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In vielen Klassen ist das freie Schrei- ben inzwischen zur Grundlage von Schreiblernprozessen geworden. Die Kinder kommen mit ihren Gedanken, Eindrücken und Erfahrungen indi- viduell zu Wort. Aber die Recht- schreibung – bleibt sie dabei auf der Strecke? Lassen sich freies, indivi- duelles Schreiben und Rechtschrei- benlernen miteinander vereinbaren? Meine Antwort ist ein eindeutiges Ja. Gerade im individuellen Schrei- ben liegen besondere Chancen, die Rechtschreibung zu erarbeiten und zu trainieren! Denn: Kinder, die an ihren eigenen Wör- tern und Texten die Rechtschrei- bung erlernen und üben, sind weit- aus motivierter bei der Arbeit als beim Erledigen anonymer Recht- schreibaufgaben, deren Sinn sie häufig nicht erkennen. Kinder, die aufgrund ihrer eigenen Texte die Rechtschreibung erar- beiten, wissen sehr genau, wofür sie sich anstrengen, nämlich für das normgerechte Verfassen weiterer eigener Texte, die für andere ja nicht nur inhaltlich interessant und verständlich, sondern auch leicht lesbar sein sollen. Und das ist Aufgabe der Recht- schreibung. Mein Weg, freie Texte und Recht- schreiblernen miteinander zu verbin- den heißt: Individuelles Rechtschreib- training. 1 Und das sieht so aus: In mei- nen Klassen entstehen die freien Texte der Kinder überwiegend während der Tages- oder Wochenplanarbeit. Der eigene Text des jeweiligen Kindes wird dann zum Ausgangspunkt des individuellen Rechtschreiblernens. Wie das vor sich geht, wird anhand des Beispieltextes von Sophia (aus dem 4. Schuljahr, siehe Kasten links unten) gezeigt. Bei uns ist es üblich, dass die Kinder bei freien Texten zunächst ei- nen Entwurfstext herstellen. Im Anschluss daran oder im An- schluss an ein erstes inhaltliches Ge- spräch über den Text unter Kindern (Schreibkonferenz) notieren die Kin- der in meiner Klasse diejenigen Wör- ter unter den Text, bei denen sie un- sicher sind, wie sie korrekt ge- schrieben werden. Die Kinder sollen dadurch ein Gespür für eigene Un- sicherheiten entwickeln. Durch das erneute Aufschreiben und den späteren Vergleich mit dem 18 DIE GRUNDSCHULZEITSCHRIFT 144/2001 BEATE LEßMANN Rechtschreibenlernen an eigenen Texten Individuelles Recht- schreibtraining als ein Brückenschlag zwischen freien Texten und Recht- schreibtraining Fotos (2) : Minkus

GSZ 137 20-23 - Beate Leßmann€¦ · Title: GSZ 137 20-23 Created Date: 8/14/2012 9:58:42 AM

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In vielen Klassen ist das freie Schrei-ben inzwischen zur Grundlage vonSchreiblernprozessen geworden. DieKinder kommen mit ihren Gedanken,Eindrücken und Erfahrungen indi-viduell zu Wort. Aber die Recht-schreibung – bleibt sie dabei auf derStrecke? Lassen sich freies, indivi-

duelles Schreiben und Rechtschrei-benlernen miteinander vereinbaren?Meine Antwort ist ein eindeutiges

Ja. Gerade im individuellen Schrei-ben liegen besondere Chancen, dieRechtschreibung zu erarbeiten undzu trainieren!Denn:– Kinder, die an ihren eigenen Wör-tern und Texten die Rechtschrei-bung erlernen und üben, sind weit-aus motivierter bei der Arbeit alsbeim Erledigen anonymer Recht-schreibaufgaben, deren Sinn siehäufig nicht erkennen.– Kinder, die aufgrund ihrer eigenenTexte die Rechtschreibung erar-beiten, wissen sehr genau, wofürsie sich anstrengen, nämlich für dasnormgerechte Verfassen weiterereigener Texte, die für andere janicht nur inhaltlich interessant undverständlich, sondern auch leichtlesbar sein sollen.Und das ist Aufgabe der Recht-schreibung.

