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Heimweh nach der Namenlosen Zone

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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 667 Die Namenlose Zone  

Heimweh nach der Namenlosen Zone von Hubert Haensel  Der unerwartete Weg zurück  

Es geschah  im April 3808. Die  entscheidende Auseinandersetzung  zwischen Atlan  und  seinen  Helfern  auf  der  einen  und  Anti‐ES  mit  seinen zwangsrekrutierten Streitkräften auf der anderen Seite ging überraschend aus. Die  von  den  Kosmokraten  veranlaßte  Verbannung  von  Anti‐ES  wurde gegenstandslos,  denn  aus  Wöbbeking  und  Anti‐ES  entstand  ein  neues Superwesen, das hinfort auf der Seite des Positiven agiert. Die neue Sachlage ist äußerst tröstlich, zumal die Chance besteht, daß auch in  der  künstlichen  Doppelgalaxis  Bars‐2‐Bars  nun  endgültig  der  Friede einkehrt. Für Atlan  jedoch  ist die Situation alles andere als rosig. Der Besitz der Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst, ohne die er nicht den Auftrag der Kosmokraten erfüllen kann, wird ihm nun durch Chybrain vorenthalten. Ob er es  will  oder  nicht,  der  Arkonide  wird  verpflichtet,  die  Namenlose  Zone aufzusuchen. Inzwischen schreibt man den August 3808. Trotz der Vernichtung des Junk‐Nabels,  des  letzten Übergangs  zwischen Normaluniversum und Namenloser Zone, gibt es eine überraschende Möglichkeit, wieder in letztere zu gelangen. Der unerwartete Weg  zurück  öffnet  sich den BRISBEE‐Kindern durch  ihr HEIMWEH NACH DER NAMENLOSEN ZONE … 

 Die Hauptpersonen des Romans:  Atlan ‐ Der Arkonide hat eine Vision. Borallu ‐ Der verwandelte Zyrtonier wird fälschlich beschuldigt. Monare, Dyla, Desmon, Lara und Menizza ‐ Die BRISBEE‐Kinder verschwinden. Xynthia Ammon ‐ Desmons Adoptivschwester. Blödel ‐ Der Roboter setzt sich mit »Stöcken« auseinander. Palterwahn ‐ 451‐Page der Zyrtonier.  

1.  Tiefe, gleichmäßige Atemzüge verrieten, daß Desmon eingeschlafen war.  Er  hatte  die Arme  auf  der  Tischplatte  verschränkt  und  sein Gesicht zwischen ihnen verborgen. Dyla, die neben ihm saß, mußte ihn mehrmals anstoßen, bis er endlich den Kopf hob. »Laß mich«, murmelte er. »Mir ist wieder nicht gut.« »Du versäumst das Wichtigste.« »Und wenn schon …« Desmon wollte erneut die Augen schließen, 

doch das Mädchen gab nicht nach. Seufzend  ließ er sich  in seinem Sessel  zurücksinken  und  starrte  die  holographische  Projektion  an; dabei hatte er sichtlich Mühe, die Lider offenzuhalten. Inmitten  des  abgedunkelten  Lehrsaals  schwebte  eine  glitzernde 

Spirale aus zigtausend einzelnen Lichtpunkten. »… da die Milchstraße,  vereinfacht  ausgedrückt, die  Form  einer 

zum Rand abgeflachten Scheibe besitzt, erscheint es nur logisch, die Hauptebene  dieses  diskusartigen Gebildes  als Äquatorialebene  zu bezeichnen.  Die  Polachse  stellen  wir  uns  als  Linie  dar,  die  im Mittelpunkt  der  Scheibe  auf  dieser  senkrecht  steht. Welches  Ende dieser  gedachten  Achse  als  Nord‐  und  welches  als  Südpol bezeichnet wird, ist reine Willkür; in früheren Jahrhunderten wurde einfach  jene Richtung  als  galaktischer Norden  angesehen,  die …« Desmon stöhnte verhalten. »Warum müssen wir uns das anhören?« schimpfte er dann. »Das ist mir zu langweilig.« »Immerhin geht es um die Heimat unserer Vorfahren«, erwiderte 

Dyla leise. »Und wenn  schon. Die  Solaner  könnten  uns  ihr Wissen  einfach 

und  umfassender  durch  Hypnoschulung  zukommen  lassen.  Die Zeit, die wir hier absitzen, ist verloren.« »Gefällt  dir  deine  Adoptivschwester  so  sehr?«  spöttelte  Dyla 

scheinbar zusammenhanglos. Aber sie wußte genau, was sie sagte. Auf  Solist,  ihrer Heimatwelt, und noch  auf der MJAILAM, waren Desmon  und  sie  nahezu  unzertrennlich  gewesen.  Erst  seit  die Kinder der BRISBEE von Solanern adoptiert worden waren, machte der Junge sich häufig rar. »Du bist eifersüchtig«, stellte er fest. »Seid endlich  leise«,  schimpfte  Jauter, der zu Desmons Linken  saß. »He, was ist mit dir? Du siehst aus, als wäre dir nicht gut.« »Ist  mir  auch  nicht«,  gab  Desmon  unwillig  zurück.  »Solche 

Schwächeanfälle  hatte  er  in  den  letzten  Tagen  öfter«,  sagte Dyla. »Sie gehen schnell vorbei.« Desmon nickte stumm. Er würgte. Im nächsten Moment stemmte 

er sich aus seinem Sessel hoch und hastete zum Ausgang.   

*  Inzwischen  fanden  die  Kinder  sich  an  Bord  der  SOL  recht  gut zurecht. Auf Solist von Emulatoren aufgezogen, besaßen selbst die Älteren kaum mehr eine Erinnerung an erwachsene Menschen, und es  erschien  ihnen  wie  ein  großes  Abenteuer,  nun  in  richtigen Familien zu leben. Nach dem unerklärlichen Tod  ihrer Eltern hatten  sie  emotionale 

Bindungen  jeweils nur untereinander und zu den  ihnen biologisch fremden  Emulatoren  entwickeln  können.  So  gesehen,  war  ihnen sogar  ein  kosmisches Denken  eigen, wie  es  die Menschheit  lange Zeit hindurch hatte vermissen lassen. Die BRISBEE‐Kinder kannten nicht einmal eine instinktive Scheu vor andersgearteten Lebewesen. Als Dyla auf den Gang hinaustrat, war von Desmon schon nichts 

mehr zu sehen. Sekundenlang verharrte sie unschlüssig und blickte sich  um. Desmon muß  den Antigravschacht  benutzt  haben. Dann war er bestimmt auf dem Weg zu seiner Kabine. Kurz  entschlossen  vertraute  sie  sich  ebenfalls  dem  nach  unten 

führenden  Antigravschacht  an.  Die  Technik, mit  der  sie  und  die anderen  immer  von  neuem  konfrontiert wurden, war  erstaunlich. Zwar hatten die Emulatoren von solchen Erfindungen gesprochen, doch war  es  ein  bemerkenswerter  Unterschied,  ob man  von  den Dingen nur hörte oder ihre Auswirkungen unmittelbar miterlebte. Die  Wohnräume  begannen  einige  Decks  tiefer.  Als  Dyla  den 

Schacht  verließ,  sah  sie  den  Freund  am  Boden  kauern, mit  dem Rücken  an  die  Gangwand  gelehnt.  Er  machte  einen mitleiderweckenden Eindruck und bemerkte nicht  einmal, daß  sie näherkam. Erst als sie unmittelbar vor ihm stand, hob er den Kopf. Dyla  wußte  nicht,  was  sie  sagen  sollte.  Auch  sie  fühlte  sich 

schwach und manchmal elend, aber sie besaß wenigstens die Kraft, sich darüber hinwegzusetzen. Desmon preßte seine Hände gegen den Oberkörper, als verberge 

er  etwas  unter  der  Kombination,  die  tatsächlich  einige  Beulen aufwies. »Was hast du da?« wollte Dyla wissen. Er  blieb  stumm  –  um  seine  Mundwinkel  zeichnete  sich  ein 

trotziger Zug ab. Als gleich darauf Schritte näherkamen, zuckte er erschrocken zusammen. Einige Solaner gingen vorüber. »He«, machte einer von ihnen, »ist 

dir nicht gut? Soll ich einen Medoroboter rufen?« »Danke«,  wehrte  Dyla  ab.  »Desmon  ist  gleich  wieder  auf  den 

Beinen.« Die Solaner verschwanden im Antigravschacht. »Und jetzt«, verlangte das Mädchen, »will ich wissen, was du vor 

mir verbirgst.« Desmon war  zu  schwach,  um  sich  zu wehren.  Dyla  zog  einen 

knorrigen,  knapp  dreißig  Zentimeter  langen  Ast  unter  seiner 

Kombination hervor. »Gib her!« fauchte Desmon, schlagartig jede Schwäche vergessend. 

»Das gehört mir.« »Ich kann mir nicht vorstellen, wozu du das Holz brauchst.« »Um so besser. Dann laß mich in Ruhe.« Seit  einigen Tagen wirkte Desmon  verstockt. Daß  er  inzwischen 

auch vor ihr Geheimnisse hatte, bedrückte Dyla. »Der Ast ist für Xynthia?« vermutete sie. »Was habt ihr vor?« Desmon  wollte  zupacken,  doch  sie  war  schneller  und  zog  den 

Arm zurück. Plötzlich hatte sie das Empfinden, als würde das Holz sich in ihrer Hand bewegen. Sie sah genauer hin. Die  Schuppen  spreizten  sich  ab.  Zwischen  ihnen  kamen 

hauchdünne, fächerförmige Häutchen zum Vorschein, die sich rasch auffalteten,  und  von  denen  jedes  schließlich  fast  zehn  Zentimeter durchmaß.  Diese  beinahe  filigranen  Gebilde  schillerten  in sämtlichen  nur  denkbaren  Farben.  Dyla  stellte  fest,  daß  sie  trotz ihrer Feinheit überaus widerstandsfähig waren. »Bitte«, sagte Desmon flehentlich, »gib ihn mir wieder.« »Ist … ist das ein lebendes Wesen?« Er nickte eifrig. »Wenn die Solaner ihn finden, werden sie alle möglichen Versuche 

anstellen und seine Schönheit zerstören. Das darf nicht geschehen.« Dyla mußte zugeben, daß sie von dem Farbenspiel fasziniert war. »Woher hast du ihn?« wollte sie wissen. Desmon schluckte krampfhaft. »Ehrlich gesagt,  ich weiß es nicht; 

Freund hat mich gefunden. Als mir vor zwei Tagen zum erstenmal übel wurde, war ich wohl eine Weile bewußtlos – und als ich wieder zu mir kam, lag dieses Wesen neben mir und wand sich um meinen Arm.« »Glaubst du, daß es intelligent ist?« Desmons Augen  leuchteten.  Seit  er das Geschöpf  erneut  an  sich 

drückte, schien sein Befinden sich rasch zu bessern. 

»Ganz  bestimmt«,  sagte  er.  »Hätte  Freund  mich  sonst  hier gefunden?« »Wie nennst du ihn?« machte Dyla verblüfft. »Freund. Einfach nur Freund.« »Hm.« Das Mädchen schürzte die Lippen. »Gibst du ihn mir noch 

einmal?« Desmon überhörte die Frage geflissentlich. Statt dessen fuhr er  in 

seiner  Erklärung  fort:  »Ich  habe  Freund  an  einem  sicheren  Ort versteckt, wo niemand ihn finden kann.« »Du  meinst,  er  ist  dir  bis  hierher  gefolgt? Wie  bewegt  er  sich 

überhaupt?« »Ich weiß nicht. Aber ich werde ihn jetzt zurückschaffen.«   

*  Zwischen den Lagerräumen und der Klimaanlage mit den Luft‐ und Wasserregeneratoren hatten Extras sich vor längerer Zeit ein kleines Reich urwüchsiger Planetenlandschaft errichtet, das infolge der sich überstürzenden  Ereignisse  der  letzten  Wochen  und  Monate zunehmend verwilderte. Eine  feucht‐schwüle  Atmosphäre  schlug  Desmon  und  Dyla 

entgegen, als  sie die  lediglich  fünfzig mal  fünfzig Meter messende Halle betraten. Alle von Solist suchten diesen Ort auf, wenn sie, wie in  letzter Zeit  immer öfter, Heimweh verspürten. Obwohl  jeder an Bord  des  Fernraumschiffs  sich  Mühe  gab,  den  Kindern  den Aufenthalt  in  der  neuen  Umgebung  so  leicht  wie  möglich  zu machen. Desmon  zwängte  sich  vor  dem Mädchen  durch  ein Gewirr  von 

Lianen und  Schlingpflanzen, die wie  ein dichter Vorhang  aus der Höhe  herabhingen. Richtige  Bäume wuchsen  in  der Halle  nicht  – dafür gab es Dutzende täuschend echter Nachbildungen. Ein fahles Zwielicht beschränkte die Sicht auf wenig mehr als zwanzig Meter. 

»Hier ist es beinahe wie auf Solist«; murmelte Dyla. Desmon ging auf einen der Bäume zu und begann, in Augenhöhe 

vorsichtig die Moosschicht vom Stamm abzulösen. Er legte eine tiefe Höhlung  frei, groß genug, um Freund darin zu verbergen.  In dem Moment,  in  dem  er  den  Arm  ausstreckte,  stieß  Dyla  einen überraschten Ausruf aus. Das vielfarbige Glitzern war unübersehbar. Blitzschnell packte Desmon zu und beförderte einen zweiten Ast 

ins Freie. Erstaunt wanderte sein Blick von einer Hand zur anderen. Dyla grinste nur. »Einer von denen gehört mir«, stellte sie fest. »Verrate mir lieber, woher der zweite kommt«, sagte Desmon. »Ist mir egal. Gib schon her.« Von  irgendwoher  erklang  ein  leises,  schabendes  Geräusch. 

Sekundenlang  stand Desmon  völlig  regungslos  und  lauschte  nur, dann  ließ  er  seinen  Freund  blitzschnell  unter  der  Kombination verschwinden.  Dyla  tat  dasselbe  und  nickte  ihm  auffordernd  zu. Nahezu lautlos bewegten sie sich in Richtung auf das Schott zu. Das Schaben kam nun aus unmittelbarer Nähe. Eine mannsgroße Ameise schob sich durch den künstlichen Wald 

mit seinen vielen bodenbedeckenden Pflanzen. »Das muß Borallu sein«, flüsterte Dyla. »Was sucht er hier?« Desmon zuckte mit den Schultern. Er atmete erleichtert auf, als sie 

die Halle verließen und das Schott sich hinter ihnen schloß. »Meinst du, der Zyrtonier ist uns gefolgt?« wollte Dyla wissen.   

*  Anstatt  in  seine Kabine  zurückzukehren, wandere Desmon  ziellos durch  das  Schiff;  in  der  Rechten  hielt  er  Freund  krampfhaft umklammert. Ihm  war  übel.  Manchmal,  wenn  er  stehenblieb,  schien  der 

Korridor vor  ihm sich wie eine Schlange zu winden. Desmon hatte 

dann Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Als zwei kräftige Kieferzangen sich mit lautem Knacken schlossen, 

zuckte  der  Junge  heftig  zusammen.  Er  hatte  nicht  bemerkt,  daß Borallu  hinter  ihm  kam.  Die  menschengroße  Ameise,  einst  ein genialer Wissenschaftler der Zyrtonier, stand inzwischen auf Seiten der Solaner. Jahrtausende hatte er im Tiefschlaf verbracht, nachdem sein Volk  als  es  in  die Namenlose Zone  ging,  ihn  zusammen mit zwölf Unterpagen sozusagen als Eingreifreserve zurückließ. Borallu  trat zuerst nicht nur  in der Gestalt eines Unterpagen auf, 

sondern  zeigte  sich  zeitweise  als  Zecke  und  verwandelte  sich schließlich äußerlich  in einen Vulnurer, was unzweifelhaft auf eine enge  biologische  Verwandschaft  zwischen  den  ameisenartigen Bekehrern  und  den  Zyrtoniern  hindeutete.  Tagelang  hatten  die Bordnachrichten  nur  davon  gesprochen,  denn  Borallu  war  nicht mehr  in der Lage, sich zurückzuverwandeln, und mit seiner neuen Gestalt schien auch ein Gesinnungswandel eingetreten zu sein. Daß er sich an Bord nun nahezu  frei bewegen durfte, verdankte er den Mutanten, die ihn als ungefährlich eingestuft hatten. Borallus Fühler berührten Desmon. »Von dir geht etwas aus, was ich mir nicht erklären kann.« Der Junge umklammerte Freund fester. »Vielleicht der Fluch, den 

unsere  Vorfahren  auf  sich  geladen  haben«,  murmelte  er.  »Die Namenlose Zone hat alle getötet. Oder ist dein Volk schuld daran?« Er schwankte, machte ungewollt einige Schritte zur Seite und prallte schwer gegen die Wand. »Ich weiß  nicht«,  sagte  der  Zyrtonier  zögernd.  »Ich  kann mich 

nicht  einmal  erinnern,  ob  ich  je  in  der  Namenlosen  Zone  war.« Vorsichtig  tastete  er  nach  dem  Gebilde,  das  Desmon  unter  der Kombination verborgen trug. Aber noch ehe er die Umrisse erfühlen konnte, rannte der Junge mit einem heiseren Aufschrei davon.   

