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haven geboren und verbrachte Die Autorin · de! Überhaupt – der Blitz schlug nicht zweimal am selben Ort ein. Lucie verdrängte schleunigst die schrecklichen. Erinnerungen ans

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Die AutorinGea Nicolaisen wurde in Bremer-haven geboren und verbrachteihre Kindheit und Jugend aufSylt. Nach dem Studium in Kielzog sie in die Nähe von Schleswig,

wo sie seitdem mit ihrer Familie und einigen Pelzträgernauf Samtpfoten lebt. Sie schreibt mit Leidenschaft Krimis,Thriller und Abenteuer, die sie am liebsten zu ihrer eige-nen Melange vermischt und mit Romantik garniert.

Das BuchGerade hat Lucie die schrecklichen Ereignisse des Früh-jahrs vergessen und mit Freunden und Familie ihre Ver-lobung mit Ragnar gefeiert, da geschehen unheimlicheDinge. Lucie ist auf dem Heimweg, als plötzlich ein Wa-gen auf sie zu rast und einfach nicht bremst. In letzterMinute rettet sie sich in den Graben der Landstraße. Wardas ein Mordanschlag? Aber wer sollte sie umbringenwollen? Kurz darauf wird die Leiche eines Mannes amFlussufer angespült, ausgerechnet vor Ragnars Werft. Esscheint, der Tod kommt zurück an die Schlei, und baldschon schwebt Lucie erneut in Lebensgefahr.

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Gea Nicolaisen

Mord am SchleiuferEin Schleswig-Krimi

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Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

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lich ist und keine Haftung übernimmt.

Originalausgabe bei Midnight.Midnight ist ein Digitalverlag

der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinJuni 2015 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015Umschlaggestaltung:

ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: © FinePic®

Autorenfoto: © privat

ISBN 978-3-95819-038-2

Alle Rechte vorbehalten.Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung, Verbrei-tung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder

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Für Fred in Liebe

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Kapitel EinsDie Bremsen kreischten nicht. Sie blieben stumm, er-schreckend stumm. Dafür jaulte der Motor umso lauter.Plötzlich, aggressiv, ein Angriff aus heiterem Himmel –und heiter war dieser Freitagabend Ende August.

Es dämmerte bereits, als Lucie heimwärts radelte. Siewar in Fahrdorf gewesen, bei Neele Lorenzen, die dortein kleines Geschäft betrieb, in dem man alles bekam,was das Einrichtungsherz höherschlagen ließ. Dadurchhatten sie sich Anfang des Sommers auch kennengelernt.Lucie hatte ins Schaufenster geguckt und war spontan inden Laden gegangen, wo ihr Neele gleich vier Müslischa-len verkauft hatte. Seitdem war aus der Bekanntschaftund wegen Lucies Begeisterung für Neeles KrimskramsFreundschaft geworden.

An diesem Spätnachmittag hatten sie sich richtig fest-gequatscht, Lucie hatte schon vor Stunden fahren wol-len, weil sie eigentlich von der arbeitsreichen Wocheerledigt war, aber es hatte viel zu bekakeln gegeben. Nunradelte sie endlich heimwärts, einen grüngemustertenTeller mit Apfeldekor im Gepäckträger, den sie nichtwirklich brauchte. Ragnar würde lästern … der Tellerzerscherbte vernehmlich, als Lucie mit ihrem Rad um-kippte. In das Scheppern mischte sich der brummendeAutomotor. Aber kein Bremsgeräusch.

Lucie landete auf Händen und Knien, der Lenker bohr-te sich schmerzhaft in ihren Bauch, egal. Sie rappelte sichauf, kroch im ersten Moment, hechtete irgendwie zurSeite, dann kam sie auf die Füße. Neben ihr war das Auto,unter dem Auto ihr Fahrrad. Der Motor jaulte. Lucie

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wankte auf die Wand eines Maisfeldes zu, die ihr ge-wöhnlich ein Stirnrunzeln entlockte. Sie debattierte oftmit Neele, ob es sich lohnte, eine Anti-Vermaisungskam-pagne zu starten.

Jetzt sah der Mais wunderschön aus, starke, dichte,grüne Halme, übermannshoch. Sie versperrten die Sichtund sie gewährten Schutz. Lucie sprang hinein, schnittsich die Hände an den scharfen Blättern, spürte daskaum. Sie tauchte ein in den Maisdschungel und drau-ßen, an der Straße, verklang der jaulende Motor. Luciesah kaum mehr als einen Schemen, der mit Vollgas in derDämmerung verschwand.

Der Fahrer hatte nicht angehalten. Er ließ das zerbeul-te Rad am Straßenrand liegen. Und er ließ Lucie imMaisfeld zurück, wo sie stand, zitternd, schwer atmend.Geschockt.

Die Bremsen waren stumm geblieben.

***

Wie ein scheues Reh, das auf die Lichtung tritt, kam Lucieaus dem Maisdschungel. Langsam, nach allen Seiten si-chernd. Wo war das Auto? Wenn es zurückkam … siewürde sich im Maisfeld verstecken. Die dicht bei dichtstehenden Halme boten Schutz, Lucie hatte es in einemalten Film gesehen – war der von Hitchcock? Ein Mann,der von einem kleinen Flugzeug verfolgt wurde, und ertauchte im Mais unter. Jetzt war Lucie vor dem Autofah-rer geflüchtet, der ihr nach dem Leben trachtete.

Ein Mordanschlag? Widersinnig! Sie hatte keine Fein-de! Überhaupt – der Blitz schlug nicht zweimal am selbenOrt ein. Lucie verdrängte schleunigst die schrecklichen

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Erinnerungen ans Frühjahr, als sie beinahe von einempsychopathischen Bombenleger umgebracht wordenwäre. Das war genug Entsetzen für ein ganzes Leben.

Immerhin etwas Gutes war daraus gewachsen, odernein, nicht irgendwas. Ragnar Calliesen liebte sie, sieliebte Ragnar und darum wollten sie heiraten! Das hattesie heute Neele erzählen müssen, ausführlich, obwohl siedie pikanten Details des Heiratsantrags dann doch fürsich behalten hatte. Sie wärmten ihr Herz und ließenHitze in ihr hochsteigen, wann immer sie daran dachte.Bloß jetzt nicht. Jetzt dachte sie, dass es widersinnig war,einem Mordanschlag zu erliegen, nachdem man am Vor-tag vom wundervollsten Mann auf der Welt gebetenworden war, das restliche Leben mit ihm zu verbringen.Das sollte länger als vierundzwanzig Stunden dauern!

Kein Mordversuch! Nichts als ein dummer – ganzschlimmer – Zwischenfall. Ein Unfall mit Fahrerflucht,bei dem es zum Glück keine Verletzten gegeben hatte.Lediglich der grüne Teller war ermordet worden. DasRad schien ebenfalls hinüber zu sein. Lucie starrte aufdas verbogene Gestell. Das taugte allenfalls noch zumAlteisen. Der Gepäckträger war abgefetzt. Langsam gingLucie darauf zu, kniete nieder, um eine Scherbe des un-verpackten Tellers in die Hand zu nehmen, der mit demGepäckträger zur Seite geschleudert worden war. Blutrann ihr über die Finger. Sie hatte sich doch verletzt,gleich mehrfach, wie ihr bewusst wurde. Einmal beimSturz vom Rad und dann an den scharfkantigen, blödenMaisblättern.

Hatten die ihr das Leben gerettet? Wäre sie wenigergeschickt gestürzt, wäre sie weniger schnell auf die Beinegekommen, wäre da kein Maisfeld gewesen, sondern die

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Wiese mit der phänomenalen Aussicht über die Schlei… die Bremsen hatten geschwiegen!

Von Borgwedel, Stexwig oder sogar aus Güby nahte einAuto. Seine Scheinwerfer blendeten Lucie kurz, darumschnellte sie hoch. Ihr Herz hämmerte bis zum Hals. DerWagen kehrte zurück! Der Mörder wollte sein Werk voll-enden. Nun war sie dran! Schluss, aus, Lucie sollte ster-ben! In heller Panik stob sie zurück ins Maisfeld,während das Auto herankam, langsamer wurde, als wür-de der Fahrer über das verbeulte Rad am Wegrand stau-nen, aber er hielt nicht an, sondern fuhr seelenruhigweiter nach Fahrdorf.

