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Hansjorg Gutberger Bevolkerung, Ungleichheit, Auslese

Hansjorg Gutberger Bevolkerung, Ungleichheit, Auslese · Bolte zeigte in diesem Zusammenhang auch, dass Rene Konig (mit Bezug auf Emile Durkheim), die Soziolo gie als "soziale Morphologie"

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  • Hansjorg Gutberger

    Bevolkerung, Ungleichheit, Auslese

  • Hansjorg Gutberger

    Bevolkerun^, Ungleichheit Auslese Perspektiven sozialwissenschaftlicher Bevolkerungsforschung in Deutschland zwischen 1930 und 1960

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    VSVERLAG FOR SOZIALWISSENSCHAFTEN

  • Bibliografische Information Der Deutschen Bibiiothek Die Deutsche Bibliotiiek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natlonalbibliografie; detail-lierte bibliografische Daten sind im internet uber abrufbar.

    1. Auflage Mai 2006

    Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag fur Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006

    Lektorat: Monika Mulhausen / Marianne Schultheis

    Der VS Verlag fur Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de

    Das Werk einschlieBllch aller seiner Telle ist urheberrechtlich geschutzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fur vervielfaltigungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden durften.

    Umschlaggestaltung: KunkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, ScheBlitz Gedruckt auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany

    ISBN-10 3-531-14925-3 ISBN-13 978-3-531-14925-7

  • Vorwort

    Der demographische Wandel wird nun auch in der nicht-wissenschaftlichen Offentlichkeit zunehmend als Problem westlicher Industriegesellschaften erkannt. Gleiches gilt ftir die wachsenden sozialen Ungleichheiten innerhalb dieser Gesellschaften. Beide Problemkreise sind nicht getrennt voneinander zu diskutieren, sondem sie stehen in enger Wechselwirkung zueinander. Die Geburtenentwicklung in einer Gesellschaft resultiert selbstverstandlich aus einem komplexen Biindel an Ursachen. Zu diesen Ursachen zahlt unter vielen anderen auch die Frage des Erhalts des sozialen Status der (potentiellen) Eltem. Wo auf Kinder verzichtet wird, hat das auch etwas mit erhofften (tatsachlichen oder vermeintlichen) Distinktionsge-winnen in kapitalistischen Marktgesellschaften zu tun. Diese Problematik ist wiederum nicht losgelost davon zu diskutieren, wieviel Mobilitat und welche Formen von sozialer Mo-bilitat in einer Gesellschaft moglich sind und wie diese von den Betroffenen wahrgenommen werden.

    Die vorliegende Untersuchung nimmt sich dieser hochkomplexen Problematik von -allgemeiner gefaBt - sozialer Ungleichheit, sozialer SchlieBung und demographischem Wan-del hier in wissenschaftshistorischer Perspektive an. Allerdings nur insoweit, als sie sich mit der sozialwissenschaftlichen Bevolkerungsforschung zwischen den 1930er und 1950er Jah-ren in Deutschland kritisch auseinandersetzt. In damaligen Forschungen glaubten viele, dass die quantitative und die "qualitative" Bevolkerungsentwicklung auch liber die Planung sozi-aler Positionen beeinflussbar sei. Sozialtechniken waren inharenter Bestandteil dieser De-mographic. Hier sollen einzig die damaligen Denkstile iiber den Zusammenhang zwischen Bevolkerungsentwicklung und Sozialstruktur^ vorgestellt werden, nicht aber die tatsachli-chen soziodemographischen Vorgange innerhalb des genannten Zeitraums. Nicht die soziale Realitdt, auch nicht tatsachliche sozialpolitische Mafinahmen und deren ungleichheitshem-mende^ oder ungleichsfordemde Wirkungen sind hier Gegenstand der Untersuchung, son-dem ausschlieBlich die Wahmehmung von "Bevolkerung, Ungleichheit, Auslese" im Fokus der sozialwissenschaftlichen Bevolkerungsforschung. Diese Rekonstruktion erscheint not-wendig, weil mit der Renaissance der Problematik in Vergessenheit zu geraten droht, welche Irrwege in Deutschland auf diesem Gebiet schon einmal beschritten worden sind. Die wis-senschaftshistorische Aufbereitung dient insofem der Wegbereitung einer sich dieser Gefah-ren bewuBten Bevolkerungssoziologie.

    Das vorliegende Buch ist ein erstes Resultat meiner Mitwirkung am DFG-Schwer-punktprogramm "Das Konstrukt 'Bevolkerung' vor, im und nach dem 'Dritten Reich'",^ das im Jahr 2001 angelaufen ist. Die Studie baut in keiner Weise auf friihere Veroffentlichungen von mir auf und ist vollig aus sich heraus zu verstehen. Die vor einigen Jahren vorgelegten Resultate zur Geschichte der empirischen Sozialforschung im NS-Staat erganzen das hier zu Papier Gebrachte gleichwohl dennoch."̂

    "Sozialstruktur" meint hier soziale Stratifikation und soziale Differenzierung. Vgl. Aly 2005. Vgl. dazu Mackensen, Reulecke ed. 2005. Vgl. Gutberger ^ 1999 (auf die raumliche Dimension sozialer Ungleichheit wird dort sehr vieler intensiver ein-gegangen).

  • VI Vorwort

    Recht herzlich bedanken mochte ich mich bei alien Kolleginnen und Kollegen des o.g. Schwerpunktprogramms flir den kooperativen und freundlichen Umgang miteinander. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Carsten Klingemann, der das Projekt iiberhaupt erst moglich gemacht hat und der es unermudlich in Wort und Tat unterstiitzte. Bin groBes Dankeschon auch an alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der "Forschungsgruppe Bevolkerungsfragen" an der TH Berlin flir wichtige Diskussionen und die zuganglich gemachten Texte. Dr. Ursu-la Ferdinand verdanke ich wesentliche Hinweise in Sachen Karl Valentin Miiller.

    Von den Initiatoren und Gutachtem des Schwerpunktprogramms habe ich besondere Hilfe erfahren: Prof. Dr. Rainer Mackensen (Berlin) hat sich in mancher Diskussion vor mich gestellt. Prof. Dr. Josef Ehmer (Universitat Wien) hat meinen Blick flir die Sichtweise der Historiker gescharft. Prof. Dr. Bemhard Schafers (Universitat Karlsruhe) hat mich ermu-tigt, in meinen Bemiihungen um eine bessere Durchdringung des Themas nicht nachzulas-sen. Fiir wichtige Ermutigungen und Hinweise mochte ich mich auch bei Prof. Dr. Robert Lee (University of Liverpool), Dr. Sybilla Nikolow (Universitat Bielefeld), Patrick Henssler (Universitat Bamberg), Sonja Schnitzler (Universitat Osnabriick), Dr. Heike Petermann, Dr. Michael Wedekind (beide Universitat Miinster), Dr. Ingo Haar (Universitat Berlin), Werner Lausecker (Universitat Wien) und Dr. Alexander Pinwinkler (Universitat Salzburg) bedan-ken. Heike Gorzig hat mir bei den abschlieBenden Formatierungsarbeiten entscheidend ge-holfen.

    Vielen Dank auch an die Migrantlnnen aus uber 16 Nationen in den "Internationalen Garten Gottingen e.V.", die mir in dieser Zeit deutlich gemacht haben, dass Wissenschaft stets aufgefordert bleibt, an unserer aller Menschwerdung mitzuarbeiten. Ihnen ist diese Stu-die gewidmet.

    Gottingen, im November 2005

    Hansjorg Gutberger

  • Inhaltsverzeichnis

    Vorwort V

    Inhaltsverzeichnis VII

    Einfiihrung in die Thematik 1 I. Bevolkerungsfrage und gesellschaftliche Organisation 1 II. Exkurs zur sozialen Ungleichheit 3 III. Sozialwissenschaftliche Bevolkerungsforschung 6 IV.Wissenschaft in einer totalitaren Gesellschaft 8 V. Reflexion des Forschungsstandes 10

    Methodische Annaherungen an die Texte 17 I. Der Einbezug der Fleckschen Wissenschaftstheorie in die Untersuchung 17 II. Bevolkerung, 'Rasse' und soziale Rangordnung 20 III. Die Bevolkerung und die Ordnung des Raums 27 IV. (Soziale) Mobilitat unter demographischen Aspekten betrachtet 28

    Denkstile 35 I. Die 'soziale Frage' im Fokus der Bevolkerungs- und Sozialstatistik 35 II. Bevolkerungs- und Sozialstatistik als Sozialdemographie 38 III. Sozialwissenschaftliche Bevolkerungsforschung in Leipziger Tradition 75 IV. "Bevolkerungslehre" und Bevolkerungssoziologie in Kiel 104 V. Zu den Forschungsarbeiten der Breslauer Schule 149