 »Ausgerechnet jetzt muß das passieren.« Wütend starrte Alfons Grödelmeier den grauen Bildschirm an, der 

von  einer  Sekunde  zur  anderen  nicht  einmal  mehr  Konturen erkennen  ließ.  Mit  der  Faust  schlug  er  auf  das  schmale Instrumentenpult vor sich. »Laß  den  Blödsinn«,  fuhr  Thorsten  Verkamp  auf.  Die  beiden 

teilten  sich  den  nur  wenige  Quadratmeter  messenden,  für Überwachungszwecke  eingerichteten  Raum,  dessen  Installationen aus Chart Deccons Zeiten  stammten. Breckcrown Hayes hatte den Raum ursprünglich versiegeln lassen, um das Vertrauen der Solaner in  die  Schiffsführung  zu  fördern;  inzwischen  arbeiteten  jedoch einige  Geräte  siganesischer  Mikrotechnik  wieder.  Nicht,  um Menschen und Extras  zu bespitzeln,  sondern  lediglich um Borallu zu überwachen, der trotz aller Beteuerungen ein Zyrtonier blieb und damit eine potentielle Gefahrenquelle darstellte. Hayes stand in dem Fall mit seiner Meinung allein gegen Atlan und die Mutanten, hatte es  aber  verstanden,  sich  durchzusetzen.  Er  fürchtete,  daß  den Solanern mit Borallu ein Kuckucksei ins Nest gelegt worden war. »Die  gesamte  Übertragung  ist  ausgefallen«,  schimpfte 

Grödelmeier. »Hast du schon daran gedacht, daß der Zyrtonier den Minispion 

bemerkt haben könnte?« erkundigte sich Verkamp. Grödelmeier hob kurz den Blick. »Unsinn«,  sagte er  im Brustton 

der Überzeugung. Im nächsten Moment war das Bild wieder da. Thorsten Verkamp 

hatte Mühe, seine Überraschung zu verbergen. »He«, machte Grödelmeier. »Kannst du mir verraten, was Borallu 

von  dem  Jungen  wollte? Warum  muß  dieser  verdammte  Kasten auch ausgerechnet jetzt versagen?« »Keine Ahnung.« »Ist es nicht seltsam, daß sie sich  in diesem abgelegenen Teil des 

Schiffes treffen? Informieren wir Hayes oder Atlan davon?« 

»Wahrscheinlich  ist  das  Ganze  völlig  harmlos«,  widersprach Verkamp. »Dem Aussehen nach war der Junge Desmon, obwohl ich manchmal  das Gefühl  habe,  die  BRISBEE‐Kinder  ähneln  einander wie Geschwister.« »Wir sollten ihn fragen, was Borallu von ihm wollte.« »Heute  nicht mehr«, winkte Verkamp  ab.  »Unsere  Schicht  ist  in 

einer  Stunde  beendet,  und  ich  habe  nicht  die  Absicht,  mir  die Freizeit um die Ohren zu schlagen.« »Ich weiß, Jessica Stenton ist dir derzeit wichtiger als alles andere. 

Aber sie ist eine Buhrlofrau.« »Ich brauche deine Belehrungen nicht.« »Schon gut, schon gut«, versuchte Grödelmeier zu beschwichtigen. 

»Es  war  nicht  so  gemeint.  Morgen  früh  bleibt  genügend  Zeit. Außerdem sollen wir in erster Linie darauf achten, daß Borallu sich nicht  in  einen  Zyrtonier  zurückverwandelt  oder  Sabotage  begeht. Alles  andere  ist  von  untergeordneter  Bedeutung.«  Er  begann,  die Verkleidung des Monitors zu öffnen. Zwei kleine Chips waren leicht geschwärzt, und es bedurfte nur weniger Handgriffe, sie durch neue zu ersetzen. Verkamp  unterzog  die  elektronischen  Bausteine  einer  näheren 

Überprüfung.  »Die  Störung  wurde  eindeutig  durch Gewalteinwirkung verursacht«  stellte  er grinsend  fest. »Du hättest nicht so hart zuschlagen dürfen.«   

*  An  diesem  Abend  lag  Dyla  noch  lange  wach.  Obwohl  sie  zum Umfallen müde war, konnte sie nicht einschlafen. Mit geschlossenen Augen  lauschte  sie  in  die  Dunkelheit  ihrer  Kabine.  Aus  dem Nebenraum drangen vielfältige, gedämpfte Geräusche herein – ihre Eltern  hatten  im  Bord‐TV  einen  Dokumentarfilm  über  die Verhältnisse  in  Xiinx‐Markant  gewählt.  Dyla  wußte  aus  dem 

Unterricht, was es mit dieser Galaxis auf sich hatte. Zweimal  kurz  hintereinander  schnippte  sie  mit  den  Fingern, 

worauf augenblicklich die Beleuchtung aufflammte. Das Ganze war eine  Spielerei,  mehr  nicht,  aber  Dyla  amüsierte  sich  jedesmal köstlich. Zögernd  öffnete  sie  den Wandschrank  und  kramte  unter  einem 

Stapel Wäsche ihren Ast hervor. »Du  bist  mein  Freund,  nicht  wahr.«  Sanft  strich  sie  über  die 

weißen Schuppen hinweg, aber erst nach einer ganzen Weile begann das fremdartige Wesen, sich zu bewegen. Es ringelte sich zu einem Halbkreis  und  blähte  seine  fächerförmigen,  glitzernden Häutchen auf. »Hast du Hunger?« flüsterte Dyla. »Oder Durst? Du darfst es mir 

ruhig sagen.« Aber Freund redete nicht mit ihr. Er war  ein  stummer  Freund,  dem man  alles  sagen  konnte. Auf 

Solist  hatte Dyla  einen  ähnlichen Vertrauten  besessen,  einen  vom Salzwasser des Ozeans zerfurchten Stein, dem eine Laune der Natur menschliches Aussehen verliehen hatte. Der Gedanke an Solist ließ sich nicht vertreiben. Vorsichtig  legte  sie Freund auf  ihr Bett und begann,  im Schrank 

herumzuwühlen. Nach und nach brachte sie ihre alte, kunstvoll aus Fellen und Leder gefertigte Bekleidung hervor, schlüpfte hinein und betrachtete sich im Spiegel. »Gefalle  ich dir  so, Freund? Es  ist  schade, daß du nicht mit mir 

sprichst, aber ich glaube, ich weiß, was du sagen würdest.« Dyla  knüllte  ihre Kombination  zusammen und warf  sie  auf den 

Tisch. »Ich will zurück nach Solist«, murmelte sie. »Verstehst du? In der 

Namenlosen  Zone  fühlte  ich  mich  wohl  und  geborgen.«  Ein vorwurfsvoller  Blick  traf  Freund,  weil  er  noch  immer  schwieg. »Allmählich denke  ich, du kannst überhaupt nicht sprechen. Ist dir auch so kalt?« Suchend blickte das Mädchen um sich und nahm ein 

kaum daumengroßes Feuerzeug von einer Konsole. Sekunden  später  zuckte  eine  kleine  Flamme  auf,  doch  die 

Kunstfaser  der Kombination wollte  nicht  brennen.  Blicklos  starrte Dyla vor sich hin; das Feuerzeug fest umkrampft, stand sie starr wie eine Statue. Der  Stoff  begann  zu  schmoren.  Schwerer,  beißender  Rauch 

entwickelte sich. Das Schott zum Nebenraum glitt auf. Dylas Adoptivvater war nur 

einen Augenblick  lang verblüfft, dann  entriß  er  ihr das Feuerzeug und erstickte den auf der Tischplatte entstandenen Schwelbrand mit der Kombination. »Die Sensoren haben den Rauch angezeigt«, fuhr er Dyla an. »Was 

denkst  du  dir  überhaupt  dabei?  Und  weshalb  trägst  du  wieder deine alten Sachen?« Dyla  stand da und  starrte  ihre Schuhspitzen an. Sie  schien nicht 

wahrzunehmen, was Gordon Blackwood sagte. »Ich habe dich  etwas gefragt …« Er packte  sie  an den Schultern 

und zwang sie, ihn anzusehen. Ihr Blick ging durch ihn hindurch. »Ist  sie  krank?«  wollte  Amy  Blackwood‐Miller  wissen,  deren 

Ehevertrag  mit  Gordon  inzwischen  zum  dritten  Mal  verlängert worden war. »Sie  hat  Fieber.«  Behutsam  legte  er  das Mädchen  aufs  Bett.  Ihr 

Atem  ging  hastig,  aber  keineswegs  unregelmäßig.  Mit Medikamenten mußte das Fieber innerhalb kürzester Zeit zu senken sein. Überrascht  hob  Gordon  Blackwood  das  kurze  Stück  Holz  auf. 

»Waren wir als Kinder auch so? Ich kann mich nicht erinnern.« »Für sie  ist vieles noch neu«, sagte Amy. »Wahrscheinlich hat sie 

den Ast aus irgendeinem der Parks mitgeschleppt.« Dyla  schlief  jetzt.  Deshalb  blieb  ihr  verborgen,  daß  ihr 

Adoptivvater  das  Stück  Holz  schließlich  in  den  Abfallvernichter warf.  

 * 

 Die Furcht, Freund wieder zu verlieren, und seine Erinnerungen an Solist hatten Desmon die Zeit vergessen lassen. In einem nicht mehr benutzten  Lagerraum  kauerte  er  zwischen  verstaubten Robotertorsos und  spielte mit dem Holz.  Sooft  er  sich mit diesem Wesen  unterhielt,  fühlte  er  sich  wohler,  und  das,  obwohl  der schuppige Ast nicht in der Lage war, sich zu artikulieren. Als  er  endlich  zur  Kabinenflucht  seiner  Adoptiveltern 

zurückkehrte,  brannte  in  den meisten Korridoren  schon  die  trübe Notbeleuchtung der Nachtphase. Es war merklich  ruhig geworden in dem mächtigen Schiff; kaum  jemand begegnete dem Jungen, der es plötzlich eilig hatte. Desmon kam rasch außer Atem. Nicht nur, daß sein Gaumen wie 

ausgedörrt war  und  ein  schaler Geschmack  auf  seiner Zunge  lag, mit  jedem  Pulsschlag  durchflutete  eine  erneut  stärker  werdende Übelkeit seinen Körper. Xvnthias  lächelndes  Gesicht  erschien  ihm  heute wie  eine  starre 

Maske. »Wir haben uns Sorgen um dich gemacht. Wo warst du so lange?« Unwillig schüttelte Desmon ihre Hand von sich ab. »Laß ihn, Xynthia«, sagte ihr Vater und sah flüchtig von dem 3‐D‐

Spielfilm auf, der  in einem Kubus von zwei mal zwei Meter ablief. »Desmon ist alt genug, um selbst auf sich aufzupassen.« Der Junge nickte zaghaft. Für einige Augenblicke konzentrierte er 

sich auf das Filmgeschehen – eine jener Fantasy‐Handlungen, die in letzter Zeit an Bord kursierten. Desmon wälzte  sich  dann  lange  auf  seinem  Bett,  ohne Ruhe  zu 

finden. Als  er  endlich  eingeschlafen war, wurde  er  von  Träumen gequält und wachte mehrmals schweißgebadet auf. Seine Träume  fügten  sich nahtlos  aneinander.  In  ihnen weilte  er 

wieder auf Solist und  führte zusammen mit den anderen und den 

Emulatoren ein glückliches Leben. Aber bald kamen die Fremden, die  sich Solaner nannten;  sie zerstörten die Welt des Friedens und der Ruhe. Roboterheere  rodeten den Wald, bohrten  auf der Suche nach  Bodenschätzen  riesige  Löcher  in  den  Boden. Wer  sich  ihnen entgegenstellte,  wurde  gefangengenommen  und  an  Bord  ihres Raumschiffes gebracht. Desmon wollte fliehen aber Roboter kreisten ihn ein und drängten ihn zurück … Er erwachte durch sein eigenes qualvolles Stöhnen und benötigte 

eine  Weile,  um  sich  zurechtzufinden.  Nur  langsam  wurde  ihm bewußt,  daß  alles  ein  Traum  gewesen  war.  Er  und  die  anderen hatten Solist freiwillig verlassen, um eines Tages in die Heimat ihrer Vorfahren zu gelangen. Desmon richtete sich halb auf, doch ein jäher Kopfschmerz ließ ihn 

gequält aufschreien. Die Hände an die Schläfen gepreßt, krümmte er sich zusammen. Erst  nach  einer  ganzen Weile  ebbten  die  Schmerzen  ab,  die  bei 

jedem Anfall heftiger wurden. Desmons Wangen glühten, er  fühlte sich  regelrecht  zerschlagen.  Da  es  bereits  spät  war,  hatten  seine Adoptiveltern sicherlich schon ihren Dienst angetreten. Das machte es ihm leichter, aufzustehen. Er wankte in den Nebenraum, aktivierte die Servierautomatik und 

bestellte sich einen Fruchtsaft. Hunger verspürte er keinen. Daß sich  leise Schritte näherten und hinter  ihm verhielten, nahm 

er nur unbewußt wahr. »Du  hast  dich  in  den  letzten  Tagen  verändert«,  stellte  Xynthia 

unumwunden fest. »Heraus mit der Sprache, was ist los?« Der  Junge  vermied  es,  sie  offen  anzusehen.  Er  fröstelte  und 

verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. Freund bewegte  sich leicht unter seiner Kombination. »Ist dir nicht gut?« Xynthia war  18 und damit drei  Jahre  älter  als  er. Ob  sie  in  ihm 

einfach  nur  den  kleinen  Bruder  sah  oder mehr  empfand,  konnte Desmon  nicht  beurteilen.  Im  Augenblick  war  ihm  ihre  Nähe 

jedenfalls lästig. Eine Welle von Schmerzen ließ ihn gequält aufstöhnen. Vor seinen 

Augen explodierte ein Feuerwerk bunter Ringe. Und dann stieg es würgend  in  ihm  auf.  Desmon  fühlte  die  Erleichterung  noch während er sich übergab. Xynthia  blickte  auf  das  leere Glas.  »Ausgerechnet  Fruchtsäure«, 

sagte sie tadelnd. »Ich fordere einen Reinigungsroboter an.« Über  Interkom  speicherte  sie  ihren  Auftrag  bei  der 

Materialverwaltung. Als  schon  Sekunden  später  der  Schottmelder ansprach, zog sie überrascht die Brauen hoch. Aber  es  war  nicht  der  erwartete  Roboter.  Zwei  Männer  des 

technischen Personals standen im Korridor. »Wir  möchten  uns  kurz  mit  Desmon  unterhalten«,  sagte  der 

größere von beiden, der sich als Alfons Grödelmeier vorstellte. »Es geht darum, einige Fragen zu klären.« »Kommt  später  wieder«,  wehrte  Xynthia  ab.  »Er  fühlt  sich  im 

Augenblick  nicht  sonderlich  wohl.  Zwar  nur  ein  verdorbener Magen, aber er braucht dennoch Ruhe.« »Wir wollten wissen, warum er sich gestern mit Borallu getroffen 

hat.« »Mit  dem  Zyrtonier?«  machte  Xynthia  erstaunt.  »Das  muß  ein 

Irrtum  sein.  Ich bin überzeugt, daß mein Bruder und Borallu  sich nicht kennen.« »Würdest du  ihn trotzdem fragen?« bat Grödelmeier und gab  ihr 

die  Nummer  des  Interkomanschlusses,  unter  der  er  und  sein Kollege zu erreichen waren.   