Sein Auto war silbrig, hell auf jeden Fall. Nicht der At-tentäter. Dessen Wagen war dunkel gewesen, Luciemeinte, er wäre schwarz, aber beschworen hätte sie dasnicht. Zu schnell war alles gegangen, weil die Bremsennicht benutzt worden waren. Der Attentäter hatte ein-fach in einem großen Schlenker die Straße verlassen,war über den schmalen Grünstreifen auf den Radweggerumpelt, hatte Lucies Teller zerstört und nicht nurden. Dann war er abgehauen. Fahrerflucht.

»Was nun?«, murmelte sie. Zu Fuß und mit schmerz-enden Knien war der Weg nach Borgwedel noch weit.Auch wenn die Augustdämmerung in Schleswig-Holsteinlange währte, würde es dunkel sein, bis sie bei Ragnarwar, sicher in seiner gemütlichen Kate unten an derSchlei. Hätte sie bloß nicht ausgerechnet heute ihr Han-dy vergessen! Neele hatte noch darüber gelästert. Solltesie zu ihr zurück nach Fahrdorf laufen? Das war wenigs-tens kürzer, darum machte sich Lucie notgedrungen aufden Weg. Allerdings kam sie nicht weit.

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Erneut nahte ein Auto aus Richtung Güby und diesmalstoppte es neben ihr. Es war Ragnars alter Geländewa-gen, er saß am Steuer, beugte sich über den Beifahrersitzund stieß dessen Tür auf. »Lucie! Was ist los?«

Vor Erleichterung kamen ihr die Tränen. Sie kletterteins Auto, schniefend und unfähig, einen Satz zu formu-lieren, während Ragnar auf sie einredete. »Ist das deinRad, oben beim Maisfeld? Bist du gestürzt? Warum rufstdu mich nicht an? Du siehst ja fürchterlich aus!«

»Ich – ich habe mein Handy vergessen.«»Okay, und was ist passiert?«, fragte er nüchtern und

ein bisschen vorwurfsvoll, als würde ihn ihr Heulanfallnerven.

»Jemand wollte mich umbringen!« Ihre Stimme über-schlug sich. Ragnar prallte zurück, schnaufte und bekamgroße Pupillen. »Das ist wahr! Er hat nicht gebremst! Erist einfach auf mich losgerast. Auf offener Strecke, dawar kein Hindernis. Er wollte mich überfahren!«

»Nun mach mal halblang …«»Es ist wahr!«, konnte sie bloß wiederholen. »Er hat

nicht gebremst! Er hat sogar Gas gegeben, glaube ich. Erhat mein Rad anvisiert, mich! Ich sollte sterben!«

»Unfug«, wehrte Ragnar ab.»Du musst mir glauben!«»Schatz.« Er legte seine Hand auf ihren Nacken und

zog sie zu sich heran. »Du bist ja total von der Rolle.«Schluchzend ließ sie sich von ihm trösten, bis das

Schütteln aufhörte. Dann drängte sie: »Lass uns zum Radzurückfahren. Du musst es dir anschauen. Du wirst se-hen, ich spinne nicht.«

»Keiner sagt, dass du tünst. Ich glaube dir ja, dass dufast überfahren worden wärst«, versicherte Ragnar, und

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Minuten später, als sie am Unfallort angekommen wa-ren: »Dein Rad sieht aus wie ein Metallklumpen.«

»Er ist drüber gefahren und abgehauen.«»Was für ne Pfeife!« Ragnars Brauen stellten sich wie

Igelstacheln auf, weil er wütend wurde. »Wenn ich denKerl erwische! Den mach ich kalt!«

»Er hat nicht gebremst«, betonte Lucie eindringlich.»Vermutlich hat er gepennt, ist von der Straße abge-

kommen und hat Fersengeld gegeben«, grollte Ragnar,während er sich umschaute, als würde er etwas suchen.

»Hätte er nicht wenigstens ein bisschen bremsen müs-sen?«, fragte sie verzagt.

»Hm!« Grunzend stieß Ragnar mit der Schuhspitze ge-gen ihr verbogenes Rad. »Da drüber zu fahren dürfteseinem Auto schlecht bekommen sein. Was war das füreins?«

»Ein großer Kombi, dunkel – ich glaube, schwarz. DasNummernschild habe ich mir nicht gemerkt und auchden Fahrer habe ich nicht gesehen.«

»Es könnte also auch eine Frau am Steuer gesessen ha-ben?«

»Frauen fahren nicht schlechter als Männer«, sagteLucie stereotyp, weil sie sich öfters darüber kabbelten.

»Davon rede ich nicht«, knurrte Ragnar. Er ging in dieKnie, um im Licht seiner Autoscheinwerfer die Reifen-abdrücke besser begutachten zu können. Das Gras zwi-schen Straße und Radweg war plattgewalzt, die Spurenwaren jedoch nicht sonderlich markant.

»Hm, hm«, machte er grübelnd. »Sieht echt nicht aus,als hätte er gebremst. Scheints hat er es nicht mal ver-sucht. Bloß das Rad hat ihn aufgehalten, schau, er hat esüber den Boden geschoben.«

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Lucie umschlang wie fröstelnd ihren Oberkörper mitden Armen, als sie die verräterische Schleifspur betrach-tete. Das Auto war gegen das Rad geknallt, hatte es inSchneepflugmanier beiseite gedrückt – vermutlich warder Wagen dadurch lange genug aufgehalten worden,dass sie ins Maisfeld flüchten konnte – und dann war erin einem leichten Schlenker weitergefahren. Der röh-rende Motor, den Lucie noch im Ohr hatte, bestätigtediesen Tathergang. Ohne das Rad als Hindernis wäre sienicht entkommen.

»Die Polizei kann vielleicht rauskriegen, was das fürReifen sind, zu welcher Automarke sie gehören.« Sie flüs-terte beinahe, weil der Schrecken ihr die Stimme nahm.

Ragnar blickte hoch, ihr mit seinen meerblauen Augentief in die Seele. »Willst du Bendixen verständigen?«

Der Kommissar hatte im Frühling die Bombenserie be-arbeitet.

Lucie atmete durch, bevor sie resignierend den Kopfschüttelte. Auf Bendixen mit seiner forschen Art hatte siekeine Lust. Sie wollte überhaupt nicht mehr an die Vor-fälle des Frühlings erinnert werden, wo sie jetzt geradeanfing, den Horror zu vergessen, soweit das möglichwar, und sich auf eine Zukunft an Ragnars Seite zu freu-en. Als würde er ihre Gedanken lesen, nickte er. »Gehtmir genauso. Der stochert bloß rum und findet nichts.«

»Wir können das nicht auf sich beruhen lassen. Ichhabe mich zwar nicht doll verletzt, aber mein Rad … undder Teller.« Unter neuen Schluchzern erzählte sie vondem Tellerchen, das sie bei Neele gekauft hatte.

»Sie hat bestimmt noch mehr«, vermutete Ragnarleicht irritiert, weil Lucie sich über derlei Marginalien

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aufregte. »Mach dir keinen Kopf darum. Hauptsache, dirgeht es gut.«

Er schloss sie erneut in die Arme und wiegte sie trös-tend. »Was für ein Mistkerl«, murmelte er in ihre Haare.»Wenn ich den erwische – Bendixen gelingt das garan-tiert nicht. Dunkle Kombis gibt es wie Sand am Meer.Ohne weitere Anhaltspunkte wird er keinen Erfolg ha-ben.«

»Vielleicht sind Lackspuren an meinem Rad«, hoffteLucie und begann es zu untersuchen, konnte in der Däm-merung jedoch nichts entdecken.