Mein Weg, freie Texte und Recht-schreiblernen miteinander zu verbin-den heißt: Individuelles Rechtschreib -training.1Und das sieht so aus: In mei-nen Klassen entstehen die freien Texteder Kinder überwiegend währendder Tages- oder Wochenplanarbeit.Der eigene Text des jewei ligen Kindeswird dann zum Ausgangspunkt desindividuellen Rechtschreiblernens.

Wie das vor sich geht, wird anhand desBeispieltextes von Sophia (aus dem4. Schuljahr, siehe Kasten links unten)gezeigt. Bei uns ist es üblich, dass dieKinder bei freien Texten zunächst ei-nen Entwurfstext herstellen.Im Anschluss daran oder im An-

schluss an ein erstes inhaltliches Ge-spräch über den Text unter Kindern(Schreibkonferenz) notieren die Kin-der in meiner Klasse diejenigen Wör-ter unter den Text, bei denen sie un-sicher sind, wie sie korrekt ge-schrieben werden. Die Kinder sollendadurch ein Gespür für eigene Un-sicherheiten entwickeln.Durch das erneute Aufschreiben

und den späteren Vergleich mit dem

18 DIE GRUNDSCHULZEITSCHRIFT 144/2001

BEATE LEßMANN

Rechtschreibenlernenan eigenen Texten

Individuelles Recht-schreibtraining alsein Brückenschlag

zwischen freienTexten und Recht-

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Wörterbuch wird die Konzentrationauf die Konstruktion des Wortes ge-lenkt. Einsicht in die Konstruktions-weise von Wörtern zu gewinnen, istein wichtiger Baustein auf dem Wegdes Rechtschreiblernens. In der folgenden Phase der „eigen -

ständigen Textkorrektur“ kontrollie-ren die Kinder ihre Rechtschreibung:Sie lesen ihren Text zunächst Wort fürWort rückwärts durch. Dadurch wirddie Aufmerksamkeit vom Inhalt wegauf die Schreibweise der einzelnenWörter hingelenkt. Danach lesen sieden Text nochmal von vorne, um zuüberprüfen, ob alles verständlich ist– ob Wörter ausgelassen oder doppeltgeschrieben wurden usw. Nach eini -ger Zeit des Vertrautseins mit diesemVerfahren entwickeln viele Kinderein gutes Gespür für ihre typischenFehlerschwerpunkte.Auch die in der Eigenkontrolle ge-

fundenen „Fehlerwörter“ werdenunter den Text geschrieben. Währendder Eigenkontrolle helfen sich vieleKinder mit dem Wörterbuch selbstweiter. Sophia – in unserem Beispiel– hat zunächst auf die Hinzunahmedes Wörterbuches verzichtet. Siekann die Kontrolle mit dem Wörter -buch auch zu einem späteren Zeit-punkt durchführen. Bei längeren Texten oder solchen, die die Kinderstärker persönlich betreffen, ist es so-gar wünschenswert, vor der Recht-schreibkontrolle ein oder zwei Tagevergehen zu lassen. Die zeitliche Distanz gibt den Blick frei für dieRechtschreibung.Erst nachdem der Text vom Kind

eigenständig kontrolliert wurde, be-komme ich ihn zu Gesicht. JederText, der Eigenes enthält, muss so-wohl von anderen Kindern als auchvon mir zunächst als individuelleBotschaft inhaltlich Wertschätzungerfahren. Wenn Kinder sich öffnenund Persönliches in den Unterrichteinbringen, sollen ihr Vertrauen undihre Persönlichkeit gestärkt werden.Das kann im Gespräch geschehenoder schriftlich durch wertschätzen-de Worte. Auch kleine persönliche Be-merkungen wie im Beispiel „Da habtihr euch ja einen Spaß erlaubt …“können die Würdigung von Textund Person ergänzen.Erst danach erfolgt die Weiterar-

beit an der Rechtschreibung, undzwar bei uns auf dreierlei Weisen:– Korrektur von Fehlern und Übender Wörter für den individuellen

Grundwortschatz anhand der„Wörterklinik“– Ergänzung des individuellen

Grundwortschatzes dieses Kindesdurch vom Kind selbst gewählteWörter aus diesem Text– Training an individuellen Fehler-

schwerpunkten mit einer „Recht-schreibbox“.