    Schlussfolgerungen 157 I. Einleitung 157 II. Vergleichende Darstellung der Denkstile 159 III. Abstract der Schlussfolgerungen und Ausblick 166

    Literatur 169

    Anhang 189 I. Chronologisch geordnete Daten zur Biographic von Gerhard Mackenroth 189

    Personenindex 195

  • Einfiihrung in die Thematik

    I. Bevolkerungsfrage und gesellschaftliche Organisation

    Nach dem Ende des 2. Weltkriegs bestand besonders in den angelsachsischen Landem ein (weiterhin) ausgepragtes Interesse an "demography" oder "population studies". In Deutsch-land wurde die Behandlung bevolkerungswissenschaftlicher Themen, wenn tiberhaupt, dann nur im Schatten einer Leitdisziplin geduldet. Die sich nach 1945 entwickelnde Bevolke-rungssoziologie war ein Resultat und ein Ausdruck dieser Situation. Als der Soziologe Karl Martin Bolte im Jahr 1961 die Frage nach dem Verhaltnis zwischen Bevolkerungswissen-schaft und Soziologie aufwarf und sich rein rhetorisch beim Leser erkundigte, wo sich die Soziologie fur demographische Aspekte interessiere, gab er folgende Antwort:

    "Sobald sich der Soziologe mit konkreten, iiber langere Zeit bestehenden 'sozialen Systemen' be-schaftigt, interessiert er sich u. a. flir den Emeuerungsprozefi dieser Gebilde. (...) Handelt es sich dabei um 'Gesellschaften', so wird er fragen, welche Bedeutung einerseits die natiirliche Bevolke-rungsvermehrung und andererseits Ein- und Auswanderungsbewegungen haben. Seine Analyse wird sich weiterhin auf die Vorstellungen, Verhaltensweisen, Regelungen, Institutionen und Or-ganisationen erstrecken, die mit diesem ProzeB zu tun haben. Daruber hinaus wird er sich aber vor allem mit den intemen Differenzierungen der Bevolkerungsbewegung befassen. Schichten-oder berufsspezifisch differenzierte Fruchtbarkeits- und Sterbewerte, schichten- und berufsspezi-fische Ein- und Auswanderungen sind haufig eine wesentliche Ursache sozialen Wandels. In Verbindung mit schichtenspezifischen Vorstellungen bezuglich Fortpflanzung, Geburtenkontrol-le, Heiratsalter und iiber 'standesgemaBe' Heiratspartner beeinflussen oder bedingen sie verschie-dene soziologisch bedeutsame Mobilitatsprozesse. Binnenwanderungen, die zu einer standigen Vermischung der Bevolkerung fiihren, charakteristische Land-Stadtbewegungen, Ballungen der Bevolkerung oder der voriibergehende Auszug der erwerbsfahigen Altersgruppen aus bestimm-ten Gebieten (...) sind Ereignisse, welche Folge, Ursache oder charakteristische Begleiterschei-nung bestimmter Gesellschaftsstrukturen oder ihrer Umwandlung sein konnen."^

    Damit wurden empirische Beobachtungen der "intemen Differenzierungen" der Bevolke-rung (sowie die Mobilitatsprozesse dieser Subpopulationen untereinander) in den Mittel-punkt einer soziologischen Annaherung an demographische Fragestellungen gerlickt.^ So-weit sich Soziologen fur Bevolkerungsvorgange interessierten, taten sie dies mit der Ab-sicht, etwas uber die Bedeutung demographischer Vorgange fur den Emeuerungsprozess ei-ner Gesellschaft zu erfahren; es ging ihnen, so Bolte, letztlich immer um die Ursachen sozi-alen Wandels.

    Die Soziologisierung der Bevolkerungswissenschaft richtete sich einerseits gegen die sogenannten "Gesinnungstheorien", die vor allem durch individualpsychologische Erklarun-gen demographische Entwicklungen verstandlicher machen wollten, aber auch gegen rein

    Bolte 196 l:260f. Bolte zeigte in diesem Zusammenhang auch, dass Rene Konig (mit Bezug auf Emile Durkheim), die Soziolo-gie als "soziale Morphologie" starker flir die "Bevolkerungsfrage" offnen wollte. Im Zuge dieser Annaherung hatten dann "die Demographic, die Okologie und die Soziogeographie (...) aus ihrer relativen Isolierung befreit und bewusster der Soziologie zugeordnet" werden konnen (ebd., 261).

  • Einflihrung in die Thematik

    naturwissenschaftlich-medizinische Deutungen der Geburtenentwicklung und anderer de-mographischer Phanomene. So war der Bevolkerungsprozess auch fiir den Kieler Bevolkerungssoziologen Gerhard Mackenroth - so Bolte - ein nicht ausschlieBlich naturaler

    "Lebensvorgang (...) innerhalb dessen sich ein unendlich differenziertes Verhalten der Menschen aufbaut. Dem biologisch nicht mehr greifbaren Phanomen solcher Differenzierung kann man nach Mackenroth nur mit typisch soziologischen Kategorien und Methoden nahekommen. Hier-mit nahem wir uns nun aber Zusammenhangen, die deutUch iiber die bisher aufgewiesenen Be-ziehungen zwischen Demographic und Soziologie hinausgehen. Es handek sich nicht mehr um eine einfache Bezugnahme auf soziale Bedingungen, um die Ursachen der Entwicklung demo-graphischer Werte darzulegen, noch um eine Auffassung von der Demographic als Hilfswissen-schaft zur Aufdeckung der AuBenseiten soziologischer Strukturen, sondem um eine charakteristi-sche Verbindung, die beide Wissenschaften eingehen. H. Linde spricht in diesem Zusammen-hang von Bevolkerungssoziologie und G. Mackenroth von soziologischer Bevolkerungslehre."'̂

    Von "sozialer Ungleichheit" war hier nicht unmittelbar die Rede. Wandten sich Sozialwis-senschaftler Bevolkerungsfragen und dem (damit in Zusammenhang stehenden) sozialen Wandel zu, kamen sie jedoch um die Frage der Deutung der sozialen Unterschiede in einer Gesellschaft nicht herum. Noch in den 1920er Jahre bestand fiir diese Zusammenhange in der deutschen Bevolkerungsforschung ein deutlich artikuliertes Bewusstsein; allerdings gab es auf diesem Feld von jeher politisch weit rechts stehende, meist biologistisch und sozi-aldarwinistisch argumentierende Deuter der 'sozialen Ungleichheit'. Wie immer man zur Funktion und zur politischen Beeinflussbarkeit sozialer Ungleichheit steht:^ flieBt die The-matik erst einmal in die Bevolkerungswissenschaft ein, so bleiben davon scheinbar 'rein' de-mostatistische Fragen, wie z.B. die der Entwicklung der BevolkerungsgroBe nicht unbe-riihrt:

    "Aus soziologischer Sicht ist vor allem die Feststellung bedeutsam, dass bevolkerungstheoreti-sche Modelle und Analysen in starkem MaBe von den jeweilig vorherrschenden sozial- und ge-sellschaftspolitischen Vorstellungen beeinflusst sind. Die gesellschaftliche Entwicklung beriihrt nicht nur den Zusammenhang von demographischen und sozialem Wandel, sondem auch die Wahmehmung und Interpretation demographischer Prozesse."^

    So auch im Europa der Zwischenkriegszeit. Die Mobilisierung der Sozialstrukturen war hier seit der Jahrhundertwende eine ganz zentrale Erscheinung. Durch sozialokonomische Um-schichtungsprozesse veranderten sich die Gesellschaften in Europa extrem, neue Schichten bildeten sich heraus und die Fluktuationen zwischen ihnen nahmen deutlich zu; vielleicht ahnlich stark, wie wir es in unserer Zeit seit dem Ende des Kalten Krieges erleben. Die Zu-nahme von geistigen Tatigkeiten und Angestelltenberufen eroffnete - wenn auch nur fiir we-nige - die Moglichkeit, aus 'unteren' Schichten in privilegiertere iiberzutreten. Es ist darauf hingewiesen worden, dass wahrend der Zeit des Nationalsozialismus in der deutschen Ge-sellschaft wohl ein fundamentaler Wandel im Schichtungssystem seinen Abschluss fand: Die traditionellen Schichtungssysteme, die durch Besitz-, Identitats- und Statusiibertragung

    Bolte 1961:264. Vgl. dazu den Exkurs zur sozialen Ungleichheit auf der nachsten Seite. Hopflinger 1997:16.