»Wir nehmen es mit. In der Werft habe ich besseresLicht«, entschied Ragnar, unvermittelt die Geduld ver-lierend. Er wuchtete das Rad in den Laderaum seinesAutos, Lucie sammelte die Tellerscherben ein, dann fuh-ren sie nach Hause, nach Borgwedel, wo Ragnar einekleine Werft betrieb. Das Dorf schmiegte sich am Fuß derSchwansener Hügelkette in eine Bucht an der Schlei. Diemalerische Umgebung war längst von wohlhabendenHamburgern entdeckt worden, die hier ihre Zweitwoh-nungen besaßen, bunte skandinavische Holzhäuser mitunverbaubarem Blick aufs Wasser und putzige Nurdach-häuser. Dazwischen standen vereinzelt wie UrgesteineHöfe, die teils noch landwirtschaftlich betrieben wur-den, und alte Häuser mit Fassaden aus dem lokalen ge-lben Ziegelstein, der einst an der Schlei gebrannt wordenwar.

Auch Ragnars Werfthalle war aus diesen ockergelbenBacksteinen aufgemauert worden, allerdings erhob sichdarüber seit Langem schon ein etwas wackeliges,schwarzes Holzgeschoss. Das Wohnhaus daneben, einekleine Kate, die sich an die große Halle wie ein Kind an

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seine Mutter schmiegte, obwohl sie viel älter war, hatteein Reetdach und war von Lucie und Ragnar im Sommerweiß getüncht worden. Im Licht der Autoscheinwerferwurde der Kontrast zwischen der frischen Farbe und derangegrauten Halle besonders deutlich.

Erst als sie auf dem Hof stoppten, fragte Lucie: »Wohinwolltest du eigentlich eben?«

»Unwichtig«, behauptete Ragnar und sprang aus demAuto, um ihr Rad in die Werfthalle zu bringen. Seinekraftvollen Bewegungen zu sehen, tat Lucie gut. DenArm, den er sich im Frühjahr verletzt hatte, schonte erkaum noch, obwohl die Ärzte meinten, er würde aufDauer geschädigt bleiben. Ragnar wollte das nicht ak-zeptieren, weswegen er ihn täglich trainierte, und weiler als Bootsbauer einen ohnehin fordernden Beruf hatte,war sein Körper in Topform.

Gewöhnlich genoss Lucie es, ihn zu beobachten, seingewelltes Haar in unbeschreiblichem Kastanienbraun,das gut geschnittene Gesicht mit den intensiv blauen Au-gen – Neele hatte Lucie unter dem Siegel der Verschwie-genheit gestanden, dass sie ihre Freundin für einenGlückspilz hielt, solch einen Traummann abgestaubt zuhaben. Lucie hatte dazu lieber nichts gesagt, weil das be-ängstigende Erinnerungen an den Bombenleger auslös-te, der von Neid auf Ragnar zerfressen gewesen war undihm nicht einmal das Schwarze unterm Fingernagelgönnte. An diesen Irrsinn wollte Lucie nicht mehr den-ken, trotzdem überschattete er schon den ganzen Som-mer. Wahrscheinlich glaubte sie auch bloß wegen diesesWahnsinnigen, dass der Autofahrer vorhin absichtlichnicht gebremst hatte.

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Sie gab sich einen Ruck. Bloß weil Neele Ragnar at-traktiv fand, würde sie kaum versuchen, ihre Freundinaus dem Weg zu räumen. Sie besaß nicht mal einendunklen Kombi. Ob am Rad Lackspuren hafteten?

Ragnar legte es unter eine Flutlichtlampe, als Erki auf-tauchte, gähnend, als hätte er schon geschlafen. Da ermeistens mit seinen Hühnern zu Bett ging, war das nichtauszuschließen. Er wohnte in der Werfthalle, in derenhinterem Bereich eine Zwischendecke eingezogen war,sodass sich zwei kleine Wohnungen für die Mitarbeiterabteilen ließen. Die eine gehörte Erki, in der anderenhauste der neue Azubi. Thorben Hesse war über Nachtzu seinem Opa nach Maasholm gefahren, sonst wäre erwohl auch heruntergekommen. Er war ein semmelblon-der, sehr aufgeweckter Junge von achtzehn Jahren.

Erk-Anders Wader war mit Mitte dreißig deutlich äl-ter, trotzdem hatte er sich etwas Kindliches erhalten, daer einen Geburtsschaden davongetragen hatte. Er warstolz, überhaupt alleine leben zu können und noch dazueinen Arbeitsplatz zu haben, der ihn ernährte. Ragnarwurde nicht müde, ihm zu versichern, wie sehr er seineFähigkeiten schätzte. Die Situation war für alle Beteilig-ten glücklich, denn Erkis Onkel, ein knurriger Flensbur-ger, hatte kein Interesse an seinem einzigen Verwand-ten. Darum war Ragnar Erkis Familie, und inzwischenauch Lucie.

»Was ist los?«, wollte Erki wissen.»Jemand hat Lucies Rad zu Klump gefahren und ist ge-

türmt.«»Du meinst, er hat es kaputt gemacht und ist wegge-

laufen? Das darf er doch gar nicht.«

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»Du sagst es.« Ragnar, der bei Erkis Erscheinen nichtaufgeschaut hatte, verrenkte sich, um den Radrahmenvon unten zu mustern.

»Was tust du da?«»Ich suche nach Lackspuren, die der Kerl hinterlassen

haben könnte.«»War er lackiert? Was ist das für ein Mensch?« Erkis

Mund blieb offen stehen.»Lackspuren vom Auto«, erklärte Lucie, weil Ragnar

nicht antwortete. Sie erzählte Erki, was sich zugetragenhatte. »Das nennt man Fahrerflucht«, schloss sie. »Dafürwird er bestraft, wenn wir ihn erwischen.«

»Wieso ihr? Sucht die Polizei ihn denn nicht?«»Das geht die nichts an«, grumpfte Ragnar, ohne die

Zähne auseinanderzunehmen. Er langte nach einer Stab-lampe, mit der er die hinteren Speichen des verbeultenRades kontrollierte. »Nee, nichts.«

»Ich finde, die Polizei sollte Fahrerflüchtlinge bestra-fen«, ließ sich Erki vernehmen. »Und ich glaube, das daist Lack, der von dem Auto ist.« Er tippte auf eine Stelleam Lenker. Ragnar leuchtete darauf, so schnell, als wür-de er mit einem Messer zustoßen. Erki riss seine Handaus dem Lichtstrahl. »Killst du den Fahrerflüchtling,wenn du ihn hast?«

»Vielleicht.« Ragnar tastete über die Stelle, dann richt-ete er sich auf. »Schwarzer Lack, würde ich sagen, Lucie,oder?«

Nach einem angestrengten Blick nickte sie. »Ja,schwarz. Ich hatte also recht.« Sie strich sich eine ihrerwiderborstigen Locken aus der Stirn. »Wenn ich bloßwüsste, ob ein Mann oder eine Frau am Steuer gesessenhat. Leider habe ich rein gar nichts gesehen außer dem

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dunklen Schatten. Und er hat nicht gebremst, da bin ichabsolut sicher. Das war Absicht!«

»Schon gut«, wiegelte Ragnar ab.»Absicht?«, echote Erki. »Wenn der das mit Absicht ge-

macht hat, dann wollte er Lucie doch umbringen, oder?Wollte er ihr Rad kaputt machen, damit sie ein neueskaufen muss? Er könnte ein Fahrradhändler sein.«

Seine Bemerkung vertrieb die bedrohliche Aura derSituation. Ragnar und Lucie vermieden es krampfhaft,sich in die Augen zu schauen, sonst hätten sie laut losge-lacht. Erki merkte davon glücklicherweise nichts. Erschwadronierte weiter, bis Ragnar ihn energisch, aberfreundlich zu Bett schickte. »Morgen wird ein anstreng-ender Tag.«

»Ja.« Erkis milchig blaue Augen begannen zu leuchten.»Da wollt ihr feiern. Ich freu mich drauf.«

»Wir auch«, versicherte Lucie, obwohl es ihr schwer-fiel, die ungetrübte Vorfreude des Nachmittags hervor-zukramen.

Warum hatten die Bremsen geschwiegen?

***

Lucie hatte Probleme mit dem Einschlafen, währendRagnar längst friedlich leise schnaufend schlummerte.Die Geräusche klangen beruhigend, trotzdem geriet Lu-cie ins Grübeln. Sie wälzte sich von links nach rechts indem gewaltigen Bauernbett, fand die dicke Daunende-cke, die sie sonst liebte, unvermittelt belastend, stram-pelte sie von sich, begann zu frieren, weil sich der Augustin diesem Jahr eher von der kühlen Sorte zeigte und Rag-nar darauf bestand, bei offenem Fenster zu nächtigen.