2.  Als das Mädchen sich wieder umwandte und das Schott hinter  ihr zuglitt,  stand  Desmon  schwankend  am  Tisch.  Sein  Gesicht  war kreidebleich. Vor  ihm, auf der Tischplatte,  lagen zwei dürre, kurze 

Aststücke, die er blitzschnell an sich nahm, während Xynthias Blicke ihn trafen. Sie wollte  etwas  sagen, wurde  aber  durch  das  erneute  Summen 

des  Schottmelders  unterbrochen.  Diesmal  war  es  der Reinigungsrobot, und während  sie  ihn  einließ, nutzte Desmon die Gelegenheit, sich an beiden vorbeizuzwängen. Xynthia reagierte zu spät, um ihn zurückzuhalten. Sie  gab dem Roboter  die  nötigen Anweisungen  und  beeilte  sich 

dann,  ihrem  Adoptivbruder  zu  folgen.  Zuerst  wußte  sie  nicht, wohin  er wollte,  schließlich  aber,  als  sie  in  unbelebtere  Sektoren kamen, erkannte sie, daß offenbar einer der Hangars sein Ziel war. Desmon hatte es eilig. Lightning‐Jets stand auf einem Hinweisschild zu lesen. Xynthia konnte  sich noch  immer nicht vorstellen, was der  Junge 

vorhatte.  Erst  als  ein  Hangarschott  sich  vor  ihm  öffnete  und  er zielstrebig  auf  eine  der  Jets  zusteuerte,  begann  sie  es  zu  ahnen. Hastig schlüpfte sie ebenfalls durch das Schott, bevor dieses wieder zuglitt. Drei  Dutzend  Maschinen  standen  hier  in  Reih  und  Glied 

nebeneinander.  Noch  waren  sie  durch  Versorgungsleitungen  mit dem Mutterschiff  verbunden,  aber  das Mädchen wußte,  daß  sich dies von  einer Minute  zur anderen ändern konnte. Die Lightning‐Jets befanden sich in ständiger Startbereitschaft. Desmon kletterte in eines der geöffneten Cockpits und ließ sich in 

den Pilotensitz sinken. Xynthia,  den  Sichtschutz  der  nächsten  Maschinen  ausnutzend, 

kam vorsichtig näher. Sie erschrak, als ein leises Brummen anzeigte, daß  ihr  Bruder  die  Energieversorgung  aktiviert  hatte.  Langsam schwenkten die  angewinkelten Tragflächen  aus, während zugleich ein  leichtes Flimmern  im Heckbereich anzeigte, daß das Triebwerk hochgeschaltet wurde.  Das  Gerüst mit  den  Versorgungsleitungen hob sich und glitt zur Seite. Spätestens jetzt mußte in der Zentrale der SZ‐2 eine entsprechende 

Kontrolle  aufleuchten.  Aber  Xynthia  durfte  sich  nicht  darauf verlassen, daß diese bei der großen Zahl der vorhandenen Beiboote wirklich bemerkt wurde. Siedendheiß  durchlief  es  sie: wenn Desmon  von  der  Jet  aus  die 

Hangarschleuse  öffnete,  würde  sie  der  Druckverlust  in Sekundenschnelle töten. »Desmon!« rief sie. »Nicht!« Ein Schatten huschte auf die Lightning‐Jet zu. Xynthia, der völlig 

entgangen  war,  daß  das  Innenschott  sich  erneut  geöffnet  hatte, zuckte  erschrocken  zusammen.  Zugleich  aber  spürte  sie  eine unsagbare  Erleichterung.  Solange  das  Schott  geöffnet  blieb, verhinderte die Automatik, daß die  Schleuse  aufglitt. Es  sei denn, die  Jet  durchbrach  mit  voller  Beschleunigung  die  äußere Terkonitwandung,  was  ohnehin  einer  kleinen  Katastrophe gleichgekommen  wäre.  Doch  Desmon  besaß  wohl  nicht  die Kenntnisse, die Maschine  zu  starten.  Ein wenig  ruhiger werdend, zerbrach  Xynthia  sich  bereits  den  Kopf  darüber,  was  ihren Adoptivbruder bewogen haben mochte, den Hangar  aufzusuchen. Sehnte er sich nach der unendlichen Weite des Alls, weil er sich an Bord der SOL eingeengt fühlte? Der  Schatten  hatte  die  Ligthning‐Jet  erreicht  und  die  Kanzel 

geöffnet.  Es  war  Borallu,  der  den  sich  heftig  widerstrebenden Desmon auf festen Boden zurückholte. Xynthias  Neugierde  siegte  über  den  Drang,  sich  einfach 

umzuwenden und davonzulaufen. Der Zyrtonier war  ihr plötzlich unheimlich,  denn  daß  er  ausgerechnet  jetzt  hier  erschien,  konnte kein Zufall sein. »Gib sie mir«, hörte das Mädchen Borallu sagen. Desmon  schüttelte  heftig  den Kopf.  Im  nächsten Moment  riß  er 

sich los und floh unter den startbereiten Maschinen hindurch. Xynthia reagierte eine Sekunde zu spät. Bevor sie sich hinter dem 

Fahrgestell  verbergen  konnte,  hatte  Borallu  sie  entdeckt.  Der Zyrtonier verharrte mitten im Lauf; sein durchdringender Blick jagte 

ihr eisige Schauer den Rücken entlang. Seine Kieferzangen  klickten  leise,  dann warf  er  sich  herum  und 

folgte Desmon,  der  inzwischen  die Außenwandung  erreicht  hatte und sich an dem Notschacht zu schaffen machte, der  in den  freien Raum  führte. Die  Innenluke  glitt  auf. Desmon warf  etwas  in  den Schacht  und  betätigte  den Verschlußmechanismus. Was  immer  er auf diese Weise zu beseitigen gedachte, wurde Sekundenbruchteile später ins All hinausbefördert. Borallu, offenbar in der Absicht, dies zu verhindern, kam zu spät. Zwei  Männer  der  Wachmannschaft  betraten  den  Hangar  und 

rissen  unwillkürlich  ihre  Waffe  hoch,  als  sie  den  Zyrtonier entdeckten. »Was ist geschehen?« fragte einer von ihnen. »Desmon wollte mit dem Jäger starten«, erklärte Borallu. »Ich habe 

versucht, ihn daran zu hindern.« Vorsichtig zog Xynthia sich zurück. Es erschien  ihr besser, wenn 

sie nicht gesehen wurde. Sie begann sich zu fragen, was Borallu eigentlich gewollt hatte. Die beiden schuppigen Dinger, die wie Äste aussahen?   

*  Solania  von  Terra,  die  Kommandantin  der  SOL‐Zelle  2,  wirkte überrascht, als sie über Interkom die Meldung von den Ereignissen im  Jet‐Hangar erhielt. »Bringt Desmon und den Zyrtonier zu mir!« befahl sie und unterbrach von sich aus die Verbindung. Eine Weile starrte  sie  noch  auf  den  erloschenen  Monitor.  Bisher  hatten  die BRISBEE‐Kinder sich gut in das Leben der SOL eingefügt. Sie fragte sich,  ob  der  Junge  wirklich  versucht  hatte,  mit  dem  Beiboot  zu starten,  oder  ob  er  lediglich  seinem  Spieltrieb  freien  Lauf  lassen wollte. Seit  zehn  Tagen  war  nichts  von  Bedeutung  mehr  geschehen. 

Solania sah dies als Ruhe vor dem Sturm und wartete eigentlich nur darauf,  daß  irgend  etwas  die  Präsenz  des  Gegners  unter  Beweis stellte. Gemeinsam mit den drei Heimatschiffen der Vulnurer  stand die 

SOL  im weitgehend  zerstörten  Junksystem. Die  Sonne wies  noch annähernd  normale Meßdaten  auf.  Die  drei  Planeten  waren  nur noch Trümmer. Der Nabel existierte nicht mehr. Solania war überzeugt davon, daß  jedes weitere Warten  vertane 

Zeit  war.  Es  konnte  nur  einen  Sinn  haben,  falls  Chybrain  sich irgendwann  wieder  meldete.  Aber  womöglich  jagte  Atlan  längst einem  Phantom  nach.  Der  Gedanke,  daß  Chybrain  nicht  mehr existierte,  fand  mit  jedem  verstreichenden  Tag  neue  Nahrung. Immerhin hatte Borallu in seinen Erklärungen keinen Zweifel daran gelassen,  daß  die  Zyrtonier  den  Solanern  in  technischer Hinsicht überlegen waren, und  alle Fäden  innerhalb der Namenlosen Zone liefen bei ihnen zusammen. Die Kommandantin glaubte nicht, daß Borallu mehr wußte, als er 

zuzugeben  bereit  war,  aber  sie  setzte  auch  kein  allzu  großes Vertrauen  in  ihn,  solange  er  nicht  endgültig  bewiesen  hatte,  auf wessen Seite er stand. Solania  von  Terra  ertappte  sich  dabei,  daß  sie  unentwegt  zum 

Hauptschott  starrte.  Was  erwartete  sie  eigentlich?  Irgendeinen Hinweis, durch den ihr Verdacht erhärtet wurde? Endlich  erschienen  die  beiden  Wachmänner  mit  Borallu  und 

Desmon. Die Kommandantin erkannte sofort, daß mit dem  Jungen einiges nicht stimmte; er schien überhaupt nicht wahrzunehmen, wo er  sich  befand. Vor  einem der  großen Bildschirme  blieb  er  stehen und  starrte  die  Projektion  an,  auf  der  die  endlose  Schwärze  des Universums zu sehen war. »Ich kann nicht hier bleiben«, formten seine blutleeren Lippen. »Wohin willst du?« fragte sie. Zögernd  streckte Desmon  einen Arm  aus,  als wolle  er  nach der 

Schwärze greifen. 

Die Kommandantin wandte sich an Borallu. »Wie kommt es, daß du vor meinen Leuten im Hangar warst?« Bemerkte  der Zyrtonier  ihren  lauernden  Tonfall?  Er  ließ  es  sich 

zumindest nicht anmerken. Auch daß die beiden Männer hinter ihm ihre Hände an den Waffen hielten, übersah er geflissentlich. »Eigentlich  ein  Zufall«,  sagte  Borallu.  »Jeder  andere  an meiner 

Stelle  hätte  wohl  ähnlich  gehandelt,  wenn  er  das  offene Hangarschott  gesehen  und  den  Startversuch  der  Ligthning‐Jet bemerkt  hätte.  Ich mußte mir  sagen, daß das Mädchen  in  größter Gefahr schwebte.« »Welches Mädchen?« »Da  war  niemand  außer  den  beiden«,  erklärte  einer  der 

Wachmänner. »Sie stand hinter dem Fahrgestell einer Jet. Allerdings sah es nicht 

so  aus,  als  hätte  sie  dort  Schutz  gesucht,  eher  schien  sie  sich verbergen zu wollen. Ein Spiel unter Kindern vielleicht.« Solania ging auf Desmon zu und zog ihn zu sich herum. »Wer war 

das Mädchen?« wollte sie von ihm wissen. Der Junge zitterte. »Ich weiß nicht«, murmelte er tonlos. »Mir ist kalt.« »Soll ich einen Arzt rufen?« »Nein«, wehrte er erschrocken ab. Die Kommandantin nickte einer  in der Nähe  sitzenden Frau, die 

das  Gespräch  verfolgt  hatte,  kaum  merklich  zu.  Desmon  hatte Angst.  Aber  er  war  auch  am  Ende  seiner  Kräfte.  Ein Beruhigungsmittel und viel Schlaf würden ihm sicherlich guttun. »Warum  hast  du  versucht,  die  Lightning‐Jet  zu  starten?« wollte 

Solania wissen. »Du hättest dich und andere dabei töten können.« Desmon schluckte krampfhaft, und es  sah aus, als würde er  jede 

Sekunde zusammenbrechen. Endlich  erschienen  die  angeforderten Medoroboter. Das Zischen 

einer Hochdruckinjektion klang  in der  entstandenen Stille doppelt laut. Desmon machte einen taumelnden Schritt vorwärts, und einer 

der Roboter fing ihn auf. »Wir bringen  ihn zur Untersuchung auf die Station«, erklärte die 

Maschine. »Ist  es möglich,  daß  der  Junge  unter  Schockeinwirkung  steht?« 

fragte Solania. »Die  Anzeichen  sprechen  dafür,  aber  um  Gewißheit  zu  haben, 

sollten wir das Ergebnis abwarten. Du wirst unterrichtet.« »Ich  bin  ebenfalls  daran  interessiert,  die Wahrheit  zu  erfahren«, 

erklärte Borallu. Die  Kommandantin  musterte  ihn  eindringlich.  »Im  Moment 

brauche  ich  dich  nicht  mehr«,  sagte  sie.  »Aber  möglicherweise müssen wir noch einmal miteinander reden.« »Ich  halte  mich  zur  Verfügung«,  nickte  Borallu.  »Es  ist  mir 

ohnehin unmöglich, die SOL zu verlassen.« Sinnend  blickte  Solania  dem  Zyrtonier  nach,  als  er  die  Zentrale 

verließ. Zumeist  konnte  sie  sich  auf  ihre Gefühle  verlassen  – und jetzt hatte sie ein ausgesprochen ungutes Empfinden. Augenblicke später entdeckte sie, wo Desmon gestanden hatte, ein 

eigenartiges  Stück  Holz.  Es  war  knapp  dreißig  Zentimeter  lang, zwei Zentimeter dick und rundum von Schuppen bedeckt. Sie hob es auf, wog es unschlüssig in der Hand und legte es schließlich auf eine Konsole über  ihrem  Schaltpult. Nur Desmon  konnte den Ast verloren haben.   

*  Das Hologramm war so plastisch, als schwebten die drei Schiffe der Vulnurer, die GESTERN, die HEUTE und die MORGEN tatsächlich mitten in der Hauptzentrale der SOL. Gedankenverloren betrachtete Atlan die Projektor ren. »Du  hoffst  auf  ein Wunder,  das  diesmal  nicht  eintreten wird«, 

sagte Breckcrown Hayes hinter ihm. »Wir sind von der Namenlosen 

Z

one endgültig abgeschnitten.« »Ich  denke  an  Chybrain«,  erwiderte  der Arkonide.  »Ob  er  eine 

solche Entwicklung vorausgesehen hat?« »Wir werden es erfahren.« Hayesʹ  Tonfall  irritierte  Atlan.  Er  versuchte  herauszufinden,  ob 

der High Sideryt es vielleicht spöttisch meinte, doch dessen Miene wirkte starr und ausdruckslos. »Was?«  fragte Atlan.  »Bis  dahin  können Monate  vergehen,  und 

möglicherweise werden wir nie Gewißheit erlangen.« Ungeduld war schon immer deine Stärke, behauptete der Extrasinn. Du  hättest  deinem  Sohn  ruhig  bessere  Eigenschaften  vererben 

können, gab Atlan lautlos zurück. Ich fürchte, er gerät voll und ganz nach dir. Warum  regst  du  dich  dann  auf? Etwas Besseres  hätte  nicht  passieren können. Ich rege mich nicht auf, ich bin die Ruhe in Person. Natürlich. Atlan  erkannte,  daß  sein  zweites  Ich  ihn  provozieren wollte.  Er 

dachte eine Verwünschung. Deine guten Manieren lassen nach. Du wirst alt, Beuteterraner. »Funkkontakt«, hallte es durch die Zentrale. »Atlan, die Vulnurer 

wollen dich sprechen.« »Durchstellen!« Vor  dem  Arkoniden  zeichnete  sich  das  starre  Antlitz  einer 

mannsgroßen Ameise ab. Es war für Menschen nicht einfach, diese Wesen  voneinander  zu  unterscheiden,  aber  er  glaubte,  die Kommandantin der HEUTE zu erkennen. »Ich habe unsere  Schiffe  in Alarmzustand versetzen  lassen.« Ein 

Translator  übertrug  die  hastig  hervorgestoßenen  Worte  ins Interkosmo. »Zeigen die Sensoren der SOL Unregelmäßigkeiten, die einen bevorstehenden Angriff erwarten lassen?« »Bis  jetzt  gibt  es  keinen  Anlaß  für  eine  solche  Annahme«, 

erwiderte Atlan. 

Die  Kommandantin  wechselte  einige  Worte  mit  Vulnurern außerhalb  der  Bilderfassung.  Offenbar  reichten  die  nur  verzerrt verständlichen  Laute  nicht  für  eine  Übersetzung  aus,  denn  der Translator blieb stumm. »Ich  höre  gerade«,  sagte  sie  dann,  »daß  es  zu  zwei  weiteren 

unerklärlichen Zwischenfällen gekommen  ist. Erneut sind zwei aus den  Eiern  schlüpfende  Junge  vor  den Augen  ihrer  Eltern  spurlos verschwunden.« »Im Umkreis  von mindestens  zwanzig Lichtjahren  ist der Raum 

frei  von  ungewöhnlichen  energetischen  Aktivitäten«,  kam  es  von den Ortungen. Atlan gab die Auskunft weiter. »Wir  vermuten  einen  Dimensionseinbruch«,  erklärte  die 

Kommandantin.  »Möglicherweise  haben  die  Zyrtonier  damit  zu tun.« Eingeblendetes Datenmaterial informierte den Arkoniden, daß die 

drei Heimatschiffe der Vulnurer ihre Schutzschirme aktivierten. Die Energiewerte  ließen  darauf  schließen,  daß  sie  mit  höchster Abgabeleistung arbeiteten. »Gibt es Hinweise auf den Gegner?« »Nichts Konkretes.  Zwischen  den  gesprengten  Eischalen  fanden 

sich  lediglich  dünne Holzstückchen. Mag  die  Lichtquelle wissen, woher sie gekommen sind.« Wechselbalg, wisperte es  in Atlans Gedanken. Du hast  lange genug auf der Erde gelebt, um diesen Aberglauben zu kennen. Unsinn,  dachte  er  scharf. Wer  sollte  ein  Interesse  daran  haben, 

junge Bekehrer zu entführen?   