  • Exkurs zur sozialen Ungleichheit

    in der Generationenfolge und die Fokussierung auf die Familie gekennzeichnet waren (die Familie braucht den 'Erben'!), wurden in Folge der Industrialisierung immer starker durch die staatlich organisierte Sukzession von Geburtsjahrgangskohorten durch das Bildungs-und Beschaftigungssystem abgelost.^^ D.h. aber auch, dass die (quantitative) "Bevolke-rungsfrage" von der Frage nach den Ausbildungs(moglichkeiten), den Berufen, der Zahl und der 'Qualitat' der Arbeitsplatze usw. nicht mehr zu losen war. Aus diesen Grlinden war z.B. fur den Leipziger Bevolkerungswissenschaftler Gunther Ipsen die sogenannte "Bevolke-rungswelle" kein demostatistischer Befund, sondem ein sozialer Vorgang. ̂ ̂ Ftir den Genea-logen und Soziologen Johann Hermann Mitgau, der als Abteilungsleiter in dem geplanten "Reichsinstitut fur Bevolkerungswissenschaft und Bevolkerungspolitik" wirken soUte und der wahrend des Krieges dort an der Seite von Elisabeth Pfeil arbeitete, war bereits 1928 die (quantitative) Bevolkerungsfrage die treibende Kraft fur den sozialen Schichtungsprozess.^^ Die variable BevolkerungsgroBe innerhalb eines Raumes hatte in dieser Sicht gleichsam un-mittelbare Auswirkungen auf den Mechanismus der Verteilung sozialer Positionen. Mitgau meinte deshalb auch spater immer wieder einen Zusammenhang zwischen der (familiaren) Generationenfolge und der sozialen Stratifikation, d.h. den Schichten und den Schichtbil-dungsprozessen in einer Gesellschaft erkennen zu konnen. Wie wir spater genauer sehen werden, iibemahm die 'sozialwissenschaftliche' Bevolkerungswissenschaft hier zwar partiel-le Kenntnisse aus der empirischen Soziologie, antizipierte diese aber in spezifischer Weise.

    In der vorliegenden Studie soil deshalb untersucht werden: Wie wurde 'soziale Un-gleichheit' in der Bevolkerungsforschung seit den 1930er Jahren deskriptiv gefasst? Wie wurde 'Ungleichheit' in der zeitgenossischen Bevolkerungswissenschaft wahrgenommen? Wie wirkten in diesen 'Denkstilen' (Ludwik Fleck) als 'Ungleiche' bezeichnete Kollektive aufeinander ein, wo verliefen ihre Grenzen? Was verstand man in der deutschen Bevolke-rungsforschung unter sozialer Mobilitat? Zum besseren Verstandnis des nachfolgend pra-sentierten Materials sei hier zunachst ein kurzer Exkurs zu den damit zusammenhangenden soziologischen Fragen vorangestellt.

    II. Exkurs zur sozialen Ungleichheit

    Welche Form der Beschreibung fur die Darstellung sozialer Ungleichheit in der Bevolke-rungswissenschaft gewahlt wird, ist auch abhangig von den je vorherrschenden Klassifikationsgrundlagen in der Gesellschaft. In standischen Gesellschaften waren es weit-gehend "askriptive Merkmale, die in der Gesellschaft so weitgehend institutionalisiert und standardisiert waren, dass praktisch jedem Normalmitglied ein eindeutiger und legitimer Ort in der Gesellschaftsstruktur zugeordnet war".̂ ^ Hingegen verlangte das modeme Leistungs-prinzip, "daB die gesellschaftliche Stellung von Individuen sich an der Leistungsqualifikati-on, der erreichten beruflichen Position und der auf diese Weise erzielten materiellen Beloh-nung bemiBt."^^ Askriptive Kriterien - Herkunft, Geschlecht, 'Rasse' - spielten zwar de facto

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    Vgl. Mayer 1989:272. Vgl. Mackensen 1985:68f. Vgl. Mitgau 1928:24. Kreckel 1987:102. Ebd.

  • Einfiihrung in die Thematik

    weiterhin eine Rolle bei der Bestimmung von Lebenschancen - nach einer (soziologischen) Modellvorstellung wurde aber mit ihrem zunehmenden Verschwinden gerechnet. In dieser Perspektive wurde demnach zwischen den durch individuelles Verhalten gewahlten und den rein zugeschriebenen Bedeutungen unterschieden. Askriptive Zuschreibungen waren in die-ser Sicht gewissermaBen Abweichungen von einem 'objektiven', weil fur alle Menschen zu-ganglichen BeurteilungsmaBstab. Die Grenzen zwischen askriptiven und erwerbbaren Merkmalen sind aber in der gesellschaftlichen Wirklichkeit keineswegs so rigide, wie in die-sem Modell unterstellt, denn wie das Beispiel "Bildung" zeigt, konnen an sich erwerbbare Eigenschaften in einem Umfeld, das durch soziale Segregation, Verdrangungskonkurrenz sozialer Milieus untereinander und die Kanalisierung sozialer Pfade gepragt ist, zu quasi as-kriptiven Merkmalen werden.̂ ^

    Problematisch wird die Anwendung des Leistungsbegriffs erst recht dort, wo behauptet wird, dass das individuelle Leistungsprinzip iiber die Zuweisung gesellschaftlicher Platzie-rungen entscheide. Andere Verteilungskriterien, z.B. Prozesse sozialer SchlieBungen,̂ ^ die durch ein Versagen politischer und/oder sozialer Eliten toleriert werden, bleiben dann auBen vor:

    "Das individuelle Leistungsprinzip hat immer groBere Teile der Bevolkerung ins Elend gesttirzt Oder darin festgehalten. Die Entwicklung der Sozialgesetzgebung ist der sichtbarste Ausdruck dafiir, daB sich in der geschichteten Gesellschaft die Gewahrleistung von Grundbedurfnissen als zweite Legitimationsgrundlage durchgesetzt hat (...) Die beiden Prinzipien stehen also in einem Konkurrenzverhaltnis zueinander. Dies bedeutet, daB die Durchsetzung des einen Prinzips immer nur auf Kosten des anderen moglich ist."̂ ^

    Zudem sind die Motivationen aller Gesellschaftsmitglieder etwas zu 'leisten' ungleich ver-teilt, und zwar zuallererst nicht, weil hier 'angeborene' Faktoren wirken wtirden, sondem weil in der Praxis - heute wieder verstarkt - de facto nicht alle partizipieren (diirfen): "Wer am Rande der Gesellschaft steht und resigniert feststellen muss, dass ihm kaum Moglichkei-ten zum Wettbewerb um Belohnungen geboten werden, wird sich der Gesellschaft gegenti-ber wenig loyal und anpassungsbereit zeigen."^^

    Ein auf individuelle 'Leistung' bezogenes Modell sozialer Schichtung geht mindestens implizit von der pessimistischen Vorstellung aus, dass Talente knapp sind und diese nur auf Grund ihrer Knappheit eine besondere Belohnung erfahren. Dem liegt ein fragwiirdiges Menschenbild zugrunde, das besagt, dass nur durch die (An)reize materieller Belohnungen Menschen zur Aktivitat angehalten werden konnen. ̂ ^ Eine solche (besitzburgerliche) Vor-stellung wirkt dort sozial desintegrativ auf eine nationale Gesellschaft, wo diese so organi-siert ist, als ob materielle Anreize (Konsumgtiter, Reisen, ein an Geldeinkommen gebunde-ner Status) die Entwicklung der in jedem Menschen liegenden Fahigkeiten sicherstellen wurde. Das schlieBt zwangslaufig diejenigen aus, die nicht oder nur zu einem gewissen Gra-de werden konkurrieren konnen. Die Kopplung sozialer Anerkennung mit materiellen Wer-

    Vgl.Schatz 2005:130. Vgl. zum Diskussionsstand der Theorie sozialer SchlieBung: Mackert 2004. Zingg,Zipp 1979:76. Zingg, Zipp 1979:118. Vgl.Zingg,Zippl979:116f.

  • Exkurs zur sozialen Ungleichheit

    ten forciert zudem die sozialen Abstiegsangste derjenigen, die untereinander konkurrieren -mit entsprechend negativen psychosozialen Folgen fur alle. Und da heute in vielen Berufen im globalen MaBstab konkurriert wird und fur einige Berufsgruppen sehr dynamische 'Wirt-schafts- und Sozialraume' entstehen, nehmen im nationalen MaBstab diejenigen Gruppen rasch ab, die liberhaupt noch untereinander 'in Sichtweite' in Konkurrenz treten. Das so missverstandene 'Leistungs'-Modell baut (auch global) als Zielperspektive auf die Kraft und die Talente kleiner Gruppen und entwickelt kein Vertrauen in die Kraft und die Talente aller in den Gesellschaften vorhandenen Menschen (one World). Die offene Leistungsgesell-schaft ist zwar eine ideologische Legende,^^ aber sie wird dort geglaubt (und wird so Teil der sozialen Wirklichkeit), wo allein die individuelle Anstrengung den Ausweg aus den be-driickenden soz\2i\Qn Ahstiegsdngsten suggeriert.

