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Prof. Dr. Georg Bitter Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Bank-, Börsen- und Kapitalmarktrecht Universität Mannheim, Schloss Westflügel W 241/242, 68131 Mannheim Tel.: 0621/181-1394 • Fax: 0621/181-1393 Homepage: www.georg-bitter.de Email: [email protected] Grundzüge zivilrechtlicher Methodik Verfasser: Professor Dr. Georg Bitter Wiss. Mit. RA Tilman Rauhut Skript (Stand: November 2008)

Grundzüge zivilrechtlicher Methodik - Universität · PDF fileGrundzüge zivilrechtlicher Methodik – Skript I. Einführung In der Methodenlehre – hier beschränkt auf die Grundzüge

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Prof. Dr. Georg Bitter Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Bank-, Börsen- und Kapitalmarktrecht Universität Mannheim, Schloss Westflügel W 241/242, 68131 Mannheim

Tel.: 0621/181-1394 • Fax: 0621/181-1393 Homepage: www.georg-bitter.de Email: [email protected]

Grundzüge zivilrechtlicher Methodik

Verfasser: Professor Dr. Georg Bitter

Wiss. Mit. RA Tilman Rauhut

Skript

(Stand: November 2008)

Grundzüge zivilrechtlicher Methodik – Skript

Inhaltsverzeichnis

I. Einführung ........................................................................................................................ 1

II. Literatur........................................................................................................................... 2

III. Was ist, wozu dient „Methodik“? ................................................................................ 2 1. Was ist (Zivil-)Recht? .................................................................................................... 2 2. Wozu Methodik im (Zivil-)Recht?................................................................................. 4

IV. Der Vorgang der Rechtsfindung .................................................................................. 5 1. Der Aufbau des typischen Rechtssatzes......................................................................... 6 2. Sonstige Rechtssätze ...................................................................................................... 8

a) Legaldefinitionen ....................................................................................................... 8 b) Vermutungen.............................................................................................................. 9 c) Fiktionen .................................................................................................................. 10 d) Verweisungen .......................................................................................................... 10

3. Die Subsumtion ............................................................................................................ 10

V. Die Auslegung von Gesetzen......................................................................................... 12 1. Das Ziel der Gesetzesauslegung................................................................................... 12 2. Interpretation und Legitimation ................................................................................... 12 3. Grammatikalische Auslegung (Wortlaut der Norm).................................................... 14

a) Vorrang des fachsprachlichen Wortsinns................................................................. 14 b) Ermittlung des juristischen Wortsinns ..................................................................... 15 c) Wortlaut als Grenze der Auslegung ......................................................................... 17

4. Systematische Auslegung (Regelungszusammenhang) ............................................... 17 5. Historische Auslegung (Normgeschichte) ................................................................... 19 6. Teleologische Auslegung (Normzweck)...................................................................... 20

a) Teleologische Reduktion.......................................................................................... 21 b) Teleologische Extension .......................................................................................... 22

7. Verhältnis der Auslegungskriterien zueinander ........................................................... 22 8. Verfassungskonforme und richtlinienkonforme Auslegung ........................................ 23

a) Verfassungskonforme Auslegung ............................................................................ 23 b) Richtlinienkonforme Auslegung.............................................................................. 24

VI. Typische Schlussformen .............................................................................................. 26 1. Argumentum a maiore ad minus .................................................................................. 26 2. Argumentum a minore ad maius .................................................................................. 27 3. Argumentum a fortiori (Erst-recht-Schluss) ................................................................ 27 4. Argumentum e contrario (Umkehrschluss) ................................................................. 28 5. Argumentum ad absurdum........................................................................................... 28 6. Argumentum a simile (Analogieschluss) ..................................................................... 29

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Grundzüge zivilrechtlicher Methodik – Skript

I. Einführung

In der Methodenlehre – hier beschränkt auf die Grundzüge zivilrechtlicher Methodik – geht es nicht um die Lösung von konkreten Rechtsproblemen und Fällen, sondern darum, sich der Grundlagen und Bedingungen ebendiesen juristischen Tuns zu vergewissern. Die damit ver-bundenen Fragen und Überlegungen sind zwangsläufig in hohem Maße abstrakt. Verständlich werden sie häufig erst vor dem Hintergrund der konkreten Gesetzesanwendung: Nicht nur wird der richtige Umgang mit dem Gesetz von der Methodenlehre bestimmt, sondern die Me-thodik muss sich ihrerseits in der juristischen Praxis bewähren. In einem durchaus schiefen Vergleich mag man sich das Verhältnis zwischen Rechtsanwendung und juristischer Metho-denlehre vorstellen wie jenes zwischen Flugkunst und Physik: Der Pilot steuert zwar das Flugzeug und wird es, wenn er bestimmten Regeln folgt, auch sicher ans Ziel bringen. Es sind aber die Gesetze der Physik, die diesen Vorgang begreifbar, berechenbar und damit letzten Endes überhaupt erst möglich machen.1

Freilich muss der durchschnittliche Jurist in der alltäglichen Arbeit so wenig in die Tiefen der Methodik vordringen, wie von einem Piloten erwartet wird, dass er die Strömungseigenschaf-ten der Tragflächen eines modernen Großraumjets berechnen kann. Doch ist hier wie dort ein Grundverständnis von den Bedingungen des eigenen Tuns unerlässlich. Die folgende Darstel-lung der „Grundzüge zivilrechtlicher Methodik“ vermittelt deshalb das, was auch Anfänger wissen müssen, um – gleich einem Flugschüler – einfache Manöver erfolgreich zu bestreiten. Soweit einzelne Teile bereits fortgeschrittene Kenntnisse im Zivilrecht voraussetzen, sind sie durch eine senkrechte graue Linie am Rand gekennzeichnet. Das sei keine Einladung, diese Stellen in Gänze zu überblättern, sondern soll verhindern, dass der Leser sich an Fragen ver-fängt, die er als Neuling nur mit übergroßem Aufwand wird erfassen können.2

Das Skriptum beginnt mit einem Blick auf das Wesen und den Gegenstand zivilrechtlicher Methodik (III.). Es stellt sodann den Vorgang der Rechtsfindung aus abstrakten Rechtssätzen vor, insbesondere den Kern der juristischen Arbeit: die Subsumtion (IV.). Diese ist häufig und immer dann, wenn die Parteien um Rechtsfragen streiten, von der Auslegung gesetzlicher Vorschriften abhängig (V.). Im Rahmen der Auslegung bedienen sich Rechtswissenschaft und -praxis einiger typischer Schlussformen. Sie werden im letzten Abschnitt des Skriptums dar-gestellt (VI.), der sich tendenziell an Leser mit fortgeschrittenen Kenntnissen des BGB wen-det.

1 Der Vergleich hinkt vor allem deshalb, weil die Physik nicht die Wissenschaft vom Fliegen ist. 2 Eine vertiefte Lektüre im Laufe des Studiums wird dringend angeraten.

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II. Literatur

Eine vertiefte Einführung für Studierende bietet:

Zippelius, Reinhold: Juristische Methodenlehre, 10. Aufl. 2006, 116 Seiten, 13,90 € Umfassende Überlegungen zur juristischen Methodik mit zum Teil grundverschiedenen An-sätzen finden sich bei:

Larenz, Karl; Canaris, Claus-Wilhelm: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl. 2009, 320 Seiten, 24,95 € (angekündigt für April 2009)

Rüthers, Bernd: Rechtstheorie, 3. Aufl. 2007, 572 Seiten, 27,50 € Pawlowski, Hans-Martin; Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl. 1999, 522 Seiten, 75,70 € Bydlinski, Franz: Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, 671 Seiten (vergriffen)

Esser, Josef: Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1972, 220 Seiten (vergriffen)

III. Was ist, wozu dient „Methodik“?

Methodik ist die Gesamtheit der in einer Fachwissenschaft angewandten Methoden. Der Begriff „Methode“ geht auf das griechische Wort méthodos (das Nachgehen, das Verfolgen) zurück und bezeichnet ein planmäßiges Verfahren zum Gewinnen von Erkenntnissen. Dieses Verfahren kann je nach Fachgebiet ganz unterschiedlich ausgestaltet sein. So gelangt der Jurist auf ganz anderer Grundlage und auf ganz anderem Wege zu Ergebnissen als ein Mediziner oder ein Mathematiker. Während der Erste Texte liest, interpretiert und mit der Wirklichkeit vergleicht, sucht der Zweite, unterstützt durch naturwissenschaftliche Erkennt-nisse, nach krankhaften Symptomen, um deren Ursache zu beseitigen. Der Dritte schließlich bewegt sich in einem geschlossenen gedanklichen System, innerhalb dessen er, gestützt auf eine Anzahl Axiome, streng logisch Ergebnisse ableitet. Es ist der Gegenstand der jeweili-gen Wissenschaft, der die Methode bestimmt – in unserem Fall also: das Zivilrecht.

1. Was ist (Zivil-)Recht?

Wer vor die schwierige Frage nach dem Wesen des Rechts gestellt ist, kann sich zunächst einen Augenblick Luft verschaffen, indem er auf die sichtbarste Erscheinung des Rechts ver-weist: die Gesamtheit der Normen eines Gemeinwesens. Recht ist, was im Gesetz steht. Man bezeichnet diese Gesamtheit der Normen3 auch als das „positive“ Recht; „positiv“, weil

3 Der Begriff der „Norm“ ist Synonym für einen Rechtssatz. Der Jurist sagt dazu auch: Regelung, Regel, Vor-

schrift, Anordnung, Gesetz und natürlich – ganz konkret – Paragraph.

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es von Menschen gemacht, von ihnen „niedergelegt“ ist (lat. ponere, Partizip Perfekt Passiv: positum). Diese Regeln müssen keineswegs alle auch niedergeschrieben sein. Viele Rechts-ordnungen, z.B. die anglo-amerikanische, fassen ihre Normen in weitaus geringerem Umfang in Gesetzeswerke, als es in Deutschland Tradition ist, sondern gewinnen sie in einem steten Vergleich mit früheren Rechtsfällen (sog. case law). Auch das deutsche Recht kennt unge-schriebene Rechtsgrundsätze, die sich ohne gesonderte Kodifikation durch gewohnheitsmäßi-ge Übung Geltung verschafft haben. Recht ist also zunächst einmal menschliche Verhaltens-regelung. Sodann, auf einer nächsten Stufe, ist Recht verwirklichte Verhaltensregelung. Davon spre-chen wir, wenn wir sagen, jemand „hat Recht bekommen“. Unsere selbstgeschaffene Rechts-ordnung bliebe ohne Wert, wenn sie nicht auch die Mittel bereitstellen würde, die geschaffe-nen Regeln anzuwenden und durchzusetzen: ein sprichwörtlicher Tiger ohne Zähne. Schließlich und vor allem aber geht es im Recht um die Lösung von Gerechtigkeitsfragen. „Das geschieht dir recht!“ rufen schon unsere Kleinsten, ohne vom Bürgerlichen Gesetzbuch, vom Strafgesetzbuch, vom Grundgesetz oder gar vom EG-Vertrag auch nur gehört zu haben. „Ius est ars boni et aequi“ – das Recht ist die Kunst der guten Ordnung und der Billigkeit –, mit diesem Satz beginnt auch die Sammlung römischer Rechtsschriften, die Kaiser Justinian I. im Jahre 533 n. Chr. als Gesetzbuch verkündete (Digesten 1,1,1). Dass das positive Recht oder eine darauf gründende Entscheidung nicht immer von allen als gerecht empfunden wird, bleibt unvermeidlich. Es ist jedoch die große Errungenschaft des demokratischen Rechtsstaats (Artt. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG4), dass die Gesetze das Gerechtigkeitsempfinden der Mehrheit des Volkes spiegeln und dass Entscheidungen allein nach Maßgabe dieser Gesetze und nicht nach dem Gutdünken Einzelner ergehen (Art. 20 Abs. 3 GG). Der Primat des Gesetzes kann so weit reichen, dass die große Mehrheit der Rechtsunterworfenen eine Einzelentscheidung als ungerecht empfindet und sich doch mit ihr arrangiert. Denn auch wenn z.B. niemand einen Mörder ungestraft davonkommen sehen mag: Noch weniger mag jeder Einzelne von uns in einem Strafverfahren gezwungen sein, durch seine Aussage einen Familienangehörigen ins Gefängnis zu bringen (vgl. § 52 Abs. 1 StPO). Innerhalb der Rechtsordnung trägt das Zivilrecht die Aufgabe, die Rechtsverhältnisse der Bürger untereinander zu regeln. Seine wesentliche Aufgabe besteht darin, private Güter richtig zu verteilen und einen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen der Privatleute herbeizuführen. Das Zivilrecht ist deshalb eine Friedensordnung. Dementspre-chend hat im Zivilprozess das Gericht in jeder Lage des Verfahrens darauf hinzuwirken, dass die Parteien ihren Streit gütlich beilegen (§ 278 Abs. 1 ZPO).

4 Beachte: Werden mehrere Artikel zitiert, kürzt man mit Doppel-T ab, also „Artt.“. Das doppelte T steht für

die Mehrzahl, ähnlich dem „ff.“ bei mehreren Paragraphen (§§). – Das Paragraphenzeichen „§“ geht vermut-lich auf ein doppeltes, ineinander geschwungenes S zurück, mit dem die Schreiber in einer Zeit, als Papier noch so kostbar war, dass jede Freizeile als Verschwendung galt, einen neuen Abschnitt kennzeichneten (signum sectionis, lat.: „Zeichen des Abschnitts“).

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2. Wozu Methodik im (Zivil-)Recht?