*  Xynthia  war  den  Männern  gefolgt  und  hatte  in  der  Nähe  der Zentrale  gewartet.  Als  sie  Desmon  schließlich  in  Begleitung  der Medoroboter sah, begann sie das Schlimmste zu befürchten. 

Nachdenklich  geworden,  kehrte  sie  noch  einmal  zum  Hangar zurück,  fand  aber  nichts, was  von  Interesse  gewesen wäre. Dabei hätte  sie  nicht  einmal  zu  sagen  vermocht, wonach  sie  überhaupt suchte. Xynthia  begab  sich  schließlich  zur  Medostation,  wo  sie  einen 

völlig apathischen Desmon vorfand. Er starrte unverwandt vor sich hin,  ohne  ihre  Anwesenheit  zu  registrieren.  Seine  ohnehin  helle Hautfarbe, die alle BRISBEE‐Kinder auszeichnete, war einem fahlen Grau gewichen. »Geht  es dir noch  immer nicht besser?«  erkundigte Xynthia  sich 

besorgt. Desmon antwortete nicht. Als sie sein Gesicht berührte, zuckte sie 

erschrocken zurück. Es war eiskalt. Der  Junge  stöhnte  leise,  brachte  aber  kein  verständliches Wort 

hervor.  Unwillkürlich  mußte  Xynthia  daran  denken,  was Grödelmeier gesagt hatte.  Immerhin war der Zyrtonier  schon zum zweiten Mal in Desmons Nähe aufgetaucht. Den Arzt, der das Krankenzimmer betrat, bestürmte sie mit einer 

Vielzahl von Fragen, doch er wehrte  lächelnd ab. »Es handelt  sich lediglich  um  eine  vorübergehende  Schwäche. Morgen,  spätestens übermorgen, ist Desmon wieder auf den Beinen.« »Und  wenn  nicht?  Ich  habe  Grund,  anzunehmen,  daß  Borallu 

damit zu tun hat.« »Wie kommst du darauf?« Hastig erklärte Xynthia ihren Verdacht. »Ich verstehe deine Besorgnis«, sagte der Arzt und schob sie vor 

sich  heraus  dem  Raum.  »Doch  der  Zyrtonier  kommt  täglich mit einigen  hundert  Leuten  in  engeren Kontakt.  Stell  dir  vor,  sie  alle würden erkranken.« »Aber …« »Wir  haben  es  noch  immer  mit  Anpassungsschwierigkeiten  zu 

tun,  die  erst  jetzt  richtig  zum  Ausbruch  kommen.  Auf  einem Raumschiff wie der SOL zu leben, ist eben nicht jedermanns Sache.« 

»Ich  weiß  nicht«,  beharrte  Xynthia.  »Inzwischen  kenne  ich Desmon gut genug …« »Er und die anderen  sind Abkömmlinge von Menschen, die  sich 

über  Jahrhunderte  hinweg  einer  fremden  Umgebung  angleichen mußten.  Das  solltest  du  nicht  vergessen.  Außerdem  wurden  vor Desmon  schon  zwei  der  Kinder  eingeliefert.  Jauter  und  Monare leiden unter denselben Symptomen. Bei Monare  steht die Ursache  fest. Sie weist geradezu klassische 

Symptome von Entzugserscheinungen auf.« »Sie ist süchtig?« machte Xynthia ungläubig. »Nach  der  Namenlosen  Zone.  Zumindest  konnte  ich  diesen 

Eindruck gewinnen. Und nun entschuldige mich, ich habe zu tun.« »Natürlich«, murmelte das Mädchen, verließ die Medostation und 

ließ  sich vom Transportband durch den Korridor  tragen. Sie hatte den  Antigravschacht  fast  erreicht,  als  sie,  einer  plötzlichen Eingebung  folgend,  absprang  und  zum  Interkomanschluß zurückging,  an  dem  sie  eben  vorbeigekommen  war.  Aus  dem Gedächtnis wählte sie eine Nummer. »Bitte?« Der Mann auf dem Bildschirm erkannte sie nicht. »Ich bin Xynthia Ammon, Desmons Adoptivschwester.« Ein  Aufleuchten  huschte  über  das  Gesicht  ihres 

Gesprächspartners. »Was hast du auf dem Herzen?« »Können wir uns treffen?« »Sofort?« Xynthia nickte. »Ich bin in der Nähe der Medostation.« Es vergingen keine fünf Minuten, bis Alfons Grödelmeier erschien. »Und?« machte er anstelle einer Begrüßung. »Was konntest du in 

Erfahrung bringen?« »Das  kommt  darauf  an«,  erwiderte  Xynthia.  Sie war  sich  nicht 

mehr sicher, ob sie Desmon und sich selbst nicht  in ein Geschehen hineinmanövrierte,  das  ihnen  beiden  über  den  Kopf  zu  wachsen drohte.  »Ich  weiß  noch  nicht  einmal,  weshalb  du  dich  für  den 

Zyrtonier interessierst.« »Weil es  immer noch Leute an Bord gibt, die Borallu keineswegs 

vorbehaltlos vertrauen«, sagte Grödelmeier, ohne zu zögern. »Hayes selbst  hat  Thorsten  Verkamp  und  mir  den  Auftrag  erteilt,  den Fremden zu überwachen. Sollte sich der geringste Verdacht ergeben, sind wir bevollmächtigt, einzuschreiten.« Xynthia  zögerte  nach wie  vor.  »Eigentlich  glaube  ich  nicht,  daß 

mein Adoptivbruder mit Borallu in Verbindung steht.« »Du kannst beruhigt sein, wir wollen nur Borallu.« Sie  seufzte  schwer  und  fuhr  sich mit  der  Hand  übers  Gesicht. 

»Desmon ist krank, er liegt auf der Medostation. Vor zwei Stunden hat  er  versucht,  die  SOL  mit  einer  Lightning‐Jet  zu  verlassen. Borallu konnte ein Unglück im letzten Moment verhindern …« »Ich  weiß«,  nickte  Grödelmeier  nicht  gerade  begeistert.  »Mich 

interessiert mehr  eine Antwort  auf die Frage, wieso der Zyrtonier wieder mit Desmon zusammentraf.« »Ich  hatte  den  Eindruck,  daß  Borallu  etwas  haben  wollte,  was 

mein Bruder besaß.« »Dann hat er es sicher bekommen?« Xynthia schüttelte den Kopf. »Was immer es war, Desmon konnte es vorher in den Notschacht 

werfen.« »Das ist neu«, machte Grödelmeier erstaunt. »Demnach fliegt also 

irgendein Gegenstand  außerhalb  der  SOL  herum,  an  den  Borallu nun nicht mehr herankommt.« »Wahrscheinlich  schwebt  das  Ding  in  unmittelbarer  Nähe  der 

Außenhülle«, überlegte Xynthia.  »Die  Schwerkraft der  SOL dürfte groß genug sein, es festzuhalten. Wenn du dir einen Raumanzug …« Grödelmeier schnippte mit den Fingern. »Jessica Stenton«, platzte 

er heraus. »Verkamps Freundin ist eine Buhrlo. Wenn sie aussteigt, fällt das niemandem auf.«   

*  Lara  stieß  einen  spitzen  Schrei  aus,  als  sie  von  der meterhohen, künstlich  erzeugten Welle  erfaßt wurde,  jäh den Boden unter den Füßen  verlor  und  recht  unsanft  auf  dem  Sandstrand  landete. Prustend und spuckend stemmte sie sich hoch, Menizzas spöttisches Lachen geflissentlich überhörend. Weder  sie  noch  die  anderen  konnten  sich  bislang  in  voller 

Konsequenz  mit  den  Konventionen  auf  der  SOL  abfinden.  Sie fanden  nichts  dabei,  ohne  Kleidung  zu  baden.  Sie  waren  und blieben  der  Natur  verbunden,  während  die  Menschen  auf  dem Raumschiff  nur  einen  Götzen  zu  kennen  schienen:  die  Technik. Deshalb  hatten  sie  auch  den  Roboter  desaktiviert,  der  das Wellenbad beaufsichtigte. Menizza  ließ  ihr  Antigravbrett  ins  Wasser  gleiten.  In  steilem 

Winkel  die  auflaufenden  Wellen  schneidend,  hatte  sie  Mühe, stehend das Gleichgewicht zu halten. Aber sie schaffte es und glitt leicht wie eine Feder über die Schaumkronen dahin. Doch unvermittelt war ihr, als erhalte sie einen kräftigen Schlag in 

die Magengegend, der sie ächzend zusammensinken ließ. Das Brett machte  sich unter  ihren Füßen  selbständig; kopfüber  stürzte  sie  in die Flut und begann, wild um sich zu schlagen. Wasser drang ihr in Mund,  Nase  und  Ohren,  und  der  salzige  Geschmack  ließ  sie Todesängste empfinden. Die  Schmerzen  wurden  stärker.  Dann  war  nichts  mehr  –  von 

einem Moment zum anderen erlosch jegliche Empfindung. Verzweifelt  bemühte  Lara  sich,  die  ertrinkende  Freundin  über 

Wasser  zu  halten.  Aber  sie  schaffte  es  nicht,  sich  den  Wellen entgegenzustemmen.  Sie  schrie,  schluckte,  schrie  wieder  ihre Verzweiflung  hinaus,  obwohl  sie  wußte,  daß  niemand  sie  hören konnte, weil sie allein waren. Plötzlich  tauchte neben  ihr ein chitingepanzerter Körper auf. Wie 

durch  einen dichter werdenden Nebel hindurch nahm Lara wahr, 

daß  kräftige  Fäuste  sie  hochhoben  und  an  Land  trugen.  Ein unheimlicher  Druck  lag  auf  ihrem  Brustkorb,  der  ihr  sogar  das Atmen zur Qual machte. »Danke«, hauchte sie. Die mannsgroße Ameise sagte etwas, was Lara schon nicht mehr 

verstand. Mit  zitternden  Fühlern  stelzte  sie durch den  Sand,  hielt mehrmals  inne und hob dünne, unterarmlange Hölzer auf, die von den Wellen angespült worden waren.   

*  Als Menizza wieder zu sich kam und die Augen aufschlug, sah sie über sich eine  türkisfarbene Decke. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Aber das beklemmende Gefühl  in  ihren Eingeweiden wurde zunehmend intensiver. Ein besorgt wirkendes Gesicht schob sich in ihr Blickfeld. »Was ist geschehen?« Das Sprechen fiel ihr schwer. »Du wärst beinahe ertrunken«, antwortete der Mann. »Und deine 

Freundin auch. Zum Glück konnte Borallu euch noch rechtzeitig aus dem Wasser ziehen.« »Ich weiß nichts mehr.« Prickelnd kehrte das Leben in ihre Glieder 

zurück. »Wo bin ich?« »Auf der Medostation; ich bin Doktor Machon. Die Roboter hatten 

Mühe, dich ins Bewußtsein zurückzuholen.« Einem  jähen Impuls folgend, wollte Menizza sich erheben, zuckte 

jedoch zusammen, als sie die Beine aus dem Bett schwang. Der Arzt schob sie sanft zurück. »Ich will nicht hierbleiben«, stöhnte das Mädchen. »Doch«,  bestimmte Machon.  »Hier  ist  bestens  für  dich  gesorgt. 

Morgen sehen wir weiter.« »Warum  hilft mir  niemand?« Menizzas  Stimme  überschlug  sich 

regelrecht. »Ich muß fort!« 

Ein  Medoroboter  setzte  der  heftig  Widerstrebenden  eine Injektionspistole an den linken Oberarm. Wenig später entspannten sich ihre verkrampften Züge. »Alles ist bald wieder in Ordnung«, lächelte der Arzt. »Was hat der Roboter mir gegeben?« »Ein Schlafmittel.«   

*  Für drei Personen war der kleine Raum fast schon zu eng – und das auf einem Schiff wie der SOL, die weit mehr als 100.000 Menschen ausreichenden  Lebensraum  geboten  hätte.  In  manchen  Bereichen konnte man noch  immer  stundenlang herumwandern, ohne einem einzigen Solaner zu begegnen. Aber daran dachte Xynthia nicht, als sie zusammen mit Thorsten 

Verkamp  und Alfons Grödelmeier  auf  einem der Bildschirme das Geschehen  im  freien  Raum  verfolgte.  Jessica  Stenton  hatte  sich spontan bereiterklärt, außerhalb des Schiffes nach etwas zu suchen, von  dem  keiner wußte, was  es  überhaupt  darstellte.  Buhrlos wie Jessica waren  in der Lage, ohne  technische Ausrüstung  für  längere Zeit dem absoluten Vakuum zu trotzen. Da insoweit allerdings jede Sprechverbindung illusorisch wurde, trug die Frau eine Minikamera mit  sich.  Die  auf  einer  Spezialfrequenz  hereinkommenden  Bilder wurden von Verkamp gespeichert, um sie jederzeit wieder abrufbar zu haben. Im Augenblick befand  Jessica Stenton  sich noch  in der Nähe der 

Teleskopkuppel der SZ‐2. Von ihrem Standort aus war lediglich die obere  Schiffshälfte  bis  zum  Ringwulst  zu  überblicken  –  der imposante Anblick, den die immerhin sechseinhalb Kilometer lange SOL  in  ihrer Gesamtheit  aus  einiger Entfernung bot,  ließ  sich nur erahnen. Gleich  einem  riesigen  leuchtenden Auge  hing  die  Sonne des  Junksystems  über  dem  Schiff;  trotz  der  Distanz  von  einigen 

Lichtminuten  rief  sie  leuchtende  Reflexe  auf  dem  Ynkelonium‐Terkonit‐Verbundstahl  der  Schiffshülle  hervor  und  zeichnete zugleich scharf abgegrenzte Schlagschatten. Jessica  hatte  die  Schleuse  im  oberen  Polbereich  zusammen mit 

anderen  Buhrlos  verlassen,  sich  aber  von  ihnen  abgesondert,  da diese  mit  einem  raumflugtauglichen  Gleiter  tiefer  in  das  System eindringen wollten. Die  Frau  führte  ein  kleines,  gasgefülltes  Rückstoßaggregat  mit 

sich; als sie die Düsen für einen Sekundenbruchteil zündete, begann sie sich um die eigene Achse zu drehen. Das Universum lag zu ihren Füßen … Nur  wenige  Menschen  konnten  wirklich  ermessen,  welch 

berauschendes Gefühl  es war, die Unendlichkeit der Zeit und des Raumes  ohne  die  trennende Hülle  eines Anzugs  um  sich  her  zu spüren. Langsam  glitt  die  Buhrlofrau  an  der  Rundung  der  Schiffszelle 

entlang.  Scheinbar  zum Greifen  nahe  standen drei  hell  strahlende Sterne.  Obwohl  man  mit  bloßem  Auge  nicht  sehr  viel  erkennen konnte,  verriet  die  Dreiecksformation,  daß  es  sich  um  die Heimatschiffe der Vulnurer handelte. Überrascht tippte Alfons Grödelmeier mit seinem Zeigefinger auf 

die Bildwiedergabe. »Fällt euch nichts auf?« »Wieso?« machte Verkamp erstaunt. »Alles läuft reibungslos.« »Das meine ich nicht«, wehrte Grödelmeier ab. »Die Hangars sind 

geschlossen.  Es  sieht  so  aus,  als wäre  der  Verkehr  zwischen  den Vulnurern und uns zum Erliegen gekommen.« »Vielleicht  hat man  sich  auf die Transmitter  verlegt«,  vermutete 

Verkamp. Jessica Stenton kam allmählich  in die Nähe der  Jet‐Hangars. Eine 

Gruppe  von Arbeitsrobotern  geriet  in  den  Bereich  der Optik.  Sie waren  damit  beschäftigt,  in  die  Schiffswandung  eingebettete Antennensysteme  zu  erneuern,  und  beachteten  die  Frau  nur 

flüchtig. Wie  ein  riesiges,  stählernes Gebirge wuchs  der  400 Meter  dicke 

Ringwulst vor  ihr auf.  Jessica  ließ  sich absinken und bewegte  sich jetzt zielstrebiger. »Sie  muß  gleich  da  sein«,  bemerkte  Thorsten  Verkamp 

ungeduldig. Eine  gewisse  Spannung  bemächtigte  sich  der  drei.  Vor  allem 

Xynthia fieberte einem Ergebnis entgegen. Der  Bildschirm  zeigte  einen  schnellen  Schwenk  über  die 

Oberfläche.  Deutlich  war  die  verschlossene  Schachtöffnung  zu erkennen. Dann wechselte die Brennweite. »Da ist etwas«, rief Grödelmeier. »Neben dem Schacht.« Es sah aus wie zwei dünne Äste. »Ich  glaube  nicht, daß Desmon …« Xynthia  unterbrach  sich,  als 

das Bild zu schwanken begann. Jessica  bückte  sich  nach  den  Hölzern.  Von  der  Seite  kam  ihre 

Hand ins Bild. Deutlich war zu sehen, wie ihre Finger sich um einen Ast schlossen. Er war unverrückbar fest mit dem Ynketerk‐Stahl verbunden und 

ließ  sich  nicht  bewegen  –  selbst  als  die  Frau mit  beiden Händen zupackte.   