Training von individuellen Fehlerwörtern

Je nach Lernausgangslage eines Kin-des werden Fehlschreibungen (auchausgelassene Satz- oder Redezei-chen) entweder durch Kreuzchenam Rande einer Zeile vermerkt oderaber im Text selber markiert.– Kreuzchen beinhalten die Auf-gabe, sich selbstständigweiterzuhel fen, um die korrekteSchreibweise herauszufinden, z.B. durch Anwenden von Strate-gien oder durch Benutzung desWörterbuches.– Die korrigierten Wörter schrei-ben die Kinder nun unter denText und zwar wiederumhinter das „W“, das für„Wörterklinik“2

steht.Wörterklinikist der Namefür eine Lernkartei,mit der die Kinder über ei-nen längeren Zeitraum hin dieRichtigschreibung ihrer Fehlerwör-ter üben. Das Übungsverfahren miteiner solchen Lernkartei ist in der Li-teratur an verschiedenen Stellen aus-führlich beschrieben.3

Ich habe diese Lernkartei schwer-punktmäßig eingesetzt für das wie-derholende Üben derjenigen Wörter,die aus den eigenen Texten der Kin-der gemeinsam von ihnen und mir alsÜbungswörter herausgesucht wur-den. Die wichtigsten Arbeitsweisendafür waren das gezielte Abschreiben,das Selbst- und Partnerdiktat.Das Übungsverfahren geht folgen -

dermaßen: Damit die „kranken“Wörter „eingeliefert“ und im Kran -ken haus „versorgt“ werden können,schreiben die Kinder die unter „W“verabredeten Wörter korrekt auf kleine Kärtchen, die nach der Kon -trol le durch die Lehrerin zur Be-handlung in die „Klinik“ (Lernkar-tei) wandern.Sophia hat also ihre „Fehlerwör-

ter“ auf Kärtchen für die Wörterkli-

nik geschrieben, zusätzlich noch dasWort „Stimme“ dazu, das zwar inihrem Text richtig geschrieben war,bei dem sie sich aber unsicher fühl-te. Es ist ratsam, bei Kindern mithöheren Fehlerraten die Anzahl derzu korrigierenden und zu übendenWörter von vornherein zu begrenzen.So bedeutet dann „W: 6“, dass dasKind sechs Wörter zum Korrigierenund Trainieren auswählt, da dasNachschlagen und Korrigieren sämt-licher Fehlerwörter diese Kinderüberfordern und folglich demoti-vieren würde. Diese sechs Wörterwerden dann mit der Wörterklinikgeübt.

Ergänzung des indivi du ellenGrundwortschatzes

eines Kindes

Nachdem Sophia ihre Wörter nachden Übungsprinzipien der Wörter-klinik ausreichend trainiert hat, über-trägt sie diese in ihr ABC-Buch. Dasist die Sammelstelle für den indivi-duellen Grundwortschatz. Er stehtdamit jederzeit zum Nachschlagenund für weitere Übungen zur Ver-fügung.In dem ABC-Buch werden übri-

gens nicht nur die „erfolgreich ent-lassenen Wörter“ aus der Wörter-klinik gesammelt, sondern auch sol-che, die ein Kind bereits korrektschreiben kann und die daher nichtso intensiv geübt werden müssen.

FREIES SCHREIBEN UND RECHTSCHREIBEN

DIE GRUNDSCHULZEITSCHRIFT 144/2001 19

Individuelle Fehler-wörter kommen indie „Wörterklinik“und werden so intensiv geübt

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Im Anschluss an einen eigenenText wählen sich die Kinder alsoauch noch diejenigen der korrekt ge-schriebenen Wörter aus ihrem Textfür das ABC-Buch aus, die ihnen be-sonders wichtig sind. Bei Sophiasind das die Wörter „erschrocken“und „Plan“, die hinter der Abkür-zung „ABC“ stehen. Diese Wörterüberträgt sie direkt in ihr ABC-Buch.