Die Zivilgesetze, z.B. das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB), das Handelsgesetzbuch (HGB), das Aktiengesetz (AktG) oder das Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haf-tung (GmbHG) enthalten – wie das gesamte deutsche Recht – abstrakte Regeln. Man liest im Gesetz also nichts darüber, ob A von der B-GmbH die Kosten für die Reparatur seines Fahr-rads ersetzt verlangen kann, wenn er vom Geschäftsführer der B-GmbH mit dem Dienstwagen angefahren worden ist. Stattdessen findet man im Gesetz Vorschriften darüber, wann jeman-dem wegen der Verletzung seines Eigentums ein Schadensersatzanspruch gegen den Schädi-ger zusteht (§ 823 Abs. 1 BGB), in welcher Form und in welchem Umfang Schadensersatz zu leisten ist (§§ 249 ff. BGB), ob eine GmbH überhaupt zu etwas verpflichtet sein kann (§ 13 Abs. 1 GmbHG) und wann das Handeln des Geschäftsführers eine Verbindlichkeit der GmbH auslöst (§ 35 Abs. 1 GmbHG, § 164 Abs. 1 BGB bzw. hier § 31 BGB analog). Ob nun A von der B-GmbH die Reparaturkosten ersetzt bekommt, entscheidet der Rechtsan-wender, indem er den Lebenssachverhalt, also das, was konkret geschehen ist (kurz: Sach-verhalt) darauf überprüft, ob das Geschehen den abstrakten Regeln unterfällt. Damit diese Entscheidung sowie die sie begründenden gesetzlichen Vorschriften ihre friedensstiftende Wirkung entfalten und Befolgung verlangen können, müssen sie von den Rechtsunterworfe-nen als richtig und gerecht empfunden werden. Dazu leistet eine methodisch richtige Ent-scheidung einen erheblichen Beitrag: Erst ein methodisches Vorgehen macht die Entscheidung begründbar und damit nachvollzieh-bar. Vor allem der im Prozess Unterlegene soll verstehen können, warum sich seine Rechtsauffassung nicht hat durchsetzen können. Die Methodik dient insoweit der Legitimati-on von Entscheidungen gegenüber den Rechtsunterworfenen. Zudem verhindern die Regeln der Methodik eine bloße Entscheidung nach dem Gerechtigkeitssinn des Rechtsanwenders. Sie erlauben damit eine Selbstkontrolle der Entscheidungsträger. Eine einheitliche Metho-de schafft auch Rechtssicherheit, weil sie das Ergebnis eines Rechtsstreits für die Beteiligten berechenbar macht. Und schließlich kann der Unterlegene nur, wenn die Rechtsfindung ver-bindlichen Regeln folgt, den Entscheidungsgründen entnehmen, dass das Ergebnis nicht auf sachwidrigen, z.B. gegen seine Person gerichteten Kriterien beruht und unter denselben Vor-aussetzungen in anderen Fällen ebenso lauten würde. So bietet die Methodik auch Schutz vor staatlichem Rechtsmissbrauch und erscheint als Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips und des Willkürverbots (Artt. 20 Abs. 3, 28 Abs. 1, 3 Abs. 1 GG).

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IV. Der Vorgang der Rechtsfindung

Die Rechtsfindung geschieht in vier Schritten: Als Erstes ist der Sachverhalt, also das konkrete tatsächliche Geschehen zu ermitteln. In der universitären Ausbildung bleibt den Studierenden dieser Schritt in aller Regel erspart, weil der rechtlich zu würdigende Sachverhalt vorgegeben wird. Schon im Referendariat und erst recht in der späteren Praxis geht es hingegen überwiegend um streitige Tatsachen. So würde in dem oben unter III. 2. angeführten Beispiel niemand mehr große Ausführungen dazu machen, dass die B-GmbH an den A zahlen muss, wenn ihr Geschäftsführer bei Rot gefahren ist. Der Ausgang des Prozesses steht und fällt aber mit der Frage, ob es nicht vielleicht A war, der die rote Ampel überfahren hat. Als Zweites gilt es, die möglicherweise einschlägige Rechtsnorm zu finden, also diejenige Vorschrift, die für die Rechtsfindung bedeutsam sein kann. Je nach Sachlage kommen auch mehrere Paragraphen in Betracht. In einem Gutachten, wie es an der Universität regelmäßig zu erstellen ist, sind sämtliche Vorschriften heranzuziehen, die möglicherweise die Entschei-dung beeinflussen, auch wenn sich später bei näherer Prüfung herausstellt, dass sie nicht ein-schlägig sind. Als Drittes folgt der Abgleich des konkreten Geschehens mit dem abstrakten Inhalt der gefundenen Norm. Der Rechtsanwender prüft, ob der Sachverhalt von der gesetzlichen Re-gelung erfasst wird. Diesen Vorgang nennt man Subsumtion (näher unten IV. 3.).5 An ihr entzünden sich die meisten Rechtsfragen, weil der Vergleich des Konkreten mit dem Abstrak-ten häufig erhebliche Probleme aufwirft. Das Ergebnis dieses Vergleichs gibt den Ausgang des Rechtsstreits vor. Als Viertes schließlich lässt sich nach erfolgter Subsumtion eine Schlussfolgerung für den konkreten Fall ziehen und eine Entscheidung aussprechen. Dieser Schritt bereitet im Gegen-satz zur Subsumtion keine Schwierigkeiten, denn ihm liegt ein simpler logischer Schluss (Syl-logismus) zugrunde: Wenn der Sachverhalt von der Norm erfasst ist, dann treten die von ihr angeordneten Folgen ein, z.B. eine Schadensersatzpflicht (zum Aufbau von Rechtssätzen sogleich unter IV. 1. und 2.). Hat die Subsumtion zu einem negativen Ergebnis geführt, dann bleiben auch – insoweit – die Folgen aus. Die Einschränkung ‚insoweit’ ist von großer Wich-tigkeit, da sich möglicherweise eine andere Vorschrift als einschlägig erweist, die zu dersel-ben Folge führt.6

5 Zum Schema der Subsumtion (Obersatz – Untersatz – Schlusssatz) vgl. das Skript „Allgemeine Rechtsge-

schäftslehre“, Abschnitt C – Technik der juristischen Fallbearbeitung. 6 In der Sprache der Logik ausgedrückt: Wenn aus A B folgt und A gegeben ist, dann ist auch B gegeben. Ist A

nicht gegeben, heißt das nicht, dass auch B nicht gegeben wäre. Denn B könnte ebenso aus C folgen. Oder für Rechenkünstler: Wenn man raucht, verkürzt sich die Lebenserwartung. Wenn man nicht raucht, heißt das

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Die Richtigkeit der Entscheidung hängt entscheidend davon ab, dass die aus den ersten drei Schritten gewonnenen Prämissen richtig gesetzt sind. Nur dann führt der logische Schluss in Schritt vier zum insgesamt richtigen Ergebnis: Wer den Sachverhalt unvollständig ermittelt, der erklärt womöglich eine Norm für nicht einschlägig, obwohl sie es hinsichtlich des wahren Geschehens eigentlich wäre. Wer eine einschlägige Rechtsnorm übersieht, hält ein bestimm-tes Verhalten mangels anderer einschlägiger Vorschriften womöglich für folgenlos, obwohl es in Wahrheit sanktioniert ist. Und wer den richtig ermittelten Sachverhalt fehlerhaft unter eine Regelung subsumiert, die diesen Fall nicht erfasst, ordnet im Ergebnis Folgen an, die den Rechtsunterworfenen – jedenfalls insoweit – ohne Grund treffen.

1. Der Aufbau des typischen Rechtssatzes

Rechtssätze, also gesetzliche Vorschriften7, bestehen typischerweise aus zwei Teilen: dem Tatbestand und der Anordnung einer Rechtsfolge. Der Tatbestand enthält die Bedingung dafür, dass die in der Norm angeordnete Rechtsfolge ausgelöst wird. Er umfasst eine oder zumeist mehrere Voraussetzungen, die man Tatbestandsvoraussetzungen oder (vornehmlich im Strafrecht) Tatbestandsmerkmale nennt. Ist der Tatbestand erfüllt, also jede einzelne Tat-bestandsvoraussetzung gegeben, tritt die Rechtsfolge ein. Der typische Rechtssatz setzt sich demnach aus einem Konditionalsatz mit den Tatbestandsvoraussetzungen („Wenn …,“) und einem Hauptsatz mit der Rechtsfolge („dann …“) zusammen. Allerdings formuliert das Ge-setz dieses Konditionalgefüge in den meisten Fällen weniger schematisch, so dass der Rechts-anwender zunächst Tatbestand und Rechtsfolge herauslesen muss. Einige Beispiele: § 267 Abs. 1 S. 1 BGB: „Hat der Schuldner nicht in Person zu leisten, so kann auch ein Dritter die Leistung bewirken.“ Formuliert man diesen Satz ein wenig um (ohne den Sinn zu verändern!), erkennt man leicht: Wenn der Schuldner nicht in Person leisten muss [= Tatbestand], dann kann auch ein Dritter die Leistung bewirken [= Rechtsfolge]. § 117 Abs. 1 BGB: „Wird eine Willenserklärung, die einem anderen gegenüber abzugeben ist, mit dessen Ein-verständnis nur zum Schein abgegeben, so ist sie nichtig.“ Wer sich durch den eingeschobenen Relativsatz nicht verwirren lässt, erkennt auch hier schnell: Wenn eine gegenüber einem anderen abzugebende Willenserklärung mit dessen Einverständnis nur zum Schein abgegeben wird [= Tatbestand], dann ist diese Erklärung nichtig [= Rechtsfolge]. Der Tatbestand umfasst hier, wohlgemerkt, vier Voraussetzungen: 1. eine Willenserklärung, die 2. einem anderen gegenüber abzugeben, also empfangsbedürftig ist und die 3. nur zum Schein abgegeben wurde, womit 4. der andere einverstanden war. Weil alle vier Voraussetzungen gegeben sein müssen, spricht man von kumulativen Voraussetzungen. § 362 Abs. 1 BGB: „Das Schuldverhältnis erlischt, wenn die geschuldete Leistung an den Gläubiger bewirkt wird.“ Hier ist die Satzstellung umgedreht; der Konditionalsatz mit dem Tatbestand steht hinter dem Hauptsatz

nicht, die Lebenserwartung könne sich nicht verkürzen. Die Lebenserwartung verkürzt sich nämlich auch, wenn man zuviel Alkohol trinkt.

7 Zur Begrifflichkeit s. Fn. 3.

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mit der Rechtsfolge: Wenn die geschuldete Leistung an den Gläubiger bewirkt wird [= Tatbestand], dann erlischt das Schuldverhältnis [= Rechtsfolge]. § 138 Abs. 1 BGB: „Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig.“ Hier ist das Konditio-nalgefüge stilistisch gut versteckt. Das Gesetz sagt uns mit bewusst deklaratorischem Ton: Wenn ein Rechtsge-schäft gegen die guten Sitten verstößt [= Tatbestand], dann ist es nichtig [= Rechtsfolge]. § 146 BGB: „Der Antrag erlischt, wenn er dem Antragenden gegenüber abgelehnt oder wenn er nicht diesem gegenüber nach den §§ 147 bis 149 rechtzeitig angenommen wird.“ In dieser Vorschrift ist nicht nur die Satzstel-lung umgedreht, sondern der Tatbestand enthält zudem alternative Voraussetzungen8: Wenn der Antrag dem Antragenden gegenüber abgelehnt wird [= 1. Tatbestandsalternative] oder wenn der Antrag gegenüber dem An-tragenden nicht nach den §§ 147 bis 149 rechtzeitig angenommen wird [= 2. Tatbestandsalternative], dann er-lischt der Antrag [= Rechtsfolge]. § 961 BGB: „Zieht ein Bienenschwarm aus, so wird er herrenlos, wenn nicht der Eigentümer ihn unverzüglich verfolgt oder wenn der Eigentümer die Verfolgung aufgibt.“ Dass Vorschriften mehrere Tatbestandsvorausset-zungen – kumulativ oder alternativ – enthalten können, wissen wir schon. Hier findet sich beides kombiniert und dazu noch mit einer positiven und einer negativen Tatbestandsvoraussetzung: Wenn ein Bienenschwarm auszieht [= 1. kumulative Tatbestandsvoraussetzung] und wenn entweder der Eigentümer den Schwarm nicht unverzüg-lich verfolgt [= 1. alternativ-kumulative Tatbestandsvoraussetzung] oder der Eigentümer die Verfolgung aufgibt [= 2. alternativ-kumulative Tatbestandsvoraussetzung], dann wird der Bienenschwarm herrenlos [= Rechtsfolge]. § 965 Abs. 1 BGB: „Wer eine verlorene Sache findet und an sich nimmt, hat dem Verlierer oder dem Eigentü-mer oder einem sonstigen Empfangsberechtigten unverzüglich Anzeige zu machen.“ Auch in diesem Paragra-phen finden wir den Konditionalsatz ein wenig abgewandelt und zudem einen der seltenen Fälle, in denen meh-rere Rechtsfolgen alternativ angeordnet werden: Wenn jemand eine verlorene Sache findet und an sich nimmt [= kumulativer Tatbestand], dann muss er entweder dem Verlierer unverzüglich Anzeige machen [= 1. Rechtsfolgenvariante] oder dem Eigentümer unverzüglich Anzeige machen [= 2. Rechtsfolgenvariante] oder einem sonstigen Empfangsberechtigten unverzüglich Anzeige machen [= 3. Rechtsfolgenvariante]. Weil es im Zivilrecht um die Verteilung von privaten Gütern und um den Ausgleich wider-streitender privater Interessen geht, kommt sog. Anspruchsgrundlagen eine ganz besondere Bedeutung zu. Anspruchsgrundlagen sind solche Vorschriften, die einer Person das Recht einräumen, von einer anderen Person ein Tun oder Unterlassen zu fordern (vgl. § 194 Abs. 1 BGB). Sie folgen dem Aufbau des typischen Rechtssatzes, wobei die Rechtsfolge darin be-steht, dass jemand einen Anspruch erhält. Freilich gibt sich das Gesetz auch bei der Formu-lierung der Anspruchsgrundlagen nicht unnötig streng. Einige Beispiele: § 280 Abs. 1 S. 1 BGB: „Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis [= Tatbestand9], so kann der Gläubiger Ersatz des hierdurch entstehenden Schadens verlangen [= Rechtsfolge: Anspruch auf Schadenser-satz].“ § 1004 Abs. 1 S. 1 und 2 BGB: „Wird das Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung des Besitzes beeinträchtigt [= Tatbestand], so kann der Eigentümer von dem Störer die Beseitigung der Beein-

8 Beachte: Bei mehr als zwei Möglichkeiten, den Tatbestand zu erfüllen, spricht man von „Varianten“. 9 Anmerkungen, die man als Verfasser innerhalb eines wörtlichen Zitats anbringt, werden in eckige Klammern

gesetzt, um dem Leser deutlich zu machen, dass sie im Original nicht enthalten sind.