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Wie sollte das im Winter werden? Würden sie dannschon verheiratet sein? Einen Termin hatten sie bishernicht festgelegt, dazu war alles noch viel zu frisch.

Lucie zwang ihre Gedanken weg von dem Unfall undhin zu dem beglückenden Moment am Vortag – nein, in-zwischen war es vorgestern –, als Ragnar mit dem Antragherausgeplatzt war. Sie hatten sich geliebt, auf diesewilde Art, die sie manchmal überkam, wenn sie eigent-lich ganz andere Dinge tun sollten oder wollten – Luciehatte spätabends noch am Schreibtisch gesessen und ei-nen Brief an ihre Großeltern verfasst, als Ragnar hintersie getreten war, anfangs ihren Nacken massierend,dann hatte sie sich umgedreht, war aufgestanden, ihmentgegen, seinen fantastischen Lippen entgegen. Nie-mand hatte einen wundervolleren Mund als er. Luciefand kein Ende, diese Lippen mit ihren zu erkunden, im-mer wieder, als wäre es das erste Mal. Ragnar war es, derdie Geduld verloren hatte. Als wäre sie eine Feder, hatteer sie angehoben und zum Bett getragen.

Später, irgendwann, hatte er sich schwer atmend aufden Rücken gedreht. Seine Worte kamen stoßweise.»Heiratest du mich?«

Lucie blieb die Luft weg. »Wie bitte?«, kiekste sie.Er stützte sich auf einen Arm, um sie mit funkelnden

Augen zu bewundern. »Heirate mich!«Ihr »Ja« kam von alleine, sie hätte es nicht aufhalten

können. Wollte sie auch gar nicht. »Ja!«, rief sie erneut.Seine Wimpern flatterten auf einmal. »Sicher?«»Und wie!«Danach hatten sie lange nicht mehr gesprochen, der

Dialog ihrer Körper war ihnen genug.

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Am anderen Morgen hatten sie noch im Bett Pläne ge-schmiedet. Lucie wollte den Brief an ihre Großelternumformulieren, Ragnar hatte gegrinst, bevor er generösmeinte: »Tu das, bis der ankommt, wissen es alle anderensowieso.«

»Warum?«»Sonnabend feier ich meinen Geburtstag nach.« Diese

Tradition pflegte Ragnar seit seiner Kindheit, weil erkurz vor Weihnachten geboren worden war, wo das Er-eignis im Trubel der Adventszeit unterging. Außerdemfeierte es sich im Sommer besser, daher war es am Sonn-abend mal wieder soweit, obwohl Ragnar inzwischenden achtundzwanzig näher war als den siebenundzwan-zig. »Wir können da die Bombe platzen lassen.«

Lucie schluckte ungewollt bei diesem Ausdruck, undRagnar verbesserte sich schleunigst. »Alle überraschen.So schnell rechnen die garantiert nicht damit.«

»Kaum«, bemerkte sie trocken, weil sie noch damitrang, nicht an Explosionen zu denken.

Sie sprachen fast nie über die Vorfälle des Frühlings,weshalb Lucie nicht genau wusste, wie weit Ragnar da-mit war, alles zu verarbeiten. Er hatte seinen Vater ver-loren, ihn hatte es viel härter getroffen als sie. Trotzdemhatte er, als sie wegen des Fahrradunfalls zur Polizeiwollte, nur darauf gepocht, dass Bendixen den Flüchti-gen nicht finden würde. Als wollte Ragnar den Kommis-sar meiden.

Ging es ihm wirklich bloß darum? Eventuell sollten sieden Vorfall doch melden, nachdem sie schwarzen Lackvon dem Auto am Lenker entdeckt hatten. Lucie wusstenicht, was richtig war, und darüber schlief sie schließlichdoch ein.

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Am anderen Morgen fühlte sie sich ausgeruht und ta-tendurstig. Die Sonne schien von einem prallblauenHimmel, der die Schlei zum Leuchten brachte. Der lange,fjordartige Meeresarm weitete sich bei Borgwedel, woRagnars Werft stand, zur sogenannten Großen Breite,ein passender Name, denn das gegenüberliegende Uferwar mit bloßem Auge nur als schmaler Streifen erkenn-bar. Der Blick über die glitzernde Wasserfläche vertrieballe dunklen Wolken. Lucie, die im Morgenmantel nachdraußen gelaufen war und auf den Steg vor der Werft,reckte die Arme in die Höhe.

»Herrlich!«Ragnar war ihr gefolgt. »Perfektes Geburtstagswet-

ter.«»Alles Gute, Schatz.« Sie gab ihm einen Kuss, den sie

schließlich bedauernd, aber energisch abbrechen muss-te, weil ihnen dieser Tag keine Zeit für Zweisamkeitenließ. »Lass uns reingehen, ich habe ein Geschenk fürdich.«

»Ich habe doch gar nicht wirklich Geburtstag«, wun-derte er sich.

Sie lachte und lief vor ihm her über den Steg, an demzwei Segelboote dümpelten, über den morgenfeuchtenRasen, vorbei an der ein wenig unförmig wirkendenWerfthalle aus Klinkerstein und Holz, hinauf zur kleinenKate, über der sich die Krone eines Hausbaums, eineruralten Linde, wiegte. Das Reetdach war dunkel vom Al-ter, teils mit Moos überzogen, wo der Hausbaum zu vielSchatten warf. Rote Rosen rankten an Spalieren vor denweiß getünchten Wänden, Lucie hatte neben der Tür undunter den Fenstern Töpfe mit weißen Geranien aufge-stellt, die auch eine Bank mit schmiedeeisernen Füßen

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einrahmten. Ein Liebesnest, wie es romantischer kaumsein konnte, befand sie zufrieden, als sie darauf zuging.Dann schwenkte sie nach rechts zur Werfthalle, in dieseitlich eine windschiefe Tür eingelassen war. Man ge-langte von dort durch einen düsteren, verwinkeltenGang zum einen in den großen Raum, wo die edlen Holz-boote entstanden, denen sich Ragnar verschrieben hatte,zum anderen in einen an die Rückseite der Halle gebau-ten Holzschuppen, in dem Erki seine Hühner hielt, unddurch ein Türchen dort ins Freie. Davor stand im Dunkeldes Gangs ein gekalkter Schrank mit verzogenen Türen.Lucie stemmte sich dagegen, um sie zu öffnen.

»Voilà. Ich habe es nicht eingepackt.« In freudiger Er-wartung wies sie auf das Segelbootmodell, das sie imSchrank versteckt hatte. Was würde Ragnar sagen? »Eswar zu groß.«

»Wow!« Er holte es vorsichtig hervor. »Das ist ja meine›Windsbraut‹. Woher … wer hat die gemacht?«

»Thorben hat mir den Tipp gegeben. Sein Opa kenntjemanden, der nach Fotos Schiffsmodelle bauen kann.Ich hatte ganz schön Angst, dass er nicht rechtzeitig fertigwird, aber es hat doch geklappt.« Sie strahlte. »Ich dach-te, du stellst es ins Wohnzimmerfenster, da würde es sichtoll machen und wir haben ein bisschen Sichtschutz.«

Ragnar lachte auf. »Du meinst, weil ich Gardinen ver-abscheue und das Fenster zum Hof rausgeht?«

»Und jeder Besucher gleich reingucken kann«, ergänz-te sie, froh, dass das Dämmerlicht ihr Rotwerden ka-schierte.

»Künftig nicht mehr.« Vorsichtig trug Ragnar das gro-ße Modell mit den beiden weißen Segeln zum Haus undhinein, wo er es aufs Wohnzimmerfensterbrett stellte,

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das Lucie rasch von allerlei Kram, der dort lag, frei räum-te. Ragnar trat zurück. »Macht es den Raum nicht zudunkel?«

»Mir gefällt es«, betonte sie, damit er ja nicht auf dum-me Gedanken kam. Schon zweimal hatte sie gemeint,Thorben verstohlen durchs Fenster linsen zu sehen,wenn sie und Ragnar auf dem Sofa mit intimen Vergnü-gungen beschäftigt waren. Anders als bei Erki schossenbei Thorben die Hormone ins Kraut, wie seine oft pickli-ge Haut bewies. Er war eben doch kein Junge mehr, auchwenn Ragnar ihn als solchen bezeichnete und behandel-te. Manchmal nannte er ihn spaßeshalber ›kleiner Bru-der‹. Tatsächlich hatte Ragnar keine Geschwister, andersals Lucie, die ihren großen Bruder zur Geburtstagsfeiereingeladen hatte. Linus würde umkippen, wenn er vonihrer Verlobung erfuhr.

