int(K), in dem gy sein absolutesMinimum annimmt. Wir zeigen nun, dass f(u0) = y gilt. Es ist

0 = Dgy(u0) = −2Df(u0)(y − f(u0)) = −2〈y − f(u0), grad f(u0)︸ ︷︷ ︸6=0

〉.

Da u0 ∈ Int(K) und Df(u0) ein Isomorphismus ist, folgt y = f(u0). Wirsetzen nun U := (Int(K)) ∩ f−1(V ). Dann ist U eine offene Umgebung vonx0 und f|U : U −→ V ist bijektiv.

(5) Wir zeigen nun, dass (f|U )−1 : V −→ U stetig ist. Aus (∗) erhalten wirdie Ungleichung

‖f−1(x) − f−1(y)‖ ≤ 2‖x− y‖ ∀x, y ∈ V .

Folglich ist f−1 auf V Lipschitz-stetig, also stetig.

(6) Es ist zu zeigen, dass f−1 : V −→ U differenzierbar ist. Sei dazuy = f(x) ∈ V , x ∈ U und Lx := Df(x). Es genugt zu zeigen, dass f−1 in ydifferenzierbar ist und dass

Df−1(y) = L−1x = (Df(x))−1.

Da f in x differenzierbar ist, gilt fur x+ h ∈ U

f(x+ h) − f(x) = Lx(h) + o(h)

wobei limh→0

‖o(h)‖‖h‖ = 0. Daraus folgt

L−1x (f(x+ h) − f(x)) = h+ L−1

x (o(h)).

Sei y1 = f(x+ h). Dann ist f−1(y1) − f−1(y) = x+ h− x = h und es folgt

L−1x (y1 − y) = h+ L−1

x (o(h)).

Daraus erhalt man f−1(y1) − f−1(y) − L−1x (y1 − y) = −L−1

x (o(h)). Da L−1x

linear ist, gilt ‖L−1x (z)‖ ≤ C‖z‖ fur alle z. Folglich ist

Page 246: Grundkurs Analysis

238 6 Differentialrechnung fur Abbildungen mehrerer reeller Variablen

limy1→y

‖f−1(y1) − f−1(y) − L−1x (y1 − y)‖

‖y1 − y‖

≤ limy1→y

C‖o(h)‖‖y1 − y‖ = C lim

h→0

‖o(h)‖‖f(x+ h) − f(x)‖

= C limh→0

‖o(h)‖‖h‖ · ‖h‖

‖f(x+ h) − f(x)‖︸ ︷︷ ︸≤2 nach (∗)

≤ 2C limh→0

‖o(h)‖‖h‖ = 0.

Somit ist f−1 differenzierbar und es gilt Df−1(f(x)) = (Df(x))−1.

(7) Es ist zu zeigen, dass wenn f ∈ Ck gilt, auch f−1 ∈ Ck ist. Sei dazu

f = (f1, . . . , fn) : U −→ V , f−1 = (g1, . . . , gn) : V −→ U .

Dann gilt fi(g1(y), . . . , gn(y)) = yi. Mit der Kettenregel erhalten wir wegen

n∑

k=1

∂fi∂xk

(f−1(y)) · ∂gk∂yj

(y) = δij

dass (∂gk∂yj

(y)

)

kj

=

(∂fi∂xk

(f−1(y)

)−1

ik

gilt. Aus der Formel fur die inverse Matrix folgt dann, dass ∂gk

∂yjfur alle i, k ∈

1, . . . , n eine rationale Funktion Qkj von ∂fi

∂xk(f−1(y)) ist. Da f−1 stetig

und Qkj ∈ C∞ ist, folgt aus f ∈ C1, dass f−1 ∈ C1 ist. Ist f ∈ C2, sofolgt f−1 ∈ C2, denn in der zweiten Ableitung von f−1 sind nur Ableitungenbis zur Ordnung 2 von f und Ableitungen der Ordnung 1 von f−1 enhalten(usw). ⊓⊔

Folgerung 6.3 Sei U ⊂ Rn offen, f : U −→ Rn eine C1–Abbildung und furalle x ∈ U sei Df(x) ein Isomorphismus. Dann gilt(1) f(U) ist offen.(2) Ist f zusatzlich injektiv, so ist f : U −→ f(U) ein Diffeomorphismus.

Beweis: (1) Nach dem Umkehrsatz existiert fur alle x ∈ U eine UmgebungUx, so dass f(Ux) offen ist. Somit ist auch f(U) =

⋃x∈U

f(Ux) offen.

(2) Ist f injektiv, so ist f : U −→ f(U) bijektiv. Folglich ist f|Ux: Ux −→

f(Ux) ein Diffeomorphismus fur alle Ux ⊂ U und daher f : U −→ f(U) einDiffeomorphismus. ⊓⊔

Page 247: Grundkurs Analysis

6.5 Implizite Funktionen 239

6.5 Implizite Funktionen

1) Wir betrachten eine “Flache” im R3, die durch eine Gleichung gegeben ist:

M = (x, y, z) ∈ R3 | F (x, y, z) = 0,

wie z.B. die Sphare (x2+y2+z2−1 = 0), das Paraboloid (x2

a2 + y2

b2−z = 0) oder

das Hyperboloid (x2

a2 + y2

b2− z2

c2− 1 = 0). Sei p ∈M . Kann man M lokal um p

als Graph einer Funktion darstellen ? Existiert z.B. eine Funktion z = z(x, y)mit F (x, y, z(x, y)) = 0, d.h. graph(z) = M (lokal) ? Falls ja, kann man mitHilfe des Gradienten dieser Funktion leicht den Tangentialraum TpM an denPunkt p bestimmen. (−→ Ubungsaufgabe)

p

gradF (p)

graph z

2) Wir betrachten das lineare Gleichungssystem

f1(x) = a11x1 + . . .+ a1nxn = 0...

......

fm(x) = am1x1 + . . .+ amnxn = 0.

(∗)

Das lasst sich auch schreiben als Ax⊤ = 0 wobei

A =

a11 . . . a1n

......

am1 . . . amn.

und x⊤ der transponierte Vektor zu x = (x1, x2, . . . , xn) ∈ Rn ist. Sind dieSpalten (a1, . . . , an) von A linear unabhangig, so ist das Gleichungssystem mitden Variablen x1, . . . , xm auflosbar, d.h., es existieren lineare Funktionen

x1 = x1(xm+1, . . . , xn),...

...xm = xm(xm+1, . . . , xn),

die (∗) losen.

Verallgemeinerung auf beliebige Gleichungssysteme

Gegeben sei eine beliebige Ck-Funktion f : Rn −→ Rm, m ≤ n. Wir betrach-ten das Gleichungssystem

Page 248: Grundkurs Analysis

240 6 Differentialrechnung fur Abbildungen mehrerer reeller Variablen

f1(x1, . . . , xn) = 0,

f2(x1, . . . , xn) = 0,

...

fm(x1, . . . , xn) = 0,

d.h. (x1, . . . , xn) = 0. Kann man dieses Gleichungssystem nach einer odermehreren Variablen auflosen ? D.h.,

1) Existiert eine Abbildung ϕ : Rn−m −→ Rm, so dass

f(x1, . . . , xn−m, ϕ1(x1, . . . , xn−m)︸ ︷︷ ︸=:y1

, . . . , ϕm(x1, . . . , xn−m)︸ ︷︷ ︸=:ym

) = 0

gilt?2) Ist ϕ eindeutig bestimmt?3) Falls f differenzierbar ist und ϕ existiert, ist dann auch ϕ differenzierbar?

Beispiel 6.11Wir betrachten die Abbildung

f : R2 −→ R

(x, y) 7→ f(x, y) = x2 + y2 − 1x

f(x, y) = 0

Die Gleichung fur ϕ(x) lautet dann x2 + ϕ(x)2 − 1 = 0, das heißtϕ(x) = ±

√1 − x2. Somit ist ϕ nicht eindeutig bestimmt und nur lokal auf

[ − 1, 1] definiert.

Beispiel 6.12Wir betrachten die Abbildung

f : Rn −→ R

(x1, . . . , xn) 7→ f(x1, . . . , xn) = x21 + . . .+ x2

n−1

Rn−1

xn

f ≡ 0

Dann existiert kein ϕ mit f(x1, . . . , xn−1︸ ︷︷ ︸x

, ϕ(x)) = 0.

Page 249: Grundkurs Analysis

6.5 Implizite Funktionen 241

Beispiel 6.13Wir betrachten die Abbildung

f : R2 −→ R

(x, y) 7→ f(x, y) = x− y3

Dann lost ϕ(x) = 3√x die Gleichung f(x, ϕ(x)) = 0, aber ϕ ist in x = 0 nicht

differenzierbar.

Satz 6.16 (Satz uber implizite Funktionen) Sei U ⊂ Rn(x1,...,xn)

× Rm(y1,...,ym)

offen und f : U −→ Rm eine C1–Abbildung. Sei (a, b) ∈ U ein Punkt mit1) f(a, b) = 0, d.h., es existiert eine Losung (a, b) von f(x, y) = 0 und2)

det

∂f1∂y1

∂f1∂y2

. . . ∂f1∂ym

......

...∂fm

∂y1

∂fm

∂y2. . . ∂fm

∂ym

(a, b) =: det

(∂f⊤

∂y1(a, b) ∂f⊤

∂y2(a, b) . . . ∂f

∂ym(a, b)

)6= 0.

Dann existieren eine offene, zusammenhangende Umgebung A(a) ⊂ Rn von aund eine eindeutig bestimmte Abbildung ϕ : A −→ Rm mit

i) f(x, ϕ(x)) = 0 undii) ϕ(a) = b,d.h., in einer Umgebung des Punktes (a, b) istdie Losungsmenge der Gleichung f(x, y) = 0der Graph der Funktion ϕ.

a

bS1

Weiterhin gilt:iii) ϕ : A −→ Rm ist differenzierbar.iv) Falls f ∈ Ck ist, so ist auch ϕ ∈ Ck und

(∂ϕl∂xi

(x)

)

︸ ︷︷ ︸∈Rm×n

= −(∂fk∂yl

(x, ϕ(x))

)−1

︸ ︷︷ ︸∈Rm×m

(∂fk∂xi

(x, ϕ(x))

)

︸ ︷︷ ︸∈Rm×n

.

Beweis: 1) Existenz von ϕ (Auflosung der Gleichung f(x, y) = 0 nach(y1, . . . , ym):Wir definieren F : U ⊂ Rn × Rm −→ Rn × Rm durch F (x, y) = (x, f(x, y)).Dann ist F eine C1-Funktion und nach Vorausetzung ist

Page 250: Grundkurs Analysis

242 6 Differentialrechnung fur Abbildungen mehrerer reeller Variablen

det(DF (a, b)) = det

1n 0∂f1∂y1

. . . ∂f1∂ym

(∗)...

...∂fm

∂y1. . . ∂fm

∂ym

(a, b) 6= 0

Nach dem Satz uber die Umkehrabbildung (Satz 6.15) existieren eine offe-ne Umgebung U(a, b) ⊂ U und eine offene Umgebung V ⊂ Rn × Rm vonF (a, b) = (a, 0), so dass F|U : U −→ V ein C1-Diffeomorphismus ist.

Da (a, 0) ∈ V ist, konnen wir eine zusammenhangende offene UmgebungA(a) ⊂ Rn und einen offenen Wurfel (−ε, ε)m ⊂ Rm wahlen, so dassV ′ := A× (−ε, ε)m ⊂ V ist.Sei nun U ′ := F−1(V ′) ⊂ U ⊂ Rn × Rm. Dann ist F|U′ : U ′ −→ V ′ ein

Ck-Diffeomorphismus. Wir betrachten F−1 : V ′ −→ U ′ ⊂ Rn × Rm mitF−1 =: (F1

↑Rn

, F2↑

Rm

). Dann erhalten wir

(x, y) = FF−1(x, y) = F (F1(x, y), F2(x, y))Def.= (F1(x, y), f(F1(x, y), F2(x, y))).

Damit gilt

F1(x, y) = x

f(x, F2(x, y)) = y, ∀ (x, y) ∈ V ′. (∗)

Weiterhin gilt F (a, b) = (a, f(a, b)) = (a, 0) und daher

(a, b) = F−1(a, 0) = (F1(a, 0), F2(a, 0)) = (a, F2(a, 0)).

Also istb = F2(a, 0). (∗∗)

Wir definieren nun ϕ : A ⊂ Rn −→ Rm durch ϕ(x) = F2(x, 0). Dann istϕ(a) = b wegen (∗∗) und f(x, ϕ(x)) = 0 wegen (∗) fur alle x ∈ A.

2) Eindeutigkeit von ϕ.Angenommen ϕ : A ⊂ Rn −→ Rm ware eine weitere Funktion mit ϕ(a) = bund f(x, ϕ(x)) = 0 fur alle x ∈ A. Dann ware einerseits

F (x, ϕ(x))Def.= (x, f(x, ϕ(x))) = (x, 0),

aber andererseits ware auch

F (x, ϕ(x))Def.= (x, f(x, ϕ(x))) = (x, 0).

Da F auf U injektiv ist, folgt ϕ(x) = ϕ(x) fur alle x ∈ A.

Page 251: Grundkurs Analysis

6.5 Implizite Funktionen 243

3) Wenn f eine Ck-Funktion ist, dann ist nach Definition auch F eine Ck-Funktion und daher nach dem Umkehrsatz auch F−1 Ck. Nach Definition istdann auch F2 C

k und wegen ϕ(x) = F2(x, 0) ist auch ϕ eine Ck-Funktion. Daf mindestens C1 ist, ist ϕ auf jeden Fall differenzierbar.

4) Zur Formel fur die partiellen Ableitungen:Wir wenden die Kettenregel fur partielle Ableitungen an auf

f(x, ϕ(x)) = f(x1, . . . , xn, ϕ1(x1, . . . , xn), . . . , ϕm(x1, . . . , xn)) = 0

und erhalten

0 =∂

∂xi(fk(x, ϕ(x)))

=

n∑

j=1

∂fk∂xj

(x, ϕ(x)) · ∂xj∂xi︸︷︷︸=δij

+

m∑

l=1

∂fk∂yl

(x, ϕ(x)) · ∂ϕl∂xi

(x)

=∂fk∂xi

(x, ϕ(x)) +

m∑

l=1

∂fk∂yl

(x, ϕ(x)) · ∂ϕl∂xi

(x),

oder in Matrixschreibweise

−(∂fk∂xi

(x, ϕ(x))

)=

(∂fk∂yl

(x, ϕ(x))

)(∂ϕl∂xi

(x)

).

Daher gilt fur die Ableitungen von ϕ

(∂ϕl∂xi

(x)

)= −

(∂fk∂yl

(x, ϕ(x))

)−1

(∂fk∂xi

(x, ϕ(x))

).

⊓⊔

Beispiel 6.14Wir betrachten die Funktion f : R2 −→ R mit f(x, y) = x2 + y2 − 1. Dann

erhalten wir (x, y) ∈ R2 | f(x, y) = 0 = S1 und ∂f∂y

= 2y. Man kann den

Satz uber implizite Funktionen auf (x0, y0) ∈ S1 und y0 6= 0 anwenden.

(1) Ist y0 > 0, so existiert ϕ : (−1, 1) −→ R, ϕ(x) :=√

1 − x2, so dassf(x, ϕ(x)) = 0 und ϕ(x0) = y0.

(2) Ist y0 < 0, so existiert ϕ : (−1, 1) −→ R, ϕ(x) = −√

1 − x2, so dass wie in(1) f(x, ϕ(x)) = 0 und g(x0) = y0.

Page 252: Grundkurs Analysis

244 6 Differentialrechnung fur Abbildungen mehrerer reeller Variablen

Anwendung

Erinnerung:Der Tangentialraum TpM an einen Punkt p der Flache M ⊂ Rn ist folgen-dermaßen definiert:

TpM := v ∈ Rn | ∃ differenzierbare Kurve γ : (−ε, ε) →M mit γ(0) = p

und γ′(0) = v.

Satz 6.17 Sei F : U ⊂ Rn → R eine differenzierbare Funktion und Mc =x ∈ U | F (x) = c ⊂ Rn eine Niveauflache von F . Ist gradF (p) 6= 0 fur allep ∈Mc, so gilt fur den Tangentialraum

TpMc = gradF (p)⊤ = v ∈ Rn | 〈v, gradF (p)〉 = 0

fur alle p ∈Mc.

Beweis: Sei p ∈Mc. Nach Voraussetzung ist gradF (p) 6= 0. Deshalb existierteine Koordinate xj mit ∂F

∂xj(p) 6= 0. OBdA sei dies die n-te Koordinate, es sei

also xj = xn (sonst kann man die Koordinaten umsortieren). Wir definierenp durch p = (p, pn) und x durch x = (x, xn). Nach dem Satz uber impliziteFunktionen kann man F (x) = c nach der Variable xn auflosen, d.h., es exi-stieren eine Umgebung A(p) und eine differenzierbare Funktion ϕ : A(p) → R

mitF (x1, . . . , xn−1, ϕ(x1, . . . , xn−1)) = c, ∀ x ∈ A(p).

Daher existiert eine Umgebung Mc(p) ⊂Mc mit

Mc(p) = graph(ϕ) = (x, ϕ(x)) | x ∈ A

und aufgrund der lokalen Definition des Tangentialraums durch Kurven gilt

TpMc = TpMcUA= (v, vn) | v ∈ Rn−1, vn = 〈v, gradϕ〉

= (v1, . . . , vn−1,

n−1∑

i=1

vi ·∂ϕ

∂xi(p))

︸ ︷︷ ︸vn

.

Wir werden nun zeigen, dass v = (v1, . . . , vn) genau dann in TpMc enthaltenist, wenn 〈v, gradF (p)〉 = 0 ist. Wie im Beweis von Satz 6.16 folgt aus derKettenregel

∂F

∂xi(p) · 1 +

∂F

∂xn(p) · ∂ϕ

∂xi(p) = 0,

bzw.

Page 253: Grundkurs Analysis

6.5 Implizite Funktionen 245

∂xi(p) = − 1

∂F∂xn

(p)· ∂F∂xi

(p)

fur alle i = 1, . . . , n− 1. Eingesetzt in den obigen Ausdruck fur vn ergibt sich

vn =

n−1∑

i=1

vi ·∂ϕ

∂xi(p) = − 1

∂F∂xn

(p)·n−1∑

i=1

vi ·∂F

∂xi(p).

Daraus folgt

0 = vn · 1∂F∂xn

(p)+

n−1∑

i=1

vi ·∂F

∂xi(p) = 〈v, gradF (p)〉.

Also giltTpMc = v ∈ Rn | 〈v, gradF (p)〉 = 0.

⊓⊔Beispiel 6.15Kann man die Gleichung

f(x, y, z) = x2 + y2 + z2 + 3xyz + x3z2 + yz4 = 1

in einer Umgebung von p = (0, 0, 1) nach z auflosen ? Wie sieht grad z(0, 0)aus ? Genauer: Existiert eine differenzierbare Funktion z(x, y) mit

z(0, 0) = 1,

f(x, y, z(x, y)) = 1, (∗)und falls ja, was ist grad z(0, 0) = ( ∂z

∂x(0, 0), ∂z

∂y) ?

1) Wir berechnen die partielle Ableitung von f nach z

∂f

∂z(x, y, z) = 2z + 3xy + 2zx3 + 4yz3

Also ist ∂f∂z

(0, 0, 1) = 2 6= 0. Da auch f(0, 0, 1) = 1 gilt, existiert also eineFunktion z : U(0, 0) ⊂ R2 → R mit (∗).

2) Mit Hilfe der in Satz 6.16,iv) angegebenen Formel folgt fur den Gradientenvon z an der Stelle (x, y) = (0, 0)

grad z(0, 0) =

(∂z

∂x(0, 0),

∂z

∂y(0, 0)

)

= −(∂f

∂z(0, 0, 1)

)−1

·(∂f

∂x(0, 0, 1),

∂f

∂y(0, 0, 1)

)

= −1

2

(2x+ 3xy + 3x2z, 2y2 + 3xz + z4

)(0, 0, 1)

=

(0,−1

2

)

Page 254: Grundkurs Analysis

246 6 Differentialrechnung fur Abbildungen mehrerer reeller Variablen

3) Wir betrachten nun die Hyperflache M = f(x, y, z) = 1.grad f =

(2x+ 3yz + 3x2z2, 2y + 3xz + z4, 2z + 3xy + 2x3z + 4yz3

).

Also istgrad f(0, 0, 1) = (0, 1, 2).

Daher ist grad f(x, y, z) 6= 0 in einer Umgebung von p = (0, 0, 1) und derTangentialraum TpM an M im Punkt p ist die Menge aller Vektoren v ∈ R3,die orthogonal zu grad f(0, 0, 1) sind:

TpM := v ∈ R3 | 〈v, (0, 1, 2)〉 = 0

= span

100

,

02−1

Es gibt aber auch eine andere Moglichkeit, TpM zu bestimmen: Wie wir gese-hen haben, ist M in einer Umgebung des Punktes p = (0, 0, 1) als Graph derFunktion z : U(0, 0) ⊂ R2 → R darstellbar. Der Tangentialraum TpM ist nuncharakterisiert durch

TpM = (v1, v2, v3) | v1, v2 ∈ R, v3 = 〈(v1v2

), grad z(0, 0)〉

= (v1, v2,−1

2v2) | v1, v2 ∈ R

= span

100

,

02−1

.

6.6 Extrema unter Nebenbedingungen

Sei f : U ⊂ Rn −→ R eine Funktion. Oft benotigt man das Extremwertver-halten von f , wenn die Variablen einer Nebenbedingung unterworfen sind. Seizum Beispiel K ⊂ U ⊂ R3 ein Gegenstand und f : U → R eine Temperatur-verteilung. Dann konnen wir untersuchen, welches die großte Temperatur ist,die auf K angenommen wird und in welchem Punkt aus K dieser Maximal-wert angenommen wird, dh. wir suchen maxf(x) | x ∈ K.

Die Nebenbedingungen seien in der Form eines Gleichungssystems

g1(x1, . . . , xn) = 0

...

gm(x1, . . . , xn) = 0

gegeben, d.h. die Nebenbedingungen seien charakterisiert durch die Nullstel-lenmenge der Funktion g = (g1, . . . , gm) : U ⊂ Rn −→ Rm.

Page 255: Grundkurs Analysis

6.6 Extrema unter Nebenbedingungen 247

Definition 6.12. f nimmt in einem Punkt p ∈ Ng := x ∈ U | g(x) = 0 einlokales Maximum (Minimum) unter der Nebenbedingung g(x) = 0 an, fallsein ε > 0 existiert, so dass

f(x) ≤ f(p) (f(x) ≥ f(x0)) ∀x ∈ K(p, ε) ∩ Ng.

