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GENIUS-LESESTÜCK | Nr. 9/Juli–August 2016 1 PHILOSOPHIE Lesestücke für ein Freiheitliches Europa Hans-Joachim Schönknecht Martin Heidegger und der Nationalsozialismus Über die kurze politische Verirrung eines großen Denkers Am 26. Mai 2016 jährte sich der Tod des Philosophen Martin Heidegger zum vierzigsten Mal. Noch immer ist die Diskussion um seine zeitweilige Nähe zum Nationalsozialismus nicht be- endet. Im Gegenteil, sie flammte in den Jahren 2014/15, nach der Veröffentlichung der sog. Schwarzen Hefte, mit ungeahnter Heftigkeit wieder auf. Die folgenden Ausführungen ver- suchen, eine Erklärung für Heideggers Verstrickung zu geben (ohne diese irgendwie recht- fertigen zu wollen). Nach meiner Überzeugung ist die hauptsächliche Ursache in Heideggers Philosophie selbst zu suchen. Die öffentliche Diskussion um Heideggers Engagement begann praktisch unmittelbar nach Kriegsende im Jahr 1945 mit der Untersuchung seines Falls seitens der Alliierten sowie mit dem darauf folgenden Entzug der Lehrerlaubnis im Januar 1946. Die Debatte begleitete, auch weil Heidegger nie öffentlich zu seiner Verstrickung Stellung nahm, mit charakteristi- schen Höhepunkten die Geschichte der Bundesrepublik und fand, aufgrund der epochalen Bedeutung des Denkers, stets auch im Ausland Aufmerksamkeit. Die die Bildungseliten beunruhigende Frage war dabei stets, wie es geschehen konnte, dass der wohl originellste, produktivste und wirkmächtigste deutsche Philosoph des 20. Jahrhun- derts, dessen denkerische Ausstrahlung weit über Deutschland hinaus auf das europäische und das westliche Ausland überhaupt, ja bis nach Japan und China reichte, der tief zweideu- tigen Faszination dieses ebenso geistig primitiven wie in seinen führenden Figuren schlicht verbrecherischen politischen Systems erliegen konnte, und sei es auch nur für kurze Zeit. Wenn die Philosophie, als wesentliches Element der europäischen intellektuellen Kultur und Trägerin der Aufklärung, nicht einmal vor derartigen Fehltritten bewahren konnte, wozu war sie dann nutze? Auf ihren unbestreitbaren bisherigen und vielleicht definitiven Höhepunkt gelangte die Auseinandersetzung mit der zwischen Februar 2014 und März 2015 erfolgten Veröffentli- chung der Bände 94 bis 97 der Gesamtausgabe, die Heideggers so genannte Schwarze Hefte enthalten, thematisch breit angelegte Reflexionen aus den Jahren 1931 bis 1948, die der Philosoph in dreizehn in schwarzes Wachstuch gebundenen Heften (daher die Bezeichnung) niedergelegt hatte, und die man treffend als sein Denktagebuch bezeichnet hat. Von diesen sehr persönlichen Notizen erwartete man sich einen klareren Einblick in die Mo- tive, die hinter Heideggers Einlassung mit dem Nationalsozialismus gestanden hatten, und, da der Philosoph die Veröffentlichung zu Lebzeiten vermieden hatte, vielleicht auch ein der Intimität des Tagebuchs anvertrautes Schuldeingeständnis. Was man aber vor allem fand, waren so nicht erwartete, in ihrer negativen Tendenz und Radikalität verstörende Aussagen zum Judentum, die sogleich eine heftige mediale Diskus- sion um die Frage von Heideggers Antisemitismus auslösten. In den Jahren 2014 und 2015 erschien eine Flut von Stellungnahmen; keine der großen westlichen Zeitungen, die nicht

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GENIUS-LESESTÜCK | Nr. 9/Juli–August 2016 1 PHILOSOPHIE