Er tauchte als Erster der Gäste auf, klar, sich an Nor-men zu halten war nie seine große Stärke gewesen. Lucieschleppte einen altertümlichen Gartenstuhl mit Holzsitzund Metallgestänge zu der betonierten Fläche vor demSteg, wo sie die Gästetafel aufbauen wollten, als Linus’schnieker Porsche auf den Hof brauste. Linus sprang he-raus, schlaksig, mit einer markanten Nase gestraft, dafürjedoch topmodisch gekleidet wie immer – früher hatteLucie darauf weniger geachtet, inzwischen fiel es ihr auf,weil Ragnar dazu neigte, in zerschlissenen Jeans, barfußin Sandalen und mit einem alten Oberhemd rumzulau-fen, weil er sich bei seiner Arbeit schmutzig machte.

Linus schob seine Sonnenbrille auf den Oberkopf undeilte auf sie zu. Lucie stellte den Stuhl ab, in der Erwar-tung, von ihrem Bruder umarmt zu werden. Stattdessen

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packte er den Stuhl. »Was tust du denn da? Hält der Kerldich als Arbeitssklavin?«

»Hallo Linus. Schön, dass du da bist«, sagte Lucie poin-tiert.

»Hi, Schwesterchen. Wo soll dieses Sperrmüllmöbelhin?«

»An den Tisch, ans Kopfende, damit du einen gutenÜberblick hast. Den Stuhl dachte ich für dich.«

Linus setzte ihn ab, lachend. »Lucie mit der frechenKlappe. Mama und Paps wussten schon, wieso sie dichnach der Peanuts-Göre benannt haben.«

»Bei dir haben sie ins Klo gegriffen. Du bist kein Typfür Schmusedecken.«

Linus’ Lachen wurde eine Vierteloktave höher, bevorer Lucie doch noch in die Arme nahm und herumwir-belte. »Freu dich, dass ich schon da bin. Ich kann dirassistieren, wenn dein hochherrschaftlicher Werftbesit-zer sich dazu zu fein ist.«

»Ist er nicht, tatsächlich helfe ich ihm«, stellte Lucieklar.

Linus überging ihren kriegerischen Unterton undschaute sich um. »Wo steckt er denn?«

»Irgendwo auf dem Gelände.« Sie wedelte mit derHand, um die gesamte Werft zu umfassen, die sich hinterden Gebäuden noch den halben Hang hinauf erstreckte.Dort lagerte Ragnar Holzbohlen unter einem Blechdach,das von spillerigen Bäumchen geschützt wurde. Dane-ben sprudelte Süßwasser aus einer Quelle und plätscher-te als verschlungener Bachlauf jenseits der Werfthallezur Schlei hinab, wo er in einem Schilfdickicht ver-schwand. Lucie fand dieses Miniflüsschen romantisch,Ragnar schimpfte darüber, weil es bei Regen über die

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Ufer trat. »Ich glaube, er wollte zusammen mit Erki einenGetränketisch bauen.«

»Auf die Schnelle mal eben?«Lucie bejahte. »Und du? Warum bist du schon da?«»Die Straßen waren frei. Ich hatte keinen Schimmer,

wie lange man heute von Berlin bis Schleswig fährt, da-rum bin ich rechtzeitig aufgebrochen.« Linus ließ seineBlicke noch immer umherschweifen. »Superwetter habtihr, bloß etwas kühl.«

Ihr war klar, dass er ihren Empfang meinte. Dabei hat-te sie sich total auf Linus gefreut, wegen der Verlobungund auf seine Reaktion – die sie nun plötzlich fürchtete,was sie zickig machte. Linus hatte noch nie ein gutesHaar an den Männern gelassen, mit denen sie zusammenwar. Hoffentlich ließ er sich nicht zu einer Peinlichkeithinreißen.

»Ich muss dir was sagen«, begann sie, obwohl sie mitRagnar vereinbart hatte, die Neuigkeiten erst gemein-sam beim Essen zu verraten. Gestern hatte sie sich schongegenüber Neele verplappert, jetzt sollte Linus besservorab alles erfahren, dann hatte sie das Schlimmste hin-ter sich und konnte sich hoffentlich entspannen.

»Ja? Was musst du mir beichten?«, fragte er, weil sienicht weiterredete.

»Also, Ragnar und ich, also wir … wir werden heira-ten!« Herausfordernd hob sie das Kinn. Gerade in diesemMoment wäre sie gerne deutlich größer gewesen. Sievermisste ihre High Heels, die leider auf Ragnars Werftnicht zu gebrauchen waren.

»Ups.« Linus gaffte sie an. »Du!«

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»Ja, ich!« Sie hielt seinen Blick gefangen, damit ihr jakeine Gefühlsregung entging, während in Linus langsamsackte, womit sie ihn konfrontierte.

»Du!«, stieß er noch mal aus, dann legte er den Kopf inden Nacken und begann zu lachen. Lucie ballte die Fäus-te. Ehe sie jedoch dazu kam, ihm gehörig die Leviten zulesen, tauchte Ragnar auf. Stämmigen Schrittes strebteer auf sie zu, ohne von Linus bemerkt zu werden. Trotz-dem hätte Lucie gewettet, dass ihr Bruder auch kein Blattvor den Mund genommen hätte, wäre ihm Ragnars Na-hen nicht entgangen. »Du wechselst deine Typen dochmit den Jahreszeiten!«

Lucies Blick eilte zu Ragnar. Sie entdeckte die Flam-men in seinen Augen, die gefletschten Zähne. Sie wurdevon ihm in den Arm genommen, sehr besitzergreifend.»Genau das werde ich künftig verhindern.«

»Musst du gar nicht. Mir war vor dir bloß nie der Rich-tige begegnet. Ich habe immer nach dir gesucht«, japstesie.

»Ausgiebig«, spottete Linus.»Dann musst du ja nichts nachholen, Schatz«, schnapp-

te Ragnar in seine Richtung.»Das müssen wir beide nicht«, betonte sie, weil auch

Ragnar etliche Beziehungen gehabt hatte.»Umso besser«, sagte Linus, einen Tick entschuldi-

gend, als hätte er begriffen, dass er zu weit gegangenwar. Er rang sich ein Lächeln ab. »Dann darf ich euchgratulieren. Mama und Paps werden entzückt sein. Oderwissen sie es schon?«

»Nein, eigentlich wollten wir mit der Neuigkeit erstbeim Essen rausrücken«, erwiderte Lucie.

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»Ganz klassisch vorm Dessert?«, witzelte Linus, weil ersich nicht beherrschen konnte. »Na, das wird eine Gaudi,wenn ihr diese Bombe platzen lasst.«

»Red nicht von Bomben«, murrte Lucie und schmiegtesich enger an Ragnar.

»Stimmt, das ist ein unpassendes Wort in eurer Gegen-wart«, sagte Linus friedlich. »Und nun dürft ihr übermich verfügen. Versprochen ist versprochen. Ich helfeeuch beim Aufbauen. Das Wetter wird sich ja wohl hal-ten?« Skeptisch schielte er zum Himmel, wo scheinbarpapierdünne Wolkenschleier aufgezogen waren.

***

Als Thorben mit seinem Onkel, Karl Sieversen, kam, warLinus mit Ragnar in den Tiefen der Halle verschwunden,darum begrüßte Lucie die beiden Mitarbeiter; den jüngs-ten, Thorben, der erst vor wenigen Wochen neu als Azubiim ersten Lehrjahr begonnen hatte, und den langgedien-ten Spezialisten, dem Ragnar all sein Wissen und Könnenverdankte, weshalb er seine Werft sogar Karl zu EhrenKalle-Werft getauft hatte. Passend fand Lucie den Na-men angesichts der knorrigen Type nicht. Karl war keinKalle, sondern ein meistens griesgrämig wirkender, ext-rem schweigsamer Mann im vorgerückten Alter. Trotz-dem passte er gut in Ragnars Team aus Individualisten,die durch ihre Leidenschaft für den Holzbootebau ver-bunden wurden.

