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Handbuch der Semiotik

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Handbuch der Semiotik

Winfried Nöth

Handbuch der Semiotik 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage

mit 89 Abbildungen

Verlag J. B. Metzler Stuttgart · Weimar

Winfried Nöth, geb. 1944; Studium in Münster, Genf, Lissabon und Bochum; seit 1978 Professor für Anglistik, Linguistik und Semiotik an der Universität Kassel;

Direktor des Wissenschaftlichen Zentrums für Kulturforschung der Universtität Kassel; Präsident der Deutschen Gesellschaft für Semiotik;

seit 1994 ständiger Gastprofessor für Allgemeine Semiotik an der PUC Universität Säo Paulo. Bei J. B. Metzler ist erschienen: >>Dynamik semiotischer Systeme<< 1977.

>>Handbuch der Semiotik<<, 1. Auf!. 1985.

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik I Winfried Nöth. - 2., vollständig neu bearb.

und erw. AufL- Stuttgart; Weimar: Metzler, 2000

ISBN 978-3-476-01226-5 ISBN 978-3-476-03213-3 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-03213-3

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unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro­verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2000 Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprünglich erschienen bei J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung

und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2000

V

Vorwort

>>Ob ich hinlänglichen Beruf zu der Herausgabe eines neuen Handbuchs der Semiotik habe, das mögen billige Leser des Buches selber beurtheilen ... <<Mit diesen Worten beginnt der >>Vorbericht<< zu Konrad Spengels Handbuch der Semiotik aus dem Jahre 1801. Jenes erste Handbuch in der Geschichte der Semiotik handelte allerdings nur von einem sehr kleinen Teilgebiet der Zeichenwissenschaft nämlich der medizinischen Symptomatologie.

1. Topographie der Semiotik

Das erste Handbuch einer Semiotik, die sich im wei­testen Sinn als eine Wissenschaft von den Zeichen­prozessen in Natur und Kultur begreift, sollte erst 1985 bei der J. B. Metzlersehen Verlagsbuchhand­lung in Stuttgart erscheinen. Es war die inzwischen seit langem vergriffene und heute überholte erste Auflage des hiermit in völlig revidierter Fassung vorgelegten Werkes. Das damals enzyklopädisches Neuland beschreitende Handbuch fand ein außer­ordentlich positives Echo. Die Aufgabe, mit der sich in den frühen 1980er Jahren der Autor eines um­fassenden Panoramas einer Wissenschaft konfron­tiert sehen mußte, deren Konturen sich erst abzu­zeichnen begannen, beschrieb der Rezensent Peter Schmitter (1987b: 1) mit diesem poetischen Bild:

Man stelle sich vor, man solle - etwa in Form einer Atlaskarte-die Topographie eines Landes beschreiben, aber eines Landes, über das man kaum gesicherte Erkenntnisse besitzt. Weder die Grenzen dieses Landes sind bekannt, noch weiß man, ob es sich bei ihm überhaupt um ein Land im herkömmlichen Sinne handelt. Viele behaup­ten, daß es in der Tat ein echtes Land ist, und so­gar eines, das alle bisher bekannten Länder an Schönheit und Reichtum übertrifft und dessen Besitz, wäre er erst einmal errungen, aller Not ein Ende machen würde. Andere dagegen halten nicht nur diese Hoffnung, sondern selbst die Existenz dieses Landes für eine Utopie. Doch sehen wir weiter. Als Quellen für die topogra­phische Beschreibung stehen einerseits einige Berichte von verschiedenen Autoren zur Verfü­gung, von denen jeder die Entdeckung eines neuen Landes für sich in Anspruch nimmt, wo­bei es aber unklar bleibt, ob sie dasselbe Land