    Modeme Gesellschaften sollten zwar bestrebt sein soziale Ungleichheit abzubauen, so-ziale Ungleichheit ist aber vor den Erfahrungen mit Massengesellschaften mit politischen Argumenten (nicht mit okonomischen oder soziologischen!) auch positiv bewertet worden. Hannah Arendt machte - und man muss ihr darin nicht folgen - die politische Gleichheit von dem Vorhandensein sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft abhangig:

    "Demokratische Freiheiten grtinden zwar auf der Gleichheit aller Burger vor dem Gesetz; aber diese Gleichheit hat nur dann einen Sinn und kann nur dort funktionieren, wo die Burger zu be-stimmten Gruppen gehoren, in denen sie reprasentiert werden konnen, oder wo sie innerhalb ei-ner sozialen oder politischen Hierarchic leben. Gerade Gleichheit vor dem Gesetz kann es nur far Ungleiche, also, politisch gesprochen, nur fur Menschen geben, die entweder von Geburt oder durch ihren Beruf oder durch ihren politischen Willen sich in Gruppen scheiden und differenzie-

    Diese Aussage traf Hannah Arendt vor dem Hintergrund massengesellschaftlicher Abwege in Nazi-Deutschland und der Sowjetunion; beide Staaten hatten eben nicht nur klassenlose Gesellschaften sondem 'atomisierte Massengesellschaften' hervorgebracht. Arendt ging es also immer um die Beeinflussbarkeit, die Funktion und die Bedeutung sozialer Organisation, nicht um individuelle Unterschiede oder gar um Analysen zur Korrektur der menschlichen Natur. Ein an sich banales Faktum in der Debatte um Ungleichheit, das aber zu Beginn der 1930er Jahre auch auBerhalb Deutschlands noch keineswegs selbstverstandlich war, wie fol-gende Richtigstellung der Ungleichheitsdiskussion in den angelsachsischen Landern von Richard Henry Tawney (Equality, 1931) zeigt:

    "Wer Ungleichheit kritisiert und Gleichheit fordert, verfallt keineswegs, wie gelegentlich be-hauptet, der romantischen Illusion, die Menschen seien im Blick auf Charakter und Intelligenz gleich. Er glaubt vielmehr, dass die Menschen zwar in ihrer naturlichen Begabung groBe Unter-schiede aufweisen mogen, dass es aber einer zivilisierten Gesellschaft geziemt, Ungleichheiten zu beseitigen, die ihren Ursprung nicht in individuellen Unterschieden, sondem in der (sozialen) Organisation haben."^^

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    Vgl. Meyer 2004:22; Wilsmann 2004:67ff. mit Bezug auf Rainer GeiBler bzw. Theodor Geiger. Arendt 1955:465f. So hatte in den 1920er Jahren bereits der Soziologe Emil Lederer argumentiert. Tawney 1931:101 (zit. nach der Ubersetzung ins Deutsche in Sennett 2002:316). Nach Ralf Dahrendorf war R.H. Tawney fiir das Verstandnis der kapitalistischen Gesellschaft in der englischen Soziologie so pragend, wie Karl Marx es fur die kontinentale Soziologie gewesen ist (vgl. R. Dahrendorf in Bemsdorf 1959:561).

  • Einfuhrung in die Thematik

    III. Sozialwissenschaftliche Bevolkerungsforschung

    Der Nationalsozialismus mit seiner spezifischen Mischung aus modemisierenden Effekten und antimodemen Ideologien bildet nun die Folie, vor dem hier die Entwicklung einer 'sozi-alwissenschaftlichen Bevolkerungsforschung' betrachtet werden soil. Wollen wir - unserem Thema 'soziale Ungleichheit' entsprechend - die Forschungen iiber die "internen Differenzie-rungen der Bevolkerungsbewegung" (K.M. Bolte) vor wie nach 1945 genauer beobachten, kommen wir zunachst zu den Wissenschaftsstandorten Leipzig (Konigsberg), Berlin/Miin-chen, Frankfurt/M., Kiel und Breslau, genauer gesagt: zur Leipziger Bevolkerungsfor-schung, zur Frankfurter (Sozial)-Statistik, zur durch Sozialwissenschaftler getragenen Kieler Demographic, zur Gruppe um Friedrich Burgdorfer im Statistischen Reichsamt / Bayeri-schen Statistischen Landesamt̂ ^ und schlieBlich zur Breslauer anthropologisch-sozialbiolo-gischen Forschung um Egon Freiherr von Eickstedt. Die bestehenden 'Schulen'̂ "̂ oder For-schergruppen reklamierten fur sich, (auch) die 'soziale' Seite von Bevolkerungsvorgangen in den Blick genommen zu haben. Teilweise bedingt durch Selbstzuschreibungen,^^ teilweise bedingt durch das vor allem der Fachdisziplin Soziologie nahestehende Personal,̂ ^ aber ins-besondere durch die inhaltliche Konzentration auf Fragestellungen, Methoden und Theorien aus dem Bereich der Sozialwissenschaft.

    In die zeitgenossische Bevolkerungswissenschaft drangen bekanntlich biologistische und rassenmythologische Interpretationen sozialer Sachverhalte ein. Auch zeichneten sich viele Schriften durch eine soziale Gruppen normativ klassifizierende Sprache aus, eine (frei nach Klemperer) Lingua Tertii Imperii (LTI) des Wissenschaftsbereichs. Charakteristisch fur diese Sprache war, dass vermeintliche Sachgesetzlichkeiten es notwendig machten, Be-volkerungsgruppen erst zu benennen und dann in ihrem Wert zu relativieren. "Soziale Be-wahrung", "Auslese",̂ "^ "Arbeitsbrache", "Sozialwert", "soziale Brauchbarkeit", "soziale

    23 Friedrich Burgdorfer (1890-1967), 1907 Assistent des Statistikers Friedrich Zahn im Koniglich Bayrischen Statistischen Bureau, 1912 (!) Abitur in Munchen, 1912-1916 Studium der Staatswissenschaften, 1916-1919 wissenschaftlicher Hilfsarbeiter, 1920 Stadtamtmann, 1921 Vorsteher des Stadtischen Mehlamtes in Miin-chen, seit Mai 1921 als Regierungsrat im Statistischen Reichsamt Berlin, seit 1925 Generalreferent fiir die Volkszahlung 1925, seit 1929 (bis 1939) Direktor der Abteilung Bevolkerungs-, Betriebs- und Kulturstatistik, 1933-1939 Dozent an der Staatsakademie des ofFentlichen Gesundheitswesens und der Deutschen Hoch-schule fiir Politik (Berlin), 1934 an der Wirtschaftshochschule (Berlin), Mitglied der "Forschungsabteilung Judenfrage" des 1934 gegriindeten "Reichsinstituts fiir Geschichte", Mitherausgeber des "Archivs fur Bevolkerungswissenschaft (Volkskunde) und Bevolkerungspolitik" (Schriftleitung: Elisabeth Pfeil), 1937-1939 Honorar-Professur fiir Bevolkerungspolitik an der Universitat Berlin, ab 1939 an der Universitat Mtin-chen, von 1939-1945 President des Bayerischen Statistischen Landesamtes Munchen, zahlreiche Publikatio-nen, darunter: "Volk ohne Jugend" (1932) - Geburtenschwund und Uberalterung des deutschen Volkskorpers - Ein Problem der Volkswirtschaft und Sozialpolitik, der nationalen Zukunft, ^1934, M935; "Die Juden in Deutschland und in der Welt" (1938) - Ein statistischer Beitrag zur biologischen, beruflichen und sozialen Struktur des Judentums in Deutschland, in: Forschungen zur Judenfrage 3, Hamburg, 152-198; trotz des Ver-lustes seiner Amter nach 1945 wurde Friedrich Burgdorfer 1956 Ehrenmitglied der Deutschen Akademie fiir Bevolkerungswissenschaft (vgl. vom Brocke 1998:415f).

    2"* Vier der fiinf genannten "Denkkollektive" sind keine nachtraglichen Konstrukte, sondem sie haben sich iiber die Diskurse in der Fachwelt als solche konstituiert. Auch wenn sich m.W. fiir die Miinchener (resp. Berliner) Gruppe nicht der Begriflf der 'Schule' eingebiirgert hat - was fiir alle anderen Denkkollektive zutrifft -, so kann doch die um die Zentralfigur Friedrich Burgdorfer gruppierte "Forschungsgemeinschaft fiir Bevolkerungs-wissenschaft und Bevolkerungspolitik" als ein vergleichbarer Wissenschaftsverbund angesehen werden.

    25 Wie im Falle der Frankfurter Statistik, die sich als 'sozialwissenschaftlich' defmierte. Rudolf Heberle und Gunther Ipsen seien hier beispielhaft genannt. 26

  • Sozialwissenschaftliche Bevolkerungsforschung

    Abwegigkeit", "sozial differenzierende Knappheit", "mengenmaBig genau begrenzte 'Stel-len'", "gesellschaftlicher Nutzwert", "immunisierte Familien", "soziale Andersartigkeit" sind typische Begriffe aus dem Arsenal der zeitgenossischen Bevolkerungswissenschaft gewe-sen.