Kalle war es auch, der seinen Neffen Thorben für dieLehrstelle vorgeschlagen hatte. Während er sich nurstumm grüßend gegen die hohe, eckige Stirn tippte, blieb

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Thorben einen Moment bei Lucie stehen, weil er wissenwollte, wie Ragnar das Modellschiff gefiel.

»Dein Tipp war goldrichtig«, betonte Lucie freundlich,woraufhin Thorben, der stets nach Lob hechelte, als hät-te er bisher zu wenig davon bekommen, stolz griente. Erwürde ein gut aussehender junger Mann werden, sobalder seine Phase mit unreiner Haut überstanden hatte. Lu-cie mochte solch hellblondes Haar nicht sonderlich, aberihr war schon aufgefallen, dass sich Mädchen nach Thor-ben umschauten. Beim Lachen erschienen in seinenWangen zwei Grübchen, die ihm einen verschmitztenAusdruck gaben. Groß und scheinbar von Tag zu Tagbreitschultriger werdend verriet er weder optisch nochim Wesen, dass der drahtige Kalle der Bruder seinerMutter war.

»Geht es deinem Opa wieder gut?«, erkundigte sichLucie, weil ihr einfiel, dass Thorbens Großvater krankgewesen war.

»Mittelmäßig«, antwortete Thorben und kratzte sicham Ohr. »Ich werde dann mal gucken, wo ich helfenkann.«

»Die Bierkisten müssten zum Kaltstellen in den Senk-korb«, informierte ihn Lucie. Erki hatte einen Gitterkas-ten gefertigt, in dem sie das Bier in der Schlei kühlenkonnten, indem sie es vom Steg aus halb im Wasser ver-senkten. Den Männern gefiel diese Idee. Thorben strebtevon dannen, seiner wieder entspannten Miene nach infreudiger Erwartung lukullischer Hochgenüsse.

Langsam trudelten immer mehr Gäste ein, Kumpelvon Ragnar, die Lucie bloß flüchtig kannte, daher war siefroh, als Neele in ihrem Mini auf den Hof fuhr. Endlichein weibliches Wesen. Neele hatte ihre Haare extra für

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die Feier mit blonden Strähnchen gefärbt, was ihr einfreches Aussehen verlieh und die stets zu rosigen Wan-gen überspielte, denen kein Make-up gewachsen war. Siewar Anfang dreißig, eine rührige Person mit einem Fai-ble für Romantik, das sie mit ihrem Landhauslädchenherrlich ausleben konnte, auch wenn Lucie argwöhnte,dass das Geschäft weniger gut lief, als Neele zugebenmochte.

Sie umarmte Lucie, als hätten sie sich monatelangnicht gesehen, bevor Lucie der überschwänglichen Be-grüßung ausweichen konnte. Neeles Griff war kräftig,sodass mindestens die Frisur litt, Lucies Kette verrutsch-te und sie das Oberteil ihres Hosenanzugs wieder richtenmusste. Manchmal verrenkte sie sich den Rücken bei derBegrüßung, weil Neele, die größer war als sie, sie wie ineinen Schraubstock einzwängte und verbog. Aber siemeinte es lieb.

»Na, du Glückliche? Schwebst du noch auf rosa Wölk-chen?«, fragte sie vielsagend. »Wo ist denn dein Götter-gatte in spe?«

»Irgendwo in der Werfthalle.«Neele verzog das Gesicht. »Uh, nee, dann warte ich mit

dem Hallosagen.« Sie wies auf ihre weiße Hose. »Manmuss das Schicksal nicht rausfordern. Eure Halle istnicht grade … sauber.« Sie hüstelte.

Lucie nickte ergeben. »Du sagst es. Komm, wir deckenden Tisch. Ich will das neue Service einweihen, das ichletzten Monat bei dir gekauft habe.«

»Supi. Und den neuen Teller von gestern.«Lucies Füße schienen unvermittelt schwer wie Blei zu

sein. Sie musste anhalten. »Der Teller ist kaputt.«»Oh, wie schade.«

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»Nicht nur das«, sagte Lucie hohl und erzählte Neelebeim Tischdecken, was sich am Vorabend auf dem Heim-weg zugetragen hatte. Neele war entsetzt.

»Fahrerflucht! Und du glaubst, der hat versucht, dichabsichtlich zu überfahren?« Sie strich sich ihre blondier-ten Haare hinters Ohr. »Das kann ich mir echt nichtvorstellen. Wer macht so was? Und warum? Wenn dasein altes, schedderiges Auto gewesen wäre, hätte man janoch sagen können, vielleicht blöde Jugendliche, die eineMutprobe machen oder so was. Aber wo du sagst, es warein großer Kombi … so was fahren doch eher Familien-väter oder jedenfalls ältere Leute mit genug Kohle.«

»Hm, ja, deine Überlegung hat was«, pflichtete ihr Lu-cie bei. »Vielleicht saß auch eine Frau am Steuer.«

»Die dich beseitigen wollte, weil du ihr Ragnar ausge-spannt hast?« Neele kicherte, Lucie fand das nicht lustig.»Soo toll ist dein Verlobter nun auch wieder nicht, dassKonkurrentinnen dich gleich kalt machen wollen, Süße,da muss ich dich enttäuschen. Klar, er gefällt mir, echt«,fügte sie eilig hinzu, »aber andere Mütter haben auchhübsche Söhne. Deine zum Beispiel.«

»Redest du von Linus?«, stutzte Lucie. Bisher warensich ihr Bruder und Neele noch nicht begegnet und auchjetzt hatte Neele lediglich von Weitem einen Blick auf ihnwerfen können, weil Ragnar ihn mit Beschlag belegt hat-te.

»Er sieht cool aus. Und der Porsche gehört ihm?« Neeleverschlang das Auto mit den Augen.

»Linus ist cool, zweifellos«, bestätigte Lucie, die, an-ders als er selbst, davon überzeugt war. »Er hat auchgenug Kohle, um dich zu zitieren. Mit seiner Software-

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firma verdient er nämlich richtig gut. Single ist er auch.Er mag Jazz und ist abends gerne aushäusig …«

»Aber? Wieso preist du ihn an wie Sauerbier?« Neelereckte den Kopf vor, um Lucie besser in die Augen plie-ren zu können. »Warum hast du ihn sonst bisher kaumerwähnt?«

»Weil er mein Bruder ist. Findest du Brüder interes-sant?«

»Ich habe keinen.«»Sei froh. Große Brüder sind schrecklich peinlich«,

versetzte Lucie, und auch das war – leider – die Wahr-heit, weil er sie mit seinem coolen Getue zu gerne neckte.»Trotzdem kannst du ja dein Glück bei ihm versuchen.«Sie ging nicht davon aus, dass sich Linus für Neele er-wärmen könnte. Dazu war sie ihm bestimmt zu ländlich,zu romantisch, obwohl sie als Geschäftsfrau knallhartsein konnte, wie sie gerne betonte. Wenn sie anschlie-ßend Lucie von der neuen Soundsokollektion des Sound-osgeschirrs vorschwärmte, strafte sie ihre BehauptungLügen.

»Werde ich machen«, kündigte Neele an, »sonst laufenhier ja bloß Waldschratts rum.« Sie meinte RagnarsKumpel.

Nach und nach trudelten auch alte Schulfreunde vonihm ein, die oft ihre Partnerinnen mitbrachten, dazu dieFreunde vom Segelclub und ausgewählte Mitarbeitervon Calliesen-Haus, der Firma, die Ragnars Vater gehörthatte. Sie war schon von seinem Großvater gegründetworden, ein Traditionsunternehmen, das zuletzt enormgewachsen war. Daraufhin hatte Ragnars Vater ein Ar-chitekturbüro abgeteilt, das auch Fremdaufträge erle-digte, und Lucie war als jüngste Architektin Anfang des

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Jahres dort eingestellt worden. So hatte es sie, die über-zeugte Hamburgerin, in die Schleiregion verschlagen,und das Wunder war passiert, sie hatte sich in die schöneGegend verguckt, sogar noch ehe sie sich in Ragnar ver-liebte. Daher war sie doppelt dankbar, dass nach demTod von Ragnars Vater dessen Bruder Roger die Firmaübernahm. Ragnar war mit seiner Werft ausgelastet undhatte keine Ambitionen, eine Baufirma zu leiten.