3.  Von  den  Ortungen  kam  die Meldung,  daß  auf  den  Schiffen  der Vulnurer große Energiemengen freigesetzt wurden. »Was  geht  dort  drüben  vor?«  Solania  von  Terra war  soeben  im 

Begriff gewesen, das Kommando über die SZ‐2  ihrem Stellvertreter zu  übertragen.  Solange  die  SOL  im Verbund  beider Kugelhälften mit  dem Mittelstück  flog, war  diese  Besetzung  ohnehin  nur  von untergeordneter  Bedeutung,  da  sämtliche  Flugmanöver  von SENECA oder der Hauptzentrale angeordnet wurden. 

»Die GESTERN und die MORGEN haben  ihre Position verlassen und beschleunigten mit Kurs 80 Grad zur Ekliptik.« »Wollen sie das Junksystem verlassen?« »Zumindest  sieht  es  so  aus.  Die  HEUTE  folgt  den 

Schwesterschiffen mit einiger Distanz.« »Haben wir Funkkontakt?« »Die  Verbindung  ist  vor  wenigen  Sekunden 

zusammengebrochen.« »Trotz der geringen Entfernung von nur zwei Lichtminuten? Das 

ist geradezu  lächerlich.« Die Kommandantin  führte eine Reihe von Schaltungen  durch, woraufhin mehrere  der  bislang  noch  dunklen Bildschirme vor ihr aufflammten. Rasch wechselnde Datenkolonnen wurden eingeblendet. Vorübergehend  schien  Solania  von  Terra  alles  um  sich  her  zu 

vergessen.  Ihre  Lippen  bewegten  sich  in  stummem  Zwiegespräch mit  sich  selbst.  Schließlich  rief  sie Daten der Masseortung  ab und fütterte diese in die Positronik. Die Folge war ein dreidimensionales Diagramm, das einen Zeitraum von mehreren Minuten beinhaltete und aus dem Grund als  instabil erschien. Zum Vergleich  liefen die augenblicklichen Meßergebnisse nebenher. Jemand stieß einen überraschten Pfiff aus. »Ganz  recht«,  nickte  Solania.  »Die  Vulnurer  ziehen  es  vor  zu 

verschwinden, lassen aber an ihrer bisherigen Position Energie‐ und Massefelder  zurück,  die  denen  ihrer  Schiffe  annähernd  identisch sind.  Fragt  sich  nur,  wem  das  Täuschungsmanöver  gilt.« Nachdenklich  betrachtete  sie  das Oszillogramm  der Hyperortung. »Verbindung zur Hauptzentrale«, befahl sie dann. Sensoren stellten die gewünschte Schaltung her. Nur einen Augenblick später blickte Breckcrown Hayesʹ Konterfei 

von  der Wand  herab.  »Wajsto  Kölsch  hat  ebenfalls  nachgefragt«, klang seine Stimme durch die Zentrale. »Es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Die Vulnurer sind lediglich mit internen Problemen beschäftigt.« 

»… deretwegen sie unsere Nähe verlassen? Breck, halte mich nicht für so dumm, daß ich dir das abkaufe. Was ist los?« »Die Meldung darf vorerst nicht publik werden.« »Du weißt, daß  ich mich auf meine Mannschaft verlassen kann.« 

Die Kommandantin seufzte laut. »Heraus mit der Sprache.« Was der High  Sideryt  zu  sagen  hatte, überraschte. An Bord der 

drei Heimatschiffe waren frisch aus den Eiern geschlüpfte Vulnurer spurlos  verschwunden.  Selbst  der  Aufbau  sämtlicher Defensivschirme hatte diese Vorfälle nicht unterbinden können. »Ein Angriff der Zyrtonier«, vermutete Solania spontan. »Ich traue 

den Zecken  einfach alles zu. Aber weshalb  ist die SOL noch nicht betroffen? Gibt es schon irgendwelche Hinweise …?« »Die Vulnurer vermuten eine Wechselwirkung zwischen unserer 

und  einer  anderen Dimension,  die  von  den  Zyrtoniern  angezapft wird.« »Dann hilft ihr Fluchtversuch herzlich wenig.« »Ich  kann  dieses  Volk  sogar  sehr  gut  verstehen«,  sagte  Hayes. 

»Wie  würdest  du  reagieren,  wenn  du  nach  generationenlanger Suche  nach  der  Lichtquelle  dem  Ziel  deiner Wünsche  endlich  so nahe wärst wie nie zuvor? Und wenn du dann erkennen müßtest, daß der letzte Weg für dich verschlossen ist, weil du um einige Tage zu spät gekommen bist?« Die Kommandantin schwieg. »Vielleicht gibt es sogar eine brauchbare Spur«, erklärte der High 

Sideryt  weiter.  »Für  jeden  verschwundenen  Vulnurer  fand  sich angeblich  etwas  wie  ein  Stück  Holz  zwischen  den  gesprengten Eischalen.« »Holz?«  fuhr  Solania  von  Terra  auf.  »Sagtest  du  Holz?  So  ein 

komischer weißer Ast, unterarmlang, mit Schuppen übersät …« »Woher weißt du …?« klang es verblüfft aus dem Lautsprecher. Die Kommandantin war aufgesprungen. Sie gab sich keine Mühe, 

ihre  Erregung  zu  verbergen. Aber  im  letzten Moment  zögerte  sie und zog den  schon ausgestreckten Arm zurück. »Breck«,  sagte  sie 

leise. »Was soll ich tun?« Auf der Konsole über ihrem Schaltpult lag nicht bloß der eine Ast, 

von dem sie bis eben noch glaubte, daß Desmon ihn verloren hatte, sondern  es  waren  drei.  Ihre  in  allen  Farben  des  Regenbogens schimmernden Auswüchse  konnten die Aura der Gefahr, die  von ihnen ausging, nicht überspielen. Solania verstellte den Erfassungsbereich der Optik, daß Hayes die 

eigenartigen  Gebilde  deutlich  zu  sehen  bekam.  Sie  hörte  sein überraschtes Aufatmen. »Unternimm nichts, solange wir nicht wissen, wie gefährlich diese 

Dinger sind«, sagte er. »Ich schicke dir einen Spezialisten.« »Du kommst nicht umhin, alle Solaner zu informieren«, meinte die 

Kommandantin der SZ‐2. »Wie hoch schätzt du die Möglichkeit, daß diese Äste auch an anderen Stellen des Schiffes aufgetaucht sind?«   

*  »Ich muß zu Desmon!« Weder Alfons Grödelmeier noch Thorsten Verkamp waren  in der 

Lage,  Xynthia  zurückzuhalten.  Was  sie  soeben  über  den Rundspruch  erfahren  hatten, war  ihnen  regelrecht  in  die  Glieder gefahren.  Sie  brauchten  nur  auf  den  Bildschirm  zu  sehen,  um  zu wissen,  daß  Jessica  Stenton  möglicherweise  in  höchster  Gefahr schwebte. »Wir müssen sie warnen!« rief Verkamp aufgeregt. »Jessica ist draußen ohne Funkgerät.« »Dann gehe  ich eben auch  raus.« Verkamp zeigte alle Anzeichen 

einer  aufkommenden  Panik.  Er  wollte  ebenfalls  den  Raum verlassen, aber Grödelmeier hielt ihn mit eisernem Griff zurück. »Sei  vernünftig,  Thorsten.  Bis  du  Jessica  erreichst,  vergehen 

mindestens zehn Minuten.« »Ich  bin  vernünftig.«  Vergeblich  versuchte  Verkamp, 

freizukommen. »Das bist du eben nicht«, widersprach Grödelmeier. »Breckcrown 

Hayes hat von einer möglichen Gefahr gesprochen. Was noch lange nicht heißt, daß es wirklich zu Zwischenfällen kommen muß.« Auf  dem  Bildschirm  war  zu  sehen,  wie  die  Buhrlofrau  erneut 

versuchte, die beiden  astförmigen Gebilde von der Schiffshülle  zu lösen. Sie schaffte es nicht. Da  auch  sonst  nichts  geschah,  wurde  Thorsten  Verkamp 

allmählich ruhiger. »Was ist jetzt?« fragte Grödelmeier. Jessica  Stenton  machte  ihnen  mit  Daumen  und  Zeigefinger 

Zeichen, indem sie ihre Hand einfach vor die Kamera hielt. »Sie meint, wir sollen abwarten«, erklärte Verkamp. »Was hat sie 

bloß vor?«   

*  Die  Interkomdurchsage hatte Xynthia erschreckt. Blindlings  rannte sie durch die Gänge und warf sich förmlich in den Antigravschacht, um so schnell wie möglich mit ihren Eltern reden zu können. An die Möglichkeit anzurufen, dachte sie nicht. In  der  Kabine  fand  sie  allerdings  nur  einen  Infowürfel,  der  für 

gewöhnlich benutzt wurde, wenn ein Familienmitglied den anderen eine Nachricht hinterlassen wollte. Mit fliegenden Fingern aktivierte sie das Gerät und vernahm dann die  aufgeregt klingende  Stimme ihrer  Mutter:  »Wir  wissen  leider  nicht,  wo  du  bist,  aber  die Medostation hat uns gebeten, sofort zu kommen. Desmon scheint es sehr schlecht zu gehen.« Damit endete die Aufzeichnung. Beinahe fluchtartig verließ Xynthia den Wohntrakt wieder. Völlig  außer  Atem  erreichte  sie  die  Krankenstation.  Die  Eltern 

einiger BRISBEE‐Kinder diskutierten lebhaft miteinander. Ohne auf 

die  ihr  geltenden  Zurufe  zu  achten,  suchte  Xynthia  Desmons Krankenzimmer auf. Es war leer. Sogar das Bett hatte man entfernt. Der Schreck fuhr  ihr  in alle Glieder. Kam sie zu spät? »Desmon«, 

brach es tonlos aus ihr hervor. Sie zuckte erschrocken zusammen, als sich unvermittelt eine Hand 

auf ihre Schulter legte. Ohne daß es ihr aufgefallen war, hatte einer der Ärzte ebenfalls den Raum betreten. »Wir  mußten  deinen  Bruder  auf  die  Intensivstation  verlegen«, 

sagte  er.  »Desmon  hat  heute  nachmittag  einen  schweren  Schock erlitten. Es hat den Anschein, als liege ihm nichts mehr am Leben.« »Du  meinst«,  Xynthia  blickte  den  Arzt  aus  schreckgeweiteten 

Augen an, »er hat nichts, was ihn auf der SOL hält?« »Ich hoffte, die Antwort darauf von dir zu bekommen. Immerhin 

kann inzwischen ausgeschlossen werden, daß die Erkrankung durch organische Ursachen bedingt ist.« »Könnte …?« murmelte Xynthia. »Ja? Was  wolltest  du  sagen? Möglicherweise  hilfst  du  Desmon 

und den anderen damit.« Das Mädchen wirkte unschlüssig. »Wir  müssen  das  Schlimmste  befürchten.  Die  Symptome  sind, 

mehr  oder  weniger  ausgeprägt,  Übelkeit,  Erbrechen, Kopfschmerzen  und  Fieber,  das  selbst  mit  Medikamenten  nicht unter  Kontrolle  zu  bekommen  ist.  Trotz  intensiver  Behandlung verschlechtert sich die Situation stetig.« Als Xynthia dann vor Desmon  stand, hätte  sie  ihn beinahe nicht 

wiedererkannt. Zusammengerollt, die Lider geschlossen,  lag er auf einer Wärmedecke. Das Mädchen zwängte sich an den Eltern vorbei und setzte sich auf die Bettkante. »Darf ich?« fragte sie. Der Arzt nickte aufmunternd. Sanft  strich  Xynthia  ihrem  Bruder  über  die  Schläfen.  Schweiß 

bedeckte seine Haut, sie fühlte das Blut in den Adern pochen. 

Desmon schlug die Augen auf, aber sein Blick ging ins Leere. »Erkennt er mich nicht mehr?« »Das ist durchaus möglich«, bestätigte der Arzt. »Jedes der Kinder 

zeigt  eigentlich  irrationale  Verhaltensweisen.  Nur  untereinander halten  sie  noch  Kontakt.  Ich  kam  dazu,  wie  Dyla  sich  von  den Meßkontakten befreite und zu Desmon wollte. Wahrscheinlich wäre sie  keine  zehn Meter weit  gekommen,  ohne  zusammenzubrechen. Trotzdem  entwickelte  sie  Kräfte,  daß  ich  Mühe  hatte,  sie zurückzuhalten.« »Desmon  kapselt  sich  ab,  als wollten  er  und  die  anderen  nichts 

mehr mit uns Solanern zu tun haben«, sagte Xynthias Vater tonlos. »Das  kann  nicht wahr  sein«,  begehrte  sie  auf.  In  dem Moment 

hatte sie nur noch Angst um  ihren Bruder. Sie wandte sich an den Arzt:  »Ist  es möglich,  daß  jemand  eine  psychische  Beeinflussung …?« »Wer?« »Jemand, der Interesse daran hat, Unruhe zu verbreiten.« »Du  meinst  Borallu«,  überlegte  der  Mediziner.  »Was  sollte 

ausgerechnet er sich von den Kindern versprechen?« »Sie stammen aus der Namenlosen Zone.« »Das  ist  kein  ausreichender Grund. Wenn  ich mit  einem  derart 

vagen  Verdacht  vor  Hayes  oder  Atlan  hintrete,  lachen  sie  mich bestenfalls aus.« »Und  wenn  du  ihnen  erklärst,  daß  Desmon  zwei  solche  Äste 

besessen  hat,  wie  der  High  Sideryt  sie  in  seinem  Rundspruch beschrieb? Und daß Borallu hinter  ihm her war, um sie an sich zu bringen …« Will Animon, Xynthias Vater, machte einen raschen Schritt auf sie 

zu. »Ist das wahr?« fragte er leise. »Ich habe es selbst gesehen«, nickte das Mädchen. »Ich weiß auch, 

wo die Äste jetzt sind.« »Warum  hast  du  das  nicht  eher  gesagt?«  Ammon  wirkte 

ungehalten.  Wenn  sein  Gesicht  sich  rötete,  war  dies  stets  ein 

Alarmzeichen. Xynthia schluckte krampfhaft. Ohne daß sie es verhindern konnte, 

rollten die ersten Tränen über ihre Wangen. »Hör auf zu heulen!« Ihr Vater faßte sie an den Handgelenken und 

wollte sie mit sich ziehen, aber sie riß sich ruckartig los und lief auf den Gang hinaus. Das gegenüberliegende Krankenzimmer stand offen. Als Xynthia 

einen  flüchtigen  Blick  hineinwarf,  zuckte  sie  unwillkürlich zusammen.   

*  Die drei vermeintlichen Äste veränderten ihr Aussehen nicht mehr. Nachdem  Solania  von  Terra  einen  von  ihnen  ohnehin  schon  in Händen gehalten hatte, fühlte sie sich versucht, es noch einmal ohne den angekündigten Spezialisten zu versuchen. Ihre Rechte näherte  sich der Konsole bis  auf wenige Zentimeter, 

bevor  sie  unverhofft  einen  starken  elektrischen  Schlag  erhielt, der ihren  Arm  nach  hinten  riß.  Von  den  Ästen  ging  ein  statisches Knistern  aus,  dessen  Tonlage  allmählich  in  einen  für  Menschen unhörbaren Bereich hinüber glitt. Benommen  schüttelte  sich  die  Kommandantin  der  SZ‐2.  Nur 

wenig später schwebten Kampfroboter in die Zentrale – ihnen voran Hage  Nockemanns  ehemalige  Laborpositronik.  Blödel,  in  der Hauptsache  eine  1,22  Meter  lange  und  34  Zentimeter durchmessende  Röhre,  an  seinem  oberen  Ende  mit  einem vergleichsweise winzigen Kopf versehen, war durchaus in der Lage, selbständig und folgerichtig zu denken und zu handeln. Eine solch banale  Bezeichnung  hätte  allerdings  sowohl  für  ihn  als  auch  für seinen  nicht minder  kauzigen Herrn  eine  Beleidigung  dargestellt. Blödel war ohne Zweifel ein Genie. Die beiden Teleskoparme bis zur vollen Länge von zwei Metern 

ausgefahren  und  mit  ihnen  konfus  in  der  Luft  herumwirbelnd, wandte der Roboter sich abrupt zu seinen stählernen Gefährten um, die  ihn um mehr  als Haupteslänge überragten. Gegen die  starken Kampfmaschinen wirkte er wie ein Zwerg. Wie eine verbeulte Konservendose, in die man eine Unmenge von 

Öffnungen  hineingeschnitten  hat,  überlegte  Solania  unwillkürlich. An  den  Gesichtern  einiger  Männer  und  Frauen  der Zentralebesatzung konnte sie erkennen, daß diese nicht viel anders dachten. »Aaaaalles  stillgeeee  …  standen!«  schnarrte  Blödel.  Die 

Kampfroboter verharrten auf der Stelle, was  ihn offensichtlich mit Stolz  erfüllte,  denn  er  kratzte  sich  in  aller  Seelenruhe  seinen Schnauzbart aus grünen Plastikhaaren. Dann erst baute er sich vor der Kommandantin auf und versuchte, 

militärisch  exakt zu  salutieren, was  ihm bei der derzeitigen Länge seiner Arme nur sehr unvollkommen gelang. »Scientologe Blödel und sechs Kampfroboter zum Schutz der SZ‐2 

angetreten!«  meldete  er.  »Wir  haben  Befehl  …«  Er  stockte. »Breckcrown  Hayes  hat  uns …  ich  meine,  äh,  der  High  Sideryt befiehlt …« Sekundenlang  stand er vollkommen  reglos,  schließlich drang  ein  langgezogener  Seufzer  aus  seiner  Sprechmembrane. »Lassen  wir  den  militärischen  Unfug«,  sagte  er.  »Breck  hat  mir gesagt, hier gäbʹs einige komische Dinger auseinanderzunehmen.« Die Kommandantin deutete auf die Konsole. »Zuerst war es nur 

eins«, erklärte sie. »Als  ich vorhin mit der Hand  in  ihre Nähe kam, erhielt ich einen ziemlich starken Stromschlag.« »Was  natürlich  nicht  ausschließt,  daß  es  sich  um  lebende 

Organismen  handelt«,  folgerte  Blödel.  »Wir  kennen  genügend Beispiele.  Angefangen  von  Fischen,  die  zu  ihrer  Verteidigung elektrische  Stöße  aussenden  …«  Er  wandte  sich  zu  den Kampfrobotern  um.  »Das  mache  ich  allein.  Bleibt  auf  euren Plätzen.« Ohne zu zögern, packte er mit den Greiffingern beider Arme zu. 