Erinnerung: Hat f : U ⊂ Rn −→ R, f ∈ C1, ein lokales Extremum in p ∈ U ,so ist grad f(p) = 0.

Satz 6.18 (Notwendige Bed. fur Extrema unter Nebenbedingungen)Seien f : U ⊂ Rn −→ R und g : U ⊂ Rn −→ Rm, m ≤ n, C1-Funktionen undp ∈ U mit

rang (Dg(p)) = rang

(∂gj∂xi

(p)

)= m.

Hat f in p ein lokales Extremum unter der Nebenbedingung g(x) = 0, dannexistieren Konstanten λ1, . . . , λm ∈ R, so dass

grad f(p) = λ1grad g1(p) + . . .+ λmgrad gm(p)

gilt. Die (λ1, . . . , λm) heißen Lagrange–Multiplikatoren.

Beweis: Da rg(Dg(p)) = m ist, konnen wir OBdA voraussetzen, dass

det

∂g1∂x1

(p) . . . ∂g1∂xm

(p)...

...∂gm

∂x1(p) . . . ∂gm

∂xm(p)

6= 0,

ist. (Anderenfalls ordnen wir die (x1, . . . , xn) so um, dass die ersten m Spaltenvon Dg(p) linear unabhangig sind.) Dann hat das lineare Gleichungssystem

m∑

v=1

λv ·∂gv∂xi

(p) =∂f

∂xi(p), i = 1, . . . ,m, (1)

genau eine Losung (λ1, . . . , λm) ∈ Rm. Dies ist ein Teil (er enthalt die erstenm der insgesamt n Komponenten von grad f) der gesuchten Gleichung

grad f(p) =

m∑

v=1

λv · grad gv(p) (∗).

Es ist noch zu zeigen, dass (1) auch fur die Komponenten i = m + 1, . . . , nerfullt ist.Wir definieren p =: (p, p′) mit p = (p1, . . . , pm) und p′ = (pm+1, . . . , pn) undanalog x =: (x, x′) mit x = (x1, . . . , xm) und x′ = (xm+1, . . . , xn). Nach demSatz uber implizite Funktionen kann man

Page 256: Grundkurs Analysis

248 6 Differentialrechnung fur Abbildungen mehrerer reeller Variablen

g(x1, . . . , xm︸ ︷︷ ︸x

, xm+1, . . . , xn︸ ︷︷ ︸x′

) = 0

in einer Umgebung A(p′) nach x1, . . . , xm auflosen, d.h., es existieren C1-Funktionen

ϕ1, . . . , ϕm =: ϕ : A(p′) −→ Rm

mit

g(ϕ1(xm+1, . . . , xn), . . . , ϕm(xm+1, . . . , xn), xm+1, . . . , xn) = 0

und ϕ(p′) = p. Dann gilt nach der Kettenregel fur ∂∂xµ

0 =

m∑

i=1

∂gvxi

(p) · ∂ϕi∂xµ

(p′) +∂gvxµ

(p),

bzw.∂gvxµ

(p) = −m∑

i=1

∂gvxi

(p) · ∂ϕi∂xµ

(p′). (2)

Wir betrachten nun die folgende Funktion F : A(p′) → R

F (xm+1, . . . , xn) := f(ϕ1(x′), . . . , ϕm(x′), xm+1, . . . , xn︸ ︷︷ ︸

x′

).

Nach Voraussetzung hat f in p = (ϕ(p′), p′) ein lokales Extremum und daher Fin p′ ein lokales Extremum. Folglich ist gradF (p′) = 0 und mit der Kettenregelfolgt

0 =∂F

∂xµ(p′) =

m∑

i=1

∂f

∂xi(p) · ∂ϕi

∂xµ(p′) +

∂f

∂xµ(p) = 0, ∀µ = m+ 1, . . . , n.

bzw.

∂f

∂xµ(p) = −

m∑

i=1

∂f

∂xi(p) · ∂ϕi

∂xµ(p′), ∀µ = m+ 1, . . . , n. (3)

Mit (1) und (2) nacheinander in (3) eingesetzt, ergibt sich

∂f

∂xµ(p) = −

m∑

i=1

m∑

v=1

λv ·∂gv∂xi

(p) · ∂ϕi∂xµ

(p′)

=

m∑

v=1

λv ·∂gv∂xµ

(p) ∀µ = m+ 1, . . . , n.

Die letzte Gleichung und Gleichung (1) zusammen liefern

grad f(p) =

m∑

v=1

λv · grad gv(p).

⊓⊔

Page 257: Grundkurs Analysis

6.6 Extrema unter Nebenbedingungen 249

Anwendung

Wir betrachten die C1-Funktion g : U ⊂ Rn → Rm, m ≤ n und einen Punktp ∈ Ng = x ∈ U | g(x) = 0, so dass rang(Dg(p)) = m ist. Sei ein lokalerExtremwert von f : U ⊂ Rn −→ R unter der Nebenbedingung g(x) = 0, soexistiert ein (λ1, . . . , λm) ∈ Rm, so dass

(p1, . . . , pn︸ ︷︷ ︸p

, λ1, . . . , λm) ∈ Rn × Rm

eine Losung des folgenden Gleichungssystems ist

∂f

∂xj(p) =

m∑

v=1

λv ·∂gv∂xj

(p) ∀ j = 1, . . . , n

g1(p) = 0,

...

gm(p) = 0.

Dieses Gleichungssystem mit n + m–Gleichungen und n + m–Unbekanntenheißt Lagrangesches Gleichungssystem. Betrachtet man die Funktion

F (x1, . . . , xn, λ1, . . . , λm) := f(x) −m∑

i=1

λigi(x),

dann ist das Lagrangesche Gleichungssystem aquivalent zum Gleichungssy-stem

∂F

∂xi(p, λ) = 0 ∀i = 1, . . . , n,

∂F

∂λj(p, λ) = 0, ∀j = 1, . . . ,m. (∗).

Man findet also die lokalen Extrema von f unter der Nebenbedingung g(x) = 0unter den Losungen des Lagrangeschen Gleichungssystems (∗).

Aber nicht jede Losung (p, λ) des Lagrangeschen Gleichungssystems liefert einlokales Extremum p von f unter der Nebenbedingung g(x) = 0. Man muss furjede Losung (p, λ) des Lagrangeschen Gleichungssystems extra untersuchen,ob p tatsachlich ein lokales Extremum ist.

Ist die Nullstellenmenge Ng = x ∈ U | g(x) = 0 kompakt, so existierenmax f|Ng

und min f|Ng. Somit mussen zwei der Losungen des Lagrangeschen

Gleichungssystems diese Punkte liefern.

Page 258: Grundkurs Analysis

250 6 Differentialrechnung fur Abbildungen mehrerer reeller Variablen

Beispiel 6.16Wir bestimmen Maxima und Minima von f(x, y) = x · y auf S1 = (x, y) ∈R2 | x2 + y2 = 1.1) Die Nebenbedingung lautet also g(x, y) = x2 + y2 − 1 = 0 und wir erhalten

Dg =

(∂g

∂x,∂g

∂y

)= (2x, 2y) 6= 0 auf S1.

Daraus folgt rang(Dg)(p) = 1 fur alle p ∈ S1.

2) Nun bestimmen wir die Losungen des Lagrangeschen Gleichungssystemsfur die Funktion

F (x, y, λ) := f(x, y) − λg(x, y) = x · y − λx2 − λy2 + λ.

Das Lagrangesche Gleichungssystem lautet daher

∂F

∂x= y − 2λx = 0

∂F

∂y= x− 2λy = 0,

∂F

∂λ= −x2 − y2 + 1 = 0.

Wir multiplizieren die erste Gleichung mit x, die zweite Gleichung mit y undsubtrahieren die zweite der entstehenden Gleichungen von der ersten. Dasergibt λx2 = λy2. λ muss ungleich 0 sein, denn sonst ware (x, y) = (0, 0) 6∈ S1.Somit gilt x2 = y2 und daher |x| = |y|. Mit der Nebenbedingung g(x, y) = 0

ergibt sich 2x2 = 2y2 = 1. Folglich ist x = ±√

12 und y = ±

√12 . Damit sind

die einzig moglichen Punkte fur die lokalen Extrema

(x0, y0) ∈(

1√2,

1√2

),

(1√2,− 1√

2

),

(− 1√

2,

1√2

),

(− 1√

2,− 1√

2

)

mit den Funktionswerten

f(x, y) =

12 (x, y) = ±

(1√2, 1√

2

)

− 12 (x, y) = ±

(1√2,− 1√

2

).

Da S1 kompakt ist, existieren max(f|S1) und min(f|S1

). Somit ist

max(f|S1) =

1

2und wird angenommen in

(1√2,

1√2

),

(− 1√

2,− 1√

2

),

min(f|S1) = −1

2und wird angenommen in

(− 1√

2,

1√2

),

(1√2,− 1√

2

).

Weitere lokale Extremwerte treten nicht auf.

Page 259: Grundkurs Analysis

6.6 Extrema unter Nebenbedingungen 251

Beispiel 6.17Wir bestimmen den Punkt auf der Ebene E = (x, y, z) ∈ R3 | z = x + y,der den kleinsten Abstand zum Punkt P = (1, 0, 0) hat. Dazu betrachten wirdas Quadrat der Abstandsfunktion

f(x, y, z) := d((x, y, z), P )2 = ‖(x− 1, y, z)‖2 = (x− 1)2 + y2 + z2

mit der Nebenbedingung g(x, y, z) = z − (x+ y) = 0. Es gilt

(Dg)(x, y, z) =

(∂g

∂x,∂g

∂y,∂g

∂z

)= (−1,−1, 1) 6= 0 ∀ (x, y, z) ∈ E.

Wir definieren die Abbildung

F (x, y, z) := f(x, y, z) − λg(x, y) = f(x, y, z)− λ(z − (x+ y))

= (x − 1)2 + y2 + z2 − λz + λx+ λy.

Dann ergibt sich als Lagrangesches Gleichungssystem

(1)∂F

∂x= 2(x− 1) + λ = 0

(2)∂F

∂y= 2y + λ = 0

(3)∂F

∂z= 2z − λ = 0

(4)∂F

∂λ= x+ y − z = 0.

Aus den Gleichungen (2) und (3) folgt y+ z = 0. Daher folgt aus der Neben-bedingung (4), dass y = −x

2 gelten muss und daher λ = x, woraus x = 23 folgt.

Die einzige Losung des Lagrangeschen Gleichungssystems ist somit (x, y, z, λ) =(23 ,− 1

3 ,13 ,

23

). Da E abgeschlossen ist, existiert ein PunktQ ∈ E mit d(P,Q) =

d(P,E). Wir haben diesen Punkt Q = (23 ,− 1

3 ,13 ) gefunden.

Bemerkung: In diesem Beispiel ist die Nebenbedingung schon in explizi-ter Form gegeben als z = x + y. Dadurch konnte man hier auch einfachervorgehen und die Nebenbedingung z = x + y gleich in die zu minimierendeFunktion f(x, y, z) = (x− 1)2 + y2 + z2 einsetzen und dann das Minimum derentstehenden Funktion

h(x, y) := f(x, y, x+ y) = (x− 1)2 + y2 + (x+ y)2

untersuchen.

Page 260: Grundkurs Analysis
Page 261: Grundkurs Analysis

7

Integralrechnung fur Funktionen einer reellenVariablen

Die Integralrechnung wird durch zwei verschiedene Problemstellungen moti-viert:

1. Die Umkehrung der Differentialrechnung: Gegeben sei f : I ⊂ R −→ Eund gesucht wird F : I ⊂ R −→ E, so dass F ′ = f gilt. Wie kann manzum Beispiel den Bewegungsablauf F eines Massepunktes ermitteln, wennman dessen Geschwindigkeit f kennt?

2. Wie kann man den Flacheninhalt von Teilmengen von Rn definieren undberechnen?

7.1 Stammfunktionen und ihre Berechnung

Definition 7.1. Sei E ein normierter Vektorraum, I ⊂ R ein beliebiges In-tervall und f : I ⊂ R −→ E eine Abbildung. Eine Abbildung F : I ⊂ R −→ Eheißt Stammfunktion von f auf I, falls F differenzierbar ist und F ′ = f gilt.

Satz 7.1 Sei F : I ⊂ R −→ E eine Stammfunktion von f : I ⊂ R −→ E.Dann ist F : I ⊂ R −→ E genau dann eine Stammfunktion von f , wenn einkonstanter Vektor c ∈ E existiert, so dass gilt F = F + c.

Beweis: (⇐) Ist F = F + c, so ist F differenzierbar und es gilt F ′ = F ′ = f .(⇒) Sei F eine Stammfunktion von f . Dann ist F − F differenzierbar und(F − F )′ = 0. Mit dem Mittelwertsatz folgt dann, dass F − F eine konstanteFunktion ist. ⊓⊔

Definition 7.2.

S(I;E) := f : I ⊂ R −→ E | f besitzt eine Stammfunktion auf I.

Page 262: Grundkurs Analysis

254 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

Beispiel 7.1Die Existenz einer Stammfunktion ist vom Intervall I abhangig. Betrachtenwir zum Beispiel die Funktion

f : R −→ R

x 7→ f(x) =

1x

x 6= 0

0 x = 0.

Auf R existiert keine Stammfunktion: Angenommen, F sei eine Stammfunk-tion von f auf R. Da (lnx)′ = 1

xgilt, wurde fur F folgen

F|(0,∞)= lnx+ c, F|(−∞,0)

= ln(−x) + c, c, c ∈ R.

Ware F auf ganz R definiert, so musste F in x = 0 stetig sein, aber lnxkonvergiert fur x gegen 0 gegen −∞.Aber fur jedes Intervall I mit 0 6= I ist F (x) = ln |x|+ c eine Stammfunktionvon f auf I.

Bemerkung: Spater (siehe Satz 7.10) werden wir zeigen, dass jede stetigeFunktion f : [a, b] −→ E, wobei E ein Banachraum ist, eine Stammfunktionhat, das heißt C([a, b];E) ⊂ S([a, b];E).

Definition 7.3. Sei f ∈ S(I;E). Unter dem unbestimmten Integral von fauf I versteht man die Menge aller Stammfunktionen von f .

Bezeichnung:

∫f(x) dx := F : I ⊂ R −→ E | F Stammfunktion von f auf I

f heißt der Integrand und x die Integrationsvariable. Ist F eine Stammfunk-tion von f , so benutzt man die Schreibweise

∫f(x) dx = F (x) + c auf I.

Beispiel 7.2Ist f : I ⊂ R −→ E differenzierbar, so besitzt f ′ eine Stammfunktion, dasheißt f ′ ∈ S(I;E) und es gilt

∫f ′(x) dx = f(x) + c auf I.

Page 263: Grundkurs Analysis

7.1 Stammfunktionen und ihre Berechnung 255

Wichtige Grundintegrale (Beweis durch Ableiten der Stammfunktion):

(1)

∫xα dx =

1

α+ 1xα+1 + c. Dies gilt fur α ∈ N auf R, α ∈ −N\−1 auf

(−∞, 0) sowie (0,∞) und α ∈ R\Z auf (0,∞),

(2)

∫1

xdx = ln |x| + c auf (0,∞) und (−∞, 0),

(3)

∫ex dx = ex + c auf R,

(4)

∫cosxdx = sinx+ c,

∫sinxdx = − cosx+ c auf R,

(5)

∫coshxdx = sinhx+ c,

∫sinhxdx = coshx+ c auf R,

(6)

∫1

1 + x2dx = arctanx+ c auf R,

(7)

∫1

1 − x2dx =

1

2ln

∣∣∣∣1 + x

1 − x

∣∣∣∣+ c =

artanh(x) + c auf (−1, 1)

arcoth(x) + c auf (−∞,−1) ∪ (1,∞),

(8)

∫1√

1 + x2dx = arsinh(x) + c auf R,

(9)

∫1√

1 − x2dx = arcsinx+ c auf (−1, 1),

(10)

∫1√

x2 − 1dx = ln |x+

√x2 − 1| + c =

arcosh(x) + c auf (1,∞)

−arcosh(−x) + c auf (−∞,−1)

(11)

∫e(a+ib)x dx =

e(a+ib)x

(a+ ib)+ c auf R fur a+ ib 6= 0,

(12)

∫dx

(x− (a+ ib))= ln |x− (a+ ib)| + i · arctan

(x− a

b

)+ c fur b 6= 0,

(13)

∫dx

(x− (a+ ib))n= − 1

n− 1· 1

(x− (a+ ib))n−1+ c fur n ∈ N, n > 1.

Satz 7.2 (Rechenregeln fur unbestimmte Integrale)(1) Sei f, g ∈ S(I;E), µ, λ ∈ R. Dann ist auch λf + µg ∈ S(I;E) und es gilt

∫(λf(x) + µg(x)) dx = λ

∫f(x) dx+ µ

∫g(x) dx.

(2) Partielle Integration: Seien f, g : I ⊂ R −→ E differenzierbar und f · g′ ∈S(I;E). Dann gilt f ′ · g ∈ S(I;E) und

Page 264: Grundkurs Analysis

256 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

∫f(x)g′(x) dx +

∫f ′(x)g(x) dx = f(x)g(x) + c.

(3) Substitutionsregel: g ∈ S(I;E) habe die Stammfunktion G, f : J ⊂ R −→I ⊂ R sei differenzierbar. Dann hat (g f) · f ′ : J ⊂ R −→ E die Stamm-funktion G∗ = G f , das heißt

∫g(f(x)︸︷︷︸

y

) · f ′(x) dx︸ ︷︷ ︸dy

=

∫g(y) dy

∣∣y=f(x) .

(Formal schreibt man: y = f(x), dy = f ′(x) dx.)(4) f = (f1, f2) ∈ S(I;E1 × E2) gilt genau dann, wenn fi ∈ S(I;Ei) fur

i ∈ 1, 2 ist, und es gilt dann

∫f(x) dx =

(∫f1(x) dx,

∫f2(x) dx

).

Beweis: Folgt aus den Rechenregeln fur die Ableitung (Produktregel, Ket-tenregel, komponentenweises Differenzieren). ⊓⊔

Beispiel 7.3Sei f : I ⊂ R −→ R eine differenzierbare Funktion ohne Nullstellen auf I.Dann gilt ∫

f ′(x)

f(x)dx = ln |f(x)|,

denn nehmen wir die Substitution y = f(x), dy = f ′(x) dx vor, so erhaltenwir ∫

f ′(x)

f(x)dx =

∫dy

y

∣∣y=f(x)

= ln |y|∣∣y=f(x)

= ln |f(x)|.

So ist zum Beispiel

∫tanxdx =

∫sinx

cosxdx = − ln (cosx) + c auf

(−π

2,π

2

).

Beispiel 7.4Gelgentlich ist das Einfugen einer 1 nutzlich:

∫ln(x) dx =

∫ln(x) · 1 dx part. Int.

= −∫

ln′(x)︸ ︷︷ ︸= 1

x

·xdx+ ln(x) · x+ c

= −x+ x · ln(x) + c auf (0,∞).

Page 265: Grundkurs Analysis

7.1 Stammfunktionen und ihre Berechnung 257

Beispiel 7.5Um

∫dx

1+ex zu berechnen, substituieren wir y = ex, dy = ex dx = y dx. Dannist

∫dx

1 + ex=

∫1

1 + y

1

ydy =

∫ (1

y− 1

1 + y

)dy∣∣y=ex

= ln y − ln (y + 1) + c∣∣y=ex = ln ex︸︷︷︸

=x

− ln ex + 1 + c

= x− ln ex + 1 + c auf R.

Beispiel 7.6Wie wird In :=

∫sinn xdx berechnet?

In = −∫

sinn−1 x · cos′ xdx

part. Int.= − sinn−1 x · cosx+

∫d

dxsinn−1 x · cosxdx

= − sinn−1 x · cosx+ (n− 1)

∫sinn−2 x

(1 − sin2 x

)dx

= − sinn−1 x · cosx− (n− 1)In + (n− 1)In−2.

Es folgt

In = − 1

n

(sinn−1 x · cosx

)+n− 1

nIn−2 fur n ≥ 2.

wobei I0 = x+ c und I1 = − cosx+ c ist.

Fur Jn :=∫

cosn xdx berechnet man analog

Jn =1

ncosn−1 x · sinx+

n− 1

nJn−2 fur n ≥ 2

mit J0 = x+ c und J1 = sinx+ c.

Integrale rationaler Funktionen

Seien P,Q ∈ C[z] Polynome, Q 6≡ 0. Wir betrachten ein Intervall I ⊂ R, aufdem Q keine Nullstelle hat und definieren

f : I ⊂ R −→ C.

x 7→ f(x) :=P (x)

Q(x)

Dann heißt f komplexe rationale Funktion. Sind speziell P,Q ∈ R[z] ⊂ C[z]Polynome uber R, so heißt f reelle, rationale Funktion.

Unser Ziel ist nun die Berechnung von∫ P (x)Q(x) dx.

Page 266: Grundkurs Analysis

258 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

Satz 7.3 (Fundamentalsatz der Algebra) Jedes komplexe Polynom Q ∈C[z] vom Grad > 0 hat mindestens eine Nullstelle, das heißt, es existiert einξ ∈ C mit Q(ξ) = 0.

Beweis: Sei Q ∈ C[z] mit Grad Q = n ≥ 1 gegeben. Dann gilt

Q(z) = anzn+an−1z

n−1+ . . .+a1z+a0, an 6= 0, aj ∈ C ∀ j ∈ 1, . . . , n.

(1) Sei α > 0 gegeben. Zuerst zeigen wir, dass ein r > 0 existiert, so dass fur

alle |z| ≥ r die Abschatzung |Q(z)| ≥ α gilt. Wir definieren dazu Q(x) durch

Q(z) = anzn

(1 +

an−1

an

1

z+ . . .+

a0

an

1

zn︸ ︷︷ ︸=: eQ(z)

), z 6= 0.

Sei nun β := 1 +∣∣∣an−1

an

∣∣∣+ . . .+∣∣∣ a0

an

∣∣∣ ≥ 1. Fur |z| ≥ 2β folgt dann

|Q(z)| ≤∣∣∣∣an−1

an

∣∣∣∣1

|z| + . . .+

∣∣∣∣a0

an

∣∣∣∣1

|z|n ≤(∣∣∣∣an−1

an

∣∣∣∣+ . . .+

∣∣∣∣a0

an

∣∣∣∣)

1

|z|

≤ β · 1

|z| ≤1

2.

Es folgt |1 + Q(x)| ≥ 12 und

|Q(z)| = |anzn| · |1 + Q(z)| ≥ 1

2|an| · |z|n fur alle |z| ≥ 2β.

Setzen wir r := max2β,(

2α|an|

) 1n , dann folgt aus |z| ≥ r, dass |Q(z)| ≥ α gilt.