Roger Calliesen war auch eingeladen und er kam. Lu-cie taxierte seinen schwarzen Mercedeskombi, den ersehr dicht neben Linus’ Porsche parkte, als hätte er Pro-bleme, den richtigen Abstand zu halten. War das etwader Wagen, der sie am Vorabend beinahe überfahrenhatte?

›Roger? Wieso sollte der …?‹ Ihr rann ein Schauderübers Rückgrat. Dann straffte sie sich, um ihren neuenChef zu begrüßen. Ihre Situation war diffizil, weil siezwischen den Stühlen saß. Einerseits war sie bloß eineAngestellte von vielen, andererseits war sie mit demSohn des Exchefs und eigentlichen Eigentümer der Fir-ma liiert – bald verheiratet. Außerdem konnte sie Rogernoch weniger leiden als Ragnars Vater Rainer.

Das hatte ihr vorübergehend zu denken gegeben,schließlich hieß es, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.Dass die Calliesens ihr alle unsympathisch waren, sprachnicht gerade für Ragnar. Sie hatte sich gesagt, er sei ebenaus der Art geschlagen, bis sie seine Tante kennenlernte.Kathrin arbeitete als Psychiaterin in Berlin. Sie, ihrMann, die drei erwachsenen Kinder und zwei Enkel wa-ren total nett. Darum bedauerte Lucie es, dass keiner vonihnen Zeit für Ragnars Geburtstagsfeier hatte. Onkel Ro-ger dagegen kam natürlich und spielte Mister Wichtig.

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Lucie fühlte sich bei ihm stets an ein Fabelwesen erin-nert, eine Mischung aus Wiesel und Dachs. Das Einzige,was er optisch mit Ragnar gemeinsam hatte, waren diebuschigen Brauen.

Roger versuchte, gravitätisch aufzutreten, aber seineBewegungen wurden immer wieder fahrig. Die rot ge-äderte Nase verriet den notorischen Trinker, die unste-ten Augen jemanden, der es nötig hatte, dauernd nachallen Seiten zu sichern, warum auch immer. Ragnarwollte nicht damit heraus, was mit seinem Onkel los war,im Büro wurde kolportiert, dass Roger bereits eine Firmazugrunde gerichtet hatte. Das war zwar Jahrzehnte her,soweit Lucie das herausfand, und Roger hatte bisherauch nichts getan, was ihren Argwohn gegen ihn festigte,trotzdem blieb sie misstrauisch.

Entsprechend kühl fiel ihre Begrüßung aus. Roger lä-chelte schmallippig. »Immer am Ball bleiben«, quetschteer zwischen den Zähnen hervor, ohne zu erklären, waser damit meinte, und steckte sich eine Zigarette an. DasFeuerzeug ließ er in der Tasche seines Jacketts ver-schwinden, das sogar noch unpassender für diesen rus-tikalen Nachmittag war als Linus’ Outfit. Rogers Anzugmusste ein Vermögen gekostet haben und würde an die-sem Tag leiden. »Wo ist denn mein umtriebiger Neffe?«

»Ragnar ist in der Werfthalle«, wiederholte Lucie. So-bald sich Roger dorthin gewendet hatte, zischte sie Neelezu: »Lass uns ins Haus gehen, ich habe es satt, RagnarsGäste zu empfangen. Das ist seine Aufgabe.«

»Da hast du recht«, stimmte ihr Neele zu. »Dein Chefsieht aus wie ein A… du weißt schon …«

»Bei mir verhält er sich korrekt.« Lucie zog den Mundschief. »Vermutlich will er Ragnar nicht verärgern.«

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»Ist Ragnar denn mit ihm zufrieden?«»Frag mich was Leichteres.« Verdrossen dachte Lucie

an eine Szene vor wenigen Wochen, als sie und Ragnarabends noch segeln gewesen waren. Der Wind war ein-geschlafen und als sie im Schneckentempo heimwärtsschlichen, war das Gespräch irgendwie auf Roger ge-kommen. Lucie hatte erzählt, dass ihre MitarbeiterinPetra Lohse von Roger einen Rüffel kassiert hatte.

»Zu Unrecht. Dein Onkel hat keinen Schimmer vonBauzeichnungen.«

»Hm.«»Er hat sich aufgebläht und die arme Petra vor ver-

sammelter Mannschaft eingestampft. Das war echt un-angenehm.«

»Hm.«»Hast du keine Meinung dazu?«»Roger hat das Calliesentemperament. Wir sind alle

rachullerisch.«»Allerdings, das Wort passt.« Es klang so unsympa-

thisch, wie Lucie Roger fand. »Trotzdem sollte er sichbeherrschen. Petra leistet tolle Arbeit. Sie hält unserTeam zusammen.«

»Sie wird ja wohl keine Mimose sein«, murrte Ragnar.»Damit hat das nichts zu tun. Roger hat sich echt da-

nebenbenommen. Ich hätte mir das nicht bieten lassen,und das hat nichts damit zu tun, dass ich mit dir zusam-men bin.«

Ragnar spähte mit engen Augen über die Große Breite.»Da hinten scheint ein Lüftchen das Wasser zu kräu-seln.«

»Lenk nicht ab!«

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»Roger ist halt ein alter Knochen. Na und?« Ärgerlichruckte Ragnar an der Vorleine und befahl Lucie, die ander Pinne saß: »Rühr mal hin und her, vielleicht könnenwir die Jolle ein bisschen da rüber treiben, damit wirschneller wieder Wind einfangen. Ich will hier nicht ver-sauern.«

»Dann solltest du ins Wasser springen und schieben«,schlug Lucie maliziös vor.

In dem Augenblick war eine Böe in die Segel gefahren,die sich wie weiße Wolken bauschten und flatterten unddas Boot auf die Seite legten, gerade genug, um Lucie ge-gen die Pinne rutschen zu lassen. »Huii!«

Danach waren sie ausschließlich damit beschäftigt, dieJolle von Böe zu Böe heimwärts zu bugsieren, ein Erleb-nis, das sie in seiner Intensität zusammenschweißte.Seitdem hatten sie über Roger nicht mehr gesprochen,um schlechte Stimmung zu vermeiden. Das Thema rühr-te zu nah an Ragnars Trauer um seinen Vater; vielleichtsteckte auch mehr dahinter, Lucie wagte das nicht zuhinterfragen. Sie schlug einen Bogen um alles, was imEntferntesten an den Bombenterror und den Mord anRainer Calliesen erinnerte.

Neele riss Lucie aus den Erinnerungen. »Gab es nie-mand anderen, der Calliesen-Haus weiterführen kann?Oder wie wäre es, die Firma zu verkaufen, wenn Ragnarsie nicht will?«

»Beides keine Optionen.« Lucie, die mit Neele zur Katehochgegangen war, hielt ihrer Freundin die Küchentürauf. »Ragnars Stiefmutter hat keinen blassen Schimmervon Betriebswirtschaft und seine anderen Verwandtensind weit weg beziehungsweise haben ihr eigenes Le-ben.« Sie zog die Tür hinter Neele zu. »Also muss ich mit

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Onkel Roger klarkommen, irgendwie. Müssen meineKollegen ja auch, Chefs sucht man sich nicht aus, weil sielieb sind.«

»Solange er was kann«, meinte Neele. Ihrer auffor-dernden Mimik nach hoffte sie darauf, dass Lucie ausdem Nähkästchen plauderte, aber selbst wenn nicht ausdem Flur Stimmen nähergekommen wären, hätte Lucieihr diesen Gefallen nicht getan. Sie mochte Klatsch nicht,im Gegensatz zu Neele, die mit Vorliebe ihre Kundinnenaushorchte, als wüssten die sonst was für Geheimnisse.