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trächtigung verlangen [= Rechtsfolge: Anspruch auf Vornahme einer Handlung]. Sind weitere Beeinträchtigun-gen zu besorgen [= kumulative Tatbestandsvoraussetzung zu S. 1], so kann der Eigentümer auf Unterlassung klagen [= Rechtsfolge: Anspruch auf Unterlassung].“ § 823 Abs. 1 BGB: „Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt [= Tatbestand], ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet [= Rechtsfolge: Schadensersatzanspruch des Geschädig-ten].“ § 433 Abs. 1 S. 1 BGB: „Durch den Kaufvertrag wird der Verkäufer einer Sache verpflichtet, dem Käufer die Sache zu übergeben und das Eigentum an der Sache zu verschaffen.“ Weil diese Anspruchsgrundlage nur eine Voraussetzung hat, nämlich einen (wirksamen) Kaufvertrag, spart sich das Gesetz die umständliche Formulie-rung: Wenn zwischen zwei Personen ein wirksamer Kaufvertrag besteht [= Tatbestand], dann kann der Käufer vom Verkäufer verlangen, dass dieser ihm die Sache übergibt und das Eigentum an der Sache verschafft [= Rechtsfolge: Anspruch des Käufers auf Übergabe und Eigentumsverschaffung]. § 433 Abs. 2 BGB: „Der Käufer ist verpflichtet, dem Verkäufer den vereinbarten Kaufpreis zu zahlen und die gekaufte Sache abzunehmen [= Rechtsfolge: Anspruch des Verkäufers auf Zahlung des Kaufpreises und Ab-nahme der Kaufsache].“ Hier fasst sich das Gesetz noch kürzer und verzichtet sogar darauf, die Voraussetzung dieses Anspruchs zu benennen. Sie ergibt sich selbstverständlich aus Abs. 1 S. 1: ein (wirksamer) Kaufvertrag. § 985 BGB: „Der Eigentümer kann von dem Besitzer die Herausgabe der Sache verlangen.“ Dieser Satz erklärt kurz und bündig: Wenn jemand eine Sache in Besitz hält, die im Eigentum eines anderen steht [= Tatbestand], dann kann der Eigentümer der Sache von dem Besitzer ihre Herausgabe verlangen [= Rechtsfolge: Anspruch auf Herausgabe].

2. Sonstige Rechtssätze

Neben den typischen Rechtssätzen, die unter den von ihnen aufgestellten Bedingungen be-stimmte Folgen anordnen, finden sich im Gesetz auch Vorschriften, die diesem Schema nicht folgen und dazu dienen, die Arbeit mit dem Gesetz zu erleichtern oder Voraussetzungen für die Anwendung anderer Normen zu schaffen (sog. Hilfsnormen). Dazu zählen Legaldefiniti-onen, Vermutungen, Fiktionen und Verweisungen.

a) Legaldefinitionen

Legaldefinitionen bestimmen, wie ein an anderer Stelle des Gesetzes gebrauchter Begriff zu verstehen ist. Wenn also der Besitzer dem Eigentümer nach § 985 BGB die Herausgabe der Sache schuldet, dann klären uns §§ 90, 90a S. 1 BGB darüber auf, dass Sachen im Sinne des Gesetzes nur körperliche Gegenstände sind, nicht aber Tiere (obwohl sie zweifelsohne körperliche Gegenstände darstellen). Kann der Bauer seinen ausgerissenen Zuchtbullen, der sich auf Nachbars Weide bei den Kühen herumtreibt, also nicht herausverlangen? Doch er kann, weil § 90a S. 3 BGB bestimmt, dass auf Tiere die für Sachen geltenden Vorschriften entsprechend anzu-wenden sind.

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Legaldefinitionen treten in zwei Formen auf: entweder in ganzen Sätzen wie z.B. in §§ 90, 90a S. 1 BGB (Sache), 276 Abs. 2 BGB (fahrlässig), 1591 BGB (Mutter), 1592 BGB (Vater) BGB oder als Klammerdefinitionen innerhalb einer Vorschrift, so z.B. in § 121 Abs. 1 S. 1 BGB (unverzüglich), 184 Abs. 1 BGB (Genehmigung), 651a Abs. 1 S. 1 BGB (Reise), 1922 Abs. 1 BGB (Erbfall, Erbschaft, Erben), 1939 BGB (Vermächtnis).

b) Vermutungen

Gesetzliche Vermutungen helfen über Schwierigkeiten bei der Sachverhaltsermittlung hinweg. Eigentlich ist es Sache der Streitparteien, im Prozess jeweils das vorzutragen und zu beweisen, was ihnen günstig ist. So muss, wer von einem anderen Zahlung des Kaufpreises verlangt, nachweisen, dass er mit dem Gegner einen Kaufvertrag geschlossen hat. Gelingt ihm das, kann sich der Käufer gegen die Forderung z.B. damit verteidigen, dass er den Kaufpreis bereits bezahlt habe. Dafür ist dann aber der Käufer darlegungs- und beweispflichtig. In eini-gen Fällen erleichtert das Gesetz den nötigen Nachweis, indem es eine Vermutung dafür auf-stellt, dass das, was eigentlich darzulegen und zu beweisen wäre, vorliegt. Nach § 1006 Abs. 1 S. 1 BGB wird beispielsweise zugunsten des Besitzers einer beweglichen Sache vermutet, dass er Eigentümer der Sache sei. Wenn nun jemand diese Sache beschädigt und deshalb gem. § 823 Abs. 1 BGB auf Schadensersatz wegen Eigentumsverletzung in Anspruch genommen wird, muss der Anspruchsteller nicht beweisen, dass die Sache in seinem Eigentum steht, sondern es genügt der wesentlich leichter zu erbrin-gende Nachweis, dass er der Besitzer ist: Die Tatbestandsvoraussetzung „Eigentum“ wird nach § 1006 Abs. 1 S. 1 BGB vermutet. Vermutungen können widerleglich oder unwiderleglich sein. Bei widerleglichen Vermutun-gen steht dem Gegner der Nachweis offen, dass das, was das Gesetz vermutet, in Wahrheit nicht so ist. Der Schädiger könnte in obigem Beispielsfall also behaupten und beweisen, dass der Anspruchsteller die Sache nur geliehen hat und ihm deshalb kein Anspruch wegen Eigen-tumsverletzung zusteht. Eine überaus wichtige widerlegliche Vermutung enthält § 280 Abs. 1 BGB: Das Gesetz unterstellt (unausgespro-chen!) in Satz 1, dass der Schuldner die Pflichtverletzung zu vertreten hat, und zwar solange er nicht zu seiner Entlastung das Gegenteil beweist (Satz 2). Eine unwiderlegliche Vermutung ist anders als die widerlegliche dem Gegenbeweis unzu-gänglich. Da § 1566 Abs. 2 BGB unwiderleglich vermutet, dass die Ehe gescheitert ist, wenn die Ehegatten seit drei Jahren getrennt leben, kommt es im Scheidungsprozess nicht mehr darauf an, ob einer der Ehegatten das Scheitern be-streitet und sogar Beweise dagegen liefern kann.

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c) Fiktionen

Auch die gesetzliche Fiktion enthält eine Unterstellung. Im Gegensatz zur Vermutung kann das, was fingiert wird, jedoch in Wahrheit niemals der Fall sein. § 142 Abs. 1 BGB bestimmt beispielsweise: „Wird ein anfechtbares Rechtsgeschäft angefochten, so ist es als von Anfang an nichtig anzusehen.“ Tatsächlich war das Geschäft aber zu Anfang wirksam, und daran lässt sich nachträglich auch nicht mehr rütteln. Wohl aber kann man so tun, als wäre es anders gewesen. Auch nach § 892 Abs. 1 S. 1 BGB soll etwas gelten, was gerade nicht der Fall ist: „Zugunsten desjenigen, wel-cher ein Recht an einem Grundstück … erwirbt, gilt der Inhalt des Grundbuchs als richtig, es sei denn, dass … die Unrichtigkeit dem Erwerber bekannt ist.“ Die Vorschrift setzt gedanklich voraus, dass der Inhalt des Grund-buchs unrichtig ist und erklärt diesen Inhalt gleichwohl zugunsten des gutgläubigen Erwerbers für richtig. Gesetzliche Fiktionen sind per se unwiderleglich, weil ihr Zweck ja gerade darin besteht, zu unterstellen, was nicht der Fall ist. Der Unterschied zur unwiderleglichen Vermutung liegt darin, dass das Vermutete tatsächlich gegeben sein kann, das Fingierte aber nicht. So mag die Ehe nach dreijährigem Getrenntleben tatsächlich gescheitert sein und die unwiderlegliche Vermutung des § 1566 Abs. 2 BGB nur enthalten, was ohnehin zutrifft (allerdings erst müh-sam bewiesen werden müsste). Es ist hingegen schlicht unmöglich, dass der unrichtige Inhalt des Grundbuchs richtig wäre.

d) Verweisungen

Verweisungen im Gesetz vermeiden platzraubende Wiederholungen. Sie können andere Vorschriften für entsprechend anwendbar erklären (so z.B. §§ 168 S. 3, 186, 200 S. 2, 312d Abs. 1 S. 1, 865, 948 Abs. 1, 1192 Abs. 1 BGB) oder auch nur hinsichtlich einzelner Tatbe-standsvoraussetzungen oder Rechtsfolgen auf andere Normen verweisen (so z.B. §§ 146 Alt. 2, 280 Abs. 2 und 3, 437 Nr. 1–3, 932 Abs. 1 S. 1 BGB). Der Übersichtlichkeit des Ge-setzes kommt die Verweisungstechnik nicht immer zugute.

3. Die Subsumtion

Die Subsumtion, also das Unterordnen des Sachverhalts unter den Tatbestand einer Rechts-norm, bildet den Kern der juristischen Tätigkeit. Der Rechtsanwender hat zu prüfen, ob das konkrete Geschehen von den abstrakt gehaltenen Voraussetzungen einer Regelung erfasst ist. Dieser Abgleich erweist sich als äußerst fehleranfällig. Im Gegensatz zum vierten Schritt der Rechtsfindung (oben IV.) vollzieht der Rechtsanwender nämlich bei der Subsumtion keinen einfachen logischen Schluss (der Tatbestand ist gegeben, also tritt die Rechtsfolge ein), son-dern einen semantischen Prozess. Im Rahmen dieses Vorgangs muss der Rechtsanwender die Bedeutung des gesetzlichen Tatbestandsmerkmals ergründen und entscheiden, ob das konkrete tatsächliche Geschehen die Wesenszüge aufweist, die das Gesetz in allgemeiner

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Form zu umschreiben sucht.10 Das erfordert wenig Nachdenken, wenn das Gesetz von einer „Person“ oder einem „anderen“ spricht und wir es mit der Studentin S, dem Großvater G oder dem Neugeborenen N zu tun haben. Ebenso wenig wird man problematisieren, ob ein Schuh, ein Apfel oder ein Hubschrauber eine „Sache“ im Sinne des Gesetzes ist. Aber die Angele-genheit wird schon weniger eindeutig, wenn die Frage zu beantworten ist, ob auch ein nasci-turus, also ein Kind im Mutterleib, oder ein Verstorbener eine „Person“ im Sinne des Geset-zes ist. Und wie sieht es mit einer auf DVD befindlichen Office-Software von Microsoft aus? Ist sie eine „Sache“ i.S. von § 90 BGB? Die DVD gewiss. Aber die darauf gespeicherte Soft-ware? Schwierigkeiten bereitet die Subsumtion insbesondere dann, wenn der allgemeine Begriff des Gesetzes (z.B. „Gebäude“ i.S. von § 94 BGB), unter den das Besondere des Sachverhalts (z.B. eine Windkraftanlage) gefasst werden soll, nicht klar umrissen ist: Ist eine Windkraft-anlage ein Gebäude? Noch schwieriger wird es, wenn das Gesetz einen gänzlich abstrakten Begriff verwendet (z.B. Verstoß gegen die „guten Sitten“ i.S. von § 138 Abs. 1 BGB) und der Rechtsanwender entscheiden muss, ob die Wesenszüge dieses Abstraktums sich in dem kon-kret zu Beurteilenden (z.B. die Gewähr eines Darlehens gegen einen Zinssatz von 20% p.a.) wiederfinden. Ersichtlich wäre die bloße Feststellung in einem Urteil, „die Vereinbarung ei-nes Darlehenszinssatzes von 20% p.a. ist sittenwidrig“, nichts als eine Behauptung, die von den Rechtsunterworfenen sofort und zu Recht mit der Frage „warum?“ gekontert würde. Um den allgemeinen Begriff des Gesetzes hier und in vielen anderen Fällen auf den Gegenstand der Entscheidung herunterzubrechen, bedarf es vielmehr einer mehr oder minder großen Zahl von Zwischenschritten, in deren Zentrum die Auslegung des Gesetzes steht (dazu sogleich unter V.).11

Die Subsumtion gibt – wenn nicht ausnahmsweise die herangezogene Rechtsnorm unwirk-sam, weil z.B. verfassungswidrig ist – den Ausgang des Rechtsstreits vor. Sobald nämlich festgestellt ist, dass der Sachverhalt die Tatbestandsvoraussetzungen einer Regelung erfüllt, ergibt sich die Rechtsfolge aus einem zwingenden, dem Rechtsanwender vorgegebenen logi-schen Schluss. Deshalb ist auf die Subsumtion besondere Sorgfalt zu verwenden und das Ergebnis des Abgleichs von Gesetz und Sachverhalt genau zu begründen: Dass sittenwidrige Geschäfte nach § 138 Abs. 1 BGB nichtig sind, können die Parteien im Zweifel selbst nachle-sen. Sie wollen vom Rechtsanwender erfahren und nachvollziehen, warum der von ihnen ver-einbarte Darlehenszinssatz von 20% p.a. gegen die guten Sitten verstößt oder nicht.

10 Anschaulich dazu, wie der Gesetzgeber einen konkreten Regelungsgegenstand durch Gesetz zunächst verall-

gemeinert und hernach der Rechtsanwender den allgemeinen Rechtssatz wieder auf den konkreten Fall über-tragen muss, Haft, Juristische Rhetorik, 4. Aufl. 1990, S. 83 ff.

11 Zur juristischen „Deduktion“ als keineswegs logische Reaktualisierung und Präzisierung von Begriffsinhal-ten Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 4. Aufl. 2002, Kap. 8 VI.

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V. Die Auslegung von Gesetzen

Die Entscheidung, ob ein konkreter Sachverhalt den abstrakten Vorgaben des Gesetzes unter-fällt, setzt voraus, dass man sich über die Bedeutung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale im Klaren ist. Das mag – wie unter IV. 3. schon angedeutet – in vielen Fällen selbstverständ-lich sein. Häufig genug lässt sich aber über die Bedeutung der gesetzlichen Begriffe trefflich streiten, und dann besteht die Aufgabe des Rechtsanwenders darin, die wahre, d.h. die recht-lich maßgebliche Bedeutung des fraglichen Begriffs herauszufinden. Diese Bedeutungsfin-dung, diese Interpretation des Gesetzes nennen wir Auslegung.