(2) Wir zeigen, dass ein ξ ∈ C existiert, so dass Q(ξ) = 0. Sei A :=|Q(z)| | z ∈ C ⊂ R. Da |Q(z)| ≥ 0 gilt, ist A von unten beschrankt.Somit existiert µ := inf A ≥ 0. Nach (1) existiert ein r > 0, so dass gilt

|Q(z)| ≥ µ+ 1 ∀ |z| ≥ r.

Also ist µ = inf|Q(z)| | z ∈ C = inf|Q(z)| | |z| ≤ r. Da K(0, r) ⊂ C

kompakt ist und die Funktion

q : C −→ R

z 7→ |Q(z)|

stetig ist, existiert ein Minimum von q auf K(0, r), das heißt, es existiert einξ ∈ K(0, r) mit |Q(ξ)| = µ. Wir zeigen, dass Q(ξ) = 0 gilt. Wir nehmen an,dass Q(ξ) 6= 0 ist und betrachten das Polynom in z vom Grad n

H(z) :=Q(z + ξ)

Q(ξ).

Page 267: Grundkurs Analysis

7.1 Stammfunktionen und ihre Berechnung 259

Da |Q(ξ)| = min|Q(z)| | z ∈ C ist, gilt H(0) = 1 und |H(z)| ≥ 1 fur allez ∈ C, und es folgt

H(z) = bnzn + . . .+ bmz

m + 1, bm 6= 0, m ≥ 1, bj ∈ C ∀ j ∈ m, . . . , n.

Fur die komplexe Zahl w := − |bm|bm

der Norm 1 existiert ein ψ ∈ R, so dass

gilt w = eimψ , das heißt bmeimψ = −|bm|. Wir betrachten nun H auf den

komplexen Zahlen der Form z = · eiψ mit > 0. Dann gilt

|H( · eiψ)| ≤ |bn| · n + . . .+ |bm+1| · m+1 + |1 + bmm · eimψ |︸ ︷︷ ︸

=|1−|bm|·m|

.

Sei nun so klein gewahlt, dass m < 1|bm| ist. Dann ist 1 − |bm|m > 0 und

damit

|H( · eiψ)| ≤ 1 − |bm| · m + |bm+1| · m+1 + . . .+ |bn| · n= 1 − m(|bm| − |bm+1| · − . . .− |bn| · n−m︸ ︷︷ ︸

>0 fur hinreichend klein

).

Somit ist |H( ·eiψ)| < 1 fur hinreichend kleine . Dies ist ein Widerspruch zu|H(z)| ≥ 1 fur alle z ∈ C. Somit ist unsere Annahme falsch und Q(ξ) = 0. ⊓⊔

Satz 7.4 (Zerlegungssatz fur komplexe Polynome) Sei Q ∈ C[z] einPolynom vom Grad n ≥ 1 und seien ξ1, . . . , ξm ∈ C alle verschiedenen Null-stellen von Q. Dann gilt

Q(z) = anzn + . . .+ a1z + a0 = an(z − ξ1)

ν1 · (z − ξ2)ν2 · . . . · (z − ξm)νm ,

wobei νj ∈ N eindeutig bestimmte naturliche Zahlen sind und n = ν1+. . .+νm.

Bemerkung: νj heißt die Vielfachheit der Nullstelle ξj . Q hat genau n Null-stellen (gezahlt mit Vielfachheit).

Beweis: Sei Q(ξ1) = 0. Wir betrachten das Polynom

qk(z) := zk−1 + zk−2 · ξ1 + . . .+ z · ξk−21 + ξk−1

1 .

Dann gilt zk − ξk1 = (z − ξ1) · qk(z) und folglich

Q(z) = Q(z) −Q(ξ1) = a1(z − ξ1) + a2(z2 − ξ21) + . . .+ an(z

n − ξn1 )

= (a1q1(z) + . . .+ anqn(z)) · (z − ξ1)

=: Q1(z) · (z − ξ1), mit deg(Q1) = n− 1.

Ist n− 1 ≥ 1, so hat Q1 eine weitere Nullstelle und wir konnen einen weiterenLinearfaktor von Q abspalten. Dies funktioniert n–mal. ⊓⊔

Page 268: Grundkurs Analysis

260 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

Satz 7.5 (Partialbruchzerlegung komplexer rationaler Funktionen)Sei f(z) = P (z)

Q(z) eine komplexe, rationale Funktion, wobei P,Q ∈ C[z] Polyno-

me mit deg(P ) < deg(Q) sind. Q habe die verschiedenen Nullstellen ξ1, . . . , ξmmit der Vielfachheit ν1, . . . , νm. Dann existieren Konstanten cjk ∈ C fur allej ∈ 1, . . . ,m, k ∈ 1, . . . , νj, so dass gilt

f(z) =

m∑

j=1

νj∑

k=1

cjk(z − ξj)k

=

m∑

j=1

(cj1

z − ξj+

cj2(z − ξj)2

+ . . .+cjνj

(z − ξj)νj

).

Beweis: Wir fuhren den Beweis durch Induktion nach deg(Q).Ind.–Anfang: Sei deg(Q) = 1. Da nach Voraussetzung deg(P ) < deg(Q) gilt,ist deg(P ) = 0 und somit P ≡ a0 =konstant. Ist ξ1 Nullstelle von Q, so er-halten wir f(z) = a0

b1(z−ξ1) , das heißt c11 := a0

b1.

Ind.–Voraussetzung: Die Behauptung sei fur alle f =ePeQ

mit deg(Q) ≤ n − 1

bewiesen.Ind.–Behauptung: Die Behauptung gilt fur f = P

Qmit deg(Q) = n.

Ind.–Beweis: Sei ξ1 eine Nullstelle von Q mit Vielfachheit ν1. Dann folgtQ(z) = (z − ξ1)

ν1 · S(z), wobei S(z) ∈ C[z] mit deg(S) = n − ν1 < n und

S(ξ1) 6= 0 gilt. Sei a := P (ξ1)S(ξ1)

. Dann gilt

P (z)

Q(z)− a

(z − ξ1)ν1=

P (z) − a · S(z)

(z − ξ1)ν1 · S(z). (∗)

Nach Definition von a gilt P (ξ1) − aS(ξ1) = 0. Ist P − aS ≡ 0, so gilt dieBehauptung. Sei nun P − aS 6≡ 0. Dann kann man nach dem Zerlegungssatzden Linearfaktor (z − ξ1) abspalten, das heißt P (z) − aS(z) = (z − ξ1)S(z).Es folgt

P (z)

Q(z)

(∗)=

a

(z − ξ1)ν1+

S(z)

(z − ξ1)ν1−1 · S(z).

Da deg(S(z) · (z − ξ1)ν1−1) = deg(S) + ν1 − 1 = n − 1 ist, kann man nach

Ind.–Voraussetzung den zweiten Summanden entsprechend der Behauptungzerlegen. Da Q(z) = (z− ξ1)

ν1S(z) kommen alle Nullstellen von Q vor und ξ1mit einer Vielfachheit kleiner. ⊓⊔

Bemerkung(Methoden zur Berechnung der Koeffizienten in derPartialbruchzerlegung):Sei f komplexe, rationale Funktion, das heißt

f(z) =P (z)

Q(z)=

m∑

j=1

νj∑

k=1

cjk(z − ξj)k

. (∗∗)

(1) Multiplizieren wir f(z) mit Q(z), so konnen wir durch Koeffizientenver-gleich die Konstanten cjk fur j ∈ 1, . . . ,m, k ∈ 1, . . . , νj berechnen.

Page 269: Grundkurs Analysis

7.1 Stammfunktionen und ihre Berechnung 261

(2) Indem wir n spezielle Werte fur z einsetzen und das dadurch entstehendelineare Gleichungssystem fur cjk losen, erhalten wir ebenfalls die Koeffizien-ten.(3) Multiplizieren wir (∗∗) mit (z − ξj)

νj , so erhalten wir

cjνj= limz→ξj

(P (z)

Q(z)· (z − ξj)

νj

).

Die restlichen Koeffizienten lassen sich wie in (1) oder (2) berechnen oder wirbetrachten

P (z)

Q(z)− cjνj

(z − ξj)νj

(∗∗)=

S(z)

Q(z),

das heißt, Q hat ξj als (νj − 1)–fache Nullstelle. Dann lassen sich die cjνj−1

analog bestimmen.

Beispiel 7.7Wir betrachten die komplexe rationale Funktion

f(z) =z + 1

z4 − z3 + z2 − z=P (z)

Q(z).

Dann sind offensichtlich ξ1 = 0, ξ2 = 1 Nullstellen von Q und es folgt

Q(z)

z(z − 1)=

(z4 − z3 + z2z)

(z2 − z)= z2 + 1.

Somit sind die weiteren Nullstellen von Q gleich ±i und es gilt

f(z) =c1z

+c2

z − 1+

c3z − i

+c4z + i

.

Zur Berechnung der Koeffizienten wenden wir Methode (3) an, das heißt

c1 = limz→0

(z + 1

(z − 1)(z − i)(z + i)

)=

1

−1 · (−i) · i = −1,

c2 = limz→1

(z + 1

z(z − i)(z + i)

)= 1.

Durch analoges Rechnen erhalt man c3 = i2 und c4 = − i

2 . Somit gilt

f(z) = −1

z+

1

z − 1+

i

2(z − i)− i

2(z + i).

Satz 7.6 (Partialbruchzerlegung von reellen rationalen Funktionen)Seien P,Q ∈ R[z] Polynome mit reellen Koeffizienten, deg(Q) > deg(P ).(1) Ist ξ ∈ C eine echt–komplexe Nullstelle von Q mit der Vielfachheit ν, so

Page 270: Grundkurs Analysis

262 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

ist auch ξ eine Nullstelle von Q mit der Vielfachheit ν, das heißt:Die reellen Nullstellen von Q sind

x1, . . . , xs mit Vielfachheit µ1, . . . , µs.

Die echt-komplexen Nullstellen von Q sind

ξ1, . . . , ξr mit Vielfachheit ν1, . . . , νr

ξ1, . . . , ξr mit Vielfachheit ν1, . . . , νr,

mit n = µ1 + . . .+ µs + 2(ν1 + . . .+ νr).

(2) Die Partialbruchzerlegung von f(z) = P (z)Q(z) hat die Form:

f(z) =

s∑

j=1

µj∑

k=1

cjk(z − xj)k

+

r∑

l=1

νl∑

k=1

(Alk

(z − ξl)k+

Alk

(z − ξl)k

), cjk ∈ R.

Beweis: (1) Sei ξ ∈ C eine echt–komplexe Nullstelle von Q und Q ∈ R[z].Dann ist Q(ξ) = 0 und Q(ξ) = 0 = Q(ξ). Folglich ist ξ Nullstelle von Q.Spaltet man (z − ξ)(z − ξ) von Q ab, so folgt durch die Betrachtung desRestpolynoms die Behauptung.(2) Aus der Partialbruchzerlegung folgt fur x ∈ R, x 6= xj

f(x) =P (x)

Q(x)=

s∑

j=1

µj∑

k=1

cjk(x− xj)k

+r∑

l=1

νl∑

k=1

(Alk

(x− ξl)k+

Blk

(x− ξl)k

).

Da f(x) = f(x) ist, gilt fur x 6= xj , ξj , ξj

j,k

cjk(x− xj)k

+∑

l,k

(Alk

(x− ξl)k+

Blk

(x− ξ)k

)

=∑

j,k

cjk(x− xj)k

+∑

l,k

(Alk

(x− ξl)k+

Blk(x − ξl)k

).

Nun erhalt man aus dem Identitatssatz fur Potenzreihen: Seien λ1, . . . , λmverschiedene komplexe Zahlen, ajk ∈ C und fur alle x ∈ R mit x 6= λj (j ∈1, . . . ,m) gelte

m∑

j=1

νj∑

k=1

ajk(x − λj)k

= 0.

Daraus folgt ajk = 0. Die Anwendung dieses Identitatssatzes liefert cjk =cjk ∈ R und Alk = Blk. ⊓⊔

Page 271: Grundkurs Analysis

7.1 Stammfunktionen und ihre Berechnung 263

Anwendung auf die Berechnung des Integrals rationalerFunktionen

(1) Seien P,Q ∈ C[z], NS(Q)∩I = ∅ und f eine komplexe, rationale Funktionauf I, das heißt

f : I ⊂ R −→ C

x 7→ P (x)

Q(x).

Gesucht ist∫f(x) dx auf I.

(a) Dividieren wir P durchQ so erhalten wir den Rest P2 ∈ C[z] mit deg(P2) <deg(Q), das heißt, es gilt

f(x) = P1(x) +P2(x)

Q(x).

(b) Nun nehmen wir die Partialbruchzerlegung von P2(x)Q(x) vor.

(c) Auf I gilt

∫1

x− ξdx = i arctan

(x− a

b

)+ ln |x− ξ| + c fur ξ = a+ ib, b 6= 0,

∫1

z − ξdz = ln |x− ξ| + c fur ξ ∈ R,

∫1

(x − ξ)ndx = − 1

n− 1

1

(x− ξ)n−1+ c fur n ∈ N, n > 1.

Folglich kann man∫f(x) dx vollstandig berechnen.

(2) Seien P,Q ∈ R[z], NS(Q) ∩ I = ∅ und f eine reelle rationale Funktionauf I, das heißt

f : I ⊂ R −→ R

x 7→ P (x)

Q(x).

Wir nehmen die gleichen Schritte vor wie in (1) und fassen am Schluss diekomplexen Ausdrucke zu einem reellen zusammen. Dann gilt mit ξ ∈ C echt–komplex und ξ = a+ bi

c

∫1

x− ξdx+ c

∫1

x− ξdx = c i arctan

(x− a

b

)+ c i arctan

(x− a

−b

)

+c ln |x− ξ| + c ln |x− ξ|.

Wegen |x− ξ| = |x− ξ| gilt

c ln |x− ξ| + c ln |x− ξ| = 2Re(c) · ln√

(x− a)2 + b2.

Page 272: Grundkurs Analysis

264 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

Mit arctan(x−a−b

)= − arctan

(x−ab

)folgt daher

ci arctan

(x− a

b

)+ ci arctan

(x− a

−b

)= −2Im(c) arctan

(x− a

b

).

Daraus folgt∫ (

c

x− ξ+

c

x− ξ

)dx = 2Re(c)·ln

√(x− a)2 + b2−2Im(c)·arctan

(x− a

b

)

und∫ (

c

(x− ξ)k+

c

(x− ξ)k

)dx = − 1

k − 1

(c

(x− ξ)k−1+

c

(x− ξ)k−1

)+ const.

= − 1

k − 1

(c(x− ξ)k−1 + c(x− ξ)k−1

(x2 − 2x · a+ |ξ|2)k−1

)+ const.

Beispiel 7.8Berechnung des Integrals von f(x) = 2x3+2x2+2x−2

(x2+1)2 :

Q(x) = (x2 + 1)2 = (x− i)2(x+ i)2.

Folglich sind ξ1 = i und ξ2 = −i zweifache Nullstellen von Q und es folgt

f(z) =c11

(z − i)+

c12(z − i)2

+c21

(z + i)+

c22(z + i)2

c12 = limz→i

2z3 + 2z2 + 2z − 2

(z + i)2=

−2i− 2 + 2i− 2

4i2= 1

c22 = limz→−i

2z3 + 2z2 + 2z − 2

(z − i)2=

2i− 2 − 2i− 2

4i2= 1.

Setzen wir dann zum Beispiel x = 0, x = 1, erhalten wir ein Gleichungssy-stems fur c11, c21. Dann ist c11 = c21 = 1. Oder wir multiplizieren mit Q(x)und nehmen einen Koeffizientenvergleich vor:

2x3 + 2x2 + 2x− 2 = c11(x− i)(x+ i)2 + 1 · (x+ i)2 + c21(x− i)2(x+ i)

+1 · (x− i)2.

Folglich ist c11 = c21 = 1. Nun konnen wir∫f(x) dx berechnen:

∫f(x) dx =

∫ (1

(x− i)+

1

(x + i)

)dx+

∫ (1

(x − i)2+

1

(x+ i)2

)dx

= 2 ln√x2 + 1 − 1

(x− i)− 1

(x+ i)︸ ︷︷ ︸=− 2x

x2+1

+ const. auf R

= 2 ln√x2 + 1 − 2x

x2 + 1+ const. auf R.

Page 273: Grundkurs Analysis

7.1 Stammfunktionen und ihre Berechnung 265

Bemerkung: Oft lassen sich Integrale durch Substitution auf Integrale ratio-naler Funktionen zuruckfuhren. Seien u1, . . . , un : I ⊂ R −→ C Funktionen.Dann definieren wir

R(u1, . . . , un) :=

∑α

αi1...inuα11 · . . . · uαn

n

∑β

βi1...inuβ1

1 · . . . · uβnn

, αI , βI ∈ C.

Verschiedene Integrale der Form∫

R(.) dx und oft geeigneteSubstitutionen:

(1)∫R(eax) dx. Geeignete Substitution: y = eax.

(2)∫R(x, n

√ax+bcx+d) dx Geeignete Substitution: y = n

√ax+bcx+d .

(3)∫R(cosx, sinx) dx. Geeignete Substitution: y = tan x

2 . Ist R(u, v) =R(−u,−v), so ist eine geeignete Substitution y = tanx.

(4)∫R(coshx, sinhx) dx. Geeignete Substitution: y = tanh x

2 . Alternativkann man die Hyperbelfunktionen durch eix darstellen und dann (1) an-wenden.

(5)∫R(x,

√ax2 + bx+ c) dx. Geeignete Substitution: y = ax+b√

|b2−ax|. Dann

weiter substitutieren t = sinh y, t = cosh y oder t = cos y.

Nicht jedes Integral ist durch eine elementare Funktion darstellbar, auch wenndie Stammfunktion existiert. Zum Beispiel sind elliptische Integrale, das heißtIntegrale der Form

∫R(x,

√P (x)) dx, wobei P (x) Polynom vom Grad 3 oder

4 ohne mehrfache Nullstellen ist, nicht durch eine elementare Funktion dar-stellbar.

Definition 7.4. Sei f ∈ S(I;E) und a, b ∈ I. Sei F : I ⊂ R −→ E eineStammfunktion von f . Unter dem bestimmten Integral von f von a nach bversteht man den Vektor (bzw. fur E = R oder C die Zahl):

b∫

a

f(x) dx := F (b) − F (a) ∈ E.

Bezeichnung: F (b) − F (a) =: F (x)|ba

Page 274: Grundkurs Analysis

266 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

Satz 7.7 (Rechenregeln fur das bestimmte Integral)(1) Sei f ∈ S(I;E) und a, b ∈ I. Dann gilt

a∫

a

f(x) dx = 0,

b∫

a

f(x) dx = −a∫

b

f(x) dx,

b∫

a

f(x) dx+

c∫

b

f(x) dx =

c∫

a

f(x) dx.

(2) Seien f, g ∈ S(I;E), λ, µ ∈ R (C) und a, b ∈ I. Dann gilt

λ

b∫

a

f(x) dx+ µ

b∫

a

g(x) dx =

b∫

a

(λf(x) + µg(x))(x) dx.

(3) Sei f ∈ S(I, E1 × E2) und f = (f1, f2). Dann gilt

b∫

a

f(x) dx =

b∫

a

f1(x) dx,

b∫

a

f2(x) dx

.

(4) Partielle Integration:Seien f, g : I ⊂ R −→ E differenzierbar, a, b ∈ I, f · g′ ∈ S(I;E). Dann gilt

b∫

a

f(x)g′(x) dx +

b∫

a

f ′(x)g(x) dx = f(b)g(b) − f(a)g(a).

(5) Substitutionsregel:Sei g ∈ S(I;E) und f : J ⊂ R −→ I ⊂ R differenzierbar. Dann gilt

b∫

a

g(f(x))f ′(x) dx =

f(b)∫

f(a)

g(y) dy.

Beweis: Folgt aus Satz 7.2. ⊓⊔

Beispiel 7.9Es ist fur n ∈ N, n > 1

π2∫

0

sinn xdx =

1·3·...·(2k−1)

2·4·...·2k · π2 n = 2k2·4·...·2k

3·5·...·(2k+1) n = 2k + 1.

Beweis: Wir wissen, dass fur In =∫

sinn xdx gilt I0 = x, I1 = − cosx, und

In = − 1

nsinn−1 x · cosx+

n− 1

n· In−2 fur n ∈ N, n > 1.

Somit erhalten wir

Page 275: Grundkurs Analysis

7.2 Das Riemannsche Integral 267

In(0) =n− 1

n· In−2(0), und In

(π2

)=n− 1

n· In−2

(π2

)

sowie

I0(0) = 0, I1(0) = −1, und I0

(π2

)=π

2, I1

(π2

)= 0.

Daraus folgt

I2k(0) =2k − 1

2k· I2k−2(0) =

(2k − 1)(2k − 3)

(2k)(2k − 2)· I2k−4(0)

= . . . =(2k − 1)(2k − 3) · . . . · 3 · 1

2k(2k − 2) · . . . · 2 · I0(0) = 0.

Analog findet man

I2k

(π2

)=

(2k − 1) · . . . 3 · 12k · . . . · 4 · 2 · I0

(π2

)=

(2k − 1) · . . . 3 · 12k · . . . · 4 · 2

π

2

und es folgt

I2k+1(0) =(2k) · . . . · 4 · 2

(2k + 1)(2k − 1) · . . . · 3 · 1 · I1(0)︸ ︷︷ ︸=−1

I2k+1

(π2

)=

(2k) · . . . · 4 · 2(2k + 1)(2k − 1) · . . . · 3 · 1 · I1

(π2

)

︸ ︷︷ ︸=0

= 0.

7.2 Das Riemannsche Integral

Wie kann man Teilmengen A ⊂ R2 einen sinnvollen Flacheninhalt µ(A) ⊂R+ ∪ ∞ zuordnen?

Bedingungen:

(1) µ(A) ≥ 0,

(2) µ([a1, b1] × . . .× [an, bn]) =n∏i=1

(bi − ai),

(3) Int(A1) ∩ Int(A2) = ∅ ⇒ µ(A1 ∪A2) = µ(A1) + µ(A2),(4) A ⊂ B ⇒ µ(A) ≤ µ(B).

Page 276: Grundkurs Analysis

268 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

Wir betrachten Teilmengen A ⊂ Rn der Form

Diese Teilmengen kann man zerlegen in Teile der Form

a b

f(x)

Nun versuchen wir den Flacheninhalt von Mengen der Form

A = (x, y) ∈ R2 | x ∈ [a, b], 0 ≤ y ≤ f(x),

wobei f : [a, b] −→ R+ ∪ 0 ist, zu definieren.