Die Tür zum Flur ging auf und Ragnar erschien mit ei-nem alten Schulfreund und dessen hochschwangererFrau. »Das ist die Küche«, sagte Ragnar.

»Wie man unschwer erkennt«, frotzelte der Freund,dessen Namen Lucie vergessen hatte.

Seine Frau wandte sich an Lucie. »Hallo, du bist Rag-nars Freundin, nicht wahr? Ihr habt es echt hübsch. Soeine Kate hätten wir auch gerne, ich jedenfalls. In dieserUmgebung kann ein Kind aufwachsen.« Sie tätscheltezufrieden ihren runden Bauch.

»Ragnar zeigt uns sein Haus«, erklärte ihr Mann, alswäre Lucie begriffsstutzig.

»Wir haben zusammen Abi gemacht«, sagte Ragnarund hob eine Braue, ein Zeichen, das bloß Lucie ver-stand.

»Das ist doch nett«, erwiderte sie im Plauderton. »Ichfreu mich immer, wenn ich alte Freunde von Ragnarkennenlerne. Es ist gar nicht so einfach, hier Fuß zu fas-sen.«

»Ja, wir Landeier sind eine verschworene Gemein-schaft«, sagte die Ehefrau lachend, dann fiel ihr Blick aufNeele, die sich zum Herd zurückgezogen hatte. »Bist du

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nicht Neele Lorenzen? Du hast diesen fantastischen La-den in Fahrdorf eröffnet. Meine Cousine redet ununter-brochen davon. Ich muss auch unbedingt mal vorbei-schauen.«

»Tu das.« Neele holte Luft, um ihr Geschäft zu preisen,Ragnar und sein Schulfreund inspizierten die winzigeSpeisekammer und verschwanden dann durch die Türnach draußen. Lucie fühlte sich abserviert, als hätte dasPaar sie absichtlich ausgebootet. Missgestimmt ließ sieNeele und die Schwangere in der Küche zurück, um sichdem Getränketisch zu widmen, den Ragnar und Erki auszwei Böcken und einer alten Tür zusammengebaut hat-ten. Er wirkte etwas wackelig, aber nachdem Lucie etli-che Wein- und andere Flaschen wie Zinnsoldaten in Reihund Glied darauf arrangiert hatte, stand er stabiler.Trotzdem fehlte etwas, das Ganze sah gar zu sehr nachprofaner Lagerfeuerparty aus. Ein paar Dekoteile ausNeeles Laden hätte Lucie jetzt gut gebrauchen können.Da es zu spät war, um diese Erkenntnis in die Tat umzu-setzen, musste sie improvisieren.

Vielleicht fand sich in der Werft etwas, das sich als De-koration eignete. Lucie stöberte durch die Halle, prüfteein paar Bootsbauwerkzeuge, legte sie jedoch allesamtbeiseite, weil Ragnar es nicht schätzte, wenn das schein-bare Chaos seiner Unordnung durcheinandergebrachtwurde. Dafür fiel ihr ein Karton mit alten Kerzenstän-dern ein, den sie neulich im Keller entdeckt hatte. Ragnarhatte erklärt, er wisse nicht, woher die Sachen stammten,womöglich sei das Erbmasse der früheren Bewohner.

Lucie wählte die Kellertreppe, die außen an der Hallenach unten führte, schmal und mit ungleichmäßigenStufen. Der Keller war winzig, die einstigen Werftbesit-

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zer hatten ihn anscheinend per Hand ausgeschaufelt.Feucht war es hier unten außerdem, und die Kammern,die ohne erkennbar ordnenden Geist aneinander gefügtwaren, rochen muffig. Etwas raschelte – nein, das warenSchritte. Hier unten war noch jemand. Lucie erstarrte.

Woher kam der andere? Es gab in der Kate einen zwei-ten Kellerzugang, den musste der andere runtergegan-gen sein. Aber was wollte er hier? Im tranfunzeligenLicht war sein Schatten nicht zu entdecken. Die Tür-durchbrüche, oft ohne Türblatt, waren nicht in einerFlucht angeordnet, weshalb Lucie kaum in den Nachbar-raum spähen konnte. Von einer unerklärlichen Furchtgetrieben schmiegte sie sich an die feuchte Kellerwand.Der andere bewegte sich nicht mehr. Hielt er wie sie dieLuft an, um zu horchen?

Kein Gast benahm sich dermaßen seltsam. Das mussteein Fremder sein, ein Einbrecher – etwa der Kerl, die siehatte überfahren wollen? Belauerte er sie? ›Blödsinn!‹,antwortete sie sich heftig, weil ihre Fantasie mit ihrdurchging. Jetzt bewegte sich der andere wieder, schienrückwärts zu gehen, entfernte sich. Lucie konnte ihn dieInnentreppe hochsteigen hören, daher folgte sie ihm ner-vös. Er war fast oben, als sie ihn erblickte, wenn sie auchbloß seine Beine und einen Schatten sah. Beides schienzu Linus zu gehören!

Im ersten Impuls wollte sie ihm eine Frechheit nach-rufen, doch sie presste die Lippen zusammen. Es sahihrem Bruder ähnlich, ohne zu fragen in jedes Zimmer –und jedes Loch – zu peilen, um seine Neugierde zu stillen.Lucie hätte ihn deswegen gerne zur Minna gemacht. Ihrbrannten passende Worte auf den Lippen, aber die wä-ren genau jetzt kontraproduktiv gewesen. Noch musste

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Linus verdauen, dass sie heiraten würde. Das würde ihrVerhältnis zueinander auf eine neue Basis stellen, wieLucie unvermittelt begriff. Einen Teil ihrer Vertrautheitwürden sie verlieren, daran würde er zu knabbern ha-ben. Ihn jetzt auch noch runterzuputzen, weil er rum-schnüffelte, wäre unklug, auch wenn sie sich über ihnärgerte.

Die Lust, den Flaschentisch mit altväterlichen Kerzen-ständern zu dekorieren, war ihr vergangen, darum kehr-te sie mit hängenden Schultern ans Tageslicht zurück.Plötzlich wurde sie von hinten umschlungen … RagnarsGeruch stieg ihr in die Nase, er wisperte ihr einen Lie-besschwur ins Ohr, ihr wurde heiß, und die Welt waraugenblicklich in Ordnung. Mit Linus würde sich dasschon finden, ganz bestimmt, außerdem zählte allein ih-re Liebe zu Ragnar. Als sie sich an ihn schmiegte,schnurrte sie vor Zufriedenheit fast wie die Katze, dieihnen letzten Monat zugelaufen war. Obwohl das ViechEier klaute wie ein Fuchs und Erki deswegen geiferte,hatten Ragnar und Lucie die Katze adoptiert. Heute, beidem Trubel, ließ sie sich jedoch nicht blicken.

Inzwischen war es richtig voll geworden, darum linsteLucie Ragnar fragend an. »Wollen wir beginnen?«

»Ilona ist noch nicht da. Meine Stiefmutter muss malwieder die Diva rauskehren«, grummelte er. »Wenn siein fünf Minuten immer noch nicht kommt, fangen wirohne sie an. Die Leute sind bereits mächtig hungrig. Ichauch.«

»Lass uns am besten schon mal alles auftragen.« Sieservierten Putenbrustplatten mit Remoulade, Bratkar-toffeln und diversen Salaten, bestellt von einem lokalenGeflügelspezialisten, der auf der Schleinordseite sein Ge-

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schäft betrieb. Karl und Thorben hatten die Sachen ingroßen Plastikboxen mitgebracht, als sie von Maasholmherübergekommen waren.

Lucie packte die Platten aus, gab Ragnar einen Klapsauf die Finger, weil er von der Dekoration naschen woll-te, und rief einen Jungen herbei, damit er ihr half, alleszum großen Tisch beim Steg zu bringen. Etliche Paarehatten ihre Kinder mitgebracht, zumeist Babys und zweiMädchen von vier oder fünf Jahren. Ragnars Freundewaren anscheinend eher älter und etablierter als erselbst – ob er sie als Vorbild sah? Wollte er auch Kinderhaben, sobald er verheiratet war? Die Frage brachte Lu-cie ins Straucheln. Auf einmal wurde ihr überdeutlichbewusst, worauf sie sich mit ihrer Verlobung eingelassenhatte.

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