1. Das Ziel der Gesetzesauslegung

Seit jeher diskutiert man, ob das Ziel der Auslegung darin liegt, den Willen des Gesetzgebers zu erkennen, wie er bei Erlass des Gesetzes bestand bzw. heute entsprechend geäußert würde (subjektive Auslegung), oder ob es gilt, den Willen des Gesetzes freizulegen, also seine ob-jektive Bedeutung, die sich im Laufe der Zeit mit den gesellschaftlichen Bedingungen verän-dern kann (objektive Auslegung).12 Die Frage ist prekär, denn einerseits hat der Gesetzgeber, nicht der Rechtsanwender, die demokratische Legitimation zur Normsetzung inne, und es wird sich noch zeigen, dass das sog. „objektive“ Verständnis doch häufig in mehrere Rich-tungen weist und keine Gewähr dagegen bietet, dass sich die subjektive Rechtsauffassung des Urteilenden durchsetzt (dazu sogleich unter V. 2.). Andererseits darf es unter dem Gesichts-punkt der Normklarheit geradezu als Gebot gelten, das Gesetz objektiv auszulegen, weil sich andernfalls das Normverständnis der Rechtsunterworfenen mit zunehmendem Alter des Ge-setzes immer weiter von seiner eigentlichen, ursprünglichen Bedeutung entfernen würde. Letztlich geht es darum, ob der Gesetzgeber seine Werke kontinuierlich prüfen und anpassen muss oder ob er diese Aufgabe der Rechtsprechung und Rechtswissenschaft überlässt und erst einschreitet, wenn er – aus seiner Sicht – Fehlentwicklungen korrigieren will. Dem dynami-schen Charakter des Rechts wird der zweite Ansatz sicherlich eher gerecht.

2. Interpretation und Legitimation

Wegen der unvermeidlichen Unschärfe von Begriffen stellt die Auslegung keine exakte Me-thode zur Wahrheitsfindung dar: wo interpretiert wird, besteht immer auch ein Interpretati-onsspielraum. Die Deduktion von der allgemeinen Sprache des Gesetzes zum konkreten Vor-fall verliert umso mehr an zwingendem Charakter, je abstrakter ein Tatbestand formuliert ist. Das gilt in besonderem Maße für sog. Generalklauseln, wie sie beispielsweise die §§ 138,

12 Näher Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Aufl. 2006, § 4; Wank, Die Auslegung von Gesetzen,

3. Aufl. 2005, § 3.

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242, 307 und 826 BGB enthalten: sittenwidrig, Treu und Glauben, unangemessene Benachtei-ligung, wesentlicher Grundgedanke des Gesetzes. Beispiel 1: Wenn es in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) eines Mobilfunkdienstleisters heißt: „Ein Guthaben, dessen Übertragung auf das Guthabenkonto mehr als sechs Monate zurückliegt, verfällt, sofern es nicht durch eine weitere Aufladung, die binnen eines Monats nach Ablauf der sechs Monate erfolgen muss, wie-der nutzbar gemacht wird“, dann mag einem das Rechtsgefühl sagen, dass diese AGB-Klausel „nicht in Ord-nung“ ist. Ob sie im Streitfall aber tatsächlich keinen Bestand hat, muss der Rechtsanwender aus § 307 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB ableiten und dazu klären, ob der Verfall des Guthabens den Mobilfunkkunden treuwidrig unangemessen benachteiligt, weil ein solcher Verfall von wesentlichen Grundgedanken des Gesetzes in unver-einbarer Weise abweicht.13

Da Interpretation denknotwendig einen Interpretationsspielraum voraussetzt, liefert auch die sorgfältigste Auslegung kein absolut richtiges Ergebnis. Vielmehr erweitert sich die Band-breite möglicher Ergebnisse, je mehr Gründe für und wider eine bestimmte Auslegung sich finden. Die Rechtswissenschaft ist eben eine hermeneutische, also auf das Verstehen, Ausle-gen und Erklären (von Texten) angelegte Wissenschaft und keine Naturwissenschaft, deren Ergebnisse den Naturgesetzen folgen. Deshalb sprechen Juristen in streitigen Fragen häufig von „vertretbaren“ statt von „richtigen“ Ergebnissen. Das darf freilich nicht darüber hinweg-täuschen, dass es im Prozess kein Sowohl-als-auch geben kann: Das vom Gericht ausgespro-chene vertretbare Ergebnis ist in dem Sinne auch das „richtige“, als es Alleingültigkeit be-ansprucht. Die „richtige“ Entscheidung beruht also letztlich auf einer Wertung zugunsten der besseren, d.h. der überzeugenderen Gründe.14 Diese Wertung schafft ein Legitimationsproblem, da der Rechtsanwender (insbesondere der Richter) ja streng nach Theorie nicht seine eigene Auf-fassung, gar sein eigenes Gerechtigkeitsempfinden zur Grundlage seiner Entscheidung ma-chen darf. Der Konflikt zwischen dem Ziel einer objektiv-gesetzlichen Entscheidung und der Notwendigkeit einer subjektiven Interpretation lässt sich allerdings nicht endgültig lösen. Man kann nur versuchen, mit Hilfe der Methodik die Auslegung gewissen Regeln zu unter-werfen und damit die Entscheidungsfindung so weit wie möglich in rationale Bahnen zu len-ken. Ergebnis dieser methodischen Bemühungen sind vier anerkannte Auslegungskriterien:

(1) Wortlaut der Norm (grammatikalische Auslegung) (2) Regelungszusammenhang (systematische Auslegung) (3) Normgeschichte (historische oder genetische Auslegung) (4) Normzweck (teleologische Auslegung)

13 Vgl. OLG München, NJW 2006, 2416. 14 BVerfGE 82, 30, 38 f. = NJW 1990, 2457, 2458.

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Diese Kriterien gelten, wohlgemerkt, für die Auslegung von Gesetzen. Die Auslegung von Willenserklärungen und Verträgen folgt gem. §§ 133, 157 BGB anderen Regeln.15

3. Grammatikalische Auslegung (Wortlaut der Norm)

Die Auslegung einer gesetzlichen Vorschrift beginnt bei ihrem Wortlaut. Darunter fallen so-wohl der allgemein-sprachliche Wortsinn (was stellt sich der laienhafte Normadressat unter dem vom Gesetz verwendeten Begriff vor?) als auch die fachsprachliche Bedeutung (was sagt der Begriff einem Juristen?).

a) Vorrang des fachsprachlichen Wortsinns

Bevor man mit der Auslegung, speziell mit der grammatikalischen Auslegung beginnt, muss man sich vergewissern, ob nicht bereits ein fachsprachlicher Wortsinn besteht. Ist dies der Fall, dann hat die fachsprachliche Bedeutung Vorrang vor dem allgemein-sprachlichen Wortsinn. Das versteht sich geradezu von selbst, wenn das Gesetz selbst festlegt, was unter einem Begriff zu verstehen ist, ihn also legaldefiniert [dazu schon oben IV. 2. a)]: Fragt man drei Laien, was „unverzüglich“ bedeutet, mag man ganz verschiedene Antworten erhalten, etwa „sofort“, „umgehend“, oder „alsbald“. So ungefähr steht es auch im Wörterbuch. Das BGB aber will es anders und definiert „unverzüglich“ als „ohne schuldhaftes Zögern“ (§ 121 Abs. 1 S. 1 BGB). An diese Vorgabe hat sich der Rechtsanwender zu halten. Der Vorrang des fachsprachlichen Wortsinns gilt auch, wenn Rechtsprechung und Literatur einem gesetzlichen Begriff bereits ein genaueres Gepräge gegeben haben. Zum Beispiel: Beispiel 2: Verkehrswesentliche Eigenschaften einer Person oder Sache i.S.v. § 119 Abs. 2 BGB sind neben den auf der natürlichen Beschaffenheit beruhenden Merkmalen auch tatsächliche oder rechtliche Verhältnisse und Beziehungen zur Umwelt, soweit sie nach der Verkehrsanschauung für die Wertschätzung oder Verwendbarkeit von Bedeutung sind.16 Dem ähnlich umfasst der Begriff der „Beschaffenheit“ nach § 434 Abs. 1 BGB, der auf den Eigenschaftsbegriff des § 459 BGB a.F. zurückgeht, nicht nur physische Merkmale, sondern auch diejenigen tatsächlichen, wirtschaftlichen und rechtlichen Bezüge, die ihren Grund im tatsächlichen Zustand der Sache selbst haben und ihr auf eine gewisse Dauer anhaften.17 Der Verkäufer eines zur Bebauung erworbenen Grund-stücks wird also nicht damit gehört, das Grundstück sei von tadelloser Beschaffenheit, nämlich so groß wie an-gegeben, frei von Altlasten etc., wenn es aufgrund nachbarschützender Vorschriften unbebaubar ist. Beispiel 3: Da eine „Leistung“ gem. § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB nach allgemeiner (juristischer) Ansicht eine bewusste und zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens erfordert, liegen die Voraussetzungen dieses Be-reicherungsanspruchs nicht vor, wenn ein Bauer nicht nur auf seinem eigenen, sondern versehentlich auch auf

15 Vgl. dazu das Skript „Allgemeine Rechtsgeschäftslehre“ unter G. II. 16 Palandt/Heinrichs, BGB, 67. Aufl. 2008, § 119 Rdnr. 24 m.w.N. 17 Palandt/Putzo (Fn. 16), § 434 Rdnr. 10 f. m.w.N.

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Teilen des Nachbarfeldes Saatgut ausbringt (obwohl ja der Bauer, allgemein-sprachlich, sicher eine Leistung erbracht hat).18

Zur Auslegung einer Norm sieht man sich also vor allem dann gezwungen, wenn ein Begriff fachsprachlich nicht oder nicht hinreichend umrissen ist oder man es für angezeigt hält, von der hergebrachten Auslegung abzuweichen. Solche Abweichungen sind aus methodischer Sicht nicht zu beanstanden, denn Bindungswirkung entfaltet nur das Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG), nicht aber das von einem Gericht gefundene Auslegungsergebnis (Ausnahme in der Verfassungsgerichtsbarkeit: Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG i.V.m. § 31 BVerfGG). Zur Begründung der abweichenden Auslegung mag der Rechtsanwender dann auch wieder auf den allgemein-sprachlichen Wortsinn zurückgreifen.

b) Ermittlung des juristischen Wortsinns

Die Ermittlung des fachsprachlichen Wortsinns beginnt bei der allgemein-sprachlichen Wort-bedeutung und versucht, deren Unschärfen durch Bildung von Extremfällen und durch Fall-vergleiche zu beseitigen. Es handelt sich um einen Näherungsprozess, und Jurastudierende werden im Laufe ihrer Ausbildung noch viele Beispiele dafür kennenlernen, wie Rechtspre-chung und Literatur einzelne Begriffe im Laufe der Zeit, angeregt durch neue Fallkonstellati-onen, präzisiert haben. Ein auch für Anfänger verständliches Beispiel soll diese Annäherung verdeutlichen: Beispiel 4: Nach § 94 Abs. 1 S. 1 BGB gehören zu den wesentlichen Bestandteilen eines Grundstücks die mit dem Grund und Boden fest verbundenen Sachen, insbesondere Gebäude. Was das Gesetz unter einem „Gebäu-de“ versteht, verrät es uns nicht, so dass der Rechtsanwender den Inhalt dieses Begriffs klären muss, bevor er die Entscheidung trifft, ob auch eine Windkraftanlage darunter fällt (vgl. oben IV. 3.).19 Niemand wird bestreiten, dass ein Haus ein Gebäude ist, gleichviel, ob es sich um ein Wohn- oder Geschäftshaus handelt. Auch eine Fa-brikhalle wird man allgemein als Gebäude bezeichnen (= eindeutige positive Fälle). Das Gegenteil gilt für eine Hundehütte, selbst wenn sie aus Stein gemauert ist, und auch, wer sein Grundstück rundherum mit einer 10 Me-ter hohen Mauer versieht, verärgert vielleicht die Nachbarn, hat aber noch kein Gebäude errichtet (= eindeutige negative Fälle). Eine fertiggestellte Brücke ist wie ein Haus ein Bauwerk, aber eben doch kein Gebäude (= Abgrenzung zu verwandten Begriffen). Unter einem Gebäude verstehen wir vielmehr solche Bauwerke, die einen Raum umschließen, Schutz für Mensch, Tier und Sachen bieten und von Menschen betreten werden kön-nen (= Wesensmerkmale eines Gebäudes). Deshalb fällt die Hundehütte heraus, nicht aber ein Stall oder eine Gerätehütte auf der Alm.

18 Zugunsten des Bauers kommt aber ein Anspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB in Betracht: „in sonstiger

Weise“. 19 Zwar definiert § 2 Abs. 2 der Landesbauordnung Baden-Württemberg (LBO-BW) Gebäude als „selbständig

benutzbare, überdeckte bauliche Anlagen, die von Menschen betreten werden können und geeignet sind, dem Schutz von Menschen, Tieren oder Sachen zu dienen.“ Diese landesgesetzliche Regelung kann aber nicht ü-ber die Auslegung des BGB – eines Bundesgesetzes – entscheiden (Art. 31 GG: Bundesrecht bricht Landes-recht.)