Lesestücke für ein Freiheitliches Europa

Hans-Joachim Schönknecht

Martin Heidegger und der Nationalsozialismus

Über die kurze politische Verirrung eines großen Denkers

Am 26. Mai 2016 jährte sich der Tod des Philosophen Martin Heidegger zum vierzigsten Mal. Noch immer ist die Diskussion um seine zeitweilige Nähe zum Nationalsozialismus nicht be­endet. Im Gegenteil, sie flammte in den Jahren 2014/15, nach der Veröffentlichung der sog. Schwarzen Hefte, mit ungeahnter Heftigkeit wieder auf. Die folgenden Ausführungen ver­suchen, eine Erklärung für Heideggers Verstrickung zu geben (ohne diese irgendwie recht­fertigen zu wollen). Nach meiner Überzeugung ist die hauptsächliche Ursache in Heideggers Philosophie selbst zu suchen.

Die öffentliche Diskussion um Heideggers Engagement begann praktisch unmittelbar nach Kriegsende im Jahr 1945 mit der Untersuchung seines Falls seitens der Alliierten sowie mit dem darauf folgenden Entzug der Lehrerlaubnis im Januar 1946. Die Debatte begleitete, auch weil Heidegger nie öffentlich zu seiner Verstrickung Stellung nahm, mit charakteristi­schen Höhepunkten die Geschichte der Bundesrepublik und fand, aufgrund der epochalen Bedeutung des Denkers, stets auch im Ausland Aufmerksamkeit.

Die die Bildungseliten beunruhigende Frage war dabei stets, wie es geschehen konnte, dass der wohl originellste, produktivste und wirkmächtigste deutsche Philosoph des 20. Jahrhun­derts, dessen denkerische Ausstrahlung weit über Deutschland hinaus auf das europäische und das westliche Ausland überhaupt, ja bis nach Japan und China reichte, der tief zweideu­tigen Faszination dieses ebenso geistig primitiven wie in seinen führenden Figuren schlicht verbrecherischen politischen Systems erliegen konnte, und sei es auch nur für kurze Zeit. Wenn die Philosophie, als wesentliches Element der europäischen intellektuellen Kultur und Trägerin der Aufklärung, nicht einmal vor derartigen Fehltritten bewahren konnte, wozu war sie dann nutze?

Auf ihren unbestreitbaren bisherigen und vielleicht definitiven Höhepunkt gelangte die Auseinandersetzung mit der zwischen Februar 2014 und März 2015 erfolgten Veröffentli­chung der Bände 94 bis 97 der Gesamtausgabe, die Heideggers so genannte Schwarze Hefte enthalten, thematisch breit angelegte Reflexionen aus den Jahren 1931 bis 1948, die der Philosoph in dreizehn in schwarzes Wachstuch gebundenen Heften (daher die Bezeichnung) niedergelegt hatte, und die man treffend als sein Denktagebuch bezeichnet hat.

Von diesen sehr persönlichen Notizen erwartete man sich einen klareren Einblick in die Mo­tive, die hinter Heideggers Einlassung mit dem Nationalsozialismus gestanden hatten, und, da der Philosoph die Veröffentlichung zu Lebzeiten vermieden hatte, vielleicht auch ein der Intimität des Tagebuchs anvertrautes Schuldeingeständnis.

Was man aber vor allem fand, waren so nicht erwartete, in ihrer negativen Tendenz und Radikalität verstörende Aussagen zum Judentum, die sogleich eine heftige mediale Diskus­sion um die Frage von Heideggers Antisemitismus auslösten. In den Jahren 2014 und 2015 erschien eine Flut von Stellungnahmen; keine der großen westlichen Zeitungen, die nicht

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ihren Beitrag zur Diskussion geleistet hätte, zum Teil in Form von über Wochen sich hinzie­henden Kontroversen verschiedener Philosophen.