Es  gab  eine  krachende  Entladung,  und  eine  Wolke  beißenden Ozongeruchs breitete sich aus. »O3,  eine  allotrope  Modifikation  gewöhnlichen  Sauerstoffs«, 

registrierte  Blödel.  »Entsteht  unter  der  Einwirkung  ultravioletter Sonnenstrahlung oder durch elektrische Entlaaa …« Funken stoben nach  allen  Seiten  davon,  eine  Vielzahl  von  Überschlagsblitzen umflossen  den  Roboter  und  schlossen  sich  knisternd  zwischen seinen Armen und dem Boden. Blödel  schwankte.  Und  dann,  zeitlupenhaft  langsam,  kippte  er 

und schlug der Länge nach hin. Die  ihn einhüllenden Entladungen verblaßten rasch. Das erste, was sich anschließend wieder bewegte, war sein Kopf. 

Mit seinem einzigen Auge fixierte er die Konsole. »Das  sind  wandelnde  Akkus«,  stellte  er  fest.  »Noch  dazu 

verdammt schlecht isoliert.« »Hast  du  eine  Vorstellung,  wie  wir  sie  von  da  oben 

wegbekommen?« wollte Solania wissen. »Naja«, sagte Blödel. »Auf jeden Fall werden die drei Dinger nicht 

mehr  lange auf der Konsole  liegen. Das verspreche  ich.« Er winkte den Kampfrobotern: »Steht nicht herum wie Ölgötzen, bewegt euch lieber.  Ich brauche  ein Energiekäfig, der diese Gebilde  einschließt. Koppelt eure Projektoren – nun macht schon.« Die schweren Maschinen traten  im Halbkreis an. Blödel hielt sich 

diesmal hinter ihnen und beschränkte sich aufs Befehle erteilen. Ein  leichtes  Flimmern  der  Luft  ließ  die  Position  des  errichteten 

Prallfelds  erkennen.  Doch  setzte  dieses  den  Ästen  keinerlei Widerstand  entgegen.  Mit  wellenförmigen  Bewegungen  ihrer Hautlappen erhoben sie sich und strebten schwerfällig auseinander. »Vorsicht!«  rief  Blödel.  »Ich  kann  ihre  Reaktionen  nicht 

vorausberechnen.« Die Äste  schwebten auf die nächsten Schaltpulte zu. Womöglich 

wurden sie durch die Vielzahl bunter Kontrollen angelockt. »Abschalten!« befahl Blödel. »Sofort!« 

Die  seltsamen  Gebilde  zeigten  sich  daraufhin  zwar  verwirrt, behielten jedoch ihre Richtung bei. »Laßt  sie  passieren«,  wandte  die  Kommandantin  sich  an  die 

Besatzung. »Weicht ihnen aus und vermeidet jede Berührung.« Mehrere  Klappen  an  Blödels  Körper  hatten  sich  geöffnet  und 

verschiedenartige  Instrumente  freigegeben.  Der  Scientologe versuchte  herauszufinden,  ob  die  schwebenden  Gebilde  auf bestimmte  Frequenzen  ansprachen.  Aber  erst  Ultraschall  ließ  sie unruhig  reagieren.  Plötzlich  verloren  sie  die  Kontrolle  über  ihre Bewegungen und taumelten auf eine Gruppe von Menschen zu. Jemand schoß. Der Glutstrahl traf einen der Äste und floß an ihm 

auseinander, ohne Schaden anzurichten. Das  Wesen,  oder  was  immer  es  sein  mochte,  verharrte 

sekundenlang wie erstarrt und  ließ sich dann zu Boden sinken, wo es zischend und blasenwerfend im Plastbelag versank. Die  beiden  anderen  torkelten  auf  einen  der  Kampfroboter  zu, 

durchstießen  dessen  blitzschnell  aktivierten  Schutzschirm  und setzten sich auf seiner Metallhaut fest. Auch hier geschah annähernd dasselbe: offenbar handelte es sich um Säure, die den Stahl zerfraß. Der Kampfroboter geriet  außer Kontrolle. Er drehte  sich  im Kreis, und  seine Waffenarme  ruckten  hoch.  Bevor  es  allerdings  soweit kam, daß die Maschine verheerenden Schaden anrichtete, verlor sie ihren Gleichgewichtssinn und schlug der Länge nach hin. Mehrere schwache,  durch  die  ins  Innere  des  Robotkörpers  eindringende Säure ausgelöste Explosionen richteten zum Glück keinen Schaden an. »Du  hast  gewußt,  was  geschehen  würde?«  wandte  die 

Kommandantin sich an Blödel. »Nein«, erwiderte die Positronik. Solania deutete auf den Boden, 

wo  sich auf gut  einem halben Quadratmeter der Belag aufzulösen begann. »Du hast uns das eingebrockt«, schimpfte sie. »Jetzt sieh zu, wie du den Vorgang zum Stillstand bringst.«  

 * 

 Jessica Stenton platzierte die Kamera in der Nähe der beiden Hölzer und machte  erneut das Zeichen  für Abwarten. Dann  entfernte  sie sich mit  Hilfe  ihres  Rückstoßaggregats  schnell  aus  dem  ohnehin begrenzten Erfassungsbereich der Optik. »Sieht so aus, als wolle sie wieder an Bord kommen«, stellte Alfons 

Grödelmeier sachlich fest. »Dann können wir sie warnen«, rief Verkamp. »Weißt du, welche Schleuse sie nimmt?« »Nein«, machte Thorsten  und  schlug  sich mit der  flachen Hand 

vor die Stirn. »Ich muß es über Rundruf versuchen.« Aber  noch  während  er  den  Interkom  aktivierte,  kehrte  seine 

Freundin zurück. Sie trug eine gut zwei Meter lange Eisenstange bei sich, und ihre Absicht war unverkennbar. »Woher hat sie das Ding so schnell?« »Wir haben den Reparaturtrupp vergessen. Das  ist eines von den 

ausgewechselten Antennenteilen.« Nur  halb  sah  Thorsten  Verkamp  zu, wie  Jessica  die  Stange  als 

Brecheisen benutzte. Verzweifelt versuchte er, eine Verbindung zur Zentrale  der  SZ‐2  herzustellen.  Sein  Ruf wurde  zwar  empfangen, dennoch erhielt er keine Antwort. Endlich verschwand das nervtötende Wartesymbol vom Monitor 

und  machte  dem  weitaus  hübscher  anzusehenden  Gesicht  eines jungen Mädchens Platz. »Ich  soll  wohl  alt  und  grau  werden,  bis  sich  endlich  jemand 

bequemt, mit mir zu reden«, legte Verkamp los. »Es tut mir leid, wir hatten eben einige Probleme.« »Interessiert  mich  nicht.  Draußen  ist  ein  Reparaturtrupp  –  ich 

brauche eine Sprechverbindung, und zwar umgehend.« »Ohne ausreichende Begründung kann ich nicht …« »Mädchen,  ich  werde  dir  die  Begründung  geben,  sobald  alles 

vorbei ist. Aber jetzt, bitte, tu mir den Gefallen.« »Sie  schafft  es«,  rief  Grödelmeier  aufgeregt.  »Jessica,  sei 

vorsichtig!« Die  beiden  vermeintlichen  Hölzer  ringelten  sich  zusammen, 

gleichzeitig  ging  von  ihnen  eine  grelle,  blendende Entladung  aus. Störungen  in  der  Bildübertragung  ließen  kaum  mehr  etwas erkennen. »Es geht um diese verdammten Äste«, schrie Thorsten Verkamp in 

den  Interkom.  »Ich weiß  nicht, was  passiert,  aber wenn  es meine Freundin dort draußen erwischt …« »Wir  haben  mehrere  Trupps,  die  mit  Reparaturarbeiten  befaßt 

sind.« »Einer von  ihnen muß  in der Nähe eines Hangars  für Lightning‐

Jets sein«, sprudelte Verkamp hervor. Das Bild wechselte. Die Kommandantin der SZ‐2 blickte ihm  jetzt 

vom Monitor entgegen. »Was ist wirklich los?« wollte sie wissen. »Zwei  der  Äste  hängen  am  Schiff.  Eine  Buhrlo  versucht,  sie 

abzulösen, sie …« »Die Verbindung kommt!« Es  gab  keinen  Sichtkontakt.  Thorsten  schloß  daraus,  daß  er mit 

einem Roboter verbunden worden war. Aber das störte ihn nicht. Im Gegenteil. Maschinen reagierten schneller und vor allem exakter als Menschen. Bevor  er  jedoch die  Situation  erklären  konnte,  geschah das, was  er  insgeheim  befürchtet  hatte. Die Äste  lösten  sich  und schwebten  auf  Jessica  zu.  Thorsten  Verkamp  hörte  jemanden aufschreien.  Bis  er  begriff,  daß  er  selbst  den  Schrei  ausgestoßen hatte,  riß  Jessica bereits die Metallstange hoch und  setzte  sich  zur Wehr. Furcht hatte sich in ihre Züge eingegraben. Sie handhabte das Antennenstück  so  geschickt,  wie  es  unter  den  Verhältnissen  der Schwerelosigkeit nur Buhrlos können. Eine gleißende Strahlbahn  stand plötzlich neben  ihr. Wer  immer 

geschossen hatte, die Energie umfloß einen der Angreifer und trieb ihn  von  der  SOL  weg.  Der  andere  zog  sich  mit  blitzschnellen 

Bewegungen  an  der  Stange  empor.  Im  letzten Moment,  ehe  das Geschöpf sie erreicht hatte, wirbelte Jessica Stenton das Eisen davon. Eine Weile  stand  sie da und blickte  in die  sternenklare Weite von Bars‐2‐Bars, dann bückte sie sich nach der Kamera und richtete das Objektiv neu aus. Wo die Äste gelegen hatten, war das Ynkelonium‐Terkonit mindestens eine Handbreit tief aufgefressen.   

4.  »Nehmt  Borallu  fest!«  rief Xynthia.  »Er  ist  an  allem  schuld.« Voll verhaltenem Zorn starrte sie den Zyrtonier an, der neben Monares Krankenbett  stand und  leise  auf das Mädchen  einredete. Monares Mutter zuckte merklich zusammen. »Ich weiß,  daß  er  ein Verräter  ist«,  behauptete Xynthia.  »Er  hat 

Desmon und alle anderen infiziert.« Der Zyrtonier wandte sich zu ihr um und schüttelte den Kopf. »Ich 

mache  einen  Krankenbesuch,  weil  ich  herauszufinden  hoffe,  was geschehen ist.« »Du  lügst«,  fuhr das Mädchen  ihn  an.  »Ich habe  selbst gesehen, 

wie  du  Desmon  verfolgt  und  bedrängt  hast.  Was  hatte  er herausgefunden?« »Nun  ist  es  aber  genug,  Xynthia.«  Der  Arzt  versuchte  sie  zu 

beruhigen. »Ich will, daß  jeder mich hört«, begehrte sie auf. »Borallu muß zu 

Atlan oder Hayes gebracht werden.« »Vielleicht  hat das Mädchen  recht«,  nickte  jemand.  »Wissen wir 

denn, ob wir dem Zyrtonier wirklich vertrauen können?« Alle waren nur zu bereit, einen Schuldigen zu  finden. Sie  sahen, 

daß  es  den  Kindern  stetig  schlechter  ging,  ohne  daß  die medizinische  Technik  helfen  konnte.  Zudem  hatten  die  letzten Ereignisse  während  der  Suche  nach  den  Vulnurern  bei  vielen Solanern Spuren hinterlassen. Es bedurfte nur noch eines einzigen 

Funkens, um die angestauten Emotionen aufbrechen zu lassen. Und genau  ein  solcher  Funke  war  der  Verdacht,  Borallu  könnte  den Menschen feindlich gegenüberstehen. Will Ammon  schüttelte  spontan die Fäuste. Ehe der Zyrtonier es 

sich versah, wurde er von mehreren Männern angegriffen, die  ihm die Arme  auf den Rücken  zerrten. Er war  zu überrascht, um  sich wirksam zur Wehr zu setzen. »Achtet  auf  die  Kieferzangen!  Kommt  ihnen  nicht  zu  nahe!« 

Ammon  riß  einen  Stuhl  hoch  und  schlug  zu. Der  erste Hieb  traf Borallus Schulter und glitt am harten Chitinpanzer ab. Den zweiten Stoß  führte  er  von  der  Seite,  das  dünne  Metallrohr  splitterte, während der Zyrtonier den  sicheren Stand verlor und  stürzte. Ein Schwall scharf riechender Flüssigkeit verspritzte. »Das ist Ameisensäure. Seht euch vor.« Borallu  überwand  allmählich  seine  Verblüffung.  Ächzend 

stemmte er sich hoch, schüttelte die Angreifer ab und benutzte seine Zangen, um sie auf Distanz zu halten. »Aufhören!«  ertönte  eine  befehlsgewohnte  Stimme,  als  Will 

Ammon  erneut den  zersplitterten  Stuhl  schwang.  »Wer  noch  eine feindselige Bewegung macht, wird erfahren, wie unangenehm es ist, für einige Stunden gelähmt zu sein.«   

*  »Ist SENECA nicht in der Lage, einen möglichen weiteren Übergang zu  berechnen?  Weshalb  sollte  eine  außergewöhnliche Sonnenkonstellation nicht annähernd das gleiche bewirken wie die inzwischen geschlossenen Nabel?« Joscan Hellmut, Kybernetiker  auf der  SOL,  bedachte den Katzer 

mit  einem  spöttischen  Blick,  bevor  er  nachdrücklich  den  Kopf schüttelte. »Du bist ein Laie auf dem Gebiet«, erwiderte er. »Erstens hätte SENECA eine solche Berechnung  längst vorgenommen, wäre 

sie  überhaupt  möglich,  und  zweitens,  das  hat  die  Biopositronik deutlich  zu  verstehen  gegeben,  waren  sämtliche  in  Frage kommenden Sektoren Anti‐ES bereits bekannt.« Für  den wortkargen Hellmut war  dies  eine  lange  Rede.  Er  gab 

seinem  Begleiter  dann  auch  zu  verstehen,  daß  er  die  Diskussion über dieses Thema als abgeschlossen betrachtete. »Atlan wird  sich  damit  nicht  abfinden«,  bemerkte  Bjo  Breiskoll. 