Definition 7.5. Sei I = [a, b] ⊂ R ein kompaktes Intervall. Unter einer Zer-legung von I versteht man eine Menge von Punkten P = x0, x1, . . . , xn mita = x0 < . . . < xn = b. Dann heißt Ik := [xk−1, xk] k–tes Teilintervall von P,L(Ik) := xk − xk−1 Lange von Ik und ‖P‖ := maxk∈1,...,n L(Ik) Norm der

Zerlegung P. Eine Zerlegung P heißt Verfeinerung der Zerlegung P (P ≥ P),

falls zu jedem Teilintervall Iµ von P ein Teilintervall Iν von P mit Iµ ⊂ Iνexistiert.

Wir definieren im Folgenden das Riemannsche Integral fur Funktionen f :[a, b] −→ E, wobei E Banachraum uber R oder C ist.

Definition 7.6. Sei f : [a, b] −→ E eine Funktion, P = x0, . . . , xn eineZerlegung von [a, b] und ξ = (ξ1, . . . , ξn) ∈ Rn ein Tupel von Zahlen mitξk ∈ Ik fur alle k ∈ 1, . . . , n. Dann heißt

S(f,P , ξ) :=

n∑

k=1

f(ξk) · L(Ik)

Riemannsche Summe fur f bzgl. der Zerlegung P und der Stutzstellen ξ =(ξ1, . . . , ξn).

Definition 7.7. Sei f : [a, b] −→ E. Der Vektor e ∈ E heißt Grenzwert allerRiemannschen Summen fur f , falls fur alle ε > 0 eine Zerlegung Pε existiert,so dass gilt

‖S(f,P , ξ) − e‖ < ε ∀ P ≥ Pε und fur alle Stutzstellen ξ von P .

Page 277: Grundkurs Analysis

7.2 Das Riemannsche Integral 269

Bezeichnung: e := limPS(f,P , ξ)

Bemerkung: Der Grenzwert der Riemannschen Summen ist, falls er existiert,eindeutig bestimmt.

Beweis: Seien e1, e2 ∈ E zwei Vektoren mit e1 = limPS(f,P , ξ) und e2 =

limPS(f,P , ξ). Sei ε > 0. Dann gilt

∃ P1 : ‖S(f,P , ξ) − e1‖ ≤ ε

2∀P ≥ P1,

∃ P2 : ‖S(f,P , ξ) − e2‖ ≤ ε

2∀P ≥ P2.

Sei P0 die Zerlegung von [a, b], die durch die Teilpunkte von P1 und P2 gebildetwird, dass heißt, P0 := P1 ∪ P2. Dann gilt P0 ≥ P1 und P0 ≥ P2. Sei nun ξ0eine beliebige Stutzstelle von P0. Dann erhalten wir

‖e1 − e2‖ ≤ ‖S(f,P0, ξ0) − e1‖ + ‖S(f,P0, ξ0) − e2‖ ≤ ε

2+ε

2= ε.

Da ε beliebig ist, folgt e1 = e2. ⊓⊔Definition 7.8. Eine Abbildung f : [a, b] −→ E heißt Riemann-integrierbaruber [a, b], falls die Riemannschen Summen fur f einen Grenzwert besitzen.

Bezeichnung: Mit

(R) −b∫

a

f(x) dx := limPS(f,P , ξ)

bezeichnen wir das Riemann-Integral von f uber [a, b].

Bemerkung:(1) Wir werden in Abschnitt 7.3 zeigen, dass jede stetige Funktion f : [a, b] −→E eine Stammfunktion hat und Riemann-integrierbar ist, und dass

(R) −b∫

a

f(x) dx =

b∫

a

f(x) dx

gilt. Wir lassen deshalb im Folgenden (R)− vor dem∫

weg. In den Abschnit-ten 7.2 und 7.3 sei mit

∫immer das Riemann–Integral gemeint.

(2) Ist f : [a, b] −→ R Riemann–integrierbar, f ≥ 0 und A gegeben durch

A := (x, y) ∈ R2 | a ≤ x ≤ b, 0 ≤ y ≤ f(x).

Dann entspricht µ(A) =b∫a

f(x) dx dem Flacheninhalt von A.

Page 278: Grundkurs Analysis

270 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

Beispiel 7.10Wir betrachten die Funktion

f(x) =

−1 x ∈ [ − 1, 0)

0 x = 0

1 x ∈ (0, 1].

f ist Riemann–integrierbar, hat aber keine Stammfunktion.

Bemerkung: Jede Treppenfunktion ist Riemann–integrierbar.

Vereinbarung: Ist f eine beliebige Funktion und sind a, b ∈ R mit a < bgegeben, so gelte

(R) −a∫

a

f(x) dx := 0, (R) −a∫

b

f(x) dx := −(R) −b∫

a

f(x) dx.

Bezeichnung: Wir bezeichnen die Menge aller Riemann–integrierbaren Funk-tionen von [a, b] in E mit R([a, b];E).

Satz 7.8 Ist f : [a, b] −→ E Riemann–integrierbar, so ist f beschrankt.

Beweis: Sei e :=b∫a

f(x) dx. Nach Definition existiert eine Zerlegung P von

[a, b], so dass fur beliebige Stutzstellen ξ von P gilt

‖S(f,P , ξ)− e‖ < 1.

Sei Iν ein Teilintervall von P und ξµ ∈ Iµ fix fur µ 6= ν. Dann definieren wir

Mν :=∑

µ6=νf(ξµ)L(Iµ) ∈ E.

Fur jedes x ∈ Iν gilt ‖f(x) · L(Iν) +Mν − e‖ < 1. Daraus folgt

|‖f(x)‖ − ‖Mν − e‖L(Iν)︸ ︷︷ ︸

=a

| < ‖f(x) +Mν − e

L(Iν)‖ < 1

L(Iν)︸ ︷︷ ︸=r

,

das heißt, ‖f(x)‖ liegt im Intervall [a− r, a+ r). Folglich gilt fur alle x ∈ Iν

‖f(x)‖ < ‖Mν − e‖L(Iν)

+1

L(Iν)=

1

L(Iν)(1 + ‖Mν − e‖).

Sei nun M := maxν∈1,...,n

1L(Iν) (1 + ‖Mν − e‖). Dann ist ‖f(x)‖ ≤ M fur alle

x ∈ [a, b]. ⊓⊔

Page 279: Grundkurs Analysis

7.2 Das Riemannsche Integral 271

Satz 7.9 (Cauchy–Integrierbarkeitskriterium) Sei f : [a, b] ⊂ R −→ E,E Banachraum. Dann gilt f ∈ R([a, b];E) genau dann, wenn zu jedem ε > 0

eine Zerlegung Pε von [a, b] existiert, so dass fur beliebige Verfeinerungen P , Pvon Pε und Stutzstellen ξ, ξ von P bzw. P gilt

‖S(f,P , ξ)− S(f, P , ξ)‖ < ε.

Beweis: (1) Sei f ∈ R([a, b];E) und ε > 0 gegeben. Dann existieren e ∈ Eund Pε, so dass gilt

‖S(f,P , ξ) − e‖ < ε

2∀P ≥ Pε.

Seien P , P ≥ Pε. Dann gilt

‖S(f,P , ξ)− S(f, P , ξ)‖ ≤ ‖S(f,P , ξ) − e‖ + ‖S(f, P, ξ) − e‖ ≤ ε.

(2) Fur jedes ε > 0 existiere eine Zerlegung Pε von [a, b], so dass fur beliebige

Verfeinerungen P , P von Pε und Stutzstellen ξ, ξ von P bzw. P gilt

‖S(f,P , ξ)− S(f, P , ξ)‖ < ε.

Es ist zu zeigen, dass f ∈ R([a, b];E) ist. Sei εn > 0 eine Folge, die gegen 0konvergiert. Nach Voraussetzung folgt dann

∀n ∈ N ∃ Pn : ‖S(f,P , ξ)− S(f, P , ξ)‖ < εn ∀P , P ≥ Pn. (∗)Wir bilden nun sukzessive die folgenden Zerlegungen Un von [a, b]:

U1 := P1, U2 := P1 ∪ P2 = U1 ∪ P2,

U3 := P1 ∪ P2 ∪ P3 = U2 ∪ P3, . . . ,Un := P1 ∪ . . . ∪ Pn = Un−1 ∪ Pn.Folglich ist Pn ≤ Un ≤ Un+1 ≤ . . .. Zu jeder Zerlegung Un wahlen wir nun einTupel von Stutzstellen ξn. Sei ε > 0 gegeben. Dann existiert ein n0 ∈ N mitεn0 <

ε2 fur alle n0 ≥ n, so dass gilt

‖S(f,Un, ξn) − S(f,Um, ξm)‖ < εn0 <ε

2∀n,m ≥ n0. (∗∗)

Folglich bilden die Vektoren S(f,Un, ξn)∞n=1 eine Cauchy–Folge im Banach-raum E. Da E vollstandig ist, existiert e := lim

n→∞S(f,Un, ξn). Gehen wir in

(∗∗) mit m gegen ∞, so folgt

‖S(f,Un, ξn) − e‖ < ε

2∀n ≥ n0.

Sei nun P eine beliebige Zerlegung mit P ≥ Un0 . Dann ist wegen

‖S(f,P , ξ) − e‖ ≤ ‖S(f,P , ξ)− S(f,Un0 , ξn0)‖ + ‖S(f,Un0 , ξn0) − e‖(∗)≤ εn0 +

ε

2< ε,

die Funktion f ∈ R([a, b], E). ⊓⊔

Page 280: Grundkurs Analysis

272 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

Satz 7.10 Sei E ein Banachraum. Dann ist jede stetige Abbildung f : [a, b] ⊂R −→ E Riemann-integrierbar.

Beweis: Da f stetig und [a, b] kompakt ist, ist f gleichmaßig stetig, das heißt,fur alle ε > 0 existiert ein δ > 0, so dass fur alle x1, x2 ∈ [a, b] gilt

|x1 − x2| < δ ⇒ ‖f(x1) − f(x2)‖ <ε

2(b− a).

Sei P0 eine Zerlegung von [a, b] mit ‖P0‖ < δ. Dann gilt fur alle P ≥ P0 =

x0, x1, . . . , xn, wobei P = y0, y1, . . . , yN die xi enthalt, Folgendes

‖S(f, P, ξ) − S(f,P0, ξ0)‖ = ‖N∑

l=1

f(ξl)(yl − yl−1) −n∑

k=1

f(ξk)(xk − xk−1)‖

= ‖N∑

l=1

(f(ξl) − f(ξkl))(yl − yl−1)‖

fur diejenigen ξk mitIl ⊂ Ik

≤N∑

l=1

‖f(ξl) − f(ξkl)‖︸ ︷︷ ︸

< ε2(b−a)

(yl − yl−1)

2(b− a)· (b− a) =

ε

2.

Seien nun P, ˜P ≥ P0. Dann gilt

‖S(f,˜P, ˜ξ) − S(f, P , ξ)‖ ≤ ‖S(f,

˜P, ˜ξ) − S(f,P0, ξ)‖+‖S(f, P, ξ) − S(f,P0, ξ)‖

< ε.

Nach Satz 7.9 ist f Riemann–integrierbar. ⊓⊔

Satz 7.11 Sei f ∈ R([a, b];E) und Pn eine Folge von Zerlegungen von[a, b] mit ‖Pn‖ −→ 0. Die Stutzstellen von Pn seien ξn. Dann gilt

b∫

a

f(x) dx = limn→∞

S(f,Pn, ξn).

Beweis: Nach Satz 7.8 ist f beschrankt, das heißt, ‖f(x)‖ ≤ M fur allex ∈ [a, b]. Sei ε > 0 fix. Dann existiert ein P0, so dass fur alle P ≥ P0 gilt

‖S(f,P , ξ) − e‖ < ε2 , wobei e =

∫ baf(x) dx ist. Die Zerlegung P0 habe r

Teilintervalle. Da ‖Pn‖ gegen 0 konvergiert, existiert ein n0 ∈ N, so dass gilt

Page 281: Grundkurs Analysis

7.2 Das Riemannsche Integral 273

2M r ‖Pn‖ <ε

2∀n ≥ n0.

Seien J1, J2, . . . , Jl diejenigen Teilintervalle von Pn fur n ≥ n0, die nicht inP0 ∪ Pn vorkommen, das heißt diejenigen, die durch Punkte von P0 zerlegtwerden. Dann ist l ≤ r. Wir fugen nun zu den Stutzstellen ξn von Pn neueStutzstellen hinzu, so dass Stutzstellen von ξn von P0 ∪Pn entstehen. Damiterhalten wir fur alle n ≥ n0

‖S(f,Pn, ξn) − S(f,Pn ∪ P0, ξn)‖ ≤ 2M

l∑

v=1

L(Jl) ≤ 2Ml‖Pn‖ ≤ 2Mr‖Pn‖

2.

Da Pn ∪ P0 ≥ P0 ist, folgt fur n ≥ n0

‖S(f,Pn, ξn) − e‖ ≤ ‖S(f,Pn, ξn) − S(f,Pn ∪ P0, ξn)‖+‖S(f,Pn ∪ P0, ξn) − e‖

≤ ε

2+ε

2= ε.

Somit ist limn→∞

S(f,Pn, ξn) = e. ⊓⊔

Bemerkung Satz 7.11 ist gut geeignet, um

(1) Rechenregeln fur Riemann–Integrale zu beweisen,(2) Abschatzungen fur Summen auf Abschatzungen fur Integrale zu ubertra-

gen,(3) Grenzwerte zu berechnen.

Beispiel 7.11Zu (3): Wir wollen den Grenzwert

limn→∞

1α + 2α + . . .+ nα

nα+1= lim

n→∞

n∑

k=1

nα· 1

n, α > 0

berechnen. Sei f(x) := xα auf [0, 1] und Pn = 0, 1n, 2n, . . . , n−1

n, 1. Dann ist

f( kn) = kα

nα und ‖Pn‖ = 1n

konvergiert gegen 0 fur n gegen ∞. Somit erhaltenwir unter Benutzung der Stetigkeit von f und Satz 7.18 (siehe unten)

1∫

0

f(x) dx =1

α+ 1= lim

n→∞

n∑

k=1

f

(k

n

)· 1

n.

Satz 7.12 (Rechenregeln fur das Riemann–Integral)

Page 282: Grundkurs Analysis

274 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

(1) Seien f, g ∈ R([a, b];E) und µ, λ ∈ K. Dann ist µf +λg ∈ R([a, b];E) undes gilt

b∫

a

(µf + λg)(x) dx = µ

b∫

a

f(x) dx + λ

b∫

a

g(x) dx.

(2) Ist E = C und f ∈ R([a, b]; C), so ist auch f ∈ R([a, b]; C) und es gilt

b∫

a

f(x) dx =

b∫

a

f(x) dx.

(3) Ist f ∈ R([a, c];E) ∪R([c, b];E), so ist f ∈ R([a, b];E) und es gilt

b∫

a

f(x) dx =

c∫

a

f(x) dx+

b∫

c

f(x) dx.

(4) Ist f ∈ R([a, b];E), [α, β] ⊂ [a, b], so ist f ∈ R([α, β];E).

(5) Sei E = E1 × E2 mit der Produktnorm ‖(e1, e2)‖ :=√‖e1‖2

E1+ ‖e2‖2

E2

versehen und sei f = (f1, f2) : [a, b] −→ E1 ×E2. Dann ist f ∈ R([a, b];E)genau dann, wenn fi ∈ R([a, b];Ei) ist fur i ∈ 1, 2 und es gilt

b∫

a

f(x) dx =

b∫

a

f1(x) dx,

b∫

a

f2(x) dx

.

(6) Seien f, g ∈ R([a, b];E), f ≤ g. Dann gilt

b∫

a

f(x) dx ≤b∫

a

g(x) dx.

(7) Seien f, g ∈ R([a, b];E). Stimmen f und g auf einer dichten Teilmenge von[a, b] uberein, so gilt

b∫

a

f(x) dx =

b∫

a

g(x) dx.

(8) Ist f ∈ C([a, b];E), dann gilt

‖b∫

a

f(x) dx‖ ≤b∫

a

‖f(x)‖ dx ≤ ‖f‖∞ · (b− a).

Dies ist die Fundamentalungleichung fur Riemann–Integrale.

Page 283: Grundkurs Analysis

7.2 Das Riemannsche Integral 275

Beweis: Ubungsaufgabe. ⊓⊔

Satz 7.13 Sei fn mit fn : [a, b] −→ E eine Folge Riemann–integrierbarerFunktionen und konvergiere fn gleichmaßig gegen f . Dann ist f Riemann–integrierbar und es gilt

b∫

a

f(x) dx = limn→∞

b∫

a

fn(x) dx.

Beweis: Da fn gleichmaßig gegen f konvergiert, existiert fur alle ε > 0 einn0 ∈ N, so dass fur alle n ≥ n0 und fur alle x ∈ [a, b]

‖f(x) − fn(x)‖ <ε

4· 1

b− a. (∗)

gilt.(1) Wir zeigen, dass f ∈ R([a, b];E) gilt. Da fn0 ∈ R([a, b];E) ist, existiert

eine Zerlegung P0, so dass fur alle Zerlegungen P , P ≥ P0

‖S(fn0 ,P , ξ) − S(fn0 , P , ξ)‖ <ε

2.

gilt. Damit folgt

‖S(f,P , ξ) − S(f, P, ξ)‖≤ ‖S(f,P , ξ) − S(fn0 ,P , ξ)‖ + ‖S(fn0 ,P , ξ) − S(fn0 , P , ξ)‖

+‖S(fn0 , P, ξ) − S(f, P, ξ)‖≤ ‖

k

(f(ξk) − fn0(ξk))L(Ik)‖ +ε

2+ ‖

l

(f(ξl) − fn0(ξl))L(Il)‖

(∗)≤ 2 · ε

4· 1

b− a· (b − a) +

ε

2= ε.

Folglich ist f ∈ R([a, b];E).

(2) Sei Pm eine Folge von Zerlegungen, ‖Pm‖ konvergiere gegen 0 undξm seien Stutzstellen von Pm. Dann folgt mit Satz 7.11

∀m ≥ m0 : ‖b∫

a

f(x) dx− S(f,Pm, ξm)‖ < ε

4,

∀m ≥ m0(n) : ‖b∫

a

fn(x) dx − S(fn,Pm, ξm)‖ < ε

4.

Page 284: Grundkurs Analysis

276 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

Sei nun n ≥ n0 und m ≥ maxm0,m0(n). Dann folgt

‖b∫

a

f(x) dx −b∫

a

fn(x) dx‖

≤ ‖b∫

a

f(x) dx− S(f,Pm, ξm)‖ + ‖S(f,Pm, ξm) − S(fn,Pm, ξm)‖

+‖b∫

a

fn(x) dx − S(fn,Pm, ξm)‖

≤ ε

4+ε

4+ε

4< ε.

Somit gilt limn→∞

b∫a

fn(x) dx =b∫a

f(x) dx. ⊓⊔

Folgerung 7.1 Falls die Funktionen fn ∈ R([a, b];E) sind und f(x) =∞∑n=1

fn(x) gleichmaßig konvergent ist, so ist f ∈ R([a, b];E) und es gilt

b∫

a

f(x) dx =

∞∑

n=1

b∫

a

fn(x) dx.

Anwendung auf die Integralberechnung

Oft sind Integrale nicht durch elementare Funktionen auszudrucken, wie zumBeispiel elliptische Integrale. Dann kann man sie durch eine Reihendarstellungnaherungsweise berechnen.

Beispiel 7.12Wir betrachten die Funktion f(x) = 1√

1−k2 sin2 xfur k2 < 1 und mochten

I =

π2∫0

f(x) dx zumindest naherungsweise berechnen. I existiert, da f(x) ein

stetige Funktion ist. Fur |y| < 1 gilt

1√1 + y

= 1 − 1

2y +

1 · 32 · 4y

2 − 1 · 3 · 52 · 4 · 6y

3 ± . . .

und daher

1√1 − k2 sin2 x

= 1 +1

2k2 sin2 x+

1 · 32 · 4k

4 sin4 x+ . . .

Page 285: Grundkurs Analysis

7.2 Das Riemannsche Integral 277

Diese Reihe hat fur |k| < 1 eine konvergente Majorante (die Reihe mit demGrenzwert 1√

1−k2). Nach dem Weierstraßschen Majorantenkriterium ist die

Reihe gleichmaßig konvergent. Mit Satz 7.13 folgt daher

I =

π2∫

0

dx√1 − k2 sin2 x

=

π2∫

0

dx +

∞∑

n=1

π2∫

0

1 · 3 · . . . · (2n− 1)

2 · 4 · . . . · (2n)k2n sin2n xdx

2+

∞∑

n=1

1 · 3 · . . . · (2n− 1)

2 · 4 · . . . · (2n)k2n

π2∫

0

sin2n x dx

2

(1 +

∞∑

n=1

(1 · 3 · . . . · (2n− 1)

2 · 4 · . . . · (2n)

)2

k2n

).

Wir leiten nun spezielle Integrierbarkeitskriterien fur reellwertige Funktionenher. Sei f : [a, b] −→ R eine beschrankte Funktion und P = x0, . . . , xn eineZerlegung von [a, b]. Wir definieren

mk := inff(x) | x ∈ Ik und Mk := supf(x) | x ∈ Ik

sowie

S(f,P) :=

n∑

k=1

mk · L(Ik) Untersumme von f bzgl. P ,

S(f,P) :=n∑

k=1

Mk · L(Ik) Obersumme von f bzgl. P .

Offensichtlich folgt dann:

(1) Sind ξ beliebige Stutzstellen von P , so gilt S(f,P) ≤ S(f,P , ξ) ≤ S(f,P).

(2) Gilt P ≥ P , so folgt

inf f · (b− a) ≤ S(f,P) ≤ S(f, P) ≤ S(f, P) ≤ S(f,P) ≤ sup f · (b− a).

(3) Seien P , P beliebige Zerlegungen. Dann gilt S(f,P) ≤ S(f, P).

Folglich existieren

b∫

a

f(x) dx := supPS(f,P) unteres Riemann Integral,

b∫

a

f(x) dx := infPS(f,P) oberes Riemann-Integral

Page 286: Grundkurs Analysis

278 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

und es giltb∫

a

f(x) dx ≤b∫

a

f(x) dx.

Satz 7.14 (Riemannsches Integrierbarkeitskriterium) Sei f : [a, b] −→R beschrankt. Dann gilt

(1) f ∈ R([a, b]; R) genau dann, wenn fur alle ε > 0 eine Zerlegung P existiertmit

S(f,P) − S(f,P) < ε.

(2) f ∈ R([a, b]; R) genau dann, wenn

b∫

a

f(x) dx =

b∫

a

f(x) dx,

und es gilt dannb∫a

f(x) dx =b∫a

f(x) dx =b∫a

f(x) dx.