Die Fakten

Die markantesten Punkte von Martin Heideggers kurzzeitigem aktiven Eintreten für den Nationalsozialismus im Jahr 1933 sind die Übernahme des Rektoramts der Freiburger Univer­sität am 21. April 1933 und seine zu diesem Anlass gehaltene Antrittsrede mit deutlich natio­nal sozialistischen Akzenten, ferner sein öffentlich vollzogener Eintritt in die NSDAP auf der Feier zum 1. Mai 1933 sowie sein Telegramm an Adolf Hitler vom 20. Mai desselben Jahres, in dem der (laut neu erlassener Universitätsverfassung) ‚Führer­Rektor‘ Heidegger dem selbsternannten ‚Führer‘ des deutschen Volks seine Bereitschaft mitteilt, den deutschen Hochschulverband in nationalsozialistischem Sinne ‚gleichzuschalten‘. Nur ein knappes Jahr später und noch mitten in der für zwei Jahre geltenden Amtszeit, am 14. April 1934, kündigt Heidegger seinen Rücktritt vom Amt zum Sommersemester 1934 an. Zwar kann er sich nicht zum Austritt aus der NSDAP entschließen, der zweifellos für ihn und seine Familie gravieren­de negative Folgen gehabt hätte, doch werden in den folgenden Jahren seine vom Katheder herab geäußerten Urteile über die nationalsozialistische Realität zunehmend kritisch, ja der­art sarkastisch, dass seine Studenten fürchten, Heidegger rede sich um Kopf und Kragen. In scheinbarem Widerspruch zu der Abwendung vom NS­Regime stammen allerdings die gra­vierendsten antisemitischen Äußerungen Heideggers erst aus den Jahren um 1940. Wie dies zu erklären ist, davon später. Zunächst werfe ich einen Blick auf die Beweggründe, die Hei­degger zur Annäherung an den Nationalsozialismus führten.

Die Motive von Heideggers Annäherung an den Nazismus

Heideggers Motivlage ist komplex. Gewiss teilte er bestimmte Beweggründe der normalen Wähler der Partei, etwa die Frustration über die den Deutschen auferlegten schweren Kriegsreparationen, die desolate wirtschaftliche Lage in der Weimarer Zeit und die nicht unbegründete Angst vor einem Erstarken des Kommunismus, dessen grausame Realität man ja in der Sowjetunion seit der Oktoberrevolution von 1917 und insbesondere seit Stalins Machtübernahme im Jahr 1924 vor Augen hatte.

Opportunistische Aspekte, wie sie viele Parteigenossen hegten, dürften ihm fern gelegen haben, war er doch seit seiner Berufung nach Marburg 1923 der „heimliche König“ (Hannah Arendt) unter den deutschen Philosophen und hatte ab 1928 als Nachfolger Edmund Hus­serls in Freiburg einen der renommiertesten philosophischen Lehrstühle in Deutschland in­ne, stand beruflich also auf der Höhe des Erfolges. Das Motiv von Heideggers Annäherung an das Regime ist vielmehr in erster Linie ein geistig­philosophisches.

Heideggers schon in seinem berühmten frühen Hauptwerk Sein und Zeit (1927) entwickelte philosophische Grunderfahrung ist die eines defizienten Normalzustandes des menschlichen Seins; er bezeichnet ihn mit dem Begriff Uneigentlichkeit. Der Modus der Uneigentlichkeit bestimmt das gewöhnliche Dasein als eine bloße Alltäglichkeit, als ein Verfallen an das Man der Allgemeinheit, das sich in den ebenfalls negativ konnotierten Formen von Gerede, Neu-gier und Zweideutigkeit vollzieht. Heidegger fasst die conditio humana in der dialektisch zugespitzten Formel zusammen: „Jeder ist der Andere und Keiner er selbst.“[1]

Diesen defizienten Zustand betrachtet Heidegger als einen zu überwindenden. Ziel ist die Rückführung des Daseins zu einer substantiellen, gehaltvollen Verfassung, die er in termino­logischer Entsprechung als Eigentlichsein bezeichnet. Es geht, geläufiger ausgedrückt, dar­um, zur Authentizität, zu einem echten persönlichen Dasein zurückzufinden, im Geiste des expressionistischen Mottos: Mensch, werde wesentlich!