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Auf Basis dieser Wesensmerkmale muss der Rechtsanwender nun entscheiden, ob eine Wind-kraftanlage unter den Begriff des Gebäudes fällt. Das ist weniger eine Frage der Auslegung denn der Subsumtion: Hält man eine Windkraftanlage für eine moderne Windmühle (= Gebäude) oder doch nur für eine Maschine auf einem Stahlträger (= kein Gebäude)? Je abstrakter der zu definierende Rechtsbegriff ist, desto schwieriger gestaltet sich der darge-stellte Näherungsprozess; Abstrakta liefern uns ja gerade keine Anschauung. Wir müssen uns also erst konkrete Situationen ausdenken, die unter den abstrakten Begriff fallen, um dann deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu ergründen. Auch dazu ein Beispiel: Beispiel 5: § 130 Abs. 1 S. 1 BGB bestimmt: „Eine Willenserklärung, die einem anderen gegenüber abzugeben ist, wird, wenn sie in dessen Abwesenheit abgegeben wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in welchem sie ihm zu-geht.“ – Nun gut, aber wann ist etwas „zugegangen“? Auch hier bietet es sich an, sich dem Begriff über Extrem-fälle zu nähern: Denken wir an einen Brief, dann ist er sicher zugegangen, wenn der Empfänger ihn gelesen hat. Ebenso gewiss kann von „Zugang“ keine Rede sein, wenn der Absender den Brief zwar schon geschrieben, aber noch nicht einmal zur Post gegeben hat. Solange sich der Brief noch in den Händen des Absenders befindet, vermag der Empfänger ihn nicht zu lesen, selbst wenn er wollte. Gleiches gilt, solange sich der Brief noch auf dem Postweg befindet. Für den Zugang brauchen wir also vom Wortlaut her mindestens eine Übergabe der Er-klärung vom Absender an den Empfänger. Ob dazu genügt, dass die Erklärung so in den Machtbereich des Emp-fängers gelangt, dass unter gewöhnlichen Umständen mit seiner Kenntnisnahme zu rechnen ist20 oder ob wir auf der tatsächlichen Lektüre bestehen wollen, ist dann nicht mehr Gegenstand der grammatikalischen Auslegung, sondern der systematischen und teleologischen, weil es insoweit um die wertende Frage geht, wem das Gesetz das Risiko zuordnet, dass der Empfänger seinen Briefkasten nicht täglich leert oder den Brief zunächst beiseite legt und später vergisst. An ihre Grenzen stößt die grammatikalische Auslegung bei Generalklauseln (dazu schon oben IV. 3. und V. 2.). Dass ein Rechtsgeschäft nach allgemeiner Ansicht dann i.S. von § 138 Abs. 1 BGB gegen die guten Sitten verstößt, wenn es mit dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden unvereinbar ist,21 hilft für die Frage, ob ein Darlehenszinssatz von 20% p.a. den Tatbestand des § 138 BGB erfüllt, nicht wirklich weiter. Hier muss der Rechtsan-wender sich damit behelfen, auf die Situation (Darlehensvergabe) zu schauen, und für diesen Falltypus überlegen, was üblichem Brauch entspricht und was niemand mehr ohne Not hin-nähme. Ersichtlich spielen insoweit gesellschaftliche Bedingungen und Veränderungen eine große Rolle, und deshalb kann der Inhalt von Generalklauseln – unabhängig von ihrem Wort-laut – in besonderem Maße dem Wandel unterworfen sein. So würde es heutzutage wohl niemand mehr als unerträglich empfinden, wenn ein unverheiratetes Paar gemeinsam eine Wohnung oder im Urlaub ein Doppelzimmer anmietet.22 An der wenig aussagekräftigen juris-tischen Definition der Sittenwidrigkeit hat sich gleichwohl nichts geändert. Das Recht der Generalklauseln stützt sich im Wesentlichen auf die Entwicklung und Präzisierung von Fall-gruppen.

20 So die ganz h.M.; vgl. nur Palandt/Heinrichs (Fn. 16), § 130 Rdnr. 5. 21 Palandt/Heinrichs (Fn. 16), § 138 Rdnr. 2 m.w.N. 22 So aber noch AG Emden, NJW 1975, 1363.

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c) Wortlaut als Grenze der Auslegung

Studierende sollten sich merken, dass die Auslegung ihre Grenze am Wortlaut der Vorschrift findet. Man hat sich also davor zu hüten, mit Hilfe der weiteren Auslegungskriterien (dazu sogleich unter V. 4. bis 6.) Äpfel für Birnen zu verkaufen. Die Rechtsunterworfenen sollen ja durch einen Blick ins Gesetz wenigstens eine vage Ahnung davon bekommen, was zulässig ist und was nicht und wer welche Rechte hat und wer nicht. Das Dogma der Wortlautgrenze ist allerdings nicht unproblematisch.23 Wenn es nämlich bei der Auslegung darum geht, die Bedeutung des Gesetzes, also den fachsprachlichen Sinn zu ermitteln, dann stellt sich ja gera-de die Frage, wie weit der Wortlaut reicht. Die Wortlautgrenze ergibt sich daher, genau ge-nommen, erst durch Auslegung. Gleichwohl: wer – wir schreiben das Jahr 1935 – entgegen dem eindeutigen Wortlaut des § 1 BGB die Rechtsfähigkeit nicht jedem Menschen, sondern nur dem „Volksgenossen deutschen Blutes“ zugesteht,24 hört auf, das Gesetz zu interpretieren und ersetzt es durch andere Begriffe und deren Inhalte. Das verbietet sich nicht nur an der Universität.

4. Systematische Auslegung (Regelungszusammenhang)

Das Gesetz selbst kann nicht nur durch seinen Wortlaut, sondern auch durch seinen Aufbau Auskunft über den Inhalt einer Vorschrift geben. So, wie im allgemeinen Sprachgebrauch ein und derselbe Begriff je nach Kontext eine unterschiedliche Bedeutung haben kann (z.B. „Glas“: Trinkgefäß oder Werkstoff), so kann sich auch das richtige Verständnis einer Norm aus dem Regelungszusammenhang ergeben, in dem sie steht. Der Radius, innerhalb dessen eine Regelung auf ihr Verhältnis zu anderen gesetzlichen Vorschriften geprüft wird, erstreckt sich vom inneren Aufbau der fraglichen Regelung über ihre Überschrift, über benachbarte Vorschriften, über die Stellung der Norm in dem jeweiligen Gesetz bis hin zu ihrer Position in der gesamten Rechtsordnung. So sollen innerhalb des Gesetzes sowie zwischen den einzelnen Rechtsgebieten Widersprüche vermieden werden. Dazu eine Reihe von Beispielen: Beispiel 6: Schadensersatz nach § 823 Abs. 1 BGB schuldet, wer „... das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen ... verletzt“. Was ist ein „sonstiges Recht“ in die-sem Sinne? Betrachten wir die in § 823 Abs. 1 BGB ausdrücklich benannten Rechtsgüter, stellen wir fest, dass diese ausnahmslos absolut geschützt sind, also gegenüber jedermann Geltung beanspruchen. Als sonstige Rechte i.S.v. § 823 Abs. 1 BGB kommen deshalb ebenfalls nur absolut geschützte Rechtsgüter, wie z.B. das allgemeine Persönlichkeitsrecht, nicht aber bloß relative Rechte, wie z.B. Forderungen, in Betracht. Beispiel 7: § 985 BGB verpflichtet den Besitzer einer Sache, sie an den Eigentümer herauszugeben. Als Vermie-ter V davon erfährt, hält er prompt seinem missliebigen Mieter M das BGB hin und fordert ihn auf, die Wohnung

23 Kritisch dazu Wank (Fn. 12), § 5 I 2. 24 So Larenz, in: ders. (Hrsg.)., Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, 1935, S. 225, 241 ff.

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sofort zu räumen und herauszugeben. M liest aber etwas weiter und findet in § 986 Abs. 1 S. 1 BGB den Satz: „Der Besitzer kann die Herausgabe der Sache verweigern, wenn er ... dem Eigentümer gegenüber zum Besitz berechtigt ist.“ Mit Recht schließt M daraus, dass er V keine Herausgabe schuldet, weil § 985 BGB mit Blick auf den folgenden § 986 BGB nur den unrechtmäßigen Besitzer meint, M jedoch aufgrund des Mietvertrags zum Besitz der Wohnung berechtigt ist. Beispiel 8: Die §§ 676a–c BGB behandeln den Überweisungsvertrag. Sie stellen allerlei Pflichten der überwei-senden Bank auf, sagen jedoch nichts darüber, woher die Bank den Überweisungsbetrag erhält. Hier hilft ein Blick in die amtliche Überschrift des Gesetzes: Der Überweisungsvertrag findet sich im Untertitel über den Geschäftsbesorgungsvertrag (vor § 675 BGB), woraus wir schließen dürfen, dass das Recht der Geschäftsbesor-gung insoweit Anwendung findet, als die §§ 676a–c BGB nichts Spezielles regeln. Da die Überweisungsregeln gerade nichts zum Anspruch der überweisenden Bank gegen ihren Kunden sagen, gelangen wir über die in § 675 Abs. 1 enthaltene Verweisung zu § 669 BGB und finden dort einen Anspruch der Bank (Auftragnehmer) auf Vorschussleistung, den sie durch Belastung des Kontos des Kunden (Auftraggeber) geltend machen kann. Beispiel 9: Eine abschließende speziellere Regelung (lex specialis) enthält die Verjährungsvorschrift des § 438 BGB im Verhältnis zur regelmäßigen Verjährung nach § 195 BGB. Die in § 437 BGB genannten Gewährleis-tungsansprüche wegen Sachmängeln bestehen beim einfachen Kauf gem. § 438 Abs. 1 Nr. 3 BGB nur für die Dauer von zwei Jahren ab Ablieferung der Kaufsache. Diese Entscheidung des Gesetzgebers darf nicht dadurch unterwandert werden, dass man im dritten Jahr auf die – vom Wortlaut her einschlägigen – allgemeinen Vor-schriften der §§ 280 ff., 323 ff. und 195 BGB zurückgreift. Beispiel 10: § 312d Abs. 1 S. 1 BGB gewährt dem Verbraucher bei Fernabsatzgeschäften, z.B. einem Kauf bei einem Internet-Händler, ein Widerrufsrecht nach § 355 BGB. Das Widerrufsrecht besteht allerdings gem. § 312d Abs. 4 Nr. 5 BGB nicht, wenn der Vertrag im Rahmen einer Versteigerung (§ 156 BGB) zustande gekommen ist. Ob der Begriff der Versteigerung auch solche Vertriebsformen erfasst, bei denen der Vertragsschluss nicht durch den Zuschlag eines Auktionators, sondern automatisch durch Zeitablauf an den Letztbietenden erfolgt (wie z.B. bei eBay), ist unter systematischen Gesichtspunkten rasch beantwortet: Gesetzliche Ausnahmeregelungen sind im Zweifel eng auszulegen, da sie von der Grundwertung des Gesetzgebers abweichen und das Regel-Ausnahme-Verhältnis zeigt, welcher Entscheidung regelmäßig der Vorzug zu geben ist. Im Einzelfall mag es allerdings nicht leicht sein festzustellen, ob eine gesetzliche Regelung Ausnahmecharakter hat oder sie einen allgemeinen Rechtsgedanken enthält.25

Beispiel 11: Die Schadensersatzpflicht aus § 826 BGB setzt voraus, dass jemand in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem anderen vorsätzlich Schaden zufügt. Zur Beantwortung der Frage, wann und ob der Schädiger vorsätzlich handelt, kann auf die im Strafrecht entwickelten Grundsätze zurückgegriffen werden, so z.B. zur Abgrenzung von bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit26 (Einheit der Rechtsordnung). Mit der systematischen Auslegung verwandt sind die verfassungskonforme und die richtli-nienkonforme Auslegung (dazu unten V. 8.). Auch diese Auslegungsarten sollen Widersprü-che zwischen verschiedenen Normen vermeiden. Während jedoch die systematische Ausle-gung gleichrangige gesetzliche Vorschriften in Übereinstimmung zu bringen sucht und des-halb in die eine oder andere Richtung ausfallen kann, ist die verfassungs- oder europarechts-konforme Auslegung Ausfluss der Normenhierarchie: Dem höherrangigen Recht muss, wenn irgend möglich, zur Geltung verholfen werden.

25 Vgl. zu § 392 Abs. 2 HGB Bitter, Rechtsträgerschaft für fremde Rechnung, 2006, S. 189 ff. 26 Vgl. BGHZ 173, 246 = NJW 2007, 2689 – Trihotel (Tz. 30 f.).

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5. Historische Auslegung (Normgeschichte)

Die Normgeschichte stellt eine außerhalb des Gesetzestextes liegende Erkenntnisquelle dar. Sie umfasst die Vorgeschichte der Norm, ihre eigentliche Entstehung im Gesetzgebungs-verfahren sowie ggf. die von der Vorschrift genommene Entwicklungsgeschichte. Zur Vorge-schichte zählt insbesondere der Anlass für die Normierung oder die Änderung einer bereits bestehenden Norm. Der Anlass wird sich häufig auch in den Materialien zur Entstehungsge-schichte wiederfinden, z.B. in einer Begründung zum Gesetzesentwurf. Diese Materialien (Referentenentwürfe, Regierungsentwürfe, Beschlussempfehlungen der Ausschüsse in Bun-destag und Bundesrat, Protokolle der Plenarsitzungen) geben vielfach Aufschluss darüber, welchen Zweck der Gesetzgeber mit der Regelung verfolgen, zum Teil sogar, wie er einzelne Tatbestandsvoraussetzungen verstanden haben wollte. Beispiel 12: Während früher das Sachmängelgewährleistungsrecht an den Begriff der „Eigenschaft“ anknüpfte (§ 459 Abs. 2 BGB a.F.), spricht das Gesetz seit dem 1. 1. 2002 von „Beschaffenheit“ (§ 434 BGB). Eine inhalt-liche Änderung war damit nicht beabsichtigt, so dass zur Auslegung des Beschaffenheitsbegriffs auf die Recht-sprechung zum Eigenschaftsbegriff Bezug genommen werden kann. Wer einer subjektiven Auslegungstheorie (oben V. 1.) anhängt, muss die Stellungnahmen des Gesetzgebers für verbindlich erachten, wobei man nicht übersehen darf, dass es das Parlament ist, das die Gesetze erlässt, nicht die Regierung. Ein verobjektiviertes Normverständnis hingegen kann sich von der Gesetzesbegründung lösen, wenn der Wille des Gesetzgebers im Gesetz selbst keinen entsprechenden Widerklang findet oder durch gesellschaftliche Ände-rungen (Wandel der Normsituation) überholt ist. In der Praxis verfolgt man meist einen prag-matischen Ansatz: Stützen die Gesetzesmaterialien das objektive Normverständnis, werden sie zum Beleg herangezogen. Beispiel 13: Mit der Reichweite des Versteigerungsbegriffs in § 312d Abs. 4 Nr. 5 BGB (dazu schon Beispiel 10) hat sich der Gesetzgeber ausführlich beschäftigt. Während der ursprüngliche Regierungsentwurf noch keine Bezugnahme auf § 156 BGB enthielt, empfahl der Rechtsausschuss eine Ausdehnung des Verbraucherschutzes, im Ergebnis also eine Begrenzung der Ausnahmevorschrift des § 312d Abs. 4 Nr. 5 BGB. Daraus, dass der Ge-setzgeber dieser Beschlussempfehlung gefolgt ist, lässt sich schließen, dass nur bei Versteigerungen im Rechts-sinne das Widerrufsrecht ausgeschlossen sein soll.27

Lässt sich der Wille des Gesetzgebers hingegen mit dem übrigen Auslegungsergebnis nicht in Einklang bringen, gibt man – bei gewichtigen Gründen – Letzterem den Vorzug.28 Schwierig wird es allerdings, wenn sich der Wille des Gesetzgebers nicht nur in den Materialien, son-dern auch im Wortlaut der Regelung eindeutig niedergeschlagen hat; dann sieht sich auch die Rechtsprechung gebunden: 27 BGH, NJW 2005, 53, 55. 28 Dazu Foerste, JZ 2007, 124 ff.