Beweis: (1) (⇒) Sei f ∈ R([a, b]; R). Nach Satz 7.9 existiert dann fur alleε > 0 eine Zerlegung P mit

S(f,P , ξ) − S(f,P , ξ) < ε

2, (∗)

wobei ξ, ξ beliebige Stutzstellen sind, so dass gilt f(ξk) ≥ f(ξk). Wir wahlen

nun ξkn und ξkn, so dass fur n gegen ∞ f(ξkn) gegen Mk und f(ξkn)gegen mk konvergieren. Dann folgt mit (∗)

S(f,P) − S(f,P) ≤ ε

2< ε.

(⇐) Fur alle ε > 0 existiere eine Zerlegung P0, so dass gilt S(f,P0) −S(f,P0) < ε. Fur P ≥ P0 und beliebige Stutzstellen ξ gilt

S(f,P0) ≥ S(f,P) ≥ S(f,P , ξ) ≥ S(f,P0)

und daher

|S(f,P , ξ) − S(f, P, ξ)| ≤ S(f,P0) − S(f,P0) < ε ∀P , P ≥ P0.

Nach Satz 7.9 ist dann f ∈ R([a, b]; R).

(2) (⇒) Sei f ∈ R([a, b]; R). Nach Teil (1) existiert dann eine Folge Pn mit

S(f,Pn) − S(f,Pn) <1

n.

Page 287: Grundkurs Analysis

7.2 Das Riemannsche Integral 279

Es gilt aber auch

S(f,Pn) ≤b∫

a

f(x) dx ≤b∫

a

f(x) dx ≤ S(f,Pn).

und damitb∫

a

f(x) dx−b∫

a

f(x) dx <1

n∀n ∈ N

woraus folgtb∫

a

f(x) dx =

b∫

a

f(x) dx.

(⇐) Ist andererseits∫ baf(x) dx =

∫ baf(x) dx = e, so existieren fur alle ε > 0

Zerlegungen P , P mit

S(f,P) > e− ε

2, und S(f, P) < e+

ε

2.

Folglich ist S(f, P) − S(f,P) < ε. Sei nun P0 = P ∪ P. Dann gilt

S(f,P0) − S(f,P0) ≤ S(f, P) − S(f,P) < ε.

Somit ist f ∈ R([a, b]; R). ⊓⊔Unser Ziel ist es nun, zu zeigen, dass f : [a, b] −→ R genau dann Riemann–integrierbar ist, wenn f beschrankt und “fast uberall” stetig ist.

Definition 7.9. Eine Teilmenge A ⊂ R hat das Lebesgue–Maß Null (Symbolµ(A) = 0), wenn fur alle ε > 0 eine Folge von Intervallen I1, I2, . . . existiert,so dass gilt

(1) A ⊂∞⋃

n=1

Int(In),

(2)∞∑

n=1

L(In) < ε.

Bemerkung Offensichtlich gilt dann Folgendes

(1) Ist B ⊂ A und µ(A) = 0, so ist auch µ(B) = 0.(2) Sei A ⊂ [a, b] eine Nullmenge, d.h., A hat das Lebesque-Maß Null. Dann ist

[a, b]\A ⊂ [a, b] eine dichte Teilmenge. (Angenommen, [a, b]\A ware nichtdicht. Dann gabe es ein offenes Intervall (c, d) ⊂ A mit L(c, d) = d−c = ε.Dann aber ließe A sich nicht durch Intervalle, deren Gesamtlange kleinerals ε ist, uberdecken.

Page 288: Grundkurs Analysis

280 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

(3) Es gilt µ(x) = 0.

Satz 7.15(1) Seien A1, A2, . . . ⊂ R Mengen vom Lebesgue–Maß Null. Dann ist

µ

( ∞⋃

n=1

An

)= 0.

(2) Jede abzahlbare Menge A ⊂ R hat Lebesgue–Maß Null.

Beweis:(1) Sei ε > 0. Da µ(An) = 0 fur alle n ∈ N gilt, existieren Intervalle In1, In2, . . .mit

An ⊂∞⋃

i=1

Int(Ini), und∞∑

i=1

L(Ini) <ε

2i.

Daraus folgt

A =

∞⋃

n=1

An ⊂∞⋃

i=1

∞⋃

n=1︸ ︷︷ ︸abzahlbar

Int(Ini)

und ∞∑

n=1

∞∑

i=1

L(Ini) < ε ·∞∑

i=1

1

2i= ε · 1

2· 1

1 − 12

= ε.

(2) Folgt aus (1), da µ(x) = 0. ⊓⊔

Satz 7.16 (Lebesguesches Integrierbarkeitskriterium)f ∈ R([a, b]; R) genau dann, wenn gilt

(1) f ist beschrankt.(2) Die Menge der Unstetigkeitsstellen von f hat das Maß Null, das heißt, f

ist “fast uberall stetig”.

Beweis:(⇐) Sei f : [a, b] ⊂ R −→ R beschrankt und fast uberall stetig, das heißt|f(x)| < c fur alle x ∈ [a, b] und

A := x0 ∈ [a, b] | f in x0 nicht stetig

hat Lebesgue–Maß Null. Sei ε > 0. Dann existieren Intervalle J1, J2, . . ., sodass

A ⊂∞⋃

n=1

Int(Jn), und

∞∑

n=1

L(Jn) < ε.

Wir betrachten die Oszillation von f in x0 ∈ [a, b]:

Page 289: Grundkurs Analysis

7.2 Das Riemannsche Integral 281

o(f, x0) := limδ→0+

(supf(x) | |x− x0| < δ − inff(x) | |x− x0| < δ) .

Es gilt, dass f in x0 genau dann stetig ist, wenn o(f, x0) = 0 ist. Das heißt,fur x0 ∈ [a, b]\A existiert ein δ(x0), so dass gilt

supf(x) | |x− x0| < δ(x0) − inff(x) | |x− x0| < δ(x0) < ε.

Die Familie U = Int(Jn) | n ∈ N ∪ K(x0, δ(x0)) | x0 ∈ [a, b]\A ist eineoffene Uberdeckung der kompakten Menge [a, b]. Somit existiert eine endlicheTeiluberdeckung

U∗ = Int(Jn1), . . . , Int(JnN), K(x1, δ(x1)), . . . ,K(x, δ(x))

von [a, b]. Wir wahlen eine Zerlegung P = x0, x1, . . . , xn von [a, b], derenTeilintervalle Ik in Int(Jnj

) oder in K(xi, δ(xi)) liegen fur i ∈ 1, . . . , , j ∈1, . . . , N. Nun sei J∗ die Menge der Teilintervalle, die in einem Jnj

liegenund J∗∗ bestehe aus den restlichen Teilintervallen von P . Dann gilt wegen|f(x)| ≤ c die folgende Ungleichung

S(f,P) − S(f,P) =∑

Ik∈J∗

(Mk −mk) L (Ik) +∑

Ik∈J∗∗

(Mk −mk) L (Ik)

≤ 2c∑

Ik∈J∗

L (Ik)

︸ ︷︷ ︸<ε

+ε∑

Ik∈J∗∗

L (Ik)

︸ ︷︷ ︸<b−a

= (2c+ (b − a)) · ε.

Nach Satz 7.14 ist dann f ∈ R([a, b]; R).

(⇒) Sei f ∈ R([a, b]; R). Dann ist f beschrankt und es bleibt zu zeigen, dassµ(A) = 0 gilt. Sei Aε := x ∈ [a, b] | o(f, x) ≥ ε. Da f in x genau dann stetigist, wenn o(f, x) = 0, folgt A = A1 ∪ A 1

2∪ A 1

3∪ . . .. Nach Satz 7.15 genugt

es zu zeigen, dass µ(A 1n) = 0 ist fur alle n ∈ N. Sei n fix und ε > 0 gegeben.

Nach Voraussetzung existiert dann eine Zerlegung P mit

S(f,P) − S(f,P) <ε

2n.

Sei J∗ die Menge der Teilintervalle Ik von P mit Int(Ik) ∩ A 1n

6= ∅. NachDefinition der Oszillation folgt dann fur x0 ∈ Ik ∩A 1

n

Mk −mk = sup f|Ik− inf f|Ik

≥ o(f, x0) ≥1

n.

Daraus folgt

1

n

Ik∈J∗

L (Ik) ≤∑

Ik∈J∗

(Mk −mk)L (Ik) ≤ S(f,P) − S(f,P) <ε

2n.

Page 290: Grundkurs Analysis

282 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

Außerdem wahlen wir Intervalle Ik um die Teilungspunkte von P mitm∑k=1

L(Ik) <

ε2 . Nach Wahl von J∗ folgt dann

A 1n⊂

Ik∈J∗

Int(Ik) ∪m⋃

k=1

Int(Ik), und∑

Ik∈J∗

L(Ik)+

m∑

k=1

L(Ik) <ε

2+ε

2= ε.

Folglich ist µ(A 1n) = 0. ⊓⊔

Folgerung 7.2

(1) Ist f : [a, b] −→ R eine beschrankte Funktion mit abzahlbar vielen Unste-tigkeitsstellen, so ist f Riemann–integrierbar.

(2) Ist f : [a, b] −→ R eine monotone Funktion, so ist f Riemann-integrierbar.(3) Sei f : [a, b] −→ Rn. Dann ist f ∈ R([a, b]; Rn) genau dann, wenn f

beschrankt und fast uberall stetig ist, wobei fur f = (f1, . . . , fn) gilt

f ∈ R([a, b]; Rn) ⇔ fi ∈ R([a, b]; R), f ∈ C([a, b]; Rn) ⇔ fi ∈ C([a, b],R).

Analoges gilt fur Funktionen mit Werten in Cn.(4) Ist f ∈ R([a, b]; Rn), so ist auch ‖f‖ ∈ R([a, b]; R) und es gilt

‖b∫

a

f(x) dx‖ ≤b∫

a

‖f(x)‖ dx.

(5) Sind f, g ∈ R([a, b]; C), so ist auch f · g ∈ R([a, b]; C).(6) Ist f ∈ R([a, b]; Rn) und h ∈ C(Rn; Rm), so ist h f ∈ R([a, b]; Rm).

Beispiel 7.13Sei f : [0, 1] −→ R gegeben durch

f(x) =

1 x rational

0 x irrational.

f ist in keinem Punkt aus [0, 1] stetig und f 6∈ R([a, b]; R). Spater fuhren wirdas Lebesgue–Integral ein und werden sehen, dass f Lebesgue–integrierbarist.

7.3 Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung

Alle in diesem Abschnitt auftretenden Integrale sind als Riemann–Integraleaufzufassen.

Satz 7.17 Sei f : [a, b] ⊂ R −→ E stetig. Wir definieren F : [a, b] ⊂ R −→ E

durch F (x) :=x∫a

f(t) dt. Dann gilt

Page 291: Grundkurs Analysis

7.3 Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung 283

(1)F : [a, b] −→ E ist Lipschitz-stetig,(2)F ist differenzierbar und es gilt F ′ = f .

Beweis:(1) Da f ∈ C([a, b];E) ⊂ R([a, b];E), ist F definiert. Es gilt mit Satz 7.12

‖F (x) − F (y)‖ = ‖x∫

a

f(t) dt−y∫

a

f(t) dt‖ = ‖y∫

x

f(t) dt‖

≤ |y∫

x

‖f(t)‖ dt| ≤ |y − x| · ‖f‖∞.

(2) Sei ε > 0. Da f in x0 ∈ [a, b] stetig ist, existiert ein δ > 0, so dass fur allet mit |t− x0| < δ gilt, dass ‖f(t) − f(x0)‖ < ε ist (∗). Also ist

∥∥∥∥F (t) − F (x0)

t− x0− f(x0)

∥∥∥∥ =

∥∥∥∥∥∥1

t− x0·

t∫

x0

f(u) du− f(x0)

∥∥∥∥∥∥

=

∥∥∥∥∥∥1

t− x0

t∫

x0

(f(u) − f(x0)) du

∥∥∥∥∥∥

≤ 1

|t− x0|

t∫

x0

‖f(u) − f(x0)‖ du

(∗)≤ 1

|t− x0|· ε|t− x0| = ε

fur alle |t− x0| < δ. Folglich ist

limt→x0

F (t) − F (x0)

t− x0= F ′(x0) = f(x0).

⊓⊔Bemerkung Ist dimE <∞, so gilt

(1) Ist f ∈ R([a, b];E), so ist F Lipschitz-stetig.(2) Ist f in x0 stetig, so ist auch F in x0 stetig.

Satz 7.18 (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung)f : [a, b] ⊂ R −→ E sei stetig. Dann gilt

(1) F (x) := (R) −x∫a

f(t) dt ist diejenige Stammfunktion von f mit F (a) = 0.

Page 292: Grundkurs Analysis

284 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

(2) Ist F : [a, b] −→ E eine beliebige Stammfunktion von f , so gilt

(R) −b∫

a

f(t) dt = F (b) − F (a) =

∫ b

a

f(t) dt

︸ ︷︷ ︸best. Integral

.

Das heißt, jede stetige Funktion hat eine Stammfunktion und fur jede stetigeFunktion stimmt das Riemann–Integral mit dem bestimmten Integral uberein.

Beweis:(1) folgt aus Satz 7.17.

(2) Sei F eine beliebige Stammfunktion von f . Dann ist F = F + e, wobei e

konstant ist. Somit ist F (a) = e und es folgt

b∫

a

f(t) dt = F (b) − F (a) = F (b) + e− (F (a) + e) = F (b) = (R) −b∫

a

f(t) dt.

⊓⊔

Anwendung: Als Anwendung beweisen wir zwei Eigenschaften der Zahl π.

(1) Die Zahl π ist irrational.Es genugt zu zeigen, dass π2 irrational ist. Angenommen, π2 ware rational.Dann wurden a, b ∈ N existieren, so dass π2 = a

bgilt. Wir wahlen ein n ∈ N

so groß , dass 2an

n! < 1 (∗) gilt und betrachten die Funktion

f(x) :=1

n!xn(1 − x)n =

1

n!

2n∑

k=n

ckxk, ck ∈ Z.

Ist v < n oder v > 2n, so gilt f (v)(0) = 0. Ist v ∈ n, . . . , 2n, so ist f (v)(0) =v!n!cv ∈ Z. Folglich ist f (v)(0) ∈ Z fur alle v ∈ N0. Da f(x) = f(1 − x) gilt, ist

auch f (v)(1) ∈ Z fur alle v ∈ N0. Wir betrachten die Funktion

F (x) := bn(π2nf(x) − π2n−2f (2)(x) + π2n−4f (4)(x) − . . .+ (−1)nf (2n)(x)

).

Da nach Annahme π2(n−k) = an−k

bn−k gilt, sind auch F (0), F (1) ∈ Z und es gilt

d

dx(F ′(x) sin πx− πF (x) cos πx) = (F (2)(x) + π2F (x)) sin πx

= bnπ2n+2f(x) sinπx

= anπ2f(x) sinπx.

Daraus folgt

Page 293: Grundkurs Analysis

7.3 Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung 285

I := π

1∫

0

anf(x) sinπx dx

=1

π(F ′(1) sinπ − πF (1) cosπ − F ′(0) sin 0 + πF (0) cos 0)

= F (1) + F (0) ∈ Z.

Da auf (0, 1) die Abschatzung 0 < f(x) < 1n! gilt, folgt

0 < I <πan

n!

1∫

0

sinπxdx

︸ ︷︷ ︸= 2

π

=2an

n!

(∗)< 1.

Dies aber widerspricht I ∈ Z. Folglich ist π2 irrational.

(2) Wir wollen die Wallissche Formel π2 = lim

n→∞

∏nk=1

4k2

4k2−1 beweisen. Dazu

definieren wir

An :=

π2∫

0

sinn xdx =

1·3·...·(2k−1)2·4·...·(2k)

π2 n = 2k ≥ 2 (∗∗)

2·4·...·(2k)1·3·...·(2k+1) n = 2k + 1 ≥ 3.

Fur x ∈ [0, π2 ] gilt sin2n+2 x ≤ sin2n+1 x ≤ sin2n x. Da sinn stetig ist, giltauerdem

π2∫

0

sinn xdx = (R) −

π2∫

0

sinn xdx.

Aus der Monotonie des Riemann–Integrals folgt A2n+2 ≤ A2n+1 ≤ A2n. Dar-aus folgt mit (∗∗)

1 = limn→∞

A2n

A2n≥ limn→∞

A2n+1

A2n≥ lim

n→∞A2n+2

A2n= limn→∞

2n+ 1

2n+ 2= 1.

Wir haben also in der Tat in der letzten Ungleichung uberall ein Gleichheits-zeichen. Damit folgt

1 = limn→∞

A2n+1

A2n

(∗∗)= lim

n→∞2 · 4 · . . . · (2n)

1 · 3 · . . . · (2n+ 1)· 2 · 4 · . . . · (2n)

1 · 3 · . . . · · · (2n− 1)· 2

π

= limn→∞

n∏

k=1

(2k)2

(2k + 1)(2k − 1)· 2

π.

Folglich gilt π2 = lim

n→∞

∏nk=1

(2k)2

(2k+1)(2k−1) .

Page 294: Grundkurs Analysis

286 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

7.4 Der Mittelwertsatz der Integralrechnung

Satz 7.19 (1. Mittelwertsatz der Integralrechnung) Sei f : [a, b] −→R stetig, g : [a, b] −→ R Riemann–integrierbar und g ≥ 0. Dann existiert einξ ∈ [a, b] mit

b∫

a

f(x)g(x) dx = f(ξ) ·b∫

a

g(x) dx.

Beweis:

1. Fall: Seib∫a

g(x) dx = 0. Es ist zu zeigen, dass dannb∫a

f(x)g(x) dx = 0 gilt.

Da f : [a, b] −→ R stetig und [a, b] kompakt ist, existieren m := min f undM := max f . Es folgt

m · g(x) ≤ f(x) · g(x) ≤M · g(x) ∀x ∈ [a, b]. (∗)

Nach Integration ergibt sich 0 =b∫a

f(x)g(x) dx.

2. Fall: Seib∫a

g(x) dx > 0. Dann gilt nach (∗)

m ≤

b∫a

f(x)g(x) dx

b∫a

g(x) dx

≤M.

Sei m := f(xmin), M := f(xmax). Da f stetig ist, folgt aus dem Zwischen-wertsatz, dass ein ξ ∈ [xmin, xmax] ⊂ [a, b] existiert, so dass gilt

f(ξ) =

b∫a

f(x)g(x) dx

b∫a

g(x) dx

.

⊓⊔

Folgerung 7.3 Ist f : [a, b] −→ R stetig, dann existiert ein ξ ∈ [a, b], so dassgilt

b∫

a

f(x) dx = f(ξ) · (b − a).

Beweis: Folgt aus Satz 7.19 mit g ≡ 1. ⊓⊔

Page 295: Grundkurs Analysis

7.4 Der Mittelwertsatz der Integralrechnung 287

Folgerung 7.4 Sei f : [a, b] −→ R stetig, f ≥ 0 undb∫a

f(x) dx = 0. Dann ist

f ≡ 0.

Beweis: Sei c ∈ [a, b] fixiert. Wir betrachten Folgen (xn), (yn) mit a ≤ xn <c < yn ≤ b und xn −→ c, yn −→ c. Da f : [xn, yn] −→ R stetig ist und f ≥ 0ist, gilt

0 ≤yn∫

xn

f(x) dx ≤b∫

a

f(x) dx = 0.

Daraus folgt

0 =

yn∫

xn

f(x) dx = f(ξn)(yn − xn), ξn ∈ [xn, yn].

Folglich ist f(ξn) = 0. Lassen wir n gegen ∞ laufen, so konvergiert ξn gegen c.Da f stetig ist, konvergiert daher f(ξn) gegen f(c). Folglich ist f(c) = 0. ⊓⊔

Satz 7.20 (2. Mittelwertsatz der Integralrechnung)Sei f : [a, b] −→ R stetig, g : [a, b] −→ R monoton wachsend und stetigdifferenzierbar. Dann existiert ein ξ ∈ [a, b], so dass gilt

b∫

a

f(x)g(x) dx = g(a)

ξ∫

a

f(x) dx+ g(b)

b∫

ξ

f(x) dx.

Beweis: Sei F eine Stammfunktion von f mit F (a) = 0. Da g monotonwachsend und differenzierbar ist, gilt g′ ≥ 0. Wenden wir den 1. MWS derIntegralrechnung auf F · g′ an, so erhalten wir ein ξ ∈ [a, b], so dass gilt

b∫

a

F (x)g′(x) dx = F (ξ) ·b∫

a

g′(x) dx = F (ξ) · (g(b) − g(a)), (∗)

Da F eine Stammfunktion von f ist, gilt

b∫

a

f(x)g(x) dx =

b∫

a

F ′(x)g(x) dx = F (x)g(x)∣∣ba −

b∫

a

F (x)g′(x) dx.

Mit (∗) folgt nun

Page 296: Grundkurs Analysis

288 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

b∫

a

f(x)g(x) dx = F (b)g(b) − F (a)g(a) + F (ξ)g(a) − F (ξ)g(b)

= g(a)(F (ξ) − F (a)) + g(b)(F (b) − F (ξ))

= g(a)

ξ∫

a

f(x) dx + g(b)

b∫

ξ

f(x) dx.

⊓⊔

Beispiel 7.14Sei 0 < a < b <∞. Dann gilt

limn→∞

b∫

a

sinnx

xdx = 0.

Beweis: Es genugt zu zeigen, dass

∣∣∣∣∣∣

b∫

a

sin(rx)

xdx

∣∣∣∣∣∣≤ 4

ra

fur alle r > 0 gilt. Setzen wir f(x) = sin rx und g(x) = − 1x, dann folgt mit

dem 2. Mittelwertsatz

−b∫

a

sin (rx)

xdx = −1

a

ξ∫

a

sin (rx) dx− 1

b

b∫

ξ

sin (rx) dx

=1

arcos (rx)

∣∣∣∣ξ

a

+1

brcos (rx)

∣∣∣∣b

ξ

.

Daraus folgt sofort

∣∣∣∣∣∣

b∫

a

sin (rx)

xdx

∣∣∣∣∣∣≤ 1

ar| cos (rξ) − cos (ar)|︸ ︷︷ ︸

≤2

+1

br| cos (rb) − cos (rξ)|︸ ︷︷ ︸

≤2

≤ 2

ar+

2

br<

4

ar.

⊓⊔

Page 297: Grundkurs Analysis

7.5 Parameterabhangige Integrale 289

7.5 Parameterabhangige Integrale

Wir werden nun untersuchen, wann Integral und Ableitung vertauschbar sind.

Satz 7.21 Sei [a, b] ⊂ R ein kompaktes Intervall, U ⊂ Rn offen, f : [a, b] ×U ⊂ Rn+1 −→ R eine stetige Funktion. Sei F : U −→ R definiert durch

F (x) :=

b∫

a

f(t, x) dt.