im Auge haben. Denn sie verwenden nicht nur unterschiedliche Namen für das von ihnen ent­deckte Land, sondern beschreiben es auch auf verschiedene Weise. Hinzu kommt noch, daß etliche Historiker der Ansicht sind, daß das in Frage stehende Land nicht erst von diesen neu­zeitlichen Pionieren, sondern bereits in früheren Zeiten, ja, schon in der Antike, entdeckt worden sei. Als weitere Quellen gibt es dann auf der an­deren Seite noch eine schier unübersehbare Zahl von Schriften, in denen detailliert einige Gegen­den beschrieben werden, die zu diesem Land ge­hören sollen. Doch da diese Beschreibungen zu­meist ganz unterschiedlich sind, einmal z.B. eine Moorlandschaft, dann ein zerklüftetes Gebirge, ein anderes Mal die Pflanzenwelt, das Tierreich oder einen Stadtbezirk vor Augen führen, weiß man auch hier nicht recht, ob es sich nur um verschiedene Regionen und ökologische Berei­che desselben Landes oder vielmehr um ver­schiedene Länder handelt.

Die bei Schmitter und den 31 anderen Rezensentin­nen und Rezensenten der ersten Auflage dieses Hand­buchs nachzulesenden Komplimente möchte dessen Verfasser heute mit einem Zitat von Ralph Waldo Emerson zurückgeben, das besagt: >>lt's the good reader that makes a good book.<<

Gegen Ende des Jahrhunderts hat sich die enzy­klopädische Landschaft der Semiotik im Vergleich zu Schmitters Bestandsaufnahme wesentlich geän­dert. Seit 1986 gibt es das dreibändige, von T. A. Se­beok herausgegebene Encyclopedic Dictionary of Semiotics. 1990 erschien, völlig überarbeitet und gegenüber seinem deutschen Vorgänger um fast das Doppelte erweitert, das Handbook of Semiotics (Nöth 1990c), 1998 die umfassende Encyclopedia of Semiotics unter der Federführung von Paul Bouissac, und in einem wahren enzyklopädische Quantensprung erschien 1997-99 endlich das mo­numentale dreibändige Werk Semiotik, das mit dem Untertitel Ein Handbuch zu den zeichentheoreti­schen Grundlagen von Natur und Kultur von Roland Posner, Klaus Robering und Thomas A. Sebeok herausgegeben worden ist. Hinzu kommen die zahllosen Bände semiotischer Fachzeitschriften wie Semiotica (111969 ff.), Canadian Journal of Re­search in Semiotics (1/1973 ff.), Degres (1/1973 ff.), Bulletin (111977 ff.) und Documents du groupe de

VI Vorwort

recherches semio-linguistiques (111979 ff.), Kodi­kas I Code (11 1979 ff.), Versus (VS) (1/1979 ff.), Zeitschrift für Semiotik (111979 ff.), American Journal of Semiotics (1/1981 ff.), Recherehes Se­miotiques I Semiotic Inquiry (1/1981 ff.), Semiotic Review of Books (111990 ff.) und Interdisciplinary Journal for Germanie and Semiotic Analysis (11 1996 ff.). Die enorme Expansion der Semiotik und des semiotischen Feldes seit den 1980er Jahren hat das ehrgeizige Projekt einer nochmaligen Aktuali­sierung und Erweiterung des Handbuchs der Semio­tik keineswegs erleichtert. Die Fertigstellung des völlig neu konzipierten Werkes zog sich über Ge­bühr in die Länge, so daß Umberto Eco, der die Ent­wicklung der Arbeiten seit Jahren mit Interesse ver­folgte, schon im Juni 1996 auf Schloß Cerisy-la­Salle in seinem Gedicht für die Teilnehmer des Eco­Kolloquiums Au Nom du Sens den Verfasser wie folgt zur Kürze gemahnte:

e ehe Nöth, ehe cosi vivo fece un Handbuch magistrale, non sia qui cosi esaustivo come fu nel suo manuale.