    Dennoch (oder gerade deshalb) stellt sich angesichts der von verschiedener Seite beton-ten 'Modemitat' der Arbeiten (s. den Exkurs zur Diskussion um 'Braune Wurzeln' weiter un-ten) die Frage, ob die Diskurse in der Bevolkerungswissenschaft wahrend des Nationalsozi-alismus nicht auch vor dem Hintergrund realer sozialer Entwicklungen - um genauer zu sein: realer sozialer Ungleichheiten - gefuhrt wurden. Der krude Sprachstil allein bietet noch kein Indiz dafur, dass dies nicht der Fall gewesen ist. Der Osnabrucker Soziologe Carsten Klinge-mann ist fiir den Bereich der empirischen Soziologie sogar zu der Ansicht gelangt, dass "trotz oder gerade wegen vielfacher terminologischer Anleihen bei volkischem Vokabular und nazistischer Brutal-Sprache" in der damaligen Zeit Bedingungen und Folgen sozialen Wandels erfasst wurden.^^ So sei auch der 'Rassegedanke', den wir auch in zahlreichen 'be-volkerungswissenschaftlichen' Schriften fmden, kein Hinweis auf eine (im weitesten Sinne) naturwissenschaftlich defmierte Ordnung von Teilen einer Bevolkerung oder von Volkem (oder 'Rassen'), sondem lediglich "die terminologische Umsetzung wahrgenommener sozia-ler Wertigkeiten und tradierter popular-rassistischer Vorurteile" gewesen.^^ Derartige Kon-struktionen fmden wir auch dann, wenn es nicht lediglich um ein Abbild sozialer Ungleich-heiten ging, sondem auch um die Beschreibung von 'Bewegungen' innerhalb gesellschaftli-cher Hierarchien. Hier spielte dann haufig ein 'Leistungs'-Begriff mit hinein.^^ Ich nenne hier vorab ein Beispiel aus der Anthropologic (Use Schwidetzky):

    "Neben den KorpergroBenmerkmalen zeigt auch der Rassenaufbau Beziehungen nicht nur zur Standeshohe, sondem auch zur sozialen Bewegung. Sowohl fur Breslau wie fiir die umfangrei-chen Erhebungen an der schlesischen Landbevolkerung ergab sich namlich, daB die sozial Auf-steigenden, zwar wiederum nicht stark, aber deutlich hohere nordische Anteile aufweisen als der Durchschnitt ihrer Berufsgruppe: eine wissenschaftliche Bestatigung des nordischen Gedankens als Auslese- und Zuchtideal, aber kein AnlaB zu individuellem Rassenhochmut. Gelten doch auch die Leistungsunterschiede der Rassen nur fur groBere Gruppen, wahrend der Einzelne im-mer wieder erst beweisen muB, ob er liber oder unter dem Durchschnitt steht."^'

    Was auch immer 'nordisch' sein sollte: Der 'Kampf eines Vereinzelten fand hier vor dem Hintergrund von bereits vorab defmierten 'sozialen Rangen' und 'Standen' statt, in die einzu-treten er sich anschickte. 'Rasse' zeigte sich in dieser Terminologie durch die Konkurrenz groBerer Kollektive in Systemen unterschiedlicher sozialer Schichtung, aber auch durch die

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    Besonders dann, wenn der BegrifF so benutzt wurde, als verbiirge dieses Prinzip durch seine offensichtliche Relevanz in der gesellschaftlichen Praxis zugleich schon "Gerechtigkeit". Das Ausleseprinzip ist in diesem Fall sozial akzeptiert. Vgl. Klingemann 1996:220. Vgl.Klingemann 1987b: 19. Vgl. dazu z.B. den mit "Rasse" verkniipften "Leistungs"-BegrifF in der NS-Arbeitswissenschaft: Raehlmann 2005:141-148. Voraussetzung fiir den gebotenenen Schutz der "Volksgemeinschaft" war dort die Kraft zur vollstandigen Leistungshergabe und Dynamik, zu der aber nur der "nordische Mensch" fahig sei. In einer Awl-Publikation wurde das auf die Formel gebracht: "Leistung ist Sinn des Daseins" (ebd., 144). Schwidetzky 1942:75f

  • Einfuhrung in die Thematik

    Durchsetzungsfdhigkeit eines Einzelnen auf einer imaginaren gesellschaftlichen Stufenlei-ter.

    (1) 'Rasse', eine die (2) Konkurenzverhaltnisse zwischen Individuen in den Vorder-grund riickende soziale Mobilitat und die Bevolkerungsdichte eines (meist administrativ) definierten (3) 'Raumes' korrespondierten miteinander. Wie wir sehen werden, wurde der Bevolkerungsvorgang nach 1933 empirisch als eine Frage behandelt, die an ein Modell einer neuen "Gesellschaft" - wie vage auch immer formuliert, und wie inkoharent auch immer -gebunden schien.̂ ^ Da aber die politische Fiihrung sich konkurrierende Politikmodelle sehr schnell verbat und auf ihrer Definitionsmacht hinsichtlich 'neuer Ordnungen' bestand, konn-ten Bevolkerungsvorgange und die damit in Zusammenhang stehende soziale Mobilitat von Bevolkerungsforschem tatsachlich noch nicht als "integrierter und in sich strukturierter Teil der gesamten Sozialstruktur begriffen und analysiert" werden.̂ ^ Dennoch ware es zu ein-fach, daraus nun im Umkehrschluss zu folgem, dass Beschreibungen sozialer Ungleichheit und sozialer Mobilitat entweder iiberhaupt keine Rolle gespielt oder diese ausschliefilich in Form 'biologischer' Interpretationen in der Bevolkerungswissenschaft des Nationalsozialis-mus verarbeitet worden seien. Der President des Bayerischen Statistischen Landesamts, Friedrich Zahn,̂ "̂ umriss im Jahr 1935 die "Aufgaben der Statistik im Dienste der wirtschaft-lichen und sozialen Neuordnung des Reichs" dahingehend, dass die "Statistik den Menschen mehr noch als bisher in den Vordergrund ihrer Betrachtungsweise zu riicken (habe), und zwar nicht den Menschen als freies Individuum, sondern den Menschen in der Gemein-schaft, den in dieser sozialen, wirtschaftlichen Gefahrengemeinschaft gebundenen Men-schen. "̂ ^ Der konservative Topos von der sozialen Organisation der Gesellschaft als eine (sich nach 'auBen' abzuschlieBende) "Gefahrengemeinschaft"^^ wurde bei Zahn mit der em-pirischen Aufgabenstellung der Statistik verbunden. Die Thematik "soziale Ungleichheit" tauchte in den Studien zu den Berufen, Begabungen, den Statuswechseln in der Generatio-nenfolge, dem "sozialen Auf- und Abstieg", den "sozialen Siebungen" und der "sozialen Auslese" einzelner Bevolkerungsgruppen in spezifischer Weise wieder auf. Hier wurde 'Be-volkerung' nicht ausschlieBlich als ein Erbgefuge verstanden, sondern biologische, sozialan-thropologische und soziologisch-historische Deutungsmuster wurden eng miteinander ver-woben.

    IV. Wissenschaft in einer totalitaren Gesellschaft

    Um hier gleich zu Beginn jenem Missverstandnis entgegenzutreten, dass da behauptet, es sei das wissenschaftliche Denken gewesen, dass das politische System des Nationalsozialismus

    32 Vgl. Klingemann 1996:277ff.; Raphael 2001a. 33 Vgl. Boltel955,2l969:113f. 3"* Friedrich Zahn (1869-1946), Statistiker, seit 1896 Mitarbeiter des Bayerischen Statistischen Landesamts, ab

    1907 bis 1939 Leitung dieses Amtes als Nachfolger Georg v. Mayrs, 1913 Honorar-Prof. fiir Statistik und Sozialpolitik an der Universitat Miinchen, Herausgeber des "Allgemeinen Statistischen Archivs" seit 1914. Zahn flihrte in der Weimarer Republik die klassische Richtung der Bevolkerungswissenschaft (Nationaloko-nomie, Statistik) fort, 1931/1936 Prasident bzw. Ehrenprasident des "Intemationalen Statistischen Instituts". Weitere detaillierte Angaben zur Biographic in vom Brocke 1998:14, 49, 67,443.