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Beispiel 14: Im Zuge der Umsetzung der EG-Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie hat sich der deutsche Gesetzgeber ausdrücklich für eine Pflicht des Verbrauchers ausgesprochen, bei der Neulieferung Wertersatz für die Nutzung der zuerst gelieferten, mangelhaften Sache an den Verkäufer zu leisten (§ 439 Abs. 4 i.V.m. § 346 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB).29 Die dieser Entscheidung zugrundeliegenden Erwägungen hält der BGH allerdings für zweifel-haft,30 und auch der EuGH teilt sie nicht [zu den europarechtlichen Bezügen unten V. 8. b)].31 Gleichwohl hat sich der BGH bislang nicht dazu durchringen können, dem Verkäufer den Nutzungsersatzanspruch zu versagen, weil der Wille des Gesetzgebers sowie der Wortlaut des Gesetzes insoweit eindeutig sind.32

Der späteren Entwicklungsgeschichte, vor allem der Rechtsprechung zu einer Norm, kommt erhebliche Bedeutung zu, weil nicht nur die Norm die auf ihrer Grundlage ergehenden Ent-scheidungen bedingt, sondern auch jedes Urteil wiederum auf das Verständnis der Norm zu-rückwirkt. Insbesondere bei der Konkretisierung von Generalklauseln kann eine Darstellung der Normentwicklung dem Eindruck des Rechtsunterworfenen vorbeugen, die Entscheidung gegen ihn käme gleichsam aus dem Nichts.

6. Teleologische Auslegung (Normzweck)

Im Rahmen der teleologischen Auslegung ermittelt der Rechtsanwender den Zweck einer Vorschrift und legt seiner Entscheidung das Normverständnis zugrunde, das diesen Zweck bestmöglich verwirklicht. Dabei kann es sich um einen konkreten Gesetzeszweck, z.B. Verbraucherschutz, oder um ein allgemeines gesetzliches Anliegen wie Effektivität, Prakti-kabilität und Gerechtigkeit handeln. Beispiel 15: Nach §§ 766 S. 1, 126 Abs. 1, 125 S. 1 BGB ist eine Bürgschaft nur bei schriftlicher Erteilung wirk-sam. Der Zweck dieser Vorschrift, den Bürgen zu größerer Vorsicht anzuhalten und ihn vor der übereilten Über-nahme von Haftungsrisiken zu schützen, gebietet eine formstrenge Auslegung des Schriftformerfordernisses. Deshalb genügt weder eine per Telefax erklärte Bürgschaft33 noch eine eigenhändig unterschriebene Blanko-bürgschaft, in die ein anderer die Bürgschaftssumme eintragen darf.34

Beispiel 16: Bei Fernabsatzverträgen steht dem Verbraucher kein Widerrufsrecht gem. §§ 312d Abs. 1 S. 1, 355 Abs. 1 S. 1 BGB zu, wenn die Verträge in der Form von Versteigerungen (§ 156 BGB) geschlossen werden (§ 312d Abs. 4 Nr. 5 BGB; dazu schon Beispiele 10 und 13). Gilt diese Ausnahme auch für Internet-Auktionen, bei denen kein Zuschlag durch einen Auktionator erfolgt, sondern der Vertrag nach Ablauf der Bieterfrist auto-matisch mit dem Letztbietenden zustande kommt (wie z.B. bei eBay)? Der Normzweck spricht dagegen: Das gesetzliche Widerrufsrecht soll den Verbraucher vor den Risiken von Fernabsatzgeschäften schützen, bei denen er die Ware vor Vertragsschluss in der Regel nicht hat in Augenschein nehmen können. Ein solches Schutzbe- 29 BT-Drs. 14/6040, S. 232 f.; dazu BGH, NJW 2006, 3200 (Tz. 13 ff.). 30 BGH, NJW 2006, 3200 (Tz. 23 f.). 31 EuGH, NJW 2008, 1433 – Quelle. 32 BGH, NJW 2006, 3200 (Tz. 12, 15) im Anschluss an BVerfGE 101, 312, 319 = NJW 2000, 347, 349; die

abschließende Entscheidung des BGH in dem Verfahren steht noch aus. 33 BGHZ 121, 224, 229 f. = NJW 1993, 1126, 1127. 34 BGHZ 132, 119, 122 f. = NJW 1996, 1467, 1468.

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dürfnis besteht auch bei Internet-Auktionen.35 Eine andere Frage bleibt, warum der Gesetzgeber Internet-Versteigerungen, die den Voraussetzungen des § 156 BGB entsprechen, privilegiert, indem er insoweit dem Vertriebsinteresse Vorrang vor dem Verbraucherschutz gewährt. Beispiel 17: Zum Sachmängelgewährleistungsrecht beim Verbrauchsgüterkauf bestimmt § 476 BGB: „Zeigt sich innerhalb von sechs Monaten seit Gefahrübergang ein Sachmangel, so wird vermutet, dass die Sache bereits bei Gefahrübergang mangelhaft war, es sei denn, diese Vermutung ist mit der Art der Sache oder des Mangels un-vereinbar.“ Die Vorschrift soll dem kaufenden Verbraucher den oftmals schwierigen, wenn nicht unmöglichen Nachweis ersparen, dass der Sachmangel bereits bei Lieferung der Sache vorlag. Aber greift die Vermutung des § 476 BGB auch, wenn der Mangel, z.B. ein Motorschaden an einem Pkw, unstreitig erst nachträglich aufgetre-ten ist, dieser Mangel aber möglicherweise auf einem weiteren (potenziellen Grund-)Mangel beruht, z.B. einem lockeren Zahnriemen? Wer mit dem vom Gesetz bezweckten Verbraucherschutz ernst macht, muss die Frage bejahen.36 Denn der Nachweis, worauf der Motorschaden beruht, ist für den Verbraucher kaum weniger schwie-rig als der Nachweis, dass dieser Mangel schon bei Gefahrübergang bestand. Vielfach enthalten die Gesetzesmaterialien Angaben zum Gesetzeszweck. Daneben können sich aber auch aus dem Gesetz selbst ungeschriebene Ziele ergeben. Wer nicht einer subjekti-ven Auslegungstheorie folgt, wird diese objektiven Zwecke in die Auslegung einbeziehen und ihnen im Einzelfall sogar Vorrang einräumen (vgl. oben V. 5.). In den Worten des Bun-desverfassungsgerichts: „Das Gesetz kann eben klüger sein als die Väter des Gesetzes.“37

a) Teleologische Reduktion

Einen wichtigen Unterfall der teleologischen Auslegung bildet die teleologische Reduktion (einschränkende Auslegung). Durch teleologische Reduktion wird ein vom Wortlaut erfasster Fall aus dem Anwendungsbereich der Norm herausgenommen, weil er kein entsprechendes Regelungsbedürfnis auslöst. Beispiel 18: Nach § 828 Abs. 2 S. 1 BGB ist, wer das siebente, aber nicht das zehnte Lebensjahr vollendet hat, für einen Schaden, den er bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug … einem anderen zufügt, nicht verantwort-lich. Die Regelung bezweckt eine Privilegierung Minderjähriger im motorisierten Verkehr. Dem Wortlaut nach wird ein Neunjähriger, der mit seinem Kickboard ein parkendes Auto rammt und beschädigt, von der Vorschrift erfasst. Dem Zweck von § 828 Abs. 2 S. 1 BGB entspricht dieses Ergebnis jedoch nicht: Der Schaden erweist sich nicht als Folge einer typischen Überforderungssituation des Kindes aufgrund der spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs. § 828 Abs. 2 S. 1 BGB ist vielmehr dahin teleologisch zu reduzieren, dass der Schaden auf einem Unfall im fließenden Verkehr beruhen muss.38 Dem Neunjährigen kommt in dieser Situation das Haf-tungsprivileg also nicht zugute.

35 BGH, NJW 2005, 53 m. Anm. Mankowski, JZ 2005, 444. 36 Vgl. St. Lorenz, NJW 2004, 3021 gegen BGHZ 159, 215 = NJW 2004, 2299 (Zahnriemen); dazu auch BGH,

NJW 2005, 3490 (Karosserieverformung) und BGH, NJW 2007, 2621 (Zylinderkopfdichtung) m. Anm. Gsell, JZ 2008, 29.

37 BVerfGE 36, 342, 362 = NJW 1974, 1181, 1182; dazu Foerste, JZ 2007, 124. 38 BGHZ 161, 180 = NJW 2005, 354.

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b) Teleologische Extension

Umgekehrt wird bei der teleologischen Extension (erweiternde Auslegung) der Wortlaut so weit verstanden, dass auch solche Fälle erfasst werden, die bei engem Verständnis nicht dar-unter fallen würden, für die aber ein entsprechendes Regelungsbedürfnis besteht. Beispiel 19: Als zur Anfechtung einer Willenserklärung berechtigender Irrtum gilt nach § 119 Abs. 2 BGB auch der Irrtum über solche Eigenschaften einer Person oder Sache, die im Verkehr als wesentlich angesehen werden. Obwohl § 90 BGB nur körperliche Gegenstände als Sachen definiert, findet § 119 Abs. 2 BGB in erweiternder Auslegung auf sämtliche Arten von Gegenständen Anwendung, über die ein Rechtsgeschäft abgeschlossen wor-den ist:39 Über den Wortlaut des § 90 BGB hinaus lassen sich auch nicht-körperliche Gegenstände, insbesondere Rechte, im weitesten Sinne als Sachen bezeichnen, und das Bedürfnis des Irrenden, sich von dem irrtumsbehaf-teten Geschäft zu lösen, ist in diesen Fällen nicht geringer. Deshalb kann, wer beispielsweise eine Forderung in der Meinung ankauft, sie sei durch eine Bürgschaft gesichert, den Forderungskauf anfechten, wenn die Bürg-schaft in Wahrheit gar nicht besteht.40

Die Nähe der teleologischen Extension zur analogen Anwendung einer Vorschrift (dazu unten VI. 6.) ist nicht zu verkennen. Die Abgrenzung zwischen diesen beiden Instrumenten richtet sich letztlich danach, wie weit man im Einzelfall meint, den Wortlaut dehnen zu können, ohne dass dem Begriff ein anderer Sinn unterlegt wird. Im Zweifel ist die Analogie der methodisch ehrlichere Weg.

7. Verhältnis der Auslegungskriterien zueinander

Die vier anerkannten Auslegungskriterien bauen aufeinander auf, sind allerdings in ihrer Gesamtheit zu würdigen. Es genügt also nicht festzustellen, dass der Wortlaut eine bestimm-te Auslegung deckt oder dass der Regelungszweck dieses oder jenes Verständnis verlangt. Vielmehr sind die Ergebnisse der grammatischen, der systematischen, der historischen und der teleologischen Auslegung zueinander in Beziehung zu setzen. Die Beispiele oben V. 4. bis 6. zeigen, dass die einzelnen Auslegungskriterien durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können. So mag eine Vorschrift ihrem Wortlaut nach weiter reichen, als dies dem Re-gelungszusammenhang oder dem Normzweck entspräche (vgl. Beispiel 7 zu § 985 BGB und Beispiel 18 zu § 828 Abs. 2 BGB). Dann wieder gebieten Normgeschichte und -zweck ein Begriffsverständnis, das den üblichen Sprachgebrauch übersteigt (vgl. Beispiele 2, 12 und 19 zu §§ 119 und 434 BGB. Der Normzweck kann hinter systematische und historische Argu-mente zurückstehen (Beispiele 10, 13 und 16 zu § 312d Abs. 4 BGB). Schließlich lässt sich auch ein sinnwidriges Ergebnis nicht gegen den eindeutigen Wortlaut und Willen des Gesetz-gebers korrigieren (Beispiel 14 zu § 439 Abs. 4 BGB). Es sind deshalb nicht nur stets alle Auslegungskriterien heranzuziehen, es gibt auch keine feste Regel, welches Kriterium bei widersprüchlichen Ergebnissen den Vorrang verdient. Zwei Leitlinien lassen sich aller- 39 BGH, WM 1963, 252. 40 Vgl. BGH, WM 1963, 252, 253.

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dings angeben: Der Regelungsaufgabe des Gesetzes trägt man im Zweifel dadurch am meis-ten Rechnung, dass man dem Normzweck den entscheidenden Ausschlag zumisst. Auch die zweckgerichtete Auslegung findet indes ihre Grenze am eindeutigen, vom Gesetzgeber be-wusst gewählten Wortlaut.

8. Verfassungskonforme und richtlinienkonforme Auslegung

Die Auslegung einfachgesetzlicher Normen, zu denen sämtliche Vorschriften des deutschen Zivilrechts zählen, kann auch durch höherrangiges Recht, also durch Verfassungsrecht oder Europarecht beeinflusst werden. Um den Vorgaben der Verfassung oder des europäischen Rechts Geltung zu verschaffen, müssen die einfachen Gesetze so weit wie möglich im Sin-ne des höherrangigen Rechts ausgelegt werden. Man spricht dann von verfassungskonfor-mer oder, wenn die deutsche Norm der Umsetzung europäischer Richtlinien dient, von richt-linienkonformer Auslegung.

a) Verfassungskonforme Auslegung

Die verfassungskonforme Auslegung dient dazu, die Wertentscheidungen des Grundgesetzes in das einfache Recht, hier das Zivilrecht, zu übertragen. Beispiel 20: Ob die Pflicht des Vermieters aus § 535 Abs. 1 S. 2 BGB, dem Mieter die Mietsache in einem zum vertragsgemäßen Gebrauch geeigneten Zustand zu überlassen, auch bedeutet, das Anbringen einer Parabolan-tennne an der Hauswand dulden zu müssen, würde man mit Blick auf den dadurch entstehenden Schaden am Haus wohl eher verneinen. In der Normenhierachie steht das BGB als einfaches Bundesgesetz aber unter dem Grundgesetz, und dieses garantiert dem Bürger – gegenüber dem Staat – das Recht auf freien Zugang zu öffent-lichen Informationsquellen, wozu für ausländische Mieter auch der Empfang von Fernsehprogrammen aus ihrem Heimatland zählt (Art. 5 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 GG). Damit der Bürger als Mieter dieses Recht überhaupt ausüben kann, muss er eine Parabolantenne installieren dürfen, und so zwingt die verfassungskonforme Auslegung des § 535 Abs. 1 S. 2 BGB den Vermieter dazu, die Antenne zu dulden.41

Sieht sich das Gericht, das die einfachgesetzliche Norm anzuwenden hat, an einer verfas-sungskonformen Auslegung gehindert, weil beispielsweise ein eindeutiger Wortlaut keinen Raum für ein grundrechtsfreundliches Verständnis lässt, dann darf es die Vorschrift nicht an-wenden, sondern muss sie nach Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht zur Ent-scheidung über die Gültigkeit vorlegen (sog. konkrete Normenkontrolle).