2. Pluralistische Zielsetzung

Die Zielsetzung dieses Handbuchs ist eine pluralisti­sche. Die hier versuchte Darstellung der Semiotik beschränkt sich nicht auf eine bestimmte Richtung oder gar Schule der Semiotik wie man sie etwa bei Morris (1946: 359-368), Bense & Walther (1973) oder Greimas & Courtes (1979, 1986) finden kann, die lexikalische Handreichungen zu ihren eigenen semiotischen Schriften verfaßt haben. Andererseits will dieses Handbuch aber auch nicht so plurali­stisch sein, wie es jene enzyklopädischen Werke zur Semiotik notwendigerweise sind, an denen hunder­te von Autoren zur gleichen Zeit gearbeitet haben. Die Möglichkeit, das Gesamtgebiet der Semiotik in einer aktuellen Synthese darzustellen, Differenzen herauszuarbeiten und Gemeinsamkeiten zwischen manchmal nur scheinbar divergierenden Tendenzen aufzuzeigen, ohne die verbleibenden Differenzen zu übersehen, sollte genutzt werden.

Bei allen pluralistischen Vorsätzen konnte die­ses Ziel nicht nach bloß deskriptiven Prinzipien ver­folgt werden. In jedem Kapitel und jedem Abschnitt waren Auswahlentscheidungen zu treffen, und Aus­wahl bedeutet immer auch eine Bewertung des Aus­gewählten. Wertmaßstab sollte allerdings nicht die bloße persönliche Präferenz des semiotischen Be­richterstatters sein. Seine Leitlinie war vielmehr das Ziel, ein umfassendes Bild einer Wissenschaft zu skizzieren, die im weitesten Peirceschen Sinn alle Zeichenprozesse in Natur und Kultur untersucht. Ein solches Panorama der Semiotik darf nicht nur die explizite Semiotik berücksichtigen, jene Wissen-

schaft also, die sich selbst als eine Semiotik (oder auch als Semiologie) begreift, sondern es muß auch die implizite Semiotik mit einbeziehen, alljene For­schungen also, die mit Zeichenprozessen befaßt sind, ohne sich selbst explizit als >semiotisch< zu ver­stehen. Die Grenze zwischen dem implizit Semioti­schen und dem nicht mehr Semiotischen ist aller­dings besonders schwierig zu bestimmen, und daß bei so weit gesteckten Zielen auch angesichts der schnellen Weiterentwicklung der Semiotik selbst Lücken verblieben oder vielleicht auch Ungleichge­wichte in der Darstellung der verschiedenen Ten­denzen der impliziten und expliziten Semiotik auf­getreten sein könnten, mögen die Leserinnen und und Leser dem Autor und dem Wunsch des Verle­gers nachsehen, die Veröffentlichung dieses Hand­buchs nicht länger aufzuschieben.

3. Bibliographisches und Organisatorisches

Die bibliographischen Angaben in den Zitaten fol­gen dem Schema AUTOR (JAHR der Erstveröffent­lichung: SEITE), z.B. Morris (1946: 46). Bei einigen Autoren gibt es ein anderes Verweissystem, über das die Bibliographie informiert, z.B: heißt Peirce (CP ... ), Peirce: Collected Papers. Wenn in der Bi­bliographie dem Namen des Autors zwei Jahreszah­len folgen, z.B. Firth (1973) 1975, so verweist die erste Zahl auf das Jahr der Ersterscheinung des Werkes und die zweite Zahl auf das Erscheinungs­datum der benutzten Ausgabe. Die bibliographi­schen Angaben zu Übersetzungen sind als Hinweise für die Leserinnen und Leser gedacht, denn bei den Zitaten ist der Autor dieses Handbuches nicht im­mer dem Wortlaut dieser Übersetzungen gefolgt.

Die Querverweise durch »siehe<< (>s.<) beziehen sich entweder auf einen anderen Artikel dieses Handbuchs oder auf andere Abschnitte innerhalb des gleichen Artikels. Im ersten Fall beginnt der Ver­weis mit einer römischen Ziffer (z.B. >S. II. 1.2<), die den Artikel durch dessen Sektions- und Kapitel­nummer spezifiziert, aber im zweiten Fall fehlt die Kapitelnummer.