    35 Zahn 1935:99. 36 Ebd.

  • Wissenschaft in einer totalitaren Gesellschaft

    sttitzte Oder gar den Holocaust auf die geschichtliche Agenda setzte,̂ *^ sei an eine fundamen-tale Einsicht von Hannah Arendt zum Wesen der Propaganda erinnert:

    "Gerade weil diese Art der Propaganda von den totalitaren Bewegungen nicht erfunden worden ist und weil die Sehnsucht der modemen Massen nach wissenschaftlichen Beweisen eine so gro-Be RoUe in der modemen Politik iiberhaupt spielt, ist man auf die Idee gekommen, das ganze Phanomen als ein Symptom jener Wissenschaftsbessenheit zu erklaren, die die westliche Welt seit dem Aufkommen der neuzeitlichen Mathematik und Physik befallen habe. In diesem Zusam-menhang scheint das totalitare Phanomen nur das letzte Stadium eines Prozesses anzuzeigen, in dessen Verlauf'Wissenschaft zum Gotzen geworden ist, der magisch alle Ubel des Lebens besei-tigen und die Natur des Menschen selbst verandem wird'. (...) Was immer die Unzulanglichkeiten und Bomiertheiten des Positivismus, Pragmatismus und Behaviorismus sein und welche Rolle sie in der Formation des fiir das neunzehnte Jahrhundert typischen 'gesunden Menschenverstan-des' gespielt haben mogen: die Massen, mit welchen es die totalitare Propaganda zu tun hat, lei-den in keiner Weise an einer 'krebsartigen Wucherung des utilitarischen Sektors der menschli-chen Existenz.' Sie leiden umgekehrt an einem radikalen Schwund des gesunden Menschenver-standes und seiner Urteilskraft sowie an einem nicht minder radikalen Versagen der elementar-sten Selbsterhaltungstriebe. Die Hoffnungen der Positivisten, in einer vemiinftig geregelten Welt die Zukunft vorherbestimmen und den Zufall ausschlieBen zu konnen, beruhte auf der noch selbstverstandlichen Voraussetzung, dafi Geschichte durch ein immerwahrendes Spiel von Inter-essen geschehe und dafi Machtgesetze in diesem Spiel ausschlaggebend und objektiv feststellbar sind. (...) Keine dieser wissenschaftlichen Theorien aber hat je behauptet, dafi es moglich sei, 'die Natur des Menschen zu verandem'; im Gegensatz zu alien totalitaren Theorien bemhen sie viel-mehr auf der stillschweigenden Annahme, dafi die Menschennatur sich stets gleichbleibt und dafi es daher nur darauf ankommt, die Umstande zu andem, um automatisch die Aktionen und Reak-tionen einer ewig gleichen Menschennatur in erwiinschte und voraussehbare Bahnen zu lenken. Wissenschaftlichkeit und Wissenschaftsaberglauben im Sinne des Positivismus, Pragmatismus und schliefilich Sozialismus behielten immer die menschliche Wohlfahrt als Ziel aller Politik im Auge, und dies Ziel und Vorhaben ist den totalitaren Bewegungen ganz und gar fremd."̂ ^

    Unter den politischen Fuhrem gab es jedoch dQnfaustischen Anspruch, "die Gesetze des Le-bens iiberhaupt" erkennen und beherrschen zu konnen. In diesem Anspruch ahnelten sie der Wissbegier technokratischer Wissenschaftsapparate,^^ die glaubten, die Schopfung aus ei-genen Impulsen und eigenmachtig generieren oder verbessem zu konnen:

    "Tocqueville kannte bereits die grofie aberglaubische Kraft, die von 'absoluten Systemen' aus-geht, 'die alle Ereignisse der Geschichte von primaren grofien Ursachen abhangig machen und sie so in eine Kette der Notwendigkeit binden, die es erlaubt, die Menschen gleichsam aus der Ge-schichte des Menschengeschlechts zu eliminieren'. Insofem die totalitaren Fuhrer an diese mogli-che Elimination der Menschen aus der Geschichte des Menschengeschlechts glauben, die zu-gleich Elimeniemng des Zufalls und des Unvorhersehbaren aus allem geschehen bedeuten wiir-de, sind sie mehr als Demagogen, namlich wirkliche Reprasentanten der Massen. Satze wie die folgenden gehoren zweifellos in das Arsenal der nicht sehr zahlreichen Klischees, von denen die

    37 Vgl . Peuker t 1988; A ly /He im 1991 38 Arendt 1955:515ff; siehe auch ebd., 506. 39 Zahlre iche Arbei ten in der Raumforschung des Nat ionalsoz ia l i smus sind ein Beleg fiir dieses technokrat ische

    Wissenschaf tsvers tandnis , das , u m es noch einmal zu betonen, nicht mit Posi t iv ismus, P ragmat i smus etc. g le ichzusetzen ist (vgl. Gutberger ^1999).

  • 10 Einfuhrung in die Thematik

    Nazis bis herauf in die oberste Fuhrerschaft wirklich liberzeugt waren: 'Je besser wir die Gesetze der Natur und des Lebens erkennen und beobachten, ... desto mehr passen wir uns dem Willen des Allmachtigen an. Je mehr Einsicht wir in den Willen des Allmachtigen gewinnen, desto gro-Ber werden unsere Erfolge sein.' '"̂ ^

    Soweit wir also im Folgenden nicht Indizien dafiir finden, dass Wissenschaftler gleichsam unmittelbar auf diesen 'lebensgesetzlichen' Zug der politischen Ftihrung mit aufgesprungen sind,̂ ^ geht es hier eher um die Defizite einer Wissenschaft, die eher in herkommlich staats-autoritaren als in totalitaren Kategorien dachte. Die darauf aufbauende Kontinuitatsdiskussi-on ist meines Erachtens auch nur in dieser Hinsicht fruchtbar, denn welche prekaren Traditi-onsstrange im Wissenschaftsbereich auch immer vom Hitler-Regime in die Nachkriegszeit reichen: totalitarer Art im beschriebenen Sinne waren sie nicht.

    V. Reflexion des Forschungsstandes

    V. 1 Die Diskussion um *Braune Wurzeln* der Bevolkerungssoziologie

    Seit den spaten siebziger Jahren hat sich die Bevolkerungswissenschaft in Deutschland im Rahmen von Arbeitsgruppen, Colloquien und Publikationen mehrfach mit ihrer Vergangen-heit auseinandergesetzt.'*^ Wiederholt wurden auch die Entwicklungen in der Bevolkerungs-wissenschaft wahrend der NS-Zeit thematisiert. Es ist weitgehend unumstritten, dass die Vorgeschichte der Bevolkerungssoziologie in Deutschland nicht erst mit dem Jahr 1945 be-gann. Soweit dieses wissenschaftliche Erbe nicht in Abrede gesteUt wird, wird es haufig als ambivalent eingestuft. Seine Ambivalenz zeichne sich dadurch aus, dass die Bevolkerungs-wissenschaft und (die damit eng) im Zusammenhang stehende Soziologie im NS-Staat ei-nerseits methodisch fortschrittlich, andererseits aber theoretisch unterbelichtet oder - noch haufiger - ideologisch kontaminiert gewesen sei. Der wichtigsten bevolkerungswissen-schaftlichen Zeitschrift der NS-Jahre, dem "Archiv ftir Bevolkerungswissenschaft (Volks-kunde) und Bevolkerungspolitik" (AfBB), wurde nachgesagt, dass es wahrend des National-sozialismus sein "wissenschaftliches Niveau weithin zu wahren wuBte."̂ ^

    Die wohl meist unausgesprochene Kontroverse hinter dieser Aussage lautet, ob in der Bevolkerungswissenschaft wahrend der Diktatur 'normale' Erkenntnis- und Anwendungs-formen vorlagen und wie dieser Umstand ggf zu bewerten ist. In Ernst Noltes zutiefst pessi-mistischer Weltsicht 'beweisen' wissenschaftliche Standards ihre Objektivitat gerade da-durch, dass sie auch in der Diktatur Anwendung fmden konnen. Doch wie 'objektiv' waren die gangigen Standards, welche sozialen Bewertungen transportierten sie stillschweigend immer mit?

    Arendt 1955:514. Ich beschreibe im Kapitel zur Soziologisierung der Raumforschung in "Volk, Raum und Sozialstruktur", dass es solche Modelle unter Sozialwissenschaftlem ebenfalls gegeben hat (Vgl. Gutberger ^1999: 177ff.). Auch unter den hier behandelten Bevolkerungswissenschaftler finden sich Anschauungen wie die folgende: "Eher der Planer nicht eine sehr lebhafte und plastische Vorstellung auch von der Gesellschaft hat, fur die er plant und baut (...) so lange wird er nicht in der Gnade wahrhaften Schopfertums stehen." (vgl. Muller, Pfeil 1950:1). Siehe den Uberblick in den "Vorgeschichten" bei Mackensen 1998:247-262.