Dann gilt

(1)F : U ⊂ Rn −→ R ist stetig.(2) Existiert ∂f

∂xiund ist ∂f

∂xi: [a, b]× U −→ R stetig, so ist F : U −→ R nach

xi stetig differenzierbar und es gilt

∂F

∂xi(x) =

b∫

a

∂f

∂xi(t, x) dt.

Beweis: F ist definiert, da f(., x) stetig ist.(1) Sei x ∈ U fixiert und W (x) ⊂ U eine kompakte Umgebung von x. NachVoraussetzung ist f|[a,b]×W

stetig. Da [a, b] × W kompakt ist, ist f|[a,b]×W

gleichmaßig stetig, das heißt, fur alle ε > 0 existiert ein δ > 0, so dass fur allet ∈ [a, b] und fur alle |h| < δ gilt

|f(t, x+ h) − f(t, x)| < ε

|b− a| .

Es folgt

|F (x+ h) − F (x)| =

∣∣∣∣∣∣

b∫

a

f(t, x+ h) − f(t, x) dt

∣∣∣∣∣∣≤

b∫

a

|f(t, x+ h) − f(t, x)| dt

≤b∫

a

ε

|b− a| dt = ε.

Folglich ist F stetig in x und es gilt

b∫

a

f(t, x) dt = F (x) = limh→0

F (x+ h) = limh→0

b∫

a

f(t, x+ h) dt

=

b∫

a

limh→0

f(t, x+ h) dt.

Page 298: Grundkurs Analysis

290 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

(2) Sei x ∈ U fixiert, h ∈ R hinreichend klein. Wir definieren

g : [a, b] × U × (−ε, ε) −→ R

(t, x, h) 7→ g(t, x, h) :=

f(t,x+hei)−f(t,x)

hh 6= 0

∂f∂xi

(t, x) h = 0.

Fur h 6= 0 ist g stetig, da f stetig ist. Die Funktion g ist auch fur h = 0 stetig,denn wenden wir den Mittelwertsatz der Differentialrechnung an, so erhaltenwir

g(t, x, h) =∂f

∂xi(t, x+ ϑh · hei) fur ein ϑh ∈ [0, 1].

Nach Voraussetzung ist ∂f∂xi

stetig. Somit konvergiert x+ϑhhei gegen x0, wenn(x, t, h) gegen (x0, t0, 0) geht und es folgt

g(x, t, h) =∂f

∂xi(t, x+ ϑhhei) −→

∂f

∂xi(t0, x0) = g(t0, x0, 0).

Folglich ist g auch fur h = 0 stetig. Wenden wir nun (1) auf g an, so erhaltenwir

∂F

∂xi(x) = lim

h→0

F (x+ hei) − F (x)

h= limh→0

b∫

a

f(t, x+ hei) − f(t, x)

hdt

= limh→0

b∫

a

g(t, x, h)︸ ︷︷ ︸stetig

dt =

b∫

a

limh→0

g(t, x, h) dt =

b∫

a

g(t, x, 0) dt

=

b∫

a

∂f

∂xi(t, x) dt.

⊓⊔

Sei f : [a, b] × [c, d] ⊂ R2 −→ R stetig differenzierbar und seieng0, g1 : [c, d] ⊂ R −→ [a, b] ⊂ R differenzierbar. Wir betrachten die AbbildungG : [c, d] ⊂ R −→ R, definiert durch

G(x) :=

g1(x)∫

g0(x)

f(t, x) dt.

Wie kann man die Ableitung von G berechnen? Sind g0, g1 konstant, so kannman dazu Satz 7.21 verwenden.

Satz 7.22 Die Abbildung G : [c, d] ⊂ R −→ R ist differenzierbar und es gilt

Page 299: Grundkurs Analysis

7.5 Parameterabhangige Integrale 291

G′(x) =

g1(x)∫

g0(x)

∂f

∂x(t, x) dt + g′1(x)f(g1(x), x) − g′0(x)f(g0(x), x).

Beweis: Wir betrachten die Abbildungen

F (x) :=

b∫

a

f(t, x) dt, F0(y, x) :=

y∫

a

f(t, x) dt, F1(y, x) :=

b∫

y

f(t, x) dt

Dann gilt G(x) = F (x) − F0(g0(x), x) − F1(g1(x), x). (1) Nach Satz 7.21existiert F ′(x) und es gilt

F ′(x) =

b∫

a

∂f

∂x(t, x) dt.

(2) Nach dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung ist F0(y, x) furfestes x eine Stammfunktion von f(·, x). Das heißt, fur x fest gilt ∂F0

∂y(y, x) =

f(y, x). Nach Satz 7.21 gilt außerdem fur festes y

∂F0

∂x(y, x) =

y∫

a

∂f

∂x(t, x) dt.

Aus der Kettenregel folgt

d

dx(F0(g0(x), x)) =

∂F0

∂y(g0(x), x))g

′0(x) +

∂F0

∂x(g0(x), x))

= f(g0(x), x)g′0(x) +

g0(x)∫

a

∂f

∂x(t, x) dt.

(3) Analog gilt

d

dx(F1(g1(x), x)) = −f(g1(x), x)) · g′1(x) +

b∫

g1(x)

∂f

∂x(t, x) dt.

Insgesamt erhalten wir

G′(x) =

g1(x)∫

g0(x)

∂f

∂x(t, x) dt + g′1(x) · f(g1(x), x) − g′0(x) · f(g0(x), x).

⊓⊔

Page 300: Grundkurs Analysis

292 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

7.6 Uneigentliche Riemannsche Integrale

Sei f : [a,∞) −→ E eine Abbildung und sei f auf jedem kompakten Intervall

[a, x] Riemann–integrierbar. Dann kann man F (x) :=x∫a

f(t) dt bilden.

Definition 7.10. f : [a,∞) ⊂ R −→ E heißt auf [a,∞) uneigentlichRiemann–integrierbar, falls

∞∫

a

f(t) dt := limx→∞

x∫

a

f(t) dt ∈ E

existiert. Analog definiert man∫ a−∞ f(t) dt fur eine Funktion f : (−∞, a] −→ R,

die auf jedem Intervall [x, a] Riemann–integrierbar ist.

Definition 7.11. Sei f : R −→ E auf jedem kompakten Intervall Riemann–integrierbar. Dann heißt f auf R uneigentlich Riemann–integrierbar, falls∫∞0f(t) dt und

∫ 0

−∞ f(t) dt existieren. Wir verwenden die Bezeichnung

∞∫

−∞

f(t) dt :=

0∫

−∞

f(t) dt+

∞∫

0

f(t) dt.

Bemerkung: Fur die uneigentlichen Integrale gelten die gleichen Rechenre-geln wie fur die Riemann–Integrale, zum Beispiel Additivitat, partielle Inte-gration, usw.

Beispiel 7.15∫∞0 sin t dt existiert nicht, denn es gilt

x∫

0

sin t dt = − cosx+ cos 0 = − cosx+ 1

und limx→∞

cosx existiert nicht.

Beispiel 7.16Es gilt

∞∫

0

dx

(1 + x2)n=

1 · 3 · . . . · (2n− 3)

2 · 4 · . . . · (2n− 2)· π

2.

Zum Beweis betrachten wirx∫0

1(1+t2)n dt. Mit der Substitution t = cotϕ = cosϕ

sinϕ

und dt = −(1 + cot2 ϕ) dϕ erhalten wir

Page 301: Grundkurs Analysis

7.6 Uneigentliche Riemannsche Integrale 293

x∫

0

1

(1 + t2)ndt = −

arccot(x)∫

arccot(0)

(1 + cot2 ϕ

)(1 + cot2 ϕ

)n dϕ.

Daraus folgt

π2∫

arccot(x)

1

(1 + cot2 ϕ)n−1dϕ =

π2∫

arccot(x)

(sin2 ϕ

sin2 ϕ+ cos2 ϕ

)n−1

=

π2∫

arccot(x)

(sinϕ)2n−2 dϕ.

Wegen arccot(x) → 0 fur x→ ∞ folgt

∞∫

0

1

(1 + x2)ndx =

π2∫

0

(sinϕ)2n−2 dϕ =1 · 3 · . . . · (2n− 3)

2 · 4 · . . . · (2n− 2)· π

2.

Sei nun f : (a, b) ⊂ R −→ E eine Abbildung, die auf jedem Intervall [α, β] ⊂(a, b) Riemann–integrierbar ist.

Definition 7.12. f heißt auf (a, b) uneigentlich Riemann–integrierbar, fallsdie Grenzwerte

limα→a+

x0∫

α

f(t) dt, limβ→b−

β∫

x0

f(t) dt

fur ein beliebiges aber festes x0 ∈ (a, b) existieren. Wir verwenden die Be-zeichnung

b∫

a

f(t) dt := limα→a+

x0∫

α

f(t) dt+ limβ→b−

β∫

x0

f(t) dt.

Beispiel 7.17 (Die Gamma–Funktion (Verallgemeinerung von n!))Sei x ∈ R+ gegeben. Die Gamma–Funktion ist definiert durch

Γ (x) :=

∞∫

0

tx−1e−t dt.

Dieses Integral konvergiert:(1) Fur t > 0 gilt 0 < tx−1e−t < tx−1 und es folgt

Page 302: Grundkurs Analysis

294 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

0 <

1∫

α

tx−1e−t dt ≤1∫

α

tx−1 dt = [1

xtx]

1α =

1

x− αx

x<

1

x(x, α > 0).

Da g(α) =∫ 1

αtx−1e−t dt bei α −→ 0 monoton wachsend und durch 1

xbe-

schrankt ist, existiert der Grenzwert

limα→0

1∫

α

tx−1e−t dt =

1∫

0

tx−1e−t dt.

(2) Es gilt tx−1e−t = tx+1

et · 1t2

und limt→∞

tx+1

et = 0. Das heißt, es existiert ein

M > 0, so dass

tx−1e−t ≤ 1

t2∀ t ≥M.

Daraus folgtβ∫

M

tx−1e−t dt ≤β∫

M

1

t2dt = [ − 1

t]βM ≤ 1

M.

Da h(β) =β∫M

tx−1e−t dt bei β −→ ∞ monoton wachsend und durch 1M

be-

schrankt ist, existiert

∞∫

M

tx−1e−t dt = limβ→∞

β∫

M

tx−1e−t dt.

Folglich gilt

∞∫

0

tx−1e−t dt = limα→0

1∫

α

tx−1e−t dt+

M∫

1

tx−1e−t dt+ limβ→∞

β∫

M

tx−1e−t dt = Γ (x).

Satz 7.23 (Eigenschaften der Γ–Funktion)Γ hat folgende Eigenschaften

(1) Γ (x+ 1) = x · Γ (x) ∀x > 0,(2) Γ (1) = 1,(3) Γ (n) = (n − 1)! ∀n ∈ N, das heißt, die Γ–Funktion verallgemeinert die

Fakultat,(4) Γ ist logarithmisch–konvex, das heißt lnΓ ist konvex,(5) Γ (x) = lim

n→∞n!·nx

x(x+1)·...·(x+n) (Gaußsche Definition der Γ–Funktion),

(6) Γ (12 ) =

√π.

Page 303: Grundkurs Analysis

7.6 Uneigentliche Riemannsche Integrale 295

Beweis:(1) Es gilt

Γ (x+1) =

∞∫

0

txe−t dt =

∞∫

0

−tx(e−t)′ dt =

∞∫

0

x·tx−1·e−t dt = x·Γ (x), ∀x > 0.

(2) Es gilt

Γ (1) =

∞∫

0

e−t dt = −e−t|∞0 = − limt→∞

1

et+ e0 = 1.

(3) folgt aus (1) und (2) durch Induktion.

(4) Wir zeigen, dass die Γ–Funktion logarithmisch–konvex ist. Dazu ist zuzeigen, dass fur x ∈ (0, 1) gilt

lnΓ (x · a+ (1 − x) · b) ≤ x · lnΓ (a) + (1 − x) lnΓ (b) ∀ a, b ∈ R+,

bzw., dass gilt

Γ (x · a+ (1 − x) · b) ≤ Γ (a)x · Γ (b)1−x ∀x ∈ (0, 1), a, b ∈ R+.

Wir benutzen nun die Holder–Ungleichung fur Integrale.

r∫

ε

f(t)g(t) dt ≤

r∫

ε

f(t)p

1p

·

r∫

ε

g(t)q

1q

,

wobei p, q > 0 und 1p

+ 1q

= 1 gelten. Sei p = 1x, q = 1

1−x , das heißt, es gilt

1p

+ 1q

= 1. Sei f(t) := ta−1

p e−tp und g(t) := t

b−1q e−

tq . Dann folgt

r∫

ε

tap+ b

q−1e−t dt ≤

r∫

ε

ta−1e−t dt

x (∫ r

ε

tb−1e−t dt

)1−x.

Lassen wir nun ε gegen 0 und r gegen ∞ konvergieren, so erhalten wir

Γ (xa+ (1 − x)b) ≤ Γ (a)x · Γ (b)1−x.

(5) Fur x = 1 ist die angegebene Formel offensichtlich erfullt. Sei nun x ∈(0, 1). Dann gilt fur alle n ∈ N, dass (n+ x) = (1 − x)n+ x(n+ 1) ist. Daherist

Γ (n+ x) ≤ Γ (n)1−x · Γ (n+ 1)x = Γ (n)1−x · Γ (n)x · nx = (n− 1)! · nx (∗)

Page 304: Grundkurs Analysis

296 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

Des Weiteren gilt fur x ∈ (0, 1) und n ∈ N, dass

n+ 1 = x(n+ x) + (1 − x)(n + 1 + x)

ist und folglich

Γ (n+ 1) ≤ Γ (n+ x)x · Γ (n+ 1 + x)1−x = Γ (n+ x) · (n+ x)1−x.

Es folgtn!(n+ x)x−1 ≤ Γ (n+ x) (∗∗)

Nach (1) gilt Γ (n+ x) = Γ (x) · x · (x+ 1) · . . . · (x+ n− 1). Mit (∗) und (∗∗)folgt dann

n!(n+ x)x−1

x(x + 1) · . . . · (x+ n− 1)︸ ︷︷ ︸=:an(x)

≤ Γ (x) ≤ (n− 1)!nx

x(x+ 1) · . . . · (x+ n− 1)︸ ︷︷ ︸=:bn(x)

und damit

limn→∞

an(x)

bn(x)= lim

n→∞n(n+ x)x−1

nx= lim

n→∞

(n+ x

n

)x−1

= limn→∞

(1 +

x

n

)x−1

= 1.

Daher ist

Γ (x) = limn→∞

(n− 1)!nx

x(x + 1) · . . . · (x+ n− 1)

= limn→∞

n!nx

x(x + 1) · . . . · (x+ n)

(x+ n

n

)

︸ ︷︷ ︸−→1

= limn→∞

n!nx

x(x + 1) · . . . · (x+ n)∀x ∈ (0, 1).

Somit gilt die Formel aus (5) fur x ∈ (0, 1]. Es bleibt zu zeigen, dass, falls (5)fur x gilt, (5) auch fur x + 1 erfullt ist. Die Formel aus (5) gelte nun fur einx. Dann folgt

Γ (x+ 1) = x · Γ (x) = limn→∞

n!nx

x(x+ 1) · . . . · (x+ n)· x

= limn→∞

n!nx+1

(x+ 1) · . . . · (x+ 1 + n)· x+ 1 + n

n︸ ︷︷ ︸−→1

= limn→∞

n!nx+1

(x+ 1) · . . . · (x+ 1 + n).

(6) Aus (5) folgt

Page 305: Grundkurs Analysis

7.6 Uneigentliche Riemannsche Integrale 297

Γ

(1

2

)= lim

n→∞n!√n

12 (1

2 + 1) · . . . · (12 + n)

= limn→∞

n!√n

(1 − 12 )(2 − 1

2 ) · . . . · (n− 12 )(n+ 1

2 ).

Daher folgt mit der Wallisschen Formel

Γ

(1

2

)2

= limn→∞

n · (n!)2

12 (n+ 1

2 ) ·∏nk=1(k − 1

2 )(k + 12 ))

= 2 · limn→∞

n∏

k=1

k2

k2 − 14

= 2 · π2.

Somit gilt Γ (12 ) =

√π. ⊓⊔

Zusammenhang zwischen der Konvergenz von Reihen und derExistenz uneigentlicher Integrale

Satz 7.24 Sei f : [a,∞) −→ R stetig, positiv und monoton fallend. Dannexistiert der Grenzwert

limN→∞

N∑

n=0

f(a+ n) −N+1∫

a

f(x) dx

=: (∗)

und es gilt 0 ≤ (∗) ≤ f(a). Insbesondere konvergiert∞∑n=0

f(a+n) genau dann,

wenn das uneigentliche Integral∞∫a

f(x) dx existiert.

Beweis: Da f monoton fallend ist, gilt

f(a+ n+ 1) ≤ f(x) ≤ f(a+ n) ∀x ∈ [a+ n, a+ n+ 1].

Folglich ist

f(a+ n+ 1) ≤a+n+1∫

a+n

f(x) dx ≤ f(a+ n) (∗)

und

N∑

n=0

f(a+ n+ 1) =

N+1∑

n=1

f(a+ n) ≤a+N+1∫

a

f(x) dx ≤N∑

n=0

f(a+ n). (∗∗)

Sei nun

bN :=N∑

n=0

f(a+ n) −a+N+1∫

a

f(x) dx.

Page 306: Grundkurs Analysis

298 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

Da f positiv ist, gilt mit (∗∗)

0 ≤ bN ≤N∑

n=0

f(a+ n) −N+1∑

n=1

f(a+ n) = f(a) − f(a+N + 1) ≤ f(a).

Desweiteren gilt

bN = bN−1 + f(a+N) −a+N+1∫

a+N

f(x) dx

︸ ︷︷ ︸≥0 wegen (∗)

≥ bN−1 ∀N ∈ N.

Folglich ist bN eine monoton wachsende, beschrankte Folge. Somit existiertb = lim

N→∞bN und es gilt 0 ≤ b ≤ f(a). ⊓⊔

Beispiel 7.18Die Riemannsche Zeta–Funktion ζ(x) :=

∞∑n=1

1nx .

Wir wissen bereits, dass ζ(x) fur x > 1 konvergiert und fur x ≤ 1 divergiert.Mit Hilfe von Satz 7.24 konnen wir nun einen neuen Beweis dafur angeben:Sei f(t) := 1

tx. Dann ist ζ(x) =

∑∞k=0 f(1 + k). Die Funktion f ist monoton

fallend auf [1,∞) und es gilt

∞∫

1

1

txdt = lim

r→∞

r∫

1

t−x dt = limr→∞

(1

−x+ 1t−x+1 |r1

)=

1

x− 1( limr→∞

(1− r1−x)).

Folglich existiert∞∫1

1txdt = 1

x−1 fur x > 1, aber∞∫1

1txdt existiert nicht fur

x ≤ 1. Aus Satz 7.24 folgt nun, dass ζ(x) genau dann konvergiert, wenn x > 1ist und

0 ≤ ζ(x) − 1

x− 1≤ 1.

gilt.

Beispiel 7.19 (Die Euler–Konstante.)Behauptung: Es existiert

CEuler := limn→∞

(1 +

1

2+ . . .+

1

n− ln(n)

),

das heißt, die Partialsummen der harmonischen Reihe wachsen wie ln(n). ZumBeweis betrachten wir die Funktion f(t) = 1

tauf [1,∞). f ist monoton fallend

und f ≥ 0. Folglich gilt nach Satz 7.24, dass CEuler existiert und

Page 307: Grundkurs Analysis

7.7 Die Lange von Kurven und die Flacheninhalte ebener Gebiete 299

0 ≤ limN→∞

N−1∑

n=0

f(1 + n) −N∫

1

1

xdx

︸ ︷︷ ︸(1+ 1

2+...+ 1N

−ln(N))

≤ f(1) = 1

gilt.

7.7 Die Lange von Kurven und die Flacheninhalteebener Gebiete

Definition 7.13. Sei I ⊂ R ein beliebiges Intervall. Eine parametrisierteKurve im Rn ist eine stetige Abbildung γ : I −→ Rn.

γ(t)

Wir betrachten also mit γ : I −→ Rn nicht nur das Bild der Kurve, sondernauch, wie die Kurve (z.B. mit welcher Geschwindigkeit) durchlaufen wird. Wirwerden nun untersuchen, wie man die Lange der Kurve γ bestimmen kann.

Sei P = x0 < x1 < . . . < xmeine Zerlegung von I = [a, b]. Danngibt

L(γ,P) :=

m∑

k=1

‖γ(xk) − γ(xk−1)‖•γ(a)

•γ(x1) •

γ(x2)

•γ(x3)

•γ(b)

die Lange des durch P definierten Polygonzuges uber γ(x0), γ(x1), . . . , γ(xm)

an. Nach der Dreiecksungleichung folgt aus P ≥ P , dass L(γ, P) ≥ L(γ,P)gilt.

Definition 7.14. Eine Kurve γ : [a, b] −→ Rn heißt rektifizierbar, falls

L(γ) := supP

L(γ,P)

existiert. L(γ) heißt Lange von γ.

Page 308: Grundkurs Analysis

300 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

Beispiel 7.20Ist γ : [a, b] −→ Rn Lipschitz-stetig, so ist γ rektifizierbar, denn es gilt fur allet, s ∈ [a, b], dass ‖γ(t)− γ(s)‖ ≤ L(t− s) ist. Folglich ist fur alle ZerlegungenP

L(γ,P) =

m∑

k=1

‖γ (xk) − γ (xk−1) ‖ ≤ L

m∑

k=1

(xk − xk−1) = L(b− a).

Beispiel 7.21Nicht jede stetige Kurve ist rektifizierbar. Zum Beispiel ist γ : [0, 1] → R2,

γ(t) :=

(t, t · cos

(πt

))t ∈ (0, 1]

0 t = 0

stetig, schwankt aber bei t → 0 zu oft hin und her und ist deshalb nichtrektifizierbar (Ubungsaufgabe).

0, 2 0, 4 0, 6 0, 8 1

0, 5

−0, 5

−1

f(x) = x cos(πx

)

Definition 7.15. Sei f : [a, b] → R eine Funktion. f heißt von beschrankterVariation , falls eine Konstante C existiert, so dass fur jede Zerlegung P =a = x0, x1, . . . , xm = b von [a, b] gilt

V (f,P) :=

m∑

k=1

‖f (xk) − f (xk−1) ‖ ≤ C.

Page 309: Grundkurs Analysis

7.7 Die Lange von Kurven und die Flacheninhalte ebener Gebiete 301

V (f,P) misst also wie stark die Funktion f schwankt. Weiterhin definierenwir die totale Variation von f

V f := supPV (f,P).

Man kann folgendes zeigen:

Satz 7.25 γ : [a, b] → Rn ist genau dann rektifizierbar, wenn jede Kompo-nente von γ eine beschrankte Variation hat.