Für Abdruckgenehmigungen dankt der Autor für ein Foto von C.S. Peirce dem Peirce Edition Pro­ject (lndiana University, Indianapolis), für ein Por­trait von Charles Morris der Indiana University Press (Bloomington), für ein Foto von F. de Saussu­re der Bibliotheque Publique et Universitaire de Ge­neve, für ein Portrait von L. Hjelmslev der Kgl. Bi­bliotek Kobenhavn, für ein Portrait R. Jakobsans Walter A. Koch, für Portraits von R. Barthes und J. Kristeva den Editions du Seuil (Paris), Algirdas J. Greimas für ein Portrait des Begründers der Semio­tikschule von Paris, der Gruppo Editorale Fabbri Bompiani für ein Portrait von Umberto Eco und für alle anderen Portraits dem Metzler Verlag Stuttgart.

VII

Inhaltsverzeichnis

Vorwort................................................................... V Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXIX

I. Geschichte der Semiotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. Geschichte der Semiotik als Begriff und als Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2. Antike................................................................ 4 3. Mittelalter und Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 4. Rationalismus und Empirismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 5. Aufklärung............................................................ 22 6. Semiotik im 19. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 7. Semiotik im 20. Jh.: Tendenzen neben den Klassikern............................ 36 8. Strukturalismus, Poststrukturalismus und die Semiotik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 9. Historiographie der Semiotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

ll. Klassiker, Richtungen und Schulen der Semiotik im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 1. Charles Sanders Peirce. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2. Ferdinand de Saussure. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3. Louis Hjelmslev......................................................... 78 4. Charles W. Morris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 5. Vom Russischen Formalismus zur Schule von Moskau und Tartu................... 95 6. Prager Schule ........................................................... 100 7. Roman Jakobson ........................................................ 103 8. Roland Barthes ......................................................... 107 9. Greimas und das Projekt der narrativen Diskursgrammatik der Pariser Schule ......... 112

10. Julia Kristeva ........................................................... 120 11. Umberto Eco. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

ID. Zeichen und System ........................................................ 131 1. Zeichen: Zeichenträger, das Zeichenhafte und die nichtzeichenhafte Welt . . . . . . . . . . . . 131 2. Zeichenmodelle, Zeichenkonstituenten und Zeichenrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3. Zeichen und Typologie der Zeichen ......................................... 142 4. Realismus, Nominalismus und die Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 5. Semantische Grundbegriffe ................................................ 147 6. Bedeutung ............................................................. 152 7. Semantik und Semiotik ................................................... 158 8. Repräsentation ......................................................... 162 9. Information ............................................................ 169

10. Symbol ............................................................... 178 11. Index, Anzeichen, Symptom, Signal und natürliches Zeichen ...................... 185 12. Ikon und Ikonizität ...................................................... 193 13. Funktion .............................................................. 199 14. Struktur .............................................................. 204 15. System ............................................................... 208 16. Kode ................................................... : ............. 216

VIII Inhaltsverzeichnis

IV. Semiose und ihre Dimension .................................................. 227 1. Semiose ............................................................... 22 7 2. Kognition ............................................................. 230 3. Kommunikation ........................................................ 235 4. Physikosemiotik: Semiose in der materiellen Welt ............................... 248 5. Ökosemiotik ........................................................... 250 6. Biosemiotik ............................................................ 254 7. Zoosemiotik ........................................................... 260 8. Evolution der Semiose .................................................... 273 9. Raum ................................................................. 282

10. Zeit .................................................................. 287

V. Nonverbale Kommunikation .................................................. 293 1. Nonverbale Kommunikation und Körpersprache ............................... 293 2. G~stik ................................................................ 298 3. Kinesik ............................................................... 305 4. Mimik und Gesichtsausdruck .............................................. 308 5. Blickkommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 6. Taktile Kommunikation .................................................. 313 7. Proxemik und Territorialverhalten .......................................... 316 8. Chronemik ............................................................ 320

VI. Sprache und Sprachkodes .................................................... 323 1. Sprache, Linguistik und Semiotik ............................................ 323 2. Semiotische Linguistik: Ansätze und Themen .................................. 327 3. Arbitrarität und Konvention ............................................... 336 4. Metapher .............................................................. 342 5. Schrift ................................................................ 349 6. Parasprache ............................................................ 365 7. Universalsprache ........................................................ 369 8. Gebärdensprache ........................................................ 379 9. Sprachsubstitute ........................................................ 386