Geistesgeschichtlich ist diese dualistische Deutung der Existenz keineswegs neu, neu sind allenfalls die Begriffe, in die Heidegger sie fasst. In christlicher Perspektive – und der tief katholisch geprägte Heidegger ist ein entlaufener Seminarist! – entspricht dem der Dualis­mus von Unglauben und Glauben: Nur ein gläubiges Leben kann als ein im vollen Sinne ge­

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lungenes Leben bezeichnet werden. Der gleiche Dualismus, nur sozialphilosophisch säkula­risiert, erscheint in der marxistischen Antithese von (kapitalistischer) Entfremdung und (kommunistischer) Versöhnung des sozialen Seins. Schließlich gehört auch der aufklärerisch­romantische Rousseau mit seinem Programm, das der gesellschaftlichen Depravierung ein Rétour à la nature! entgegenruft, in diesen Kontext. Vielleicht stehen Heidegger Rousseaus Zivilisationskritik und dessen Sehnsucht nach dem (vermeintlich) heilen Ursprung sogar be­sonders nahe.

Die Antithetik von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit durchzieht Heideggers Denken, auch wenn diese Begriffe später zurücktreten, von Anfang bis Ende, von der tiefschürfenden Exis­tenzanalyse in Sein und Zeit bis zur späten, nur noch Eingeweihten zugänglichen Seinsspe­kulation und raunenden Beschwörung des griechischen Ursprungsdenkens. Heideggers Den­ken im Ganzen ist Jargon der Eigentlichkeit (Adorno). Es verändern sich im Laufe von Heide­ggers Schaffen lediglich die Terminologie sowie die Bestimmung der Ursachen und Erschei­nungsformen, durch die er Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit konstituiert sieht.

Politische Interpretation von Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit

Eine frühe Erscheinungsweise des defizienten Seinsmodus in politischer Hinsicht ist bei Hei­degger die Weimarer Republik mit ihrer Vielzahl von 22 Parteien. In rechtskonservativer Haltung verbinden sich für ihn damit die negativen Konnotationen von politischer Ohn­macht, demokratischer ‚Gleichmacherei‘, zivilisatorischer Verflachung und großstädtischer Dekadenz.

Dem setzt er entgegen die von Nietzsche übernommene Idee der „Ausrichtung des Lebens auf seine Tiefe und damit auf Rang und Unterschied“, [2] reflektiert mit seinem Freund Karl Jaspers den „Plan einer aristokratischen Universität“[3] und formuliert das Ziel, „das Volk zur Wahrhaftigkeit und echten Wertschätzung der echten Güter [sic] des Daseins zu erzie­hen“.[4] Die eigene Person stilisiert er in Opposition zur Verstädterung des Lebens, trägt selbstentworfene bäuerliche Tracht und erbaut eigenhändig seine Almhütte im Schwarzwäl­der Todtnauberg, hoch über Freiburg. Mit seinen Studenten unternimmt er, ganz jugendbe­wegt und nach Wandervogelart, Berg­ und Faltboottouren.

Als Triebkraft der Uneigentlichkeit, wie er sie versteht, entdeckt Heidegger bald auch die den Menschen in apparative Mechanismen einspannende moderne Technik, insbesondere in ihrer konsequenten privatwirtschaftlichen Verwertung. Der „Amerikanismus“ wird zum Ex­empel einer ihre ursprünglichen Güter liquidierenden Lebensweise, und Heidegger schreckt nicht vor der Behauptung einer Wesensidentität von Sowjetdiktatur und amerikanischer Demokratie zurück:„Russland und Amerika sind beide, metaphysisch gesehen, dasselbe: die­selbe trostlose Raserei der entfesselten Technik und der bodenlosen Organisation des Nor­malmenschen.“[5] Und dazu die Verortung der eigenen Nation: „[Wir] Deutschen hingegen liegen in der Zange [zwischen Bolschewismus und amerikanischem Kapitalismus als] das ge­fährdetste Volk und in alldem das metaphysische Volk.“[6]