Definition 7.16. Eine parametrisierte Kurve γ : I −→ Rn heißt genau dannvon der Klasse Ck bzw. Ck–Kurve, wenn γ k–mal stetig differenzierbar ist.Sei γ : I −→ Rn eine C1–Kurve. γ heißt genau dann regular, wenn γ′(t) 6= 0fur alle t ∈ I gilt.

Definition 7.17. Sei Γ ⊂ Rn eine Teilmenge. Eine parametrisierte Kurveγ : I −→ Rn mit Im(γ) = Γ heißt Parametrisierung von Γ .

Beispiel 7.22Die Kurve γ : [0, 2π] −→ R2 ≃ C, gegeben durch γ(t) = (r cos t, r sin t) = reit,beschreibt den Kreis vom Radius r.

Beispiel 7.23Die Schraubenkurve γ : R −→ R3, gegeben durchγ(t) = (r cos t, r sin t, ct), beschreibt die Bewegung ei-nes Punktes, der sich mit konstanter Winkelgeschwin-digkeit auf einem Zylinder vom Radius r nach obenbewegt.

6?c · 2π

Fur C1–Kurven γ : [a, b] −→ Rn kann man L(γ) mit Hilfe des Riemann–Integrals berechnen.

Satz 7.26 Sei γ : [a, b] −→ Rn eine C1–Kurve. Dann ist γ rektifizierbar undes gilt

L(γ) =

b∫

a

‖γ′(t)‖︸ ︷︷ ︸stetig

dt.

Bemerkung: Infinitesimal gilt also: Weg = Geschwindigkeit · Zeit.

Beweis:(1) Da γ eine C1-Funktion ist, ist γ auch Lipschitz-stetig und damit rektifi-

zierbar (siehe Beispiel 7.20). Wir zeigen zuerst, dass L(γ) ≤∫ ba‖γ′(s)‖ ds gilt.

Sei P = a = x0 < x1 < . . . < xm = b eine beliebige Zerlegung von [a, b]. Daγ differenzierbar ist, gilt dann

Page 310: Grundkurs Analysis

302 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

L(γ,P) =

m∑

k=1

‖γ(xk) − γ(xk−1)‖ =

m∑

k=1

‖xk∫

xk−1

γ′(s) ds‖

≤m∑

k=1

xk∫

xk−1

‖γ′(s)‖ ds =

b∫

a

‖γ′(s)‖ ds.

Also ist

L(γ) = supPL(γ,P) ≤

b∫

a

‖γ′(s)‖ ds, (∗).

(2) Nun zeigen wir, dass in (∗) Gleichheit gilt. Wir betrachten dazu die Hilfs-funktion l : [a, b] → [0, L(γ)],

t 7→ l(t) := L(γ|[a,t]

)= sup

PL(γ|[a,t],P

).

Sei t ∈ [a, b), h > 0 und t+ h ∈ [a, b]. Dann ist

L(γ|[t,t+h]

)≥ ‖γ(t+ h) − γ(t)‖︸ ︷︷ ︸

kurzeste Lange zw. den EPγ(t)

γ(t + h)

Wir wenden (∗) auf γ|[t,t+h] an und erhalten

‖γ(t+ h) − γ(t)‖ ≤ L(γ|[t,t+h]

)≤

t+h∫

t

‖γ′(s)‖ ds.

Es gilt L(γ|[a,b]

)= L

(γ|[a,t]

)+ L

(γ|[t,b]

)und daher

L(γ|[t,t+h]

)= L

(γ|[a,t+h]

)− L

(γ|[a,t]

)= l(t+ h) − l(t).

Deshalb ist

∥∥∥γ(t+ h) − γ(t)

h

∥∥∥ ≤ l(t+ h) − l(t)

h≤ 1

h

t+h∫

t

‖γ′(s)‖ ds

=1

h(F (t+ h) − F (t)) ,

wobei F die Stammfunktion von γ bezeichnet. Durch Limesbildung limh→0

folgtnun

‖γ′(t)‖ ≤ limh→0

l(t+ h) − l(t)

h≤ F ′(t) = ‖γ′(t)‖.

Also ist

Page 311: Grundkurs Analysis

7.7 Die Lange von Kurven und die Flacheninhalte ebener Gebiete 303

l′(t) = limh→0

l(t+ h) − l(t)

h= ‖γ′(t)‖.

Nun folgt sofort

L(γ) = l(b) − l(a) =

b∫

a

l′(t) dt =

b∫

a

‖γ′(t)‖ dt.

⊓⊔

Definition 7.18. Sei I ⊂ R ein beliebiges Intervall und γ : I −→ Rn eineC1–Kurve. Dann heißt

L(γ) :=

I

‖γ′(t)‖ dt,

Lange von γ.

Hierbei handelt es sich unter Umstanden um ein uneigentliches Integral.

Definition 7.19. Sei γ : I ⊂ R → Rn stuckweise C1, d.h., γ ist stetig und esexistieren endlich viele Punkte a = t0 < t1 < t2 < . . . < tm = b, tj ∈ I, sodass γ auf (ti, ti+1) C

1 ist. Dann nennen wir

L(γ) :=m∑

k=1

tk∫

tk−1

‖γ′(s)‖ ds

Lange von γ.

Beispiel 7.24 (Kreislinie)Wir betrachten die Kreislinie γ : [0, 2π] −→ R2,definiert durch γ(t) = (r cos t, r sin t). Dann istγ′(t) = (−r sin t, r cos t) und ‖γ′(t)‖ = r. Folg-lich erhalten wir fur die Lange

L(γ) =

2π∫

0

r dt = 2πr.

tr

γ(t)

Fur die Kurve γ(t) = (cos t, sin t) mit t ∈ [0, φ] ergibt sich

L(γ) =

φ∫

0

1 dt = φ.

Page 312: Grundkurs Analysis

304 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

Beispiel 7.25 (Schraubenlinie)Wir betrachten die Schraubenlinieγ : [0, 2π] −→ R3, gegeben durchγ(t) = (r cos t, r sin t, ct). Dannist γ′(t) = (−r sin t, r cos t, c) und‖γ′(t)‖ =

√r2 + c2. Folglich erhalten

wir fur die Lange der Schraubenlinie beieiner Umdrehung L(γ) = 2π

√r2 + c2.

γ(2π)

γ(0)c

r

Beispiel 7.26 (Umfang der Ellipse)Eine Ellipse wird durch Punkte (x, y) ∈ R3

beschrieben, fur die gilt x2

a2 + y2

b2= 1, wobei

a, b ∈ R\0 sind. Es gelte a > b und es sei

k2 := 1 − b2

a2 < 1. Wir parametrisieren dieEllipse durch die Kurve γ : [0, 2π) −→ R2 mitγ(t) = (a cos t, b sin t). Dann gilt

x

y

a

b

t

γ(t)

γ′(t) = (−a sin t, b cos t), ‖γ′(t)‖ =√a2 sin2 t+ b2 cos2 t,

und wir erhalten

L(γ) = a

2π∫

0

√sin2 t+

b2

a2cos2 t dt = a

2π∫

0

√1 − k2 cos2 t dt.

Dies ist ein elliptisches Integral, das heißt, es ist nicht durch elementare Funk-tionen ausdruckbar. Durch Reihenentwicklung von

√1 − x (wie in Beispiel

7.12) erhalten wir

L(γ) = 2a

1 +

∞∑

j=1

(12

j

)(−1)j k2j 1 · 3 · . . . · (2j − 1)

2 · 4 · . . . · (2j) · π

.

Falls a = b = r ist (es sich also um eine Kreisbahn handelt), folgt k = 0 unddamit L(γ) = 2πr.

Beispiel 7.27 (Lange eines Graphen)Sei f : [a, b] → Rn eine C1–Kurve undΓ = graph(f) = (x, f(x)) ⊂ Rn+1 ihrGraph.

Rn

xa b

Γ

Wir parametrisieren den Graphen Γ durch die Kurve γ : [a, b] → Rn+1 mitγ(x) := (x, f(x)). Dann ist

Page 313: Grundkurs Analysis

7.7 Die Lange von Kurven und die Flacheninhalte ebener Gebiete 305

γ′(x) = (1, f ′(x)) = (1, f ′1(x), . . . , f

′n(x)), ‖γ′(x)‖ =

√1 + ‖f ′(x)‖2,

und

L(γ) =

b∫

a

√1 + ‖f ′(x)‖2 dx =

b∫

a

√1 + f ′

1(x)2 + . . .+ f ′

n(x)2 dx

Beispiel 7.28 (In Polarkoordinaten gegebene Kurven)Sei

γ(t) = r(t)eiϕ(t) = (r(t) cosϕ(t), r(t) sinϕ(t)) ∈ C.

Dann ist

γ′(t) = (r′(t) cosϕ(t) − r(t) sinϕ(t) · ϕ′(t), r′(t) sinϕ(t) + r(t) cosϕ(t) · ϕ′(t))

und‖γ′(t)‖ =

√r′(t)2 + r(t)2 · ϕ′(t)2.

Damit ergibt sich fur die Lange der Kurve

L(γ) =

b∫

a

√r′(t)2 + r(t)2 · ϕ′(t)2 dt.

Ist hingegen ϕ der Parameter der Kurve, also γ(ϕ) = r(ϕ)eiϕ mit r = r(ϕ),so ist

L(γ) =

ϕ2∫

ϕ1

√r′(ϕ)2 + r(ϕ)2 dϕ.

Zum Beispiel gilt fur die logarithmische Spirale mit r(ϕ) = ecϕ, c ∈ R,

L(γ) =

2π∫

0

√c2 + 1 · ecϕ dϕ

=√c2 + 1 · 1

c

(e2πc − 1

).

r

ϕ

reiϕ

Page 314: Grundkurs Analysis

306 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

Eigenschaften der Lange von C1-Kurven

Sei γ : I ⊂ R −→ Rn eine C1–Kurve und Γ := Im(γ) das Bild von γ. Mankann Γ auf verschiedene Weisen (z.B. mit unterschiedlicher Geschwindigkeit)durchlaufen:

Definition 7.20. Sei γ : I ⊂ R −→ Rn eine C1–Kurve und τ : I → I eineParametertransformation, d.h., ein C1-Diffeomorphismus. Dann heißt

γ := γ τ : I → Rn

Umparametrisierung von γ.

Es gilt also Γ = Im(γ) = Im(γ). Sinnvollerweise sollten geometrische Eigen-schaften wie die Lange der Kurve nicht von der Parametrisierung abhangen,so wie die Lange eines Weges unabhangig davon ist, wie schnell man ihnzurucklegt.

Satz 7.27 Sei γ : [a, b] → Rn eine C1–Kurve.

1) Ist γ = γ τ : [a, b] → Rn eine Umparametrisierung von γ, so giltL(γ) = L(γ).2) Ist R : Rn → Rn eine Euklidische Bewegung, d.h., R(x) = Ax + x0 mitA ∈ O(n), x0 ∈ Rn, so gilt L(γ) = L(R γ).

Beweis:1) Aus γ(s) = γ(τ(s)) folgt γ′(s) = γ′(τ(s)) · τ ′(s) und damit

L (γ) =

bb∫

ba

∥∥∥γ′(s)∥∥∥ ds =

bb∫

ba

∥∥∥γ′(τ(s))∥∥∥ · |τ ′(s)| ds.

Wir substituieren t := τ(s). Dann ist dt = τ ′(s)ds.

a) Falls τ ′(s) > 0 ist, ist τ monoton wachsend, d.h., es gilt τ(a) = a und

τ(b) = b. Weiterhin ist |τ ′(s)| = τ(s) und es folgt

L (γ) =

b∫

a

∥∥∥γ′(t)∥∥∥dt = L(γ).

b) Falls τ ′(s) < 0 ist, ist τ monoton fallend, d.h., es gilt τ(a) = b und τ(b) = a.Weiterhin ist |τ ′(s)| = −τ(s) und es folgt

L (γ) = −a∫

b

∥∥∥γ′(t)∥∥∥dt =

b∫

a

∥∥∥γ′(t)∥∥∥dt = L(γ).

2) Sei die Kurve δ : [a, b] → Rn definiert durch δ(t) := R · γ(t) = Aγ(t) + x0.Dann ist δ′(t) = Aγ′(t) und daher

Page 315: Grundkurs Analysis

7.7 Die Lange von Kurven und die Flacheninhalte ebener Gebiete 307

‖δ′(t)‖ = ‖Aγ′(t)‖ = ‖γ′(t)‖, da A ∈ O(n).

Also ist L(δ) = L(γ). ⊓⊔

Definition 7.21. Sei γ : I ⊂ R −→ Rn eine C1–Kurve. γ heißt regular, fallsγ′(t) 6= 0 fur alle t ∈ I gilt.

Regulare Kurven besitzen in jedem Punkt eine Tangente.

γ(t)

γ′(t)

Tantγ = γ(t) + Rγ′(t) Imγ = Γ

Oft wahlt man Parametrisierungen, bei denen die Kurve mit konstanter Ge-schwindigkeit durchlaufen wird, z.B. mit der Geschwindigkeit 1, d.h.‖γ′(t) = 1‖.

Definition 7.22. Eine C1-Kurve γ : I ⊂ R → Rn+1 heißt “durch ihre Bo-genlange parametrisiert”, falls

L(γ|[α,β]

)= β − α, ∀ [α, β] ⊂ I.

Satz 7.281) Die Kurve γ : I → Rn ist genau dann durch ihre Bogenlange parametrisiert,wenn ‖γ′(t)‖ ≡ 1 ist fur alle t ∈ I.2) Ist γ : I → Rn eine regulare Kurve, so existiert eine Umparametrisierungγ = γ τ mit ‖γ′(t)‖ ≡ 1 fur alle t ∈ I (d.h., γ ist durch ihre Bogenlangeparametrisiert).

Beweis:1) (=⇒) Wie im Beweis von Satz 7.26 betrachten wir die Hilfsfunktionl : [a, b] → [0, L(γ)],

t 7→ l(t) := L(γ|[a,t]

)=

t∫

a

‖γ′(s)‖ ds.

Dann gilt nach Voraussetzung l(t) = t − a und offensichtlich ist l′(t) = 1.Andererseits ist nach dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnungl′(t) = ‖γ′(t)‖. Daraus folgt ‖γ′(t)‖ = 1 fur alle t ∈ I.(⇐=) Wenn ‖γ′(t)‖ = 1 ist fur alle t ∈ I, dann ist

Page 316: Grundkurs Analysis

308 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

L(γ[α,β]

)=

β∫

α

‖γ′(t)‖ dt = β − α ∀ [α, β] ∈ I,

d.h., γ : I → Rn ist durch ihre Bogenlange parametrisiert.

2) Wir betrachten wieder die Hilfsfunktion l aus 1). Wenn γ regular ist, dannist l′(t) = ‖γ′(t)‖ > 0 und l ist stetig differenzierbar und streng monotonwachsend. Deshalb existiert eine differenzierbare Umkehrfunktion τ von l

τ : [0, L] → [a, b]

s 7→ τ(s) mit l(τ(s) = s)

und es gilt τ ′(s) = 1l′(τ(s)) > 0. Sei γ := γ τ . Dann gilt

γ′(s) = γ′(τ(s)) · τ ′(s) =γ′(τ(s))

l′(τ(s))=

γ′(τ(s))

‖γ′(τ(s))‖ .

Also ist ‖γ′(s)‖ ≡ 1. ⊓⊔

Der Flacheninhalt ebener Gebiete

Definition 7.23. Eine stetige Kurve γ : [a, b] → Rn heißt

• geschlossen, falls γ(a) = γ(b) gilt.• einfach, falls γ : (a, b) → Rn injektiv ist.

Eine einfache geschlossene Kurve γ : [a, b] → R2 heißt positiv-orientiert, fallssie entgegen dem Uhrzeigersinn durchlaufen wird.

Sei nun γ : [a, b] → R2 eine einfache, geschlossene und positiv-orientierteKurve:

γ(a) = γ(b)

Γ = Imγn = 2

Ω

Sei Ω das von Γ := Im(γ) umschlossene Gebiet. Wie berechnet man dannseinen Flacheninhalt Area(Ω) ?

Page 317: Grundkurs Analysis

7.7 Die Lange von Kurven und die Flacheninhalte ebener Gebiete 309

Satz 7.29 Sei γ : [a, b] → R2 eine (stuckweise) C1-Kurve, einfach, geschlos-sen und positiv-orientiert. Sei Ω ⊂ R2 das von Γ := Im(γ) umschlosseneGebiet. Weiterhin seien x, y : [a, b] → R die Koordinatenfunktionen von γ,d.h., γ(t) =: (x(t), y(t)). Dann gilt

Area(Ω) = −b∫

a

y(t)x′(t) dt.

Da γ geschlossen ist, folgt mit partieller Integration

Area(Ω) =

b∫

a

y′(t)x(t) dt =1

2

b∫

a

(x(t)y′(t) − y(t)x′(t)) dt.

Area(Ω) wird also durch die Randkurve ausgedruckt. Dies ist ein Spezialfalldes Satzes von Stokes.

Beweis: 1) Wir betrachten zunachst Kurven γ, bei denen das Bild der Kurveaus zwei zur y-Achse parallelen Geraden und zwei Bogen, die Graphen vonFunktionen f1, f2 sind, besteht.

x1 x2

f1(x)

f2(x)

γ (t1)

γ (t2)γ (t3)

γ(a) = γ(b)Ω

f1, f2 > 0

Nach Definition des Riemann–Integrals ist

Area(Ω) =

x2∫

x1

f1(x) dx −x2∫

x1

f2(x) dx. (∗)

Fur die obige Kurve γ(t) = (x(t), y(t)) gilt

(x(t), y(t)) =

(x(t), f1(x(t))) , t ∈ [a, t1]

(x1, y(t)) , t ∈ [t1, t2]

(x(t), f2(x(t))) , t ∈ [t2, t3]

(x2, y(t)) , t ∈ [t3, b].

Page 318: Grundkurs Analysis

310 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

Die Koordinatentransformation x = x(t), dx = x′(t)dt mit x1 = x(t1) undx2 = x(a) liefert fur das erste Integral in (∗)

x2∫

x1

f1(x) dx =

a∫

t1

f1(x(t)) · x′(t) dt = −t1∫

a

y(t)x′(t) dt.

Analog ergibt sich mit x = x(t), dx = x′(t)dt sowie x1 = x(t2) und x2 = x(t3)fur das zweite Integral in (∗)

x2∫

x1

f2(x) dx =

t3∫

t2

y(t)x′(t) dt.

Damit ergibt sich insgesamt

Area(Ω) = −

t1∫

a

y(t)x′(t) dt+

t3∫

t2

y(t)x′(t) dt

= −

b∫

a

y(t)x′(t) dt,

da x(t) = const fur t ∈ [t1, t2] und t ∈ [t3, b].

2) Wir betrachten nun den allgemeinen Fall.

γ(a) = γ(b)

γ (t1)γ (t4)

γ (t5)

γ (t8)

γ (t9)

γ (t11)

γ (t13)Ω1 Ω2

Ω3

Ω4

Ω5

Ω6Ω7

E

KS geeignet legen

Beh.: Man kann Ω in eine endliche Zahl von Gebieten zerlegen, die die Formaus 1) haben. Sei E die y-Achse und Γ liege im positiven Quadranten. Wirbetrachten die stetig differenzierbare Abbildung

(t) = dist(E, γ(t)) = x(t).

Da das Intervall [a, b] kompakt ist, hat nur endlich viele lokale Maxima undMinima. Wie zeichnen in diesen Punkten, wie im Bild dargestellt, die zu Eparallelen Geraden. Dann zerlegt sich Ω in Gebiete der Form 1).Wenn x′(t) 6= 0 ist, ist x′ > 0 oder x′ < 0. Daher ist x(t) zwischen den

Page 319: Grundkurs Analysis

7.7 Die Lange von Kurven und die Flacheninhalte ebener Gebiete 311

kritischen Punkten von x(t) monoton wachsend oder monoton fallend. Deshalbexistiert eine Umkehrfunktion t = t(x) und die Teilstucke von γ sind Grapheneiner Funktion: γ(t) = (x(t), y(t)) mit y = y(t) = y(t(x)) =: f(x). Nun konnenwir die Flache von Ω leicht berechnen:

Area(Ω) =

m∑

i=1

Area (Ωi)

= −( t1∫

a

y(t)x′(t) dt+

b∫

t13

y(t)x′(t) dt+

t2∫

t1

y(t)x′(t) dt

+

t3∫

t12

y(t)x′(t) dt+ . . .)

= −b∫

a

y(t)x′(t) dt,

wobei wir im letzten Schritt benutzt haben, dass alle Parameterabschnitte[ti, ti+1] genau einmal auftreten. ⊓⊔

Folgerung 7.5 Ist die Randkurve γ in Polarkoordinaten gegeben, d.h.,

γ(t) = r(t)eiϕ(t) = (r(t) cosϕ(t), r(t) sinϕ(t)),

so ist

Area(Ω) =1

2

b∫

a

r2(t)ϕ′(t) dt.

Folgerung 7.6 (Leibnitzsche Sektorformel) Das Gebiet Ω sei begrenztdurch die Strahlen Lα und Lβ mit den Winkeln α bzw. β zur x-Achse undeine Kurve r = r(ϕ), wobei der Winkel ϕ streng monoton wachsend ist.

γ(a) = γ(b)

αβ γ (t1)

γ (t2) Lα

Lβ r(ϕ)eiϕ

Ω

Dann gilt

Area(Ω) =1

2

β∫

α

r2(ϕ) dϕ.

Page 320: Grundkurs Analysis

312 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

Beweis: Wir parametrisieren die Randkurve durch γ(t) = r(t)eiϕ(t), t ∈ [a, b],

ϕ(t) =

α, t ∈ [a, t1]

ϕ(t), t ∈ [t1, t2]

β, t ∈ [t2, b]

Aus Folgerung 7.5 erhalten wir

Area(Ω) =1

2

t2∫

t1

r2(t)ϕ′(t) dϕ.

Da α und β konstant sind und ϕ auf [t1, t2] monoton wachsend ist, istϕ′(t) > 0. Deshalb existiert eine Umkehrfunktion t = t(ϕ) und wir konnen rin Abhangigkeit von ϕ darstellen: r = r(ϕ). Mit dϕ = ϕ′(t)dt folgt

Area(Ω) =1

2

β∫

α

r2(ϕ) dϕ.

⊓⊔

Beispiel 7.29 (Flacheninhalt einer Ellipse)Sei Ω die von einer Ellipse mit den Halbachsen a und b eingeschlossene Flache.

x

y

a

b

Ω

x2

a2+ y2

b2≤ 1

Wir parametrisieren die Ellipse durch die Kurve γ(t) = (a cos t, b sin t) =:(x(t), y(t)) mit t ∈ [0, 2π]. Dann ist nach Satz 7.29

Area(Ω) =1

2

2π∫

0

(x(t)y′(t) − y(t)x′(t)) dt =1

2

2π∫

0

ab·(cos2 t+ sin2 t

)dt = πab.