Übung an individuellen Fehlerschwerpunkten

Die rechtschriftliche Bearbeitung ei-nes Textes schließt mit zunehmen-dem Alter der Kinder auch dieSelbsteinschätzung hinsichtlich dereigenen Fehlerschwerpunkte ein. Da-durch, dass die Kinder die Schreib-weise ihrer zunächst falsch ge-schriebenen Wörter selbstständig mitder korrekten Version im Wörterbuchvergleichen, können die Kinder einGespür dafür entwickeln, an welchentypischen Stellen sie Schwierigkeitenhaben. Das sind ihre persönlichenFehlerschwerpunkte. Sie notierenhinter das Wörtchen „Box“, an wel-chem Fehlertyp sie üben wollen.Sophia hat sich aufgrund der Wör-

ter „verstellt“ und „hatten“ für dieFehlerschwerpunkte „ll“ und „tt“entschieden. Ich habe ihr eine Übungvorgeschlagen, bei der sie die Ver-doppelung verschiedener Konso-nanten gleichzeitig üben kann. Zu-sätzlich habe ich eine Übung zum Set-

zen von Doppelpunkt und Redezei-chen ausgewählt. Diesen Fehlertypkonnte sie nicht selber finden. In derWochenplanarbeit arbeitet Sophianun an ihrem individuellen Recht-schreibprogramm.Das Wort „Box“ steht in meiner

Arbeit als Abkürzung für das Wort„Rechtschreibbox“. Das ist eine Karteimit Rechtschreibübungen zu den

verschiedenen R echtschreibproble -men von Grundschulkindern mitunterschiedlichem Schwierigkeits-grad.4 Das Besondere an dieser Karteiist, dass sie nicht wie ein Programmin einer bestimmten Reihenfolge abgearbeitet werden kann. Sie istnach Fehlerschwerpunkten sor tiert.Für die Kinder hängt in der Nähe derBox eine genaue Übersicht über sämt -liche Übungen mit Angabe des In-halts und des Fehlertyps für jedeAufga ben karte. Diese ermöglicht esden Kindern und mir, genau dieÜbung auszuwählen durch die es anseinem aktuellen Problem arbeitenkann. Kinder, die regelmäßig mit soeiner Rechtschreibbox arbeiten, er-werben nach einiger Zeit eine so si-chere Einschätzung ihrer eigenenFehlerschwerpunkte, dass sie sichdie für sie passende Übung völlig ei-genständig auswählen können. Da-zu muss die Rechtschreibbox mitder Übersicht für alle Kinder imKlassen raum problemlos zugänglichsein.

20 DIE GRUNDSCHULZEITSCHRIFT 144/2001

Rechtschreiben -lernen auf diese Artmacht Spaß, denn

es befreit von Unter- und Über -

forderung der genormten Lehr -

gänge

Rechtschreiblernen auf die hierskizzierte Weise macht Spaß – denKindern und mir als Lehrerin. Wa -rum? Weil das Kind selbst im Mit-telpunkt der Arbeit steht und eigen-ständig entscheiden kann und damitVerantwortung für sich selbst über-nimmt – für sein individuelles Wort-material und seine Fehlerschwer-punkte. Langeweile durch Über- oder

Unterforderung, wie wir sie nur zugut aus dem Rechtschreibunterrichtnach Lehrgang kennen – gibt es hiernicht. Jedes Kind übt genau das, wases gerade braucht – mehr nicht undauch nicht weniger! �

Anmerkungen1) In dem Buch „Schreiben und Rechtschreiben.Ein Praxisbuch zum individuellen Recht-schreibtraining“ (Dieck; Heinsberg 1998) habeich diese Vorgehensweise und den Weg dort-hin vom 1. Schuljahr an ausführlich beschrie-ben.2) Vgl. Erika Brinkmann/Hans Brügelmann:IDEENKISTE 1 (Schrift-Sprache). Hamburg1995, S. 3.3) z. B. Rüdiger Urbanek: Rechtschreiben ler-nen und lehren. Bochum 1994. Hier eine Kurz-beschreibung: Die Lernkartei besteht aus einemKarteikasten mit 4 oder 5 Fächern. Zu übendeWörter werden auf ein Kärtchen notiert und indas erste Fach gestellt. Wird ein Kärtchenwährend der Übungszeit aus dem Kopf kor-rekt aufgeschrieben, so darf es weiterwandernin das nächste Fach, bis es alle Fächer durch-laufen hat. Wird es nicht korrekt aufgeschrie-ben, muss es zurück ins erste Fach – auch wennes schon in einem weiteren Fach war. Wichtig:Jedes Wort darf nicht häufiger als einmal proTag geübt werden.4) Beate Leßmann: Rechtschreibbox. Teile 1–3.Heinsberg 1999/2000.

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