In diesem Zitat ist fast alles für unser Thema Relevante enthalten:

• Die Verachtung der Demokratie – der amerikanischen wie der von Weimar;

• Die Gleichsetzung der liberalen Demokratie mit Stalins blutiger Diktatur unter einem vor­geblichen ‚metaphysischen‘ Gesichtspunkt;

• der Platonismus einer höheren, die Erfahrung der realen Verhältnisse ignorierenden, eben ‚metaphysischen‘ Vernunft – so als könne es dergleichen separiert von der Erfahrung der politisch­sozialen Realität durch die von ihr Betroffenen geben;

• die Identifizierung von Normalität (vgl.: „des Normalmenschen“) mit Substanzlosigkeit (‚Uneigentlichkeit‘);

• die Technikaversion;

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• der Gebrauch des Wortes ‚bodenlos‘, dessen spezifisch Heideggerscher Sinn uns noch be­schäftigen wird;

• die Annahme eines geistigen und politischen Sonderschicksals Deutschlands.

Den Führer führen?

Affinitäten von Heideggers politischer Auffassung zur NS­Ideologie sind evident: Die Ver­achtung der Demokratie, die Betonung einer historischen Mission Deutschlands sowie seiner Sonderrolle zwischen kommunistischem und kapitalistischem Block und die daraus erwach­sende Gefährdung. Vor allem auch der revolutionäre Gestus, die Bekundung, das abgelebte Alte, die öde Normalität zugunsten einer qualitativ neuen und lebenswerteren Zukunft zu beseitigen. Was Heidegger allerdings nicht teilt, ist der Rassegedanke, der nationalsozialisti­sche (Sozial­)Darwinismus. Er lehnt – Erbe seiner christlichen Prägung – die biologistische Interpretation des Menschen ab und zielt auf geistige Erneuerung und auf die Rückführung des Menschen zu existentiellem Ernst, wie er vordem durchs Christentum eingefordert wur­de.

Seine Einlassung mit dem Regime erfolgt in der Hoffnung, dieses in Richtung auf seine heh­ren Ziele beeinflussen zu können, er möchte „an Hitler herankommen“[7] und als Führer des Führers (K. Jaspers), als ‚Führer­Rektor‘, oberster universitärer Lehrer und damit ‚Erzieher der Erzieher‘ des deutschen Volkes sein. Das erinnert an Platons Versuch, seinen Idealstaat mit Hilfe des Tyrannen Dionysios von Syrakus zu errichten.

Doch ebenso wie Platon wird Heidegger in jeder Hinsicht ent­täuscht. Von Anfang an kommt es zu Spannungen mit dem Regime. Sein Dienstvorgesetzter, der badische Kultusminister Wacker (SS), wirft Heidegger vor, einen Privatnationalsozialismus zu vertreten und den Ras­segedanken, sprich: den Antisemitismus, zu vernachlässigen. Offenbar fehlt es Heidegger auch an verwaltungstechnischem Geschick und Interesse. Er zieht die Konsequenz und legt im April 1934 sein Amt nach nur einem Jahr vorzeitig nieder.

An der von Heidegger angestrebten geistigen Erneuerung der Menschen ist die Partei nicht interessiert, sondern an deren blinder Gefolgschaft. Statt auf selbstständig denkende Perso­nen setzt man auf Konformismus und Kadavergehorsam gegenüber dem ‚Führer‘. Die Ver­einnahmung des Menschen durch die Massenorganisationen stößt Heidegger ab, und er sieht bald im Leben im Nationalsozialismus mit seinen Aufmärschen und der Kraft­durch­Freude­Mentalität nur mehr „lärmende Erlebnis­Trunkenboldigkeit“. [8]