Page 321: Grundkurs Analysis

7.7 Die Lange von Kurven und die Flacheninhalte ebener Gebiete 313

Beispiel 7.30 (Flacheninhalt der Sternkurve (Astroide))Ein Kreis vom Radius r = R

4 rolle auf der Innenseite eines Kreises vom RadiusR entlang.

R

r

P

P

Der Weg, den der feste Punkt P wahrend des Rollens zurucklegt, wird Astroidegenannt und ist bestimmt durch die Gleichung x

23 + y

23 = R

23 . Wir konnen

die Astroide parametrisieren durch γ(t) = R(cos3 t, sin3 t

). Dann folgt fur den

Flacheninhalt des Gebietes Ω, das durch die Astroide begrenzt wird

Area(Ω) =1

2R2

2π∫

0

(cos3 t · 3 sin2 t · cos t+ 3 cos2 t · sin t · sin3 t

)dt

=3

2R2

2π∫

0

sin2 t cos2 t(cos2 t+ sin2 t

)dt

=3

2R2

2π∫

0

(sin t cos t)2 dt =3

2R2

2π∫

0

(1

2sin 2t

)2

dt

=3

8R2

2π∫

0

sin2 2t dt, x := 2t, dx = 2dt

=3

16R2

4π∫

0

sin2 xdx =3

16R2 · 8

π2∫

0

sin2 xdx

︸ ︷︷ ︸UA= π

4

=3

8πR2.

Page 322: Grundkurs Analysis

314 7 Integralrechnung fur Funktionen einer reellen Variablen

Beispiel 7.31 (Archimedische Spirale)Die archimedische Spirale ist in Polarkoordinaten gegeben durch die Kurve

γ(t) = r(t)eiϕ(t) = (r(t) cosϕ(t), r(t) sinϕ(t)) ∈ C, wobei r(ϕ) = c ϕ mit einerKonstanten c ∈ R ist.

π2c

πc 2πc

Ω

Nach der Leibnitzschen Sektorformel ist dann

Area(Ω) =1

2

2π∫

0

r2(ϕ) dϕ =1

2c2

2π∫

0

ϕ2 dϕ =1

2c2 · 1

38π3 =

4

3π3c2.

Beispiel 7.32 (Kleeblatt)Der Rand des n-blattrigen Kleeblatts ist gegeben durch die Kurve γ(t) =

r(t)eiϕ(t) = (r(t) cosϕ(t), r(t) sinϕ(t)) ∈ C, mit r(ϕ) = R · | sin(n2ϕ)|, wobei

ϕ ∈ [0, 2π] und R ∈ R ist.

n = 3

r

n = 4

r

r(ϕk) = 0 genau dann, wenn n2ϕk = kπ mit k ∈ N ist, d.h., wenn

ϕk = 0, 2π · 1n, 2π · 2

n, . . . , 2π · n−1

ngilt.

r(ϕ) = r genau dann, wenn n2ϕ = π

2 + kπ gilt, wobei k ∈ N ist.

Beh.: Unabhangig von der Anzahl n der einzelnen Blatter ist die Flache desvon der Kurve γ umschlossenen Gebietes Kn halb so groß wie die Flache derKreisscheibe vom Radius R, d.h.,

Page 323: Grundkurs Analysis

7.7 Die Lange von Kurven und die Flacheninhalte ebener Gebiete 315

Area (Kn) =1

2πR2 fur alle n.

Nach der Leibnitzschen Sektorformel ist

Area (Kn) =1

2R2

2π∫

0

sin2(n

2ϕ)dϕ, t :=

n

2, dt =

n

2dϕ

=1

2R2 · 2

n

nπ∫

0

sin2 t dt =R2

n· n

π∫

0

sin2 t dt =1

2πR2.

Page 324: Grundkurs Analysis
Page 325: Grundkurs Analysis

Sachverzeichnis

−A, 8A ∩ B, IXA · B, 8

A \ B, IXA + B, 8

A ∪ B, IXA ⊂ M , IXA × B, IX

B[f ]n(x), 164C, 26

C(R, C)per, 173C(R, R)per, 172C(X, R), 166

Ck, 225Ck(U, R), 225

C(k)(U ; E), 183Cn, 34C∞(U ; E), 183

Df , 212E, 93

E(z), 113E[x], 163F (x)|ba, 265

HP (A), 51HP (xn), 56

Hfx0 , 230Int(A), 43, 50Iso(A), 52

K(x, ε), 42K(z0, R), 111

L(I), 10L(γ), 299, 301Mc, 218

Ng, 247O, 201PC, 172

PperC

, 174PR, 171

PperR

, 173R, 111R, 10

R, 166Rn, 34

S(f,P , ξ), 268T (f, x0), 203Tn(f, x0), 203

TpMc, 219Tx0(x), 176

V , 87V (f,P), 300X, 39

az, 116arccos, 159

arccot, 159arcosh, 161arcoth, 161

arcsin, 159arctan, 159

arg(z), 30arsinh, 161artanh, 161

cl(A), 47cos, 154

cosh, 160cot, 158coth, 161

Page 326: Grundkurs Analysis

318 Sachverzeichnis

d, A × A40d, 39d(p, q), 39d∞, 162e, 65, 114ez, 114

exp, 114f ′, 175f ′′, 183f ′(x0), 175f + h, 145f (n), 183fn −→ f , 143fn f , 143gradf , 217graph(f), 176i, 27inf A, 13lim

n→∞

xn, 54

lima→x

f(a), 119

lima→x+

f(a), 124

lima→x−

f(a), 124

lim inf, 64lim sup, 64ln, 115max A, 14min A, 14n!, 3o, 201p + TpMc, 219sin, 154sinh, 160supA, 13tan, 158tanh, 161x uber k, 4xq, 24xn, 19xn −→ x, 54xn

n→∞−→ x, 54yα, 228z, 28Γ , 306Ω, 308α!, 228∂A, 50π, 156

(−∞, a), 10

(−∞, a], 10(A | B), 11

(λ · f)(x), 162

(R) −b

R

a

, 269

(a,∞), 10(a, b), 10

(a, b], 10(f + h)(x), 162(xnj )

j=1, 56

(xn), 53(xn)∞n=1, 53

[V, +, ·], 87[K, +, ·], 8

[x], 184〈·, ·〉, 91

〈x, y〉, 35[a,∞), 10

[a, b), 10[a, b], 10`

x

k

´

, 4`

x

0

´

, 4:=, IX

:↔, IX⇔, IX

⇒, IX∅, IX

∃!, IX∃, IX

∀, IX∂f

∂xi(u), 222

∂kf

∂xi1···∂xik

, 224

dnf

dxn , 183df

dx(x0), 175

R

f(x) dx, 254R a

−∞f(t) dt, 292

∞R

a

, 292

bR

a

, 265

≤, 9∇af(x0), 213nQ

i=1

xi, 8

♯A, IX≃, 140

Page 327: Grundkurs Analysis

Sachverzeichnis 319

n√

x, 23n

P

i=1

, 8

∞P

n=0

fn, 146

∞P

k=1

xk, 93

Abel–Dirichlet–Kriterium, 101Abelscher Grenzwertsatz, 149abgeschlossen, 48Ableitung, 175

der inversen Abbildung, 179erste, 175n-te, 183partielle, 222

Abschluss einer Menge, 47absolut–konvergente Reihe, 94Abstand, 39

Euklidischer, 36Abstandsfunktion, 39abzahlbar, 16Additionstheoreme, 154, 158, 160, 161aquivalente Normen, 89außerer Punkt, 50alternierende harmonische Reihe, 102angeordneter Korper, 9Anordnungsaxiom der reellen Zahlen, 9Approximationssatz

von Stone–Weierstraß(1), 168von Stone–Weierstraß(2), 170Weierstraßscher, 164

archimedische Spirale, 313Archimedisches Axiom der reellen

Zahlen, 14Arcuscosinus, 159Arcuscotangens, 159Arcussinus, 159Arcustangens, 159Areacosinus hyperbolicus, 161Areacotangens hyperbolicus, 161Areasinus hyperbolicus, 161Areatangens hyperbolicus, 161arithmetisches Mittel, 25Astroide, 313

Banach’scher Fixpunktsatz, 141Banachraum, 89Bernoullische Ungleichung, 21

Bernstein–Polynom, 164beschrankt, 12

von oben, 12von unten, 12

beschrankte Folge, 54beschrankte Teilmenge, 54beschrankter Variation, Funktion von,

300bestimmt divergent, 62bestimmtes Integral, 265Betrag einer komplexen Zahl, 28Betrag einer reellen Zahl, 10bijektive Abbildung, 16Binomialkoeffizient, 4Binomialreihe, 208Binomischer Satz, 20Bogenlange, durch ihre ∼ parametri-

sierte Kurve, 307bogenzusammenhangend, 137

Cantorsches Diagonalisierungsverfah-ren, 17

Cantorsches Diskontinuum, 79Cauchy–Bedingung, 69Cauchy–Folge, 69Cauchy–Kriterium, 94Cauchy–Produkt von Reihen, 105Cauchy–Schwarzsche Ungleichung, 35,

91Cauchy-Integrierbarkeitskriterium, 271Cauchysches Verdichtungskriterium,

103Ck–Diffeomorphismus, 232Ck-Funktion, 225Ck–Kurve, 301Cosinus, 153Cosinus hyperbolicus, 160Cotangens, 158Cotangens hyperbolicus, 161

Dedekindscher Schnitt von R, 11Diagonalisierungsverfahren von Cantor,

17dichte Teilmenge, 52Diffeomorphismus, 232Differential, 212differenzierbar, 175, 211Differenzierbarkeit

hinreichende Bedingung fur, 222

Page 328: Grundkurs Analysis

320 Sachverzeichnis

Differenzmenge, IXdisjunkte Mengen, IXdisjunkte Vereinigung, IXdiskrete Metrik, 40diskreter metrischer Raum, 40divergente Folge, 53divergente Reihe, 94Dreiecksungleichung, 10, 28, 35, 39

einfache Kurve, 308Ellipse

Flacheninhalt, 312Umfang, 304

endliche Teiluberdeckung, 79ε–Kugel, 42Euklidischer Abstand, 36Euler–Konstante, 298Eulersche Formel, 154Eulerzahl, 65Exponentialfunktion, komplexe, 114Extrema unter Nebenbedingungen, 247

notwendige Bedingungen fur, 247

Fakultat, 3Fixpunktsatz, Banach’scher, 141Floh und Kamm-Menge, 137Folge, 53

bestimmt divergente, 62der Partialsummen, 93divergente, 53konvergente, 53monoton fallende, 64monoton wachsende, 64monotone, 64uneigentlich konvergente, 62

Folge, nach ±∞ strebend, 62folgenkompakt, 75folgenstetig, 126folgenstetig in einem Punkt, 126Fundamentalsatz der Algebra, 33, 258Fundamentalungleichung, 274Funktionenreihe, 146

Gaußklammer-Funktion, 184Gaußsche Zahlenebene, 29geometrische Reihe, 22, 96geometrische Summe, 22geometrisches Mittel, 25geschlossene Kurve, 308

glatte Abbildung, 183gleichmaßig konvergente

Folge von Abbildungen, 143Funktionenreihe, 146

gleichmaßig stetig, 133gleichmachtige Mengen, 19Gradient, 217Graph

Lange eines, 304Grenzfunktion, 143Grenzwert

Eindeutigkeit, 54einer Folge, 53einer Funktion, 119linksseitiger, 124rechtsseitiger, 124uneigentlicher, 62

Grenzwert aller Riemannschen Summen,268

GrenzwerteVertauschbarkeit, 144

Grenzwertsatz, Abelscher, 149

Haufungspunkt einer Folge, 56Haufungspunkt einer Menge, 51hochstens abzahlbar, 17harmonische Reihe, 95

alternierende, 102, 207Hauptsatz der Differential- und

Integralrechnung, 283Hebbare Unstetigkeitsstelle, 128Hessesche Form, 230Hilbertraum, 92homoomorph, 140Homoomorphismus, 140homogen, 25Hyperbelfunktionen, 160

Identitatssatz fur Potenzreihen, 151imaginare Achse, 29imaginare Einheit, 27implizite Funktionen

Satz uber, 241Induktion, vollstandige, 2induzierte Metrik, 40Infimum, 12injektive Abbildung, 16innerer Punkt, 43Integral

Page 329: Grundkurs Analysis

Sachverzeichnis 321

bestimmtes, 265unbestimmtes, 254

Integrand, 254Integration

partielle, 255, 266Integrationsvariable, 254Integrierbarkeitskriterium

Cauchysches, 271Lebesguesches, 280Riemannsches, 278

Intervallabgeschlossenes, 10halboffenes, 10Lange, 10offenes, 10

Intervallschachtelung, 15isolierter Punkt, 52Isometrie, 41isometrische metrische Rume, 41

K-Vektorraum, 87Korper, 8

angeordneter, 9vollstandiger angeordneter, 12

Korperaxiom der reellen Zahlen, 8kartesisches Produkt metrischer Raume,

41Kettenregel, 178, 215

fur partielle Ableitungen, 227Kleeblatt, 314kleiner gleich, 9kompakte Menge, 80komplexe Potenz der Eulerzahl, 114komplexe rationale Funktion, 257komplexe Zahl, 26

n-te Wurzelgeometrische Bedeutung, 33

Argument, 30Betrag, 28geometrische Interpretation, 29n-te Wurzel, 32trigonometrische Darstellung, 30

komplexe ZahlenDreiecksungleichung, 28geometrische Deutung der Addition,

30geometrische Deutung der Multipli-

kation, 30komplexe Zahlenebene, 29

konjugiert komplex, 28konkave Funktion, 189Kontinuumshypothese, 19kontrahierende Abbildung, 141Kontraktion, 141konvergente Folge, 53konvergente Reihe, 94Konvergenzkreis einer Potenzreihe, 111Konvergenzradius, 111, 112konvexe Funktion, 189konvexe Menge, 137Koordinatentransformation, 233Kreislinie, 303kritischer Punkt, 229k-te partielle Ableitung, 224Kugelkoordinaten, 233Kurve

durch ihre Bogenlange parametrisier-te, 307

einfache, 308geschlossene, 308in Polarkoordinaten, 305parametrisierte, 299positiv-orientierte, 308regulare, 301, 307

Kurve von der Klasse Ck, 301

L’Hospitalsche Regeln, 193Lange

einer C1-Kurve, 303einer rektifizierbaren Kurve, 299einer stuckweisen C1-Kurve, 303eines Intervalls, 268

Lagrange-Multiplikatoren, 247Lagrangesches Gleichungssystem, 249Landau-Symbole, 201Lebesgue–Maß Null, 279Lebesgue-Zahl einer Uberdeckung, 83Lebesguesches Integrierbarkeitskriteri-

um, 280Leibnitz–Kriterium fur alternierende

Reihen, 102Leibnitz-Reihe, 103Leibnitzsche Sektorformel, 311Leibnizformel, 200limes inferior, 64limes superior, 64Linearisierung, 212linksseitiger Grenzwert, 124

Page 330: Grundkurs Analysis

322 Sachverzeichnis

Lipschitz–Konstante, 133lipschitzstetig, 133logarithmische Spirale, 305Logarithmus

naturlicher, 115lokaler Extremwert

hinreichende Bedingung, 209lokales Maximum, 185, 229lokales Minimum, 185, 229Luftlinienabstand, 40

Machtigkeit, großere, 19Machinsche Formel, 200Majorantenkriterium, 97Majorantenkriterium, Weierstraßsches ,

147Mannheimer-Metrik, 40Maximum, 14

lokales, 229Maximum,lokales, 185Metrik, 39

der franzosischen Eisenbahn, 40diskrete, 40durch Skalarprodukt erzeugte, 92induzierte, 40

metrische Raumeisometrische, 41kartesisches Produkt, 41

metrischer Raum, 39abgeschlossene Teilmenge, 48dichte Teilmenge, 52diskreter, 40innerer Punkt, 43kompakter, 80offene Teilmenge, 45Rand einer Teilmenge, 50separabler, 78total beschrankter, 77Vervollstandigung, 72zusammenhangender, 84

Minimum, 14lokales, 185, 229

Mittelwertsatzder Integralrechnung

erster, 286zweiter, 287

fur Funktionen mehrerer Veranderli-cher, 220

fur Vektorfunktionen, 191

von Lagrange, 187monoton fallende Folge, 64monoton fallende Funktionenfolge, 144monoton wachsende Folge, 64monoton wachsende Funktionenfolge,

144monotone Folge, 64Multiindex, 228

Ordnung eines, 228

Nebenbedingungen, 246Niveauflache, 218Norm, 87

durch Skalarprodukt erzeugte, 92Norm der Zerlegung eines Intervalls,

268Norm eines Vektors, 35Normen

aquivalente, 89normierter Vektorraum, 87n-te Ableitung, 183Nullfolge, 60

oberes Riemann-Integral, 278Obersumme, 277offen, 45offene Uberdeckung, 79offenen Menge, 83Ordnung, reflexive, 9

Parametertransformation, 306parametrisierte Kurve, 299Parametrisierung einer Kurve, 301Partialbruchzerlegung

komplexer rationaler Funktionen, 260reeller rationaler Funktionen, 261

Partialsumme, 93Partialsummen, Folge der, 93partielle Ableitung, 222

der Ordnung k, 224hoherer Ordnung, 224

partielle AbleitungenKettenregel, 227Vertauschbarkeit, 225

partielle Integration, 255, 266pi

Berechnung, 199π, 156Polarkoordinaten, 233

Page 331: Grundkurs Analysis

Sachverzeichnis 323

in ∼ gegebene Kurve, 305polynomiale Funktion, 131positiv-orientierte Kurve, 308Positivitat, 39Potenz, 19

mit rationalem Exponent, 24Potenz, komplexe, 116

der Eulerzahl, 114Potenzreihe, 110Prinzip der Intervallschachtelung, 15Produkt von Mengen, IXProduktmetrik, 41Produktregel, 177punktweise konvergente

Folge von Abbildungen, 143Funktionenreihe, 146

Quotientenkriterium, 99Quotientenregel, 177

Rand einer Menge, 50Randpunkt einer Menge, 50rationale Funktion, 131, 257rechtsseitiger Grenzwert, 124reell–analytisch, 202reelle Zahlen, 6

Anordnungsaxiom, 9Korperaxiom, 8Vollstandigkeitsaxiom, 11

reelle, rationale Funktion, 257reflexive Ordnung, 9regulare Kurve, 301, 307regularer Punkt, 219Reihe, 93

absolut–konvergente, 94divergente, 94geometrische, 96harmonische, 95konvergente, 94Partialsumme, 93Wert einer Reihe, 94

rektifizierbare Kurve, 299Restglied, 204Richtungsableitung, 213Riemann–integrierbar

uneigentlich, 292uneigentlich , 293

Riemann-Integral, 269Riemann-integrierbar, 269

Riemannsche Summe, 268

Riemannsche Zeta–Funktion, 298Riemannscher Umordnungssatz, 109Riemannsches Integrierbarkeitskriteri-

um, 278

Satz uberdie Stetigkeit der inversen Abbildung,

140die Umkehrabbildung, 235implizite Funktionen, 241

Satz vonBolzano/Weierstraß, 63Borel, 205Cantor fur folgenkompakte metrische

Raume, 78Dini, 144Heine, 139

Heine/Borel, 82Rolle, 186Schwarz, 225Weierstraß, 138

Schnittzahl von (A | B), 11Schranke

obere, 12untere, 12

Schraubenlinie, 304Sektorformel,Leibnitzsche, 311separabler Raum, 78

Sinus, 153Sinus hyperbolicus, 160Skalarprodukt, 35, 91Spirale,archimedische, 313

Spirale,logarithmische, 305Sprungstelle, 128Stammfunktion, 253Standardmetrik, 39

sternformige Menge, 137Sternkurve, 313stetig, 126

stetig differenzierbar, 183n–mal, 183

stetig in einem Punkt, 126Substitutionsregel, 256, 266

Summenregel, 177Supremum, 12surjektive Abbildung, 16Symmetrie, 39

Page 332: Grundkurs Analysis

324 Sachverzeichnis

Tangens, 158Tangens hyperbolicus, 161Tangente, 176Tangentialebene, 219Tangentialraum, 219Tangentialvektoren, 219Taylorformel

mehrdimensionale, 228Taylorpolynom, 203Taylorreihe, 203Teiluberdeckung, 79

endliche, 79Teilfolge, 56Teilintervall, 268Topologie, 83topologischer Raum, 83total beschrankte Menge, 77total beschrankter metrischer Raum, 77trigonometrische Funktionen, 153trigonometrisches Polynom

komplexes, 173reelles, 172

uberabzahlbar, 17Uberdeckung

Lebesgue-Zahl einer, 83offene, 79

Uberdeckungssatz von Heine/Borel, 82Umgebung eines Punktes, 53Umkehrfunktion

Ableitung der, 234Umkehrsatz, 235Umordnung von Reihengliedern, 107Umordnungssatz, 107, 108Umparametrisierung einer Kurve, 306unbestimmtes Integral, 254uneigentlich konvergente Folge, 62uneigentlich Riemann–integrierbar, 292,

293uneigentlicher Grenzwert, 62, 122Unstetigkeitsstelle

2. Art, 128hebbare, 128Sprungstelle, 128

Unteralgebra, 166unteres Riemann Integral, 278Untersumme, 277

VektorNorm, 35

Vektoren, 34Vektorraum, 87

normierter, 87Verallgemeinerter Mittelwertsatz der

Differentialrechnung von Cauchy,187

VerdichtungskriteriumCauchysches, 103

Verfeinerung der Zerlegung einesIntervalls, 268

Vertauschbarkeit von Grenzwerten, 144Vervollstandigung metrischer Raume,

71Vielfachheit einer Nullstelle, 259vollstandige Induktion, 2vollstandiger angeordneter Korper, 12vollstandiger metrischer Raum, 69Vollstandigkeitsaxiom der reellen

Zahlen, 11

Weg, 137wegezusammenhangend, 137Weierstraßscher Approximationssatz,

164Weierstraßsches Majorantenkriterium,

147Wendepunkt, 190Wert einer Reihe, 94Wurzel, n-te, 23Wurzelkriterium, 98

Zentrum einer Potenzreihe, 110Zerlegung eines Intervalls, 268Zerlegungssatz fur komplexe Polynome,

259Zeta–Funktion

Riemannsche, 298zusammenhangende Teilmenge, 84zusammenhangender metrischer Raum,

84Zusammenhangskomponente, 86zweimal differenzierbar, 183zweite Ableitung, 183Zwischenwertsatz, 136Zylinderkoordinaten, 233