VII. Textsemiotik .............................................................. 391 1. Textsemiotik ........................................................... 391 2. Rhetorik und Stilistik ..................................................... 394 3. Erzählung ............................................................. 400 4 Mythos ............................................................... 410 5. Ideologie .............................................................. 413 6. Hermeneutik, Exegese und Interpretation ..................................... 418 7. Theologie .............................................................. 422

VIII. Ästhetik und Literatursemiotik ................................................ 425 1. Ästhetik ............................................................... 425 2. Musik ................................................................ 433 3. Malerei ............................................................... 439 4. Architektur ............................................................ 444 5. Das Poetische und die Poezität .............................................. 449 6. Literatur .............................................................. 456 7. Theater ............................................................... 462

Inhaltsverzeichnis IX

IX. Mediensemiotik. ........................................................... 467 1. Medien ............................................................... 467 2. Bild .................................................................. 471 3. Bild und Text .......................................................... 481 4. Landkarten ............................................................ 487 5. Comics ............................................................... 491 6. Photographie ........................................................... 496 7. Film .................................................................. 500 8. Werbung .............................................................. 508

X. Kultursemiotik, Soziosemiotik und interdisziplinäre Erweiterungen .................... 513 1. Kultur ................................................................ 513 2. Magie ................................................................ 515 3. Alltagsleben ............................................................ 518 4. Gegenstände und Artefakte ................................................ 526 5. Waren und Geld ........................................................ 529 6. Didaktik und Semiotik ................................................... 533 7. Stichwörter zu weiteren interdisziplinären Bezügen der Semiotik ................... 537

Bibliographie .................................................................... 539

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631

Sachregister ..................................................................... 653

XI

Einleitung

>>Es ist zweifelhaft, ob Zeichen jemals zuvor von so vielen Menschen aus so vielen Perspektiven unter­sucht worden sind. Zum Heer der Forscher gehören Linguisten, Logiker, Philosophen, Psychologen, Biologen, Anthropologen, Psychopathologen, Äs­thetiker und Soziologen<<, schrieb vor über sechzig Jahren Charles Morris (1938: 1). Seine Charakteri­sierung der Vitalität der Wissenschaft von den Zei­chen ist gegen Ende des 20. Jh. nicht weniger gültig als damals, auch wenn es über den Ort der Semiotik im Konzert der Wissenschaften immer noch kein allgemeines Einverständnis gibt.

Interessengebiet, Forschungsfeld, Aktivität, Pra­xis, Mode, Bewegung oder gar Revolution - For­schungsansatz, Wissenschaft, Projekt einer Wissen­schaft, Methode, Disziplin, Interdisziplin, Transdis­ziplin, Lehre (doctrine: Locke), Theorie, Metatheorie, Metadisziplin (Hjelmslev), Metawissenschaft oder Ideologie der Wissenschaften (Kristeva) sind die Epitheta, mit denen der Status der Semiotik um­schrieben worden ist (Eco 1976; Kristeva 1969b, c: 30-32, Culler 1981b: 78; Greimas & Courtes 1969: 322-23; Blonsky, ed. 1985: xx; Deely et al., eds. 1986: viii; Posner 1988b; Withalm 1988: 159-161; Koch, ed. 1990f; Nöth 1990d).

Das Selbstverständnis der Semiotik war lange Zeit von Saussures Diktum von einer >>noch nicht existierenden Wissenschaft« bestimmt (Saussure 1916b: 33). Bis in die 1980er Jahre hinein firmierte noch die Frage >>Was ist Semiotik<< als Buchtitel oder wenigstens Kapitelüberschrift mehrerer Ein­führungen in die Semiotik (Toussaint 1978; San­taella 1983; Sless 1986: 1-9). Für Ducrot & Todo­rov (1972: 90) war die Semiotik ein halbes Jahrhundert nach Saussure immer noch >>mehr ein Projekt als eine etablierte Wissenschaft<<, und zwar >>nicht nur wegen des notwendigerweise langsamen Rhythmus einer Wissenschaft in ihren Anfängen, sondern auch wegen einer gewissen Unsicherheit hinsichtlich ihrer grundlegenden Prinzipien und Be­griffe<<, Greimas & Courtes (1979: 344) sahen be­reits »Zeichen der Gesundheit und Vitalität<< im Forschungsfeld der Semiotik und gelangten zu dem Schluß, daß sich die Semiotik inzwischen als ein Forschungsprojekt und zugleich als eine Forschung darstelle, die sich bereits zu entwickeln beginne. Im gleichen Jahrzehnt charakterisierte auch Sebeok (1976: 64) die Semiotik noch als >>eine wissenschaft­liche Disziplin in den Kinderschuhen<<, die immer