Parallel zum Scheitern seiner Hoffnung, die vom Regime für sich in Anspruch genommene ‚nationale Revolution‘ durch eine geistige Revolution vollenden zu können, vollzieht sich eine Veränderung von Heideggers politischer Philosophie und seiner Einschätzung der inter­nationalen Rolle Deutschlands. Mit zunehmender politischer Entfaltung erscheint Heideg­ger der Nationalsozialismus immer weniger als Gegenkraft gegen den Prozess der Technisie­rung der Welt und immer stärker als Mit­Exekutor der historischen Tendenz. Der ‚Führer‘ selbst wird nun von Heidegger gedeutet „als Techniker, als leitender Angestellter im Gestell als dem Inbegriff des technischen Zeitalters“,[9] und die „von Grund auf grundsätzliche [sic]‚Motorisierung‘ der Wehrmacht [als ein] metaphysischer Akt“.[10] In diesem Sinne sind ihm jetzt die „‚jeweiligen Staatswesen, die demokratischen, faschistischen, bolschewistischen und ihre Mischformen‘ [] nur ‚Fassaden‘ des Willens zur Macht“,[11] und er urteilt: „Die pla­netarischen Hauptverbrecher [] lassen sich gerade an den Fingern einer Hand abzählen.“[12] Das ist Pauschalierung auf hohem Reflexionsniveau! Anthropologisch bedeutet das für ihn, dass „die neuzeitliche‚ machinale Ökonomie‘, die maschinenmäßige Durchrechnung allen Handelns und Planens in ihrer unbedingten Gestalt, ein neues Menschentum fordert, das über den bisherigen Menschen hinausgeht“.[13]

Heideggers antisemitische Äußerungen

Im persönlichen Umgang mit „Juden“ war Heidegger frei von Ranküne, er hatte stets jüdi­sche Schüler, seine zeitweilige Geliebte Hannah Arendt war bekanntlich „jüdischer“ Her­

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kunft, ebenso sein Assistent Werner Brock, den er bis 1935 halten kann und dann an einen Kollegen in der Schweiz empfiehlt. Dennoch sind die antisemitischen Äußerungen Heideg­gers in seinen Schriften aus der NS­Zeit zahlreich und finden sich auch noch nach dem Bruch mit dem Regime. Sie spiegeln zum Teil geläufige, jahrhundertealte Vorurteile wider, etwa die Rede von der jüdischen „Geschicklichkeit des Rechnens und Schiebens und Durcheinan­dermischens“[14] oder die komplottistische, bis in unsere eigene Gegenwart gängige Vorstel­lung „einer gefährlichen internationalen Verbindung der Juden“.[15] In diesen Kontext ge­hört auch Heideggers Rede von dem „semitischen Nomaden, [dem] die Natur unseres deut­schen Raumes [] vielleicht überhaupt nie offenbar [wird]“,[16] als demjenigen, der, „an nichts gebunden, alles sich dienstbar macht“.[17]

Zitiert werden müssen die beiden schockierenden Aussagen, in denen Heidegger den Holo­caust erwähnt. Sie lauten:

1. „Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe [sic] wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasser­stoffbomben.“[18]

2. „Wenn erst das wesenhaft ‚Jüdische‘ im metaphysischen Sinne gegen das Jüdische kämpft, ist der Höhepunkt der Selbstvernichtung in der Geschichte erreicht []“.[19]

Das unmittelbar Abstoßende dieser Aussagen darf uns nicht an einer (notgedrungen knap­pen) Analyse hindern. Zunächst zu Zitat Nr. 1: Die Identifizierung von technisierter Landwirt­schaft und Ermordung der „Juden“ in industriellem Maßstab (die beiden anderen Beispiele lasse ich auf sich beruhen) stellt eine verwerfliche Verharmlosung dar. Heidegger glaubt, sie sich auf Grund einer fragwürdigen „höheren“ Einsicht, einer metaphysischen Wesensschau, gestatten zu dürfen.