41 BGH, NJW 2006, 1062 im Anschluss an BVerfGE 90, 27 = NJW 1994, 1147 und BVerfG, NJW-RR 2005,

661.

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b) Richtlinienkonforme Auslegung

Weil immer mehr Vorschriften in Umsetzung europäischer Richtlinien erlassen werden, kommt der richtlinienkonformen Auslegung wachsende Bedeutung zu. Den Hintergrund die-ses Auslegungskriteriums bildet Art. 249 Abs. 3 EG-Vertrag, wonach die vom zuständigen Organ der Europäischen Gemeinschaften erlassene Richtlinie für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich ist, jedoch den inner-staatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel überlässt. Entscheidet die Bundesrepu-blik Deutschland sich für eine Umsetzung der Richtlinie durch Gesetz, so muss dieses Gesetz und damit auch seine Anwendung die Ziele der Richtlinie verwirklichen. Aus methodischer Sicht ändert sich durch die Herkunft der Norm aus einer europäischen Richtlinie zunächst nicht viel: Die Auslegung erfolgt im Einzelnen nach nationaler Methodik, also nach Wortlaut, Regelungszusammenhang, Gesetzesgeschichte und Regelungszweck.42 Erst innerhalb der Auslegung nach den nationalen Kriterien hat sich der Rechtsanwender so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der umzusetzenden Richtlinie zu orientieren.43 Das Europarecht gebietet deshalb keine Auslegung contra legem, wenn der nationale Gesetz-geber hinter den Vorgaben der Richtlinie zurückbleibt und sich das nationale Gericht an einer richtlinienkonformen Auslegung gehindert sieht.44 Ein solcher Fall ist zwar selten, liegt dem Bundesgerichtshof jedoch gegenwärtig zur abschließenden Entscheidung vor:45

Beispiel 21: Im Zuge der Umsetzung der EG-Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie hat sich der deutsche Gesetzgeber ausdrücklich für eine Pflicht des Verbrauchers ausgesprochen, bei der Neulieferung Wertersatz für die Nutzung der zuerst gelieferten, mangelhaften Sache an den Verkäufer zu leisten (§ 439 Abs. 4 i.V.m. § 346 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB; dazu schon Beispiel 14).46 Diese Entscheidung hat sich in einem eindeutigen Wortlaut niederge-schlagen. Art. 3 Abs. 2–4 der EG-Verbrauchsgüterrichtlinie47, deren Umsetzung u.a. § 439 Abs. 4 BGB dient, bestimmt aber, dass die Herstellung des vertragsgemäßen Zustands des gekauften Verbrauchsguts (auch) durch Ersatzlieferung für Verbraucher unentgeltlich sein und ohne erhebliche Unannehmlichkeiten für den Verbrau-cher erfolgen muss. § 439 Abs. 4 BGB bleibt also hinter dem zurück, was europarechtlich geboten ist.48 Ein Ausweg ist, § 439 Abs. 4 BGB europarechtskonform dahin auszulegen, dass die Nutzungsersatzpflicht nicht für Verbraucher gilt. Dazu müsste man sich allerdings über den Willen des deutschen Gesetzgebers sowie den Wort-laut der Vorschrift hinwegsetzen. Obwohl der BGH die Erwägungen des deutschen Gesetzgebers nicht teilt49, hat

42 Beispielhaft zu § 312d Abs. 4 Nr. 5 BGB BGH, NJW 2005, 53 m. Anm. Mankowski, JZ 2005, 444. 43 EuGH, Slg. 2006, I-6057 = NJW 2006, 2465 – Adeneler (Tz. 108 ff.). 44 Ebd. Tz. 110. 45 BGH, NJW 2006, 3200 (Tz. 12 ff.) m. Anm. St. Lorenz; EuGH, NJW 2008, 1433 – Quelle (Tz. 18 ff.). 46 BT-Drs. 14/6040, S. 232 f.; dazu BGH, NJW 2006, 3200 (Tz. 13 ff.). 47 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 zu bestimmten Aspek-

ten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. Nr. L 171 v. 7. 7. 1999, S.12 ff. 48 EuGH, NJW 2008, 1433 – Quelle. 49 BGH, NJW 2006, 3200 (Tz. 23 f.).

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er sich dazu bislang nicht durchringen können: Der Wille des Gesetzgebers sowie der Wortlaut des Gesetzes stünden entgegen.50 Über die Auslegung europarechtlicher Vorschriften entscheidet der EuGH auf Vorlage des nationalen Gerichts (Art. 234 EG-Vertrag). Anders als das nach Art. 100 GG angerufene BVerfG, das die einfachgesetzliche Norm bei einem Verfassungsverstoß für nichtig erklärt, stellt der EuGH nur fest, welche Vorgaben das Europarecht den Mitgliedstaaten macht. Seine Entscheidung hat deshalb unmittelbar keine Auswirkung auf den Bestand der fraglichen nati-onalen Vorschrift. Beispiel 22: Auf Vorlage des BGH hat der EuGH in dem Fall, der unserem Beispiel 21 zugrunde liegt, entschie-den, dass Art. 3 der EG-Verbrauchsgüterkaufrichtlinie einer nationalen Regelung entgegensteht, der zufolge ein Verbraucher dem Verkäufer einer mangelhaften Sache Nutzungsersatz schuldet, wenn er für die mangelhafte Sache eine neue geliefert erhält.51 Damit steht aus deutscher Sicht fest, dass § 439 Abs. 4 BGB europarechtswid-rig ist. Die Vorschrift bleibt aber gleichwohl in Kraft. Der BGH hat also zwei Möglichkeiten: entweder er wählt die europarechtskonforme Auslegung wider den Wortlaut und den Willen des Gesetzgebers oder er wendet § 439 Abs. 4 BGB in Kenntnis seiner Europarechtswidrigkeit an. Eine richtlinienkonforme Auslegung ließe sich me-thodisch damit rechtfertigen, dass der Gesetzgeber neben seiner konkreten Regelungsabsicht den generellen Willen zur Umsetzung der Richtlinie hatte und dieser Wille vorrangig sei.52 Der deutsche Gesetzgeber glaubte sich bei seiner Regelung nämlich in Einklang mit der Richtlinie, wollte also nicht bewusst die Umsetzung ver-weigern.53 Hat man diese Hürde genommen, lässt sich auch der Wortlaut des § 439 Abs. 4 BGB im Wege der teleologischen Reduktion richtlinienkonform dahin gehend auslegen, dass jedenfalls beim Verbrauchsgüterkauf § 347 BGB von der in § 439 Abs. 4 BGB enthaltenen Verweisung nicht erfasst wird. Dies kann dann allerdings zu einer „gespaltenen Auslegung“ von § 439 Abs. 4 BGB führen mit einer Differenzierung danach, ob der Käu-fer Verbraucher i.S. von § 13 BGB oder Unternehmer i.S. von § 14 Abs. 1 BGB ist; diese „gespaltene Ausle-gung“ wiederum ließe sich nur dann vermeiden, wenn man annimmt, der Gesetzgeber habe insgesamt eine ein-heitliche Regelung für alle Kaufverträge treffen wollen und sich deshalb im Zweifel auch bei Kaufverträgen mit Unternehmern für jene Regelung entschieden, die ihm nach dem europäischen Recht für den Verbrauchsgüter-kauf vorgegeben ist. Hält der BGH an seiner Auffassung fest, dass ihn das deutsche Recht an einer europarechts-konformen Auslegung der Vorschrift hindere, und verurteilt er deshalb den Verbraucher ent-gegen dem vom EuGH verbindlich festgestellten Inhalt der Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie zum Nutzungsersatz, so ist das für den betroffenen Verbraucher misslich: Er muss die Bun-desrepublik Deutschland auf Schadensersatz wegen fehlerhafter Richtlinienumsetzung in An-spruch nehmen.54 Weil aber das Europarecht die nationalen Gerichte nicht dazu zwingt, wider die nationalen Auslegungsregeln zu entscheiden, wäre der Entschluss des BGH, § 439 Abs. 4 BGB dem Wortlaut gemäß anzuwenden, methodisch nicht zu beanstanden. 50 BGH, NJW 2006, 3200 (Tz. 12, 15) im Anschluss an BVerfGE 101, 312, 319 = NJW 2000, 347, 349; die

abschließende Entscheidung des BGH in dem Verfahren steht noch aus. 51 EuGH, NJW 2008, 1433 – Quelle. 52 So schon BGHZ 150, 248, 257 = NJW 2002, 1881, 1883 – Heininger. 53 Möllers/Möhring, JZ 2008, 919, 922 f.; Mörsdorf, ZIP 2008, 1409, 1414 f. 54 Vgl. EuGH, Slg. 2006, I-6057 = NJW 2006, 2465 – Adeneler (Tz. 112); St. Lorenz, NJW 2006, 3203.

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VI. Typische Schlussformen

Der Schwerpunkt der argumentativen Arbeit des Juristen liegt, wie gesehen, in der Subsumti-on und der dazu erforderlichen Auslegung des Gesetzes. Auch dieses Argumentieren sollte sich dem Rechtsunterworfenen so weit wie möglich als rationaler Prozess darstellen und nicht als bloßes Behaupten (vgl. oben III. 2. und IV. 3.). Man halte sich vor Augen: Schwächen in der Argumentation machen das Auslegungsergebnis angreifbar, die Subsumtion verliert ihre Grundlage, und das Ergebnis der Rechtsfindung (oben IV.) kann ins Gegenteil kippen. In juristischen Texten werden Studierenden immer wieder bestimmte Muster begegnen, nach denen man Auslegungs- und Subsumtionsergebnisse zu begründen sucht. Diese typischen juristischen Schlussformen zu kennen dient nicht nur der eigenen Argumentation, sondern hilft auch, Unstimmigkeiten in fremden Texten aufzudecken.

1. Argumentum a maiore ad minus

Der Schluss a maiore ad minus (lat. „vom Größeren auf das Kleine“) basiert auf der Annah-me, dass das Mehr das Weniger umfasst. Logisch zwingend ist dieser Schluss allerdings nur, wenn das Verhältnis vom Mehr zum Weniger seinerseits logisch begründbar ist (wenn sechs Äpfel in die Tüte passen, dann gehen auch fünf hinein) und nicht auf einer bloßen Wertung beruht: Beispiel 23: Wer nach §§ 314, 543 oder 626 BGB das Recht hat, außerordentlich fristlos zu kündigen (Mehr), ist auch zu einer befristeten Kündigung berechtigt (Weniger), da dies weniger belastend für den Gekündigten wirkt. Streng genommen liegt diesem Schluss eine Wertung zugrunde, nämlich die These, dass eine befristete Kündi-gung den Gekündigten weniger belaste als eine fristlose. Gleichwohl darf man den Schluss für zwingend erach-ten, weil diese These nicht zu widerlegen ist und damit das Verhältnis zwischen fristloser und fristgebunderer Kündigung einer logischen Stufung zumindest sehr nahe kommt. Weil in der juristischen Argumentation das Mehr und das Weniger zumeist in einem werten-den „Größenverhältnis“ stehen, diese Wertung aber keineswegs immer unangreifbar ist, ver-birgt sich hinter einem arg. a maiore ad minus häufig ein fehlbezeichnetes arg. a fortiori, also ein verdeckter Analogieschluss (näher unten VI. 3.): Beispiel 24: Wer kraft eines Wegerechts mit seinem Traktor das Grundstück eines anderen überqueren darf, hat deshalb noch nicht das Recht, mit seinem Motorrad darüber zu fahren. Zwar ist der Traktor als motorisiertes Gefährt nach Größe und Gewicht „mehr“ als ein Motorrad. Möglicherweise ist der Wegerechtsinhaber aber nur bezüglich des Traktors auf das Überqueren des fremden Grundstücks angewiesen, während er mit dem Motorrad auch andere, z.B. öffentliche Wege benutzen kann. Auch mag der Grundstückseigentümer gelegentliche Trak-torgeräusche in Kauf genommen haben, aber keinen zusätzlichen Lärm durch andere motorisierte Fahrzeuge.

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2. Argumentum a minore ad maius

Mit dem Schluss a minore ad maius (lat. „vom Kleineren auf das Große”) soll eine Einzeltat-sache verallgemeinert werden. Zu logisch zwingenden Ergebnissen führt dies nur bei negati-ven Aussagen: Beispiel 25: Wer eine Sache verleiht, verschenkt oder unentgeltlich in Verwahrung nimmt, haftet nur für grobe Fahrlässigkeit (§§ 521, 599, 690 BGB). Aus diesen besonderen Fällen eines Gefälligkeitsverhältnisses – positiv – zu schließen, dass der Gefällige immer nur für grobe Fahrlässigkeit hafte, ist logisch nicht zwingend. Im Ge-genteil: Weil das Auftragsrecht (§§ 662 ff. BGB) im Gegensatz zu Leihe, Schenkung und unentgeltlicher Ver-wahrung kein Haftungsprivileg enthält, obwohl auch hier der Auftragnehmer ohne Gegenleistung tätig wird, lässt sich – negativ – verallgemeinern, dass die Haftungsbeschränkung kein Merkmal aller Gefälligkeitsverhält-nisse darstellt. Wenn gleichwohl verallgemeinernde Folgerungen aus einer positiven Aussage gezogen wer-den, handelt es sich zumeist um ein fehlbezeichnetes arg. a fortiori oder einen verdeckten Analogieschluss (dazu sogleich).