  • Reflexion des Forschungsstandes 11

    Die Scheu sich diesem Thema bisher anzunehmen, hangt wohl auch damit zusammen, dass das 'sozialwissenschaftliche' Denken in der Bevolkerungswissenschaft vor 1945 immer auch eine Nahe zur Bevolkerungs- und Sozialpolitik und hier besonders zu stark repressiven Formen sozialstaatlicher Intervention aufwies: Im Unterschied eines auf den grundsatzli-chen Abbaujeder sozialen Sicherung angelegten, sozialaristokratisch ausgerichteten 'be-dingten Antinatalismus',"̂ "̂ schlossen die Konzepte des 'bedingten Pronatalismus' (Friedrich Burgdorfer, Hans Harmsen, Friedrich Zahn u.a.) Grundformen der sozialen Sicherung fiir groBere Bevolkerungsgruppen mit ein. Diese fursorgerischen Grundformen sollten gleich-wohl nicht nur an eugenische Kontrollen gebunden werden, sondem es soUte auch zwischen Forderungswtirdigen und Forderungsunwiirdigen ('differenzierte Ftirsorge') selektiert wer-den. Die Unterschiede zwischen Pro- und Antinatalismus erklaren sich daraus, dass fur Burgdorfer und seine Mitarbeiter "das erste Ziel jeder Bevolkerungspolitik ein quantitatives sein (sollte). Zwar sei auch auf Qualitat zu achten, doch erst im Sinne eines zweiten Ziels.'"^^

    Andererseits sind in dem Bemiihen um die Aufrechterhaltung einer positiven Traditi-onslinie des eigenen Faches zeitgenossische Untersuchungen in der Sozialgeschichte in me-thodischer Hinsicht kritisiert worden. So wurde u.a. fur die damalige Sozial- und Bevolke-rungsgeschichte beklagt, dass sie zur "trivialpositivistischen Kategorienbildung" (Lutz Ra-phael) geneigt hatte. Selbst wenn unterstellt wird, dass eine derartige Verflachung auch fur die sozialwissenschaftliche Bevolkerungsforschung zutraf, ware zu fragen, welche Ursachen dieser Entwicklung zugrunde lagen. War hier nur ein allgemeiner Verfall einer Wissen-schaftskultur in der Diktatur zu verzeichnen oder hatte dies auch etwas mit den (von den ad-ministrativen Apparaten gewiinschten) Praxisbeziigen (Bevolkerungslenkung und Bevolke-rungskontrolle) zu tun?

    Die Beschaftigung mit der sozialen Ungleichheit in der anwendungsnahen Bevolkerungs-wissenschaft und Bevolkerungspolitik setzte ein entsprechendes Instrumentarium voraus. Gab es ein solches? Wer sich der Thematik "Ungleichheit" sozialwissenschaftlich naherte, fur den konnten weder Interpretationen demostatistischer Aggregate noch (wie auch immer geartete) Geschichtskonstruktionen"*^ wirklich forschungsleitend sein. Anders ausgedrlickt: das "Volk" als numerische oder bloB ideelle GroBe in den Blick zu nehmen, ware far eine an der Organisation sozialer Ungleichheit interessierte Bevolkerungsforschung eher kontrapro-

    ^•^ vom Brocke 1998:104f. Bemhard vom Brocke griff hier allerdings eine Formulierung auf, die wir so wortlich schon bei Helmut Schelsky (1955) und Hans Harmsen (1976) fmden. Die Ansicht der methodischen Fort-schrittlichkeit vertrat er auch an anderer Stelle: "Ich kann nur sagen, dal3 sie methodisch fortschrittlich war, dafi die Volkstumssoziologie des Dritten Reiches - das habe ich auch erst seit der Arbeit an der Bevolkerungs-wissenschaft entdeckt - methodisch so hochmodem war, dafi wir davon bis heute zehren. SchlieBlich ist das dann in der Dortmunder Sozialforschungsstelle weiter bearbeitet worden, siehe Mackensen und die Arbeiten, die daraus hervorgegangen sind. Das ist ein eigenstandiger Zweig der Bevolkerungswissenschaft geworden, der sich von der braunen Vergangenheit teilweise gelost hat, vielleicht noch nicht inharent, das miifite halt aufgearbeitet werden, aber Ergebnisse gebracht hat, die man davon losen kann. So ist es also sehr schwierig fiir mich, da ein Urteil zu fallen." (vgl. Bemhard vom Brocke in Mackensen 1998:lOOf) Carsten Klingemann qualifizierte Werner Conzes empirische Arbeiten als "methodisch elaborierte Realanalysen" (vgl. Klinge-mann 1996:223).

    ^^ Fiir Alfred Ploetz, Hans F.K Giinther, Max Hirsch, Wilhelm Schallmayer oder Fritz Lenz wirkten sozialstaat-liche Sicherungen generell als 'nonselectorische Systeme' (vgl. Breuer 2001:238ff.).

    45 Breuer 2001:243. Bspw. "Gemeinschaften", die durch (gemeinsam zugeschriebene) kulturelle (Volk), politische (Staat) oder 'biologische' (Rasse) Pramissen entstehen.

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  • 12 Einfuhrung in die Thematik

    duktiv gewesen; es mussten im Gegenteil empirisch auffindbare Teilgruppen wahrgenom-men werden; diese Gruppen mussten qua der ihnen zugeschriebenen (demographischen oder sozialen) "Funktionen" wiederum als Teil eines okonomisch-sozialen Systems wahrgenom-men werden.

    Thomas Sokoll hat deshalb schon 1992 die Vorstellung, dass sich die Bevolkerungs-wissenschaft in Westdeutschland nach 1945 "in systematischer Abgrenzung von den durch ihre Nahe zur 'Rassenbiologie' kompromittierten Vorlaufern" konstituiert habe, als eine Selbsttauschung bezeichnet.'*'̂ Tatsachlich sei es - so Sokoll - "eher umgekehrt" gewesen und die Konstituierung der Bevolkerungswissenschaft in der jungen deutschen Nachkriegs-demokratie hatte starker in Anlehnung an personelle Vorlaufer aus der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus stattgefunden."*^ In allgemeinerer Form und im Sinne eines Forschungsdesiderats formulierte auch Rainer Mackensen:

    "Die Denkweisen und Intentionen jedoch, welche sich im NationalsoziaUsmus so verheerend breit machten, waren nicht erst 1933 in Deutschland entstanden (...) Und es ist nicht von vomher-ein ausgemacht, daB solche Tendenzen nicht auch in denjenigen Traditionen enthalten sind, auf welche sich 'die Bevolkerungswissenschaftler' gegenwartig mit Stolz und in dem beruhigenden BewuBtsein eines reinen Gewissens zu berufen pflegen.'"̂ ^

    Thomas Sokoll ging noch einen Schritt weiter und spezifizierte, dass er bei seiner kritischen Stellungnahme auch an methodologische Vorformen einer als moderne Sozialwissenschaft angelegten Bevolkerungswissenschaft gedacht hatte. Unter Berufung auf die Resultate der Wissenschaftsgeschichtsschreibung der Soziologie und der Geschichtswissenschaft zu Be-ginn der 1990er Jahre sowie unter Verweis auf die von Hans Linde (1989) und Karl Ulrich Mayer (1989) vorgelegten Aufsatze im Rahmen einer fachgeschichtlichen Debatte zur Ge-schichte der Bevolkerungswissenschaft vermerkte Sokoll, dass der "methodologische Durchbruch, der nach 1945 die soziologische Neuorientierung" der Bevolkerungslehre er-leichtert habe, fniher zu verorten sei:

    "So wie die moderne deutsche Sozialgeschichte nicht ohne die Linie von Freyer und Brunner zu Conze, so ist die moderne deutsche Bevolkerungslehre nicht ohne die Linie von Ipsen zu Mack-enroth und von dort wieder zu Bolte denkbar."̂ ^

    Gerade weil sich Personal wie Wissensformen der Nachkriegs-Bevolkerungswissenschaft durch eine uniibersehbare Kontinuitat bzw. Nahe zur Vorgeschichte ausgezeichnet haben, mtlsse eine auch "methodologisch reflektierte Wissenschaftsgeschichte der Demographic zur schonungslosen historischen Selbstkritik ihrer erkenntnisleitenden Begriffe, Fragestel-lungen und Theorien bereit sein. (...) Wollen wir hoffen, daB die Demographic als systemati-sche Sozialwissenschaft diesen historischen Fehdehandschuh nun endlich aufnimmt."^^ Die-se These von der Konstruktion einer aufsteigenden Linie von der "Volkssoziologie" zur Be-volkerungssoziologie ist nicht unwidersprochen geblieben, so beklagte Axel Fliigel eine zu "formale Sichtweise" in der Diskussion:

    47 Vgl. Sokoll 1992:424. 48 Sokoll 1992:424. 49 Mackensen 1998:14. 50 Sokoll 1992:424.

  • Reflexion des Forschungsstandes 13

    "Der Ubergang von Ipsens 'Gattungsvorgang' zur 'Bevolkerungsweise' ist nicht nur eine Moder-nisierung des Vokabulars, sondem ein grundlegender konzeptioneller Bruch. Immerhin bean-sprucht die These von der industriellen Bevolkerungsweise, aus den verfugbaren statistischen Daten, denen das Handeln individueller Manner und Frauen zugrunde liegt, abgeleitet zu sein. Ip-sens Bevolkerungslehre ist dagegen der Versuch, den Bevolkerungsbegriff gegen den 'liberalen Gesellschaftsbegriff und gegen die Vorstellung einer in 'freie Individuen aufgelosten Gesell-schaft' 'umzudenken', da 'diese Vorstellung erstens der Wirklichkeit unangemessen ist' und 'zwei-tens unserer politischen Zielsetzung widerspricht'.^^ Nicht minder obskur bis verquast ist Ipsens Behandlung der Bevolkerungsstatistik, die vollstandig unter dem Gesichtspunkt des 'Volkskor-pers' als 'Subjekt des Gattungsvorgangs' zugerichtet wird und sich in technokratischen Phantasien uber den 'Daseinswert der Geburt', den 'Gattungswert der Geburt', den 'Leistungswert des Er-wachsenen', den 'Gebarwert der Erwachsenen' und den 'wirklichen Mutterstock eines Volkskor-pers, der im Verhaltnis zum idealen gebarfahigen Tragkorper ausgedrtickt werden kann', er-geht."53

    SchlieBlich kam Axel Flugel - unter Zentrierung auf die die Sozialhistorie betreffenden As-pekte - zu dem Schluss, dass in der Leipziger Bevolkerungsforschung die "demographischen Teile hinter den differenzierten, eine Vielzahl regionaler, sozialer und kultureller Faktoren abwagenden Stand der Bevolkerungswissenschaft" zuriickgefallen seien und also auch keine Kontinuitat zu einer spateren Bevolkerungswissenschaft begriinden konnten.

    Wie kam es zu dieser bemerkenswert unterschiedlichen Wahmehmung der beiden Au-toren? In Folgenden soil die von Sokoll beklagte und bisher nicht realisierte Form wissen-schaftsgeschichtlicher Auseinandersetzung mit diesem Teil des 'Erbes' der deutschen Bevol-kerungswissenschaft emeut gesucht werden. Diese, die Sozialgeschichte wie die Soziologie, die Bevolkerungswissenschaft wie die Volkskunde umfassende, groBe Forschungsfragestel-lung kann hier gleichwohl nur fur einen exemplarisch zu verstehenden Teilbereich der Be-volkerungswissenschaft angegangen werden: fur die Wahmehmung und Verarbeitung sozia-ler Ungleichheit in bevolkerungswissenschaftlichen Kontexten. Dies nicht zuletzt deshalb, weil auch dieser Ausschnitt bereits Gegenstand der Diskussion gewesen ist.

    Der fruhen deutschen Bevolkerungsforschung wurde namlich vorgeworfen, dass sie von der Vorstellung eines individuellen 'Besetzens'^'* von sozialen Positionen ausgegangen ware; einer solcher Zugriff wurde als soziologisch 'naiv' bezeichnet. So hat Karl Ulrich Mayer in kritischer Auseinandersetzung mit der Behandlung sozialer Ungleichheit in der Mackenrothschen Bevolkerungssoziologie gezeigt, dass seiner Meinung nach hier 'Sozial-struktur'

    "nicht als normativ bestimmte Positionsdifferenzierung, als sinnhaft konstituierte Ordnung oder als durch kollektive Akteure organisierte Interessenartikulation gedacht (worden war), sondem

    '̂ Ebd., 425. Am intensivsten ist iiber diese Fragen bisher in der Aufarbeitung zur Fachgeschichte der Sozialge-schichte diskutiert worden: "Ipsen setzte sein bevolkerungssoziologische Arbeit im Gewande einer Sozialpro-gnostik der Bevolkerungsentwicklung Westdeutschlands fort, im Auftrag der Regierung. (...) Kann man da wirklich die Methode von ihren Beziigen zum Nationalsozialismus losen, wie Rainer Mackensen das bewuBt getan hat? Hat Conze wirklich nur die 'wissenschaftliche Kemsubstanz der Ipsenschen Soziologie' tibemom-men und sich 'von dessen (Ipsens) ideologischer Bedenklichkeit' freigehalten?" (Vgl. Etzemiiller 2001:69).

    ^̂ Ipsen, Bevolkerungslehre, 424f. zit. nach Flugel 2000:669. 53 Flugel 2000:669. ^^ In der englischen Sprache schwingt die doppelte Bedeutung bei 'occupation' mit.

  • 14 Einfuhrung in die Thematik

    als bloBe Aggregation von Individuen oder Familien mit bestimmten sozialen Merkmalen. Indi-viduen bewegen sich nicht in einem von ihnen ganzlich unabhangig gedachten Positionsgefiige, sondem Sozialstrukturen werden gebildet durch Strome von Individuen. Bevolkerungsweise und soziale Siebung sind identisch mit Schichtenbildung. Es ist leicht einsichtig, warum eine solche Gesellschaftsdeutung fur die Soziologie nicht attraktiv gewesen sein kann, verlangert sie doch nur das Modell der Aggregatdatendemographie auf die Soziologie."̂ ^

    Die funktionalistisch-soziologischen Ansatze sozialer Stratifikation, die Karl Ulrich Mayer hier beschrieb, bezogen sich also auf ein "system of positions, not the individuals occupying those positions."^^ Davis und Moore stellten die Frage "how certain individuals get into tho-se positions" damit sozusagen an die zw êite Stelle zuriick^^ - zugunsten der Frage, wie ein soziales Positionsgefiige arrangiert sein muss, damit Menschen in dieses hinein 'absorbiert'̂ ^ werden konnen bzw. wie die Aufrechterhaltung von 'social order' ermoglicht wird.̂ ^ So sind es Belohnungen, Fflichten und Rechte gewesen, die in diesem Denkstil eine Schlusselrolle eingenommen haben.

    Sozialwissenschaftlern in Deutschland, etwa Wilhelm Brepohl, Ludwig Neundorfer Oder auch J.H. Mitgau, ging es jedoch gerade um den Widerstand gegen wirklichkeitsfeme 'Systeme'.^^ Sie verfielen leicht in die Rolle von Anklagem gegen die reine Kopfgeburt; sie machten sich aber - positiv gesprochen - fiir eine empirische Sozialwissenschaft stark, in de-ren Systematik lebende Menschen doch noch irgendwie vorkommen sollten. Dass das weni-ger mit Aggregatdatendemographie, schon gar nicht mit einer missverstandenen Sozialan-thropologie, sondern mit einer Sozialforschung interpretativer Methoden gelingen kann, steht dabei auf einem anderen Blatt.

    In dem sozialplanerischen Kontext der 1930er Jahre, in dem vor allem die Lokalisie-rung und Identifizierung sozialer Gruppen im Mittelpunkt stand, schien der personenbezo-gene Zugriff aber zunachst mehr Sinn zu machen, als die Vorstellung, dass jenseits des (raumlich verortbaren) Einzelnen ein unabhangig von ihm gedachtes Konstrukt gesellschaft-licher Funktion und Stratifikation existiere. Und es schloss nicht aus, dass auf diese Weise auch (tatsachliche oder zugeschriebene) soziale Merkmale ganzer Gruppen erkannt oder konstruiert werden konnten. Nehmen wir den Stand der intemationalen Sozialforschung bis zur Mitte der 1930er Jahre zum MaBstab, dann waren die dazugehorigen empirischen Erhe-bungen allenfalls erste Gehversuche; das gilt dann aber auch fur eine groBe Zahl der Arbei-ten im angelsachsischen Raum. Die kritisch-reflexive Form empirischer Arbeit war auch dort nicht gefragt, wo groBe Masterplane und Bilder selbstablaufender Systeme verhinder-ten, dass ein echtes Interesse an der gesellschaftlichen Wirklichkeit aufkommen konnte.

    Es ist im Detail nicht hinreichend geklart, ob und in welcher Weise die damaligen Annahe-rung an "soziale Ungleichheit" in die Bevolkerungssoziologie und Bevolkerungsgeschichte

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    Mayer 1989:258. Davis, Moore 1945:242. dazu auch Berger 2004:365. Zur Kritik am 'statischen Denkstil' des soziologischen Funktionalismus, der sozialen Wandel nur in 'eingefro-rener' Form darstelle Elias 1939,1997:20-30 (Einleitung zur 2. Aufl., 1969). Vom spatlateinischen "absorptio" = das Verschlingen. "Their absorption into the positional system must somehow be arranged and motivated." (Davis, Moore 1945:242). Vgl. zu dieser Kritik bspw. Brepohl 1967.