noch >>ohne eine umfassende theoretische Fundie­rung<<, aber >>weitgehend von einer gemeinsamen Perspektive<< der Forscher getragen sei.

Der Aufbruchstimmung in der Semiotik zu >>neuen Horizonten<< (Deely et al., eds. 1986) und den Berichten über eine sich >>entfaltende Semiotik<< (Borbe, ed. 1984) folgten aber schon bald aus der Richtung derer, die sich von der Semiologie Revolu­tionäres versprochen hatten, Kassandrarufe über die »Agonie der Semiotik<< (Blonsky, ed. 1985: xvi­ii), und schließlich war sogar auch schon vom Ende der Semiotik und einer>> postsemiotischen Zeit<< die Rede (s. I. 7.8). Derartige Diagnosen wiesen jedoch bei näherer Betrachtung nicht selten selbst ein Lei­den auf, nämlich die Krankheit von der unzulässi­gen Verkürzung, manchmal geradezu der Ignoranz von dem, was das Panorama der Semiotik aus­macht. Die Semiotik ist keine Mode, die mit dem Ableben bestimmter Semiotiker oder mit dem Ende einer intellektuellen Strömung vorüber sein könnte. Als Wissenschaft von den Zeichen hat die Semiotik vielmehr ein von Moden und Tendenzen unabhän­giges Untersuchungsfeld, das es so lange geben wird, wie das >>Leben der Zeichen<< fortbesteht.

Manche Prognosen über die Zukunft der Zei­chen haben sich allerdings in der Tat nicht bewahr­heitet. Die Semiotik ist z.B. nicht zu einer Einheits­wissenschaft geworden, als welche Morris ( 19 3 8: 1) sie im Rahmen von Otto Neuraths Projekt einer In­ternational Encyclopedia of Unified Science vorge­stellt hatte. Heute gibt es in der Semiotik nicht nur eine »unifizierende Perspektive<<, wie Morris sie für wünschenswert hielt, sondern eine Vielzahl an Ten­denzen, Richtungen, Perspektiven, ja sogar Defini­tionen der Semiotik selbst (Pelc 1981b, 1984a). Zu­gleich hat sich die Semiotik auch weit über die Grenzen der Regionen hinaus entwickelt, die einige ihrer Gründungsväter für das semiotische Feld ab­gesteckt hatten.

Das Feld der Semiotik, wie es sich gegen Ende des 2. Jahrtausends darstellt, hier noch einmal zu umreißen, hieße, das Inhaltsverzeichnis dieses Handbuchs wiederholen zu müssen. Zu der dort entwickelten Systematik der Semiotik gibt es aller­dings verschiedene Alternativen. Morris (1938: 9; 1946: 366) unterschied z.B. zwischen reiner, de­skriptiver und angewandter Semiotik. Carnap fügte die Zweige der allgemeinen und der speziellen Se­miotik hinzu (Lieb 1971). Hjelmslev unterschied

XII Einleitung

zwischen der Semiologie als der Metasprache der se­miotischen Systeme und der Metasemiologie als der Metawissenschaft der verschiedenen wissenschaftli­chen Semiologien (s. II.3.2.2; II.3.4.3). Auch wenn vielleicht eine reine Semiotik niemals möglich sein wird und die Wissenschaft der Zeichen womöglich immer nur eine »unreine<<, weil von der >Unreinheit< ihrer Zeicheninhalte affizierte Wissenschaft sein wird, wie Moles (1976) dargelegt hat, so ist doch die Differenzierung zwischen der Theoretischen und der Angewandten Semiotik eine durchgängig akzep­tierte.