3. Argumentum a fortiori (Erst-recht-Schluss)

Das arg. a fortiori (lat. „vom Stärkeren”) enthält einen „Erst-recht-Schluss“. Im Gegensatz zum arg. a maiore ad minus (oben VI. 1.) ist dieser Schluss jedoch nicht logisch zwingend, sondern wertend. Mit dem arg. a fortiori soll ein Sachverhalt, der als „mindestens genauso regelungsbedürftig“ erscheint, der Regelung eines anderen Sachverhalts unterworfen werden. Im Kern geht es also um ein Gleichbehandlungsproblem, weshalb der „Erst-recht-Schluss“ in aller Regel ein verdeckter Analogieschluss (unten VI. 6.) ist.55

Beispiel 26: Nach § 690 BGB hat, wer aus einem unentgeltlichen Verwahrungsvertrag haftet, nur grobe Fahrläs-sigkeit zu vertreten. Dem daraus gezogenen Schluss, wer ohne vertragliche Verpflichtung eine Sache in Verwah-rung nehme, hafte „erst recht“ nur für grobe Fahrlässigkeit, mag man im Ergebnis folgen, wenn man denjenigen, der ohne vertragliche Pflicht eine Gefälligkeit erbringt, als mindestens ebenso würdig ansieht, in den Genuss des Haftungsprivilegs zu kommen. Logisch zwingend ist der „Erst-recht-Schluss“ aber keineswegs. Umgekehrt könnte man nämlich anführen: Nach § 823 Abs. 1 BGB haftet der Schädiger dem Eigentümer, zu dem er in kei-ner Rechtsbeziehung steht, schon für einfache Fahrlässigkeit. Dann haftet er „erst recht“, wenn er die Sache in Gewahrsam nimmt und dann infolge einfacher Fahrlässigkeit beschädigt. – Die eigentlich zu beantwortende (Gleichbehandlungs-)Frage ist demnach, warum der unentgeltliche vertragliche Verwahrer durch § 690 BGB privilegiert wird: bloß weil er unentgeltlich verwahrt, oder vielleicht erst, weil er sich zur Verwahrung verpflich-tet, ohne eine Gegenleistung zu verlangen?

55 Näher Schneider/Schnapp, Logik für Juristen, 6. Aufl. 2006, § 36 III.

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4. Argumentum e contrario (Umkehrschluss)

Mit dem arg. e contrario (lat. „aus dem Gegenteil“) wird ein Umkehrschluss aus einer ande-ren Aussage gezogen. Zu einem richtigen Ergebnis führt das arg. e contrario freilich nur dann, wenn die Prämisse, auf die sich der Umkehrschluss stützt, ihrerseits wahr ist. Um Letz-teres überprüfen zu können, muss diese Prämisse benannt sein: Beispiel 27: Für einzelne Typen von Verträgen und Willenserklärung stellt das Gesetz Formerfordernisse auf (z.B. §§ 311b Abs. 1 S. 1, 518 Abs. 1 S. 1, 766 S. 1, 2247 Abs. 1 BGB). Daraus wird allgemein gefolgert, dass alle anderen Arten von Verträgen und Willenserklärung formfrei geschlossen bzw. abgegeben werden können, im Zivilrecht also grundsätzlich Formfreiheit herrscht. Logisch zwingend ist dieser Schluss allerdings nur, wenn die (häufig nicht erwähnte) Prämisse zutrifft, dass das Gesetz die Frage der Formbedürftigkeit abschließend regelt. Nur dann lässt sich sagen: Die ungeregelten Fälle unterliegen keinem gesetzlichen Formerfordernis. Problematisch ist das arg. e contrario denn auch vor allem bei Aufzählungen im Gesetz: Sind sie abschließend, dann ist ein Umkehrschlusses zulässig. Listet das Gesetz hingegen nur Bei-spiele auf, scheidet ein Umkehrschluss aus. Vielmehr kommt dann ein Analogieschluss in Betracht (unten VI. 6.). Beispiel 28: Will der Gläubiger wegen einer nicht oder nicht vertragsgemäß erbrachten Leistung nach § 281 Abs. 1 BGB vom Schuldner Schadensersatz statt der Leistung verlangen oder nach § 323 Abs. 1 BGB vom Ver-trag zurücktreten, so muss er dem Schuldner grundsätzlich eine Nachfrist setzen. Die Nachfristsetzung ist im Fall des § 281 Abs. 1 BGB allerdings entbehrlich, wenn der Schuldner die Leistung ernsthaft und endgültig verwei-gert oder wenn besondere Umstände vorliegen, die unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die sofortige Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs rechtfertigen (§ 281 Abs. 2 BGB). Hier fragt sich: Zählt zu die-sen „besonderen Umständen“ auch die Vereinbarung der Lieferung zu einem bestimmten Termin, nach dessen Verstreichen die Leistung für den Gläubiger kein Interesse mehr hat (sog. relatives Fixgeschäft, z.B. Lieferung von Saisonware in der Kleidungsbranche)? Dagegen spricht der dem § 281 Abs. 2 BGB verwandte § 323 Abs. 2 BGB: Diese Regelung erklärt die Nachfristsetzung in Nr. 2 ausdrücklich für entbehrlich, wenn der Schuldner die Leistung zu einem im Vertrag bestimmten Termin oder innerhalb einer bestimmten Frist nicht bewirkt und der Gläubiger im Verzug den Fortbestand seines Leistungsinteresses an die Rechtzeitigkeit der Leistung gebunden hat. Daraus lässt sich im Umkehrschluss folgern, dass der Gesetzgeber diesen Fall nicht als Fall der „besonderen Umstände“ (§ 281 Abs. 2 Alt. 2 bzw. § 323 Abs. 2 Nr. 3 BGB) ansehen wollte.56

5. Argumentum ad absurdum

Das arg. ad absurdum (lat. „ins Ungereimte“) soll die Wahrheit einer Aussage dadurch be-weisen, dass es ihr kontradiktorisches Gegenteil widerlegt. Diese Widerlegung kann logisch zwingend sein oder nur auf einer Wertung beruhen, nämlich dann, wenn das kontradiktorische Gegenteil zu – angeblich! – unsachgemäßen Ergebnissen führt. Häufig liegt dann eine petitio principii, also eine Vorwegnahme des Ergebnisses vor: 56 Vgl. Palandt/Heinrichs (Fn. 16), § 281 Rdn. 15; dagegen aber aus teleologischen Gründen Jaensch, NJW

2003, 3613.

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Beispiel 29: Die Ausnahme vom Widerrufsrecht bei Fernabsatzverträgen gem. § 312d Abs. 4 Nr. 5 BGB hat uns schon mehrfach beschäftigt (Beispiele 10, 13, 16). Man hat seine Anwendung auf Online-Auktionen damit zu begründen versucht, dass diese andernfalls ihren Sinn verlören und die entsprechenden Anbieter ihr Geschäfts-modell aufgeben müssten [= „absurdes Ergebnis“]. Dem hat der BGH jedoch zurecht sinngemäß entgegengehal-ten, dass Unternehmer, die ihre Waren über das Internet vertreiben, sich darauf eben einzustellen hätten.57 Dass sich die Anbieter zur Aufgabe ihres Geschäftsmodells gezwungen sähen, ist alles andere als ein absurdes Ergeb-nis, wenn das Gesetz in solchen Vertriebsformen eine übergroße Gefahr für den Verbraucher sieht – und ob das der Fall ist, steht gerade in Frage. Die wertende „Widerlegung“ erweist sich hier also als Zirkelschluss. (Im Übrigen hat sich schon die These, die Anbieter müssten ihr Geschäftsmodell aufgeben, als falsch erwiesen: eBay etc. gibt es bekanntlich immer noch.) Beispiel 30: Logisch widerlegen lässt sich hingegen die These, das Zurückbehaltungsrecht aus § 1000 S. 1 BGB gebe ein Recht zum Besitz i.S.v. § 986 Abs. 1 S. 1 BGB: § 1000 S. 1 BGB setzt einen Verwendungsersatzan-spruch nach §§ 994 ff. BGB voraus. Der Verwendungsersatzanspruch hat seinerseits zur Voraussetzung, dass der Besitzer, der die Verwendungen macht, zum Besitz nicht berechtigt war, also kein Recht zum Besitz besaß. Nimmt man an, § 1000 S. 1 BGB gebe ein Recht zum Besitz, würde die Voraussetzung des Verwendungsersatz-anspruchs in dem Moment entfallen, in dem der Anspruch entsteht. Das ist ein in sich widersprüchliches Ergeb-nis und belegt die Unrichtigkeit der Ausgangsthese.

6. Argumentum a simile (Analogieschluss)

Das argumentum a simile (lat. „vom Ähnlichen“) führt zur entsprechenden (analogen) An-wendung einer Rechtsnorm auf einen nicht geregelten Fall. Ihm liegt die Wertung zugrunde, dass die Sachverhalte vergleichbar („ähnlich“) sind, und es ist deshalb logisch nicht zwin-gend. Der Analogieschluss hat zwei Voraussetzungen:

(1) planwidrige Regelungslücke (vom Gesetzgeber unbewusst nicht geregelter Sachverhalt)

(2) vergleichbare Interessenlage wie beim normierten Fall Beispiel 31: Nach § 119 Abs. 1 BGB kann, wer bei der Abgabe einer Willenserklärung über deren Inhalt im Irrtum war oder eine Erklärung dieses Inhalts überhaupt nicht abgeben wollte, die Erklärung anfechten, wenn anzunehmen ist, dass er sie bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Falles nicht abgege-ben haben würde. Den Fall, dass der „Erklärende“ eine Willenserklärung abgibt, ohne dass er sich bewusst ist, etwas Rechtserhebliches zu erklären (fehlendes Erklärungsbewusstsein, Fall: Trierer Weinversteigerung58), hat der Gesetzgeber nicht geregelt. Man kann sagen, dann fehle es schon am Tatbestand einer Willenserklärung und damit an einem wirksamen Vertragsschluss. Bejaht man hingegen aus Verkehrsschutzgründen eine wirksame Willenserklärung trotz fehlenden Erklärungsbewusstseins, dann muss der Erklärende sie wenigstens analog § 119 Abs. 1 BGB anfechten können: Wenn derjenige, der etwas Rechtserhebliches erklären will, die Erklärung aufgrund eines Irrtum anfechten darf, dann gibt es keinen Grund, demjenigen, der sich schon über die Rechtser-heblichkeit seines Verhaltens irrt, nicht ebenfalls („erst recht“) das Anfechtungsrecht zu gewähren.59

57 BGH, NJW 2005, 53, 56 m. Anm. Mankowski, JZ 2005, 444. 58 Vgl. dazu das Skript „Allgemeine Rechtsgeschäftslehre“ unter G. I. 3. b) bb) und G. IV. 2. a) cc) ddd) sowie

Fall 35. 59 So die h.M. seit BGHZ 91, 324 = NJW 1984, 2279; dagegen Canaris, NJW 1984, 2281 ebenfalls mit einem

Erst-Recht-Schluss, aber aus § 118 BGB (!); näher dazu Singer, JZ 1989, 1034 f.

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Beispiel 32: Aus § 823 Abs. 1 BGB schuldet Schadensersatz, wer „… das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen … verletzt“. Neben diesem Schadensersatzan-spruch gibt das Gesetz dem Eigentümer in § 1004 Abs. 1 BGB auch einen Störungsbeseitigungs- und Unterlas-sungsanspruch. Für alle übrigen in § 823 Abs. 1 BGB genannten, ebenfalls absolut geschützten Rechte fehlt eine entsprechende Regelung. Sie verdienen jedoch nicht weniger Schutz als das Eigentum. Der Träger eines dieser Rechte kann deshalb analog § 1004 Abs. 1 BGB die Beseitigung der Störung oder das Unterlassen weiterer Be-einträchtigungen verlangen. Spezialgesetzliche Normen dürfen zur Analogiebildung nicht herangezogen werden, weil ihr besonderer Gegenstand einer Übertragung auf allgemeine Sachverhalte entgegensteht (str.). Beispiel 33: Entgegen § 766 S. 1 BGB ist die von einem Kaufmann abgegebene Bürgschaftserklärung nach § 350 HGB auch formlos gültig. Das gilt aber nur für Kaufleute i.S. von § 1 HGB und nicht analog für Kleinun-ternehmer, Freiberufler60 oder geschäftsführende Gesellschafter61. Ebenso wenig können Ausnahmevorschriften für einen Analogieschluss herangezogen wer-den (str.). Der – im konkreten Fall allerdings erst festzustellende (!) – Ausnahmecharakter steht, ähnlich wie bei spezialgesetzlichen Normen, einer Verallgemeinerung auf andere Sach-verhalte entgegen. Beispiel 34: § 312d Abs. 4 Nr. 5 BGB macht bei Versteigerungen i.S. von § 156 BGB eine Ausnahme vom Wi-derrufsrecht des Verbrauchers. Diese Ausnahme von der Grundwertung des Gesetzes spricht gegen eine erwei-ternde Auslegung der Vorschrift auf andere Versteigerungs-Formen (dazu schon Beispiel 10). Ohnehin fehlt es hier für eine Analogiebildung bereits an der planwidrigen Regelungslücke, denn der Gesetzgeber hat § 312d Abs. 4 Nr. 5 BGB in Kenntnis des Geschäftsmodells der Online-Auktionen formuliert.62

Bei Aufzählungen im Gesetz kommt eine Analogie in Betracht, wenn die Aufzählung nur Beispiele enthält und nicht vom Gesetzgeber abschließend formuliert wurde (vgl. oben VI. 4.). An die Voraussetzungen des Analogieschlusses ist auch zu denken, wenn in der juristischen Literatur mit einem „Erst-recht-Schluss“ (arg. a fortiori) argumentiert wird (vgl. oben VI. 3.). Dieser Erst-recht-Schluss basiert nämlich auf der Wertung, dass ein nicht geregelter Sach-verhalt mindestens so sanktionswürdig sei wie der geregelte (vgl. Beispiel 31 zu § 119 Abs. 1 BGB). Vor allem aber muss der Rechtsanwender sich bei der Analogiebildung stets vor Augen hal-ten, dass sein Vorgehen im Spannungsfeld zwischen legitimer Rechtsfortbildung und un-zulässiger richterlicher Rechtsetzung (Gewaltenteilung! Artt. 20 Abs. 2 und 3, 28 Abs. 1

60 Canaris, Handelsrecht, 24. Aufl. 2006, § 24 Rdnr. 10, 14 trotz erheblicher rechtspolitischer Bedenken. 61 Baumbach/Hopt, HGB, 33. Aufl. 2008, § 350 Rdnr. 7; a.A. Karsten Schmidt, Handelsrecht, 5. Aufl. 1999,

§ 18 I 1 d aa (S. 519 f.). 62 BGH, NJW 2005, 53, 56 m. Anm. Mankowski, JZ 2005, 444.

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GG) steht.63 Für Studierende heißt das: im Zweifel Orientierung am Wortlaut statt gewagter Analogieschlüsse.

63 Dazu vertiefend Hillgruber, JZ 2008, 745; sehr lesenswert die scharf geführte Diskussion zwischen Rüthers,

JZ 2008, 446 und Hirsch, JZ 2007, 853.

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