Aussage Nr. 2 folgt der gleichen Logik, ist allerdings komplexer. Das Faktum, dass die ‚Juden‘ (zu jener Zeit!) keinen eigenen Raum, keinen heimatlichen Boden im Sinne eines Staatswe­sens haben (Letzteres war angestrebt, Heidegger konnte es wissen) und über die Welt zer­streut sind, wird vom Philosophen zum ‚metaphysischen‘ Faktum ihres wesenhaften Noma­dentums stilisiert. In ihrer Ortlosigkeit verkörpern sie für ihn die ebenfalls planetarische Ausmaße annehmende, alle heimatliche Verwurzelung des Menschen zerstörende Technik und Industrie. In der Shoah „kämpft“ so das „wesenhaft Jüdische“ (mit Anführungszeichen) der Technik gegen das Jüdische (ohne Anführungszeichen), das heißt die wirklichen jüdi­schen Menschen – das Jüdische vernichtet sich selbst!

Eine abstrusere Argumentation ist kaum vorstellbar, und sie ist zweifellos inspiriert von der damaligen Judenhetze selbst. Das Argument wird denn auch nach dem Sturz des National­sozialismus umstandslos fallen gelassen – allerdings nicht ersatzlos: An die Stelle des „Jüdi­schen“ tritt als Verursacherin des globalen Verhängnisses der Technik und der künftigen planetarischen Heimatlosigkeit des Menschen nun die Metaphysik, die altehrwürdige Theo­rie des Wahren und Guten selbst. Doch dies ist ein anderes Thema.

Ich versuche ein Fazit zu ziehen: Heideggers Verstrickung in den Nationalsozialismus er­scheint mir weniger als Ausdruck einer Fixierung auf die Partei­Ideologie denn als Resultat, erstens seines Antimodernismus und Antiurbanismus, zweitens seines Glaubens an ein genu­ines philosophisches Wahrheitsprivileg und drittens seines geradezu wahnhaften Vertrauens in die Irrtumsunfähigkeit des eigenen Denkens.

Ein wirklicher philosophischer Irrtum liegt in Heideggers Ausgangsdiagnose der Uneigent­lichkeit des Daseins, von der zu Anfang die Rede war. Das Leben des Menschen der westli­chen Kultur und Zivilisation ist geprägt durch eine in über zwei Jahrtausenden entwickelte Wertordnung, deren oberstes Gut die freie Selbstbestimmung des Einzelnen ist. Dazu ver­hält sich das individuelle Dasein in seinem Vollzug notwendig, ob bewusst oder unbewusst, ob affirmativ oder negierend, konformistisch oder kritisch, in Arbeit und Beruf, in Familie und Freizeit, als Bürger und Privatmensch. In seiner Freiheit liegt die Substanz des Daseins.

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Aufgabe des Philosophen ist allenfalls, daran zu erinnern. Dass das Volk eines philosophi­schen Erziehers bedürfe, ist eine residuale autoritäre Vorstellung Heideggers.

Anmerkungen

[1] Sein und Zeit § 27

[2] O. Pöggeler: Philosophie und Nationalsozialismus – am Beispiel Heideggers. Opladen 1990, S. 25

[3] M. Heidegger/K. Jaspers: Briefwechsel 1920–1963. München 1992, S. 135

[4] Eine Chronik. In: D. Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Stuttgart 2003, S. 519

[5] Einführung in die Metaphysik (1935); ich zitiere nach der umfangreichen Dokumentation Heidegger und der Nationalsozialismus (Wikipedia, Stand 05/2016); im Folgenden abgekürzt‚HNS‘; hier Kap. 3.3.

[6] Ebd.

[7] Eine Chronik, a.O., S. 526

[8] HNS 3.4

[9] Nach H. Ebeling; zit. HNS 3.6

[10] GA (Gesamtausgabe Heidegger), Bd. 48, S. 333; zit. HNS 3.8

[11] Zit. HNS 3.7

[12] GA 69, 77; zit. HNS 3.7

[13] GA 48, 205; zit. HNS 3.8

[14] Zit. HNS 2.7

[15] Zit. HNS 5.3

[16] Über Wesen und Begriff von Natur, Geschichte und Staat; zit. HNS 2.7

[17] GA 95, 96f.; zit. HNS 5.3

[18] GA 79 III, 27; zit. HNS 4.4

[19] GA 97, 20; zit. HNS 5.3