»Um die Koordinaten von Varnhager‐Ghynnst zu erhalten, muß er in  die  Namenlose  Zone  zurückkehren.  Ihm  bleibt  keine  andere Wahl.« »Zumindest siehst du es so.« »Ist das alles, was du zu sagen hast?« Der Kybernetiker zuckte mit den Schultern. Beide hatten sich zufällig in der SZ‐2 getroffen und waren auf dem 

Weg  ins Mittelteil.  Joscan Hellmut war anzusehen, daß er beinahe zwanzig  Stunden  ununterbrochen  an  einem  rein  kybernetischen Problem  gearbeitet  hatte;  Bjo  hingegen  rückte  nicht  recht  damit heraus, was  er  in  der Nähe  der Mannschaftsunterkünfte  tat.  Der Verdacht  lag nahe, daß  sich zwischen  ihm und  einer ausnehmend hübschen  jungen Frau, mit der er  in  letzter Zeit mehrfach gesehen worden war, ein intimes Verhältnis anbahnte. »Das ist Unsinn«, bemerkte Breiskoll unvermittelt. »Was?« machte Joscan Hellmut irritiert. »Ria ist eine gute Freundin, mehr nicht.« Der Kybernetiker lief rot an. »Hast du in meinen Gedanken spioniert?« »Du weißt genau, daß ich das nie tun würde. Deine Überlegungen 

waren nur derart intensiv, daß ich sie einfach auffangen mußte …« Er hatte noch  etwas hinzufügen wollen, unterbrach  sich  aber.  Für einen Außenstehenden mußte  es den Anschein  haben,  als  lausche der Katzer in sich hinein; Hellmut hingegen wußte, daß Bjo in dem Moment  irgendwelche Gedanken  esperte,  die  sich  von  der Norm abhoben. 

»Zur Medostation,  schnell!« bestimmte Breiskoll. »Wenn wir uns nicht beeilen, lynchen sie Borallu.« Keine zwei Minuten später erreichten sie die Krankenstation. Ein 

ungewöhnliches Bild bot  sich  ihnen. Mehrere Männer und Frauen versuchten  gemeinsam,  eine  mannsgroße  Ameise  zu  Boden  zu zwingen. Doch mit seinen Kräften und seiner Geschmeidigkeit war Borallu ihnen zumindest ebenbürtig. In  dem Moment,  in  dem  einer  der Männer  in  unverkennbarer 

Absicht einen bereits demolierten Stuhl hochriß, schritt Breiskoll ein. Der  Kombistrahler  in  seiner  Rechten  ließ  keine Mißverständnisse aufkommen. »Warum hilfst du dem Verräter?« Die Ernüchterung über das, was 

sie beinahe getan hätten, stellte sich nur zögernd ein. »Ich  verstehe  eure  Erregung«,  sagte  der  Katzer,  der  sich 

inzwischen alle wichtigen Informationen telepathisch besorgt hatte. »Aber jedem sollte klar sein, daß es an Bord keine Privatjustiz gibt.« »Unsere Kinder sind schwer erkrankt. Glaubst du wirklich, dieser 

Zyrtonier sei daran unschuldig …?« »Gebt  endlich  Ruhe«,  zischte  Breiskoll  gefährlich  leise.  Er  hatte 

viel von einer sprungbereiten Raubkatze an sich. Weil  er  in Borallus Emotionen keinerlei Feindseligkeit  feststellen 

konnte,  sondern  eher  einen  Hauch  von Wehmut,  schob  Bjo  den Strahler  in  den  Holster  zurück.  »Ihr  solltet  über  euer  Verhalten gründlich nachdenken«, wandte er  sich an die betreten wirkenden Solaner. »Weder blinde Hysterie noch ein eigenmächtiges Vorgehen sind in unserer Lage angebracht.« »Was hast du vor?« wollte Gordon Blackwood wissen. »Ich bringe Borallu zu Atlan. Danach sehen wir weiter.«   

*  Sie trafen den Arkoniden in seiner Kabine in SOL‐City an, wohin er 

sich  eben  erst  zurückgezogen  hatte,  um  über  die  anstehenden Probleme in Ruhe nachdenken zu können. Atlan  zeigte  sich  kein  bißchen  erstaunt,  als  Bjo  Breiskoll,  Joscan 

Hellmut  und  der  Zyrtonier  bei  ihm  erschienen.  In  kurzen, prägnanten Worten schilderte der Katzer das Vorgefallene. »So  etwas  habe  ich  beinahe  befürchtet«,  nickte  der  Arkonide 

schließlich.  »Den  Solanern  ist  nicht  wohl  in  ihrer  Haut  und  ich müßte  lügen,  würde  ich  das  Gegenteil  von  mir  behaupten. Immerhin hat der Gegner mehrfach bewiesen, daß er in der Lage ist, unsere Sicherheitsvorkehrungen zu unterlaufen.« »Dummerweise  sprechen  viele  Fakten  gegen  Borallu«,  stellte 

Breiskoll  fest.  »Bisher wurden  keine Krankheitserreger  festgestellt. Falls  es  also  zu  einer  weiteren  Verschlechterung  im Gesundheitszustand der Kinder  kommt, werden wir  ihn  vor dem Mob schützen müssen.« »Niemand  wird  Bakterien  oder  Viren  finden«,  ließ  Borallu 

vernehmen. Atlan blickte  ihn  forschend an. Das unruhige Zucken der Fühler 

ließ auf einen Zustand innerer Erregung schließen. »In gewisser Weise  fühle  ich mich mit den Kindern verbunden«, 

erklärte  der  Zyrtonier.  »Mit  einigen  habe  ich  sogar  Freundschaft geschlossen. Zunächst wohl nur, weil  ich von  ihnen mehr über die Namenlose Zone zu erfahren hoffte und vielleicht auch über mein Volk. Mehr  jedenfalls, als  ich offiziell gesagt bekam. Leider mußte ich  feststellen,  daß  die  Kinder  nichts  wußten.  Aber  sie  waren irgendwie sonderbar – anders als die Menschen, die an Bord dieses Schiffes  aufgewachsen  sind.  Euch  mag  das  vermutlich  nicht auffallen, doch ein Fremder stellt solche Eigenheiten weit eher fest. Obwohl sie sich dessen selbst nicht bewußt sind, die Kinder haben Heimweh.« »Ähnliche  Gefühle  hat  wohl  jeder  von  uns  irgendwann 

durchgemacht«, warf Hellmut ein. »Davon wird niemand krank.« »Auch  nicht,  wenn  es  sich  um  eine  Art  Extrem‐Heimweh 

handelt?« »Wie soll ich das verstehen?« fragte Atlan. Borallu  zögerte. Offenbar  fiel  es  ihm  schwer,  seine Erklärung  in 

Worte zu fassen. Er  läßt  sich  von  seinem  Instinkt  leiten,  behauptete  der  Extrasinn. Deshalb fürchtet er, du könntest ihm nicht glauben. Atlan  warf  Breiskoll  einen  flüchtigen  Blick  zu,  den  dieser 

schulterzuckend  beantwortete.  War  er  nicht  in  der  Lage,  die Überlegungen des Zyrtoniers telepathisch zu erfassen? »Den  Kindern  haftet  etwas  an,  das  sie  von  euch  Solanern 

unterscheidet«, sagte Borallu. »Eine schwer definierende Aura, sehr wahrscheinlich  aus  der Namenlosen  Zone,  vermutlich  von  ihrem Planeten Solist oder dessen Schockfront. Leider weiß  ich zu wenig über  die  tatsächlichen  Verhältnisse  und  bin  deshalb  auf Vermutungen angewiesen. Aber diese Aura beeinflußt die Kinder.« »Demnach  sind  die  aufgetretenen  Symptome  rein  psychischer 

Natur«,  stellte  Atlan  fest.  »Auf  welche  Weise  äußert  sich  die Beeinflussung?« »Mit dieser Frage habe ich mich selbst schon einige Male befaßt«, 

erwiderte  Borallu.  »Ich  muß  gestehen,  daß  es  keine zufriedenstellende Antwort gibt.« »Es wäre  verfrüht,  sich  ernsthaft  Sorgen  zu machen«, warf  Bjo 

Breiskoll  ein.  »Borallu  sieht  die Dinge  düster, weil  er  nur  darauf wartet,  mit  der  Namenlosen  Zone  konfrontiert  zu  werden.  Ich konnte  bei  den  Kindern  kein  derart  ausgeprägtes  Heimweh erkennen.« Wortlos wandte Atlan  sich dem  Interkom  zu  und  schaltete  eine 

Verbindung  zur Medostation  auf der SZ‐2. Er verzichtete  auf  jede Vorrede und erkundigte sich nur nach dem Befinden der Patienten. »Abgesehen davon, daß sie allmählich zur Ruhe kommen, geht es 

ihnen  unverändert«,  sagte  der  diensttuende  Arzt.  »Wir  haben einigen von ihnen ein leichtes Schlafmittel verabreicht.« »Gut«, nickte Atlan. »Falls Unvorhergesehenes eintritt, unterrichte 

mich.« Er schien die Last der Verantwortung am  liebsten weit von sich schieben zu wollen. Müdigkeit spiegelte sich in seinen Augen – es war die Müdigkeit eines nahezu Unsterblichen,  in dessen Leben Freude  und  Leid mitunter  so  nahe  beieinander  wohnten,  daß  es schwerfiel, sie auseinanderzuhalten. Aber dann fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht und war schlagartig wieder der Alte. Ich hoffe, daß Chybrain endlich ein Zeichen gibt, oder daß die Vulnurer einen Weg in die Namenlose Zone finden, durchzuckte es ihn. Auch Borallu wirkte unruhig. »Ich werde mich selbstverständlich 

zurückhalten.  Es  liegt  mir  fern,  neue  Auseinandersetzungen  mit übereifrigen Solanern zu provozieren.« »Nur  für  einen  oder  zwei  Tage«,  fügte  Atlan  hinzu,  dem  die 

besondere Betonung nicht entgangen war. »Bis die Dinge wieder ins Lot kommen.« Der  Interkom  summte.  Atlan  aktivierte  den  Empfang  mittels 

Blickschaltung. Der Arzt von der SZ‐2 rief an. »Zwei Kinder sind weg«, stieß er verstört hervor. »Weg?« wiederholte der Arkonide. »Wie soll ich das verstehen?« »Als  ich eben nach  ihnen sehen wollte, waren sie verschwunden. 

Niemand hat bemerkt, daß sie die Station verlassen haben.« »Wurden die Eltern schon verständigt?« »Natürlich. Aber dort sind sie nicht. Ich fürchte, sie haben sich in 

ihrem Zustand irgendwo verkrochen.« »In  spätestens  einer  Viertelstunde  haben  wir  die  Ausreißer 

wieder«, versprach Atlan. »Ich veranlasse die Suche nach ihnen.« Der Arzt wirkte überaus beunruhigt. »Es geht mir weniger um Desmon als um die kleine Monare. Sie ist 

von allen am ärgsten betroffen.«   

*  Daß er mit seinem Versprechen zu voreilig gewesen war, mußte der 

Arkonide  schon  bald  einsehen.  Selbst  dem  Telepathen  Breiskoll gelang  es  nicht,  eine  Spur  der  Kinder  zu  finden.  Tyari  versagte ebenfalls. Aber  noch wollte Atlan  eine  offizielle  Suchmeldung  vermeiden, 

weil diese zweifellos neue Unruhe heraufbeschworen hätte. Nach  beinahe  zwei  Stunden  erzielte  der  Katzer  endlich  einen 

ersten Erfolg. Der Zufall wollte es, daß er die wütenden Gedanken eines Magazinverwalters erfaßte – eines alten Mannes, der es längst nicht mehr nötig gehabt hätte,  irgendeiner Tätigkeit nachzugehen, dem jedoch die Gewohnheit eines geregelten Tagesablaufs über alles ging. Er war ein Ordnungsfanatiker,  in dessen Lager  jedes noch so kleine  Teil  seinen  festen  Platz  besaß,  an  dem  er  es  mit schlafwandlerischer  Sicherheit  fand.  Daß  die  Türen  mehrerer Schränke  offenstanden,  hatte  es  vorher  nie  gegeben.  Noch  dazu hatte  jemand  die  Fächer  durchwühlt  und  zwei  Raumanzüge entnommen.  Keine  großen,  schweren  Kampfanzüge,  sondern einfache Schutzhüllen  für Kinder, wie diese von Eltern zumeist  für die ersten Weltraumausflüge  ihrer Sprößlinge angefordert wurden. Das  war  es  auch,  was  Herbus  Knoxham  die  Sache  mysteriös erscheinen  ließ.  Er  konnte  sich  nicht  vorstellen, wer  ein  Interesse daran haben sollte, ausgerechnet diese Monturen zu entwenden. Mangels anderer Aufgaben nahm er den Vorfall zum Anlaß, um 

sämtliche Lagerbestände zu überprüfen. Dabei verzichtete er auf die Benutzung  des Arsenalcomputers, weil  ihm  denkende Maschinen schon  immer ein Greuel waren. Seiner Meinung nach  förderten sie die  Verdummung  und  Bequemlichkeit  der Menschen.  Schließlich war er  selbst das beste Beispiel dafür, daß Arbeit  jung erhielt. Mit seinen  209  Jahren  fühlte  er  sich  noch  überaus  rüstig  und  konnte nicht ohne Stolz behaupten, er sei schon von Anfang an auf der SOL gewesen. Allerdings spielte seine Erinnerung  ihm manchmal einen Streich und er schilderte Ereignisse, die er gar nicht kennen konnte, weil  er  zu  jenem Zeitpunkt  erst  zwei  oder drei  Jahre  alt  gewesen war. 

Zu  Chart  Deccons  Zeiten  hatten  noch  Zucht  und  Ordnung geherrscht.  Damals  wären  bestimmt  keine  Raumanzüge  spurlos verschwunden. »Wie heißt er gleich, dieser neue High Sideryt?« überlegend hielt 

Herbus Knoxham  in seiner Arbeit  inne. »Ist er nicht Chart Deccons Sohn?« »Du meinst Breckcrown Hayes …« Verwundert  blickte  Knoxham  auf  den  seltsamen  Fremden,  der 

sich offenbar angeschlichen hatte. Der Mann sah zumindest aus wie ein  Mensch,  wenngleich  seine  Augen  schräg  standen  und  an einzelnen Stellen seiner Haut die Reste rotbraunen Pelzansatzes zu erkennen waren. »Wie kommst du hier herein?« »Durch  das  Schott«,  erwiderte  der  Fremde.  Er  hatte  etwas 

Geschmeidiges, Katzenhaftes an sich. Verzweifelt  kramte Knoxham  in  seinem Gedächtnis,  an wen  ihn 

dieser Mann erinnerte. »Ich bin Bjo Breiskoll. – Nein, kein Pyrride.« Der  Alte  bedachte  ihn mit  einer  Reihe  von  verwirrten  Blicken. 

Schon lange war niemand mehr zu ihm ins Magazin gekommen. Sie schickten  immer  nur  ihre  Roboter,  wenn  Ersatzteile  benötigt wurden. »Ich bin kein Spitzel der SOLAG«, sagte der Fremde unvermittelt. 

»Die Zeiten sind längst vorbei.« »Antwortest  du  immer  auf  Fragen,  bevor  sie  gestellt  werden?« 

Herbus Knoxham konnte seine Unruhe kaum verbergen. »Manchmal«,  erwiderte  Bjo  Breiskoll  grinsend.  »Eigentlich 

interessieren mich nur die beiden verschwundenen Raumanzüge.« »He«. Erschrocken machte der Alte einen Schritt rückwärts. »Hast 

du mit der Sache zu tun? Wer schickt dich überhaupt?« »Atlan hat mich gebeten …« »Atlan?«  unterbrach  Knoxham  ungeduldig.  »Ist  das  der  High 

Sideryt?« 

»Sagen wir, er ist sein Freund.« Das Lächeln auf Breiskolls Zügen gefror.  Entgegen  seiner  üblichen Gepflogenheit  drang  er  tiefer  in Knoxhams Gedanken vor. Der Alte war verwirrt und kaum  in der Lage,  Überlegungen  folgerichtig  zu  Ende  zu  führen.  Im  Grunde genommen lebte er noch immer in einer längst vergangenen Zeit. »Hörst du nie Bordnachrichten?« »Das ganze Geschwätz  ist doch  auf Verdummung  ausgerichtet«, 

erwiderte Herbus  ärgerlich.  »Ich machte mir  lieber meine  eigenen Vorstellungen zu dem, was an Bord geschieht.«   

*  Doktor Machon war  sofort  hellwach,  als  ein  leiser  Summton  die Unregelmäßigkeit  signalisierte.  Eine  Reihe  von  Kontrollen  hatte hektisch  zu  blinken  begonnen;  Herzrhythmus, Kreislaufüberwachung  und Atemfrequenz waren  ausgefallen. Das konnte  nur  bedeuten,  daß  der  betreffende  Patient  sich  der Anschlüsse entledigt hatte. Raum 21. Dort lag Dyla. Es  war  kurz  nach Mitternacht.  Nachdem  die  beiden  Ausreißer 

bislang unauffindbar blieben, hatte Atlan angeordnet, die BRISBEE‐Kinder  zu überwachen. Allerdings  sollte  ihnen nichts  in den Weg gelegt werden, falls sie ebenfalls ihre Zimmer verließen. Doktor Machon  ahnte, daß  es um mehr ging, als  im Augenblick 

abzusehen war.  Als  Dyla  barfuß  und  nur mit  ihrem Nachthemd bekleidet  in den Gang hinaustrat, alarmierte  er die Hauptzentrale. Damit war seine Aufgabe erfüllt. Das Mädchen  wirkte  keineswegs  wie  eine  Schlafwandlerin.  Sie 

schien es eilig zu haben und außerdem genau zu wissen, wohin sie sich wenden mußte. Nachdenklich stützte Machon den Kopf  in die Handflächen  und  stierte  auf  den  kleinen  Monitor  der abteilungsinternen  Überwachungs‐  und  Kontrollanlage.  Er  fragte 

sich, was mit Dyla geschah. Noch vor einer halben Stunde hatte sie nicht den Eindruck gemacht, als würde sie sich überhaupt auf den Beinen halten können.   