Und doch sind dies nicht zwei voneinander un­abhängige Zweige der Semiotik. Nicht zuletzt ist je­de Theorie selbst ein Zeichensystem. Die Theoreti­sche Semiotik muß somit auf sich selbst anwendbar sein, und sie wird in diesem Moment selbst zu einer Angewandten Semiotik. Bei der Entdeckung dieser Selbstreflexivität der Semiotik gibt es eine überra­schende Allianz zwischen zwei sonst völlig entge­gengesetzten Theorien, nämlich der Semiotik von Morris und von Kristeva. Morris (1938: 2) be­schreibt die Semiotik als eine Wissenschaft, die zu­gleich ein Instrument der Wissenschaft ist, eine Me­tawissenschaft und eine >>Wissenschaft auf gleicher Ebene wie die anderen Wissenschaften<< (s. II.4.2.2). Kristeva thematisiert die Selbstreflexivität der Semiotik, wenn sie diese als eine Metasprache (eine >>Wissenschaft vom Text<<) und zugleich als eine Objektsprache (als >>Signifikationspraxis<<) be­schreibt (s. Il.10.2). Das Dilemma der Zirkularität bei der unvermeidlichen Verwendung gleicher Zei­chen und Instrumente auf der Objekt- und auf der Metaebene erscheint heute nicht mehr als ein Teu­felskreis. Anders als zu Zeiten des Barons von Münchhausen, dem man nicht glauben wollte, daß er sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zie­hen konnte, denkt man heute an die Möglichkeit, sogar an die Notwendigkeit des bootstrapping, der Fähigkeit, sich methologisch an den eigenen Schnür­senkeln hochziehen zu können (Hofstadter 1980: 24). Der circulus vitiosus der semiotischen Selbstre-

flexivität gilt heute als ein circulus virtuosus, denn die konsequente Anwendung der Semiotik auf sich selbst läßt die Theorie von den Zeichenprozessen zu einer stets selbstkritischen wissenschaftlichen Tätig­keit werden, welche somit ihre dynamische Weiter­entwicklung zu sichern in der Lage ist.

Doch kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück und zu der noch offenen Frage, ob die Se­miotik nun eine Wissenschaft sei. Die Antwort hängt natürlich nicht zuletzt von der zugrundelie­genden Wissenschaftstheorie ab. Welche Wissen­schaftskonzeption könnte aber für die Semiotiker näherliegender sein als diejenige des Begründers der modernen Zeichentheorie, Charles Sanders Peirce. Für Peirce harte die Semiotik einen festen Ort im Sy­stem der Wissenschaften. Neben der Ästhetik und Ethik gehörte für ihn die Semiotik (oder Logik) zu den normativen Wissenschaften, aber als allgemeine Leitlinie für die heutige Wissenschaft der Semiotik ist vielleicht nicht so sehr diese Klassifikation von Interesse als das, was Peirce (CP 1.232; vgl. CP 8.343) über die Aufgabe der Wissenschaftler und die Ziele des wissenschaftlichen Handelns, und da­mit auch über die Aufgabe und die Zukunft der Se­miotik sagt, nämlich:

Es ist einfach wichtig, daß unsere Vorstellung von der Wissenschaft eine Vorstellung von Wis­senschaft sein soll, wie sie lebt und nicht eine bloße abstrakte Definition. Denken wir daran, daß die Wissenschaft von lebendigen Menschen betrieben wird und daß ihr auffälligstes Merk­mal darin besteht, daß sie sich, wenn sie authen­tisch ist, in einem unaufhörlichen Zustand des Metabolismus und Wachstums befindet.

In diesem Sinne stellt sich das Handbuch der kriti­schen Lektüre seiner Leserinnen und Leser in der Hoffnung, nicht nur zur Bestandsaufnahme der Semiotik bis zum Ende des zweiten Jahrtausends, sondern auch zum Wachstum der Semiotik und ihrer Zukunft im dritten Jahrtausend beitragen zu können.