*  Es war  nicht  das  erste Mal,  daß Herbus  Knoxham  die Nacht  im Magazin verbrachte. Es machte ihm nichts aus, auf der harten Liege zu schlafen, benötigte er doch ohnehin nur vier Stunden Schlaf. Er hatte die Bestände überprüft, bis er vor Müdigkeit kaum mehr die Augen  offenhalten  konnte. Aber  zumindest  die wichtigsten Güter waren  vollzählig  vorhanden.  Er  hätte  nicht  gewußt,  wie  er  ein Fehlen weiterer Gegenstände hätte erklären sollen. Knoxham schlief unruhig und schreckte immer wieder hoch, weil 

er sich beobachtet fühlte. Aber da war niemand. Trotzdem mußte er an Breiskoll denken. Der Katzer!  kam  es  ihm  in den  Sinn. Das war der Name,  unter 

dem  er den Fremden kannte. Wie  lange war das  alles her? Einige Jahre? Oder  länger? Er  erinnerte  sich, daß mehrere Solaner  in den Kälteschlaf geschickt worden waren. Das  Geräusch  zaghafter  Schritte  schreckte  ihn  erneut  auf. 

Vergeblich  versuchte  er,  im  trüben  Halbdunkel  der Nachtbeleuchtung mehr als schemenhafte Umrisse zu erkennen. Wenn  das  die  Diebe  waren,  sollten  sie  sich  wundern.  Herbus 

Knoxham  erhob  sich  lautlos.  Die  Finger  seiner  Rechten umkrampften den Schocker, den er an sich genommen hatte. Das leise Knarren einer Tür verriet ihm, daß die Diebe tatsächlich 

zurückgekommen  waren  und  sich  erneut  an  den  Schränken  zu schaffen machten. Diesmal würden sie es nicht so einfach haben. Im  Grunde  genommen  war  Knoxham  dankbar  für  die 

Abwechslung.  Immerhin  war  während  der  letzten  Jahre  absolut nichts  von  Bedeutung  geschehen.  Er  hatte  auch  kein  Bedürfnis 

verspürt, das Magazin und die  angrenzende Kabine  zu  verlassen, um  mit  anderen  Solanern  zu  reden.  Er  war  schon  immer  ein Einzelgänger  gewesen,  und  solange  die  Automaten  Essen  und Getränke  lieferten,  gab  er  sich  zufrieden.  Die  gelegentlichen Interkomdurchsagen  überhörte  er  geflissentlich,  weil  sie  ihn ohnehin nicht betrafen. Knoxham hatte den Durchgang zum Nebenraum erreicht. Er sah 

die  Umrisse  eines  Menschen,  der  sich  trotz  der  Finsternis  gut zurechtzufinden schien. »Licht!« sagte der Alte. Die Sensoren nahmen den Befehl auf und 

aktivierten  die  in  der  Decke  und  den  Wänden  versenkten Leuchtplatten. Herbus Knoxham stieß einen Laut der Überraschung aus. Er hatte 

nicht damit gerechnet,  ein  junges Mädchen vor  sich  zu haben.  Ihr offenes  Haar  war  auffällig  weißblond,  und  ihre  Haut  wirkte krankhaft bleich. Sie mochte höchstens 14 Jahre alt sein. »Was machst du da?« entfuhr es ihm. Ängstlich  blickte  sie  auf  seinen  Strahler,  fuhr  jedoch  in  ihrem 

Bemühen  fort,  den Raumanzug  anzulegen.  Sie  brauchte  nur  noch ins Oberteil hineinzuschlüpfen und den Magnetsaum zu schließen. »Zieh das sofort wieder aus!« befahl der Magazinverwalter. Das Mädchen hielt nicht eine Sekunde lang inne. Ihre Bewegungen 

wirkten hektisch. Herbus Knoxham machte  einige  rasche  Schritte  auf  sie  zu. Zum 

erstenmal zeigte sich Furcht in ihrem Blick. Vielleicht  sollte  er  sie  kurzerhand  übers  Knie  legen.  Das  war 

immer noch die beste Methode, um sich Achtung zu verschaffen. Das Mädchen griff nach dem volltransparenten Helm und  setzte 

ihn sich auf. Bisher hatte sie nicht einen Laut von sich gegeben. Eine leichte Drehung rastete den Helm ein und aktivierte zugleich die im Rückentornister untergebrachte Sauerstoffversorgung. Herbus  Knoxham  ließ  den  Strahler  in  einer  Tasche  seiner 

Kombination verschwinden und packte zu. Das heißt, er wollte das 

Mädchen festhalten, doch seine Hände griffen ins Leere. Sie verschwand von einem Sekundenbruchteil zum anderen. Herbus starrte vor sich hin, als müsse das Mädchen jeden Moment 

wieder erscheinen. Er war aufgeregt, das Herz schlug  ihm bis zum Hals.  Sollte  er  zum  Interkom  gehen  und  den  High  Sideryt verständigen?  Oder  hatte  er  sich  getäuscht,  spielten  seine überreizten Nerven ihm einen Streich? Der Gedanke, daß es Menschen gab, die sich buchstäblich  in Luft 

auflösten, behagte  ihm gar nicht. Er  starrte die noch vorhandenen Raumanzüge an, als sei alles letztlich nur ein böser Traum, aus dem er jeden Moment aufwachen mußte. So stand er noch, als Bjo Breiskoll zusammen mit einigen Solanern 

das Lager betrat.   

*  »Was sollen wir damit?« Monare deutete auf die beiden im feuchten Moos  liegenden  Anzüge.  Erst  vor  kurzem  hatte  sich  die Bewässerungsautomatik der Halle abgeschaltet. »Frage  mich  lieber,  wie  wir  hierhergekommen  sind.«  Desmon 

konnte sich an nichts erinnern. Sicher, sie waren oft  in dieser Halle mit  ihrem  üppigen  Pflanzenwuchs,  aber  diesmal  fehlte  ihm  das Wissen  an  die  letzten  24  Stunden. Außerdem war  ihm  übel. Und dieses Gefühl hatte seinen ganzen Körper erfaßt. Er gab sich Mühe, seinen Zustand vor der kleinen Monare zu verbergen. »Woher haben wir die Raumanzüge?« »Ich weiß es nicht.« »Aber  …«  Das  Mädchen  bückte  sich  nach  der  kleineren 

Schutzhülle und hielt sie vor sich, als wolle sie probieren, ob es sich um die für sie passende Größe handelte. »Wir können sie nicht ohne Grund mitgenommen haben.« »Vielleicht wollten wir sie anziehen«, vermutete Desmon. 

Monare  ließ  sich  das  nicht  zweimal  sagen. Mit  offensichtlicher Begeisterung stieg sie in den Anzug hinein und schloß nacheinander sämtliche  Magnetsäume.  Lediglich  mit  dem  Helm  hatte  sie Schwierigkeiten. Der Junge mußte ihr helfen. »Du hast vergessen, dein Funkgerät einzuschalten«, stellte er fest. 

»Die Außenmikrophone arbeiten deshalb ebenfalls nicht.« Augenblicke später war sie verschwunden. Obwohl dieser Vorgang an sich ungeheuerlich war, zeigte Desmon 

sich  nicht  im mindestens  überrascht.  Er  fühlte,  daß Monare  ihm lediglich  vorangegangen  war,  und  daß  sie  jetzt  am  Ziel  ihrer Wünsche  weilte.  Nur  ein  einziger  Schritt  trennte  sie,  oder  eine Ewigkeit – wer vermochte das schon so genau zu sagen. Desmon hatte es plötzlich eilig, »seinen« Raumanzug anzulegen. 

Er  hatte  kaum  die  Sauerstoffzufuhr  aktiviert,  da  glaubte  er,  den Boden unter den Füßen  zu verlieren. Er  stürzte  in  einen  endlosen Schacht vollkommener Schwärze.   

*  Das  Ergebnis war  so mager, wie  Bjo  Breiskoll  es  von Anfang  an befürchtet hatte. Herbus Knoxham ohnehin labiler geistiger Zustand war endgültig in Verwirrung umgeschlagen. Der Alte flüchtete sich in  eine  Traumwelt,  die  er  für  real  hielt;  es  fiel  schwer,  seine Gedanken überhaupt noch telepathisch zu erfassen. »Dyla  ist  also  ebenso  unauffindbar wie  Desmon  und Monare«, 

stellte Atlan ohne Umschweife  fest. »Ehrlich gesagt,  ich hoffte, die Überwachung würde ein greifbares Ergebnis bringen.« »Wir  sollten uns mehr  auf die  Frage  konzentrieren, weshalb die 

Raumanzüge entwendet wurden«, warf Tyari ein. »Doch wohl nur, weil die Kinder die Absicht haben, die SOL zu verlassen.« »SENECA  ist  alarmiert«,  sagte  Breiskoll.  »Sämtliche  Schleusen 

sowie der umgebende Raum werden überwacht. Nicht einmal eine 

Maus  könnte  unbemerkt  durchschlüpfen.«  Er  schwieg  wieder, während das Lauf band sie zur Zentrale der SZ‐2 brachte. Atlan und Tyari  hatten  in  der Medostation  ebenfalls  nichts  herausgefunden, was  ihnen  weitergeholfen  hätte.  Ihre  Hoffnungen  konzentrierten sich daher auf die drei Äste, die sich  in der Zentrale  in den Boden fraßen. »Sie werden  in einigen Minuten die ersten Versorgungsleitungen 

erreicht  haben«,  gab  Solania  von  Terra  zu  verstehen.  »Was geschieht, können wir uns an den Fingern abzählen.« Atlan  nickte  stumm.  Er  zwängte  sich  durch  eine  Gruppe  von 

Robotern  und  blieb  neben  Blödel  stehen,  der  mittels  spezieller Meßsonden mehr über die Struktur der vermeintlichen Lebewesen herauszufinden hoffte. »Geht es voran?« »Es  ist  schon  ein  Fortschritt,  wenn  wir  einen  Rückschritt 

vermeiden«, erwiderte der Scientologe lakonisch. Einen halben Meter  im Durchmesser und gut dreißig Zentimeter 

tief war das Loch  im Boden. Durch die aufsteigenden Dämpfe des sich zersetzenden Terkonits hindurch gewahrte Atlan drei bleiche, zuckende  Gebilde.  Unwillkürlich  tastete  er  nach  seinem  Strahler. Obwohl  Blödel  sich  halb  abgewandt  hatte,  entging  diesem  die Bewegung  keineswegs.  »Jede  Energiezufuhr  beschleunigt  den Zerstörungsprozeß«,  erklärte  er mit  leicht  tadelndem Tonfall.  »Ich habe  alles  Naheliegende  bereits  versucht.«  Das  klang  nicht  viel anders, als hätte er gesagt: »Laßt mich endlich in Ruhe.« Atlan hatte das ungute Gefühl, daß ihm diesmal die Geschehnisse entglitten. Es  gibt  eine  bemerkenswerte  Parallele  zu  den  Ereignissen  auf  den Heimatschiffen  der  Vulnurer,  wisperte  der  Extrasinn.  Mit  dem Unterschied,  daß  dort  die  Äste  auftauchten,  während  die  Jungen verschwanden,  wohingegen  bei  uns  diese  Gebilde  schon  vorher  bemerkt wurden. Ich  werde  sofort  mit  Borallu  sprechen,  erwiderte  Atlan  in 

Gedanken. Das war etwas, was er  längst hätte  tun sollen, wozu er 

aber bislang noch keine Zeit gefunden hatte. Zusammen mit Breiskoll und Tyari benutzte  er den Transmitter, 

um rasch ins Mittelteil der SOL zu gelangen. Borallus Kabine war leer – von dem Zyrtonier keine Spur.   

5.  Schmerzhaft  schlug das Herz  gegen  seine Rippen,  und mit  jedem Schlag  schien  flüssiges Blei durch die Adern zu  schießen. Desmon schrie.  Er  bekam  kaum  Luft,  während  alles  in  ihm  sich zusammenkrampfte. Erst nach einer ganzen Weile  ließen die Schmerzen nach, und er 

öffnete  die  Augen.  Ein  Meer  von  Pastellfarben  hüllte  ihn  ein; überwiegend waren es warme Farbtöne, Rot in allen Schattierungen, ein  kräftiges  Orange,  die  ineinanderflossen  und  sich  stetig veränderten. Nichts  schien  in dieser unwirklichen Umgebung von Bestand  zu  sein.  Nur  hin  und  wieder  zuckten  grelle,  vielfach verästelte Lichtblitze auf,  regten die Farben zum Leuchten an und hinterließen  in  ihrer  B  ahn  für  Sekunden  den  Eindruck  samtener Schwärze. Begriffe  wie  Oben  und  Unten,  Rechts  und  Links  verwischten 

nahezu völlig. Desmon mußte erst  lernen, seine Bewegungen unter Kontrolle zu bringen, die ihn in der ungewohnten Schwerelosigkeit jeder Orientierung beraubten. Allmählich wurde er ruhiger, ließ sich einfach  treiben und  lauschte  angespannt  in  sich hinein. Ein  leises, kaum  wahrnehmbares  Wimmern  drang  aus  seinem Helmlautsprecher. »Monare?« fragte er zögernd und hoffnungsvoll zugleich. Die  Antwort  kam  sofort  und  ebenfalls  erleichtert.  Und  da  war 

noch jemand, der sich meldete: Dyla! »Wo sind wir?« wollte sie wissen. »Ich weiß es nicht«, erwiderte der Junge zaghaft. 

»Aber  es  ist  schön  hier«,  meinte  Monare.  »Ich  fühle  mich zunehmend besser.« »Als wären wir wieder auf Solist.« »Das  ist  nicht  die  Namenlose  Zone«,  dämpfte  Desmon  ihre 

aufkommende Euphorie.  »Seht  euch doch um. Wo  ist die  endlose Schwärze, die alle Sterne verbirgt?« Weit  vor  ihm  blinkte  ein  winziges  Licht.  »Ich  habe  meinen 

Scheinwerfer eingeschaltet«, ließ Dyla wissen. »Sieht mich einer von euch?« Sowohl Desmon als auch Monare bestätigten. Mit Hilfe der Antriebsaggregate  ihrer Rückentornister und einiger Übung gelang es ihnen schließlich, sich einander zu nähern. Urplötzlich  verspürte Desmon  einen  Schlag  gegen  seine  Schläfe. 

Als er den Kopf so weit wandte, daß er erkennen konnte, was sich festgesaugt  hatte,  stieß  er  einen  freudigen Aufschrei  aus:  »Das  ist Freund!« »Wer?« machte Dyla verwundert. »Laß  ihn«,  sagte  Monare.  »Da  sind  noch  mehr.  Ich  kann 

mindestens  ein Dutzend  von  ihnen  erkennen.  Es  sieht  so  aus,  als kämen sie näher.« Die  Sprechverbindung  wurde  zumeist  dann  von  Störungen 

überlagert, wenn einer der  irrlichternden Blitze aufzuckte. Mit der Zeit  fiel  auf,  daß  alle  einen  gemeinsamen Ausgangspunkt  hatten. Weit  entfernt  schimmerte  eine  düster  rote  Scheibe  durch  die ineinander  verlaufenden  Farben. Desmon  streckte  den Arm  aus  – die Scheibe war gerade so groß wie seine geballte Faust. Vielleicht eine  Sonne?  Das  Tagesgestirn  über  Solist  hatte  mitunter  eine ähnliche Färbung besessen. Ihm erschien es beinahe, als wäre er nie fort gewesen. Die Zeit auf 

der SOL war nichts als eine Episode, die rasch von der Gegenwart verdrängt wurde.  Freudig  stellte  er  fest,  daß  sich  in  seiner Nähe viele der weißen Äste versammelten. Einige von ihnen ließen sich an seinem Raumanzug nieder. Nicht einen Gedanken verschwendete er daran, daß sie das dünne Plastmaterial beschädigen und  ihn damit 

töten  konnten.  »Wenn  es  nur möglich wäre,  uns miteinander  zu unterhalten«,  murmelte  er.  »Ich  würde  gerne  wissen,  woher  ihr kommt.« Aber  die  Freunde  gaben  ihm  keine Antwort,  so  sehr  er darauf wartete. Und  dann  begann  alles  vor  seinen  Augen  zu  verschwimmen. 

Desmon wußte instinktiv, daß er sich auf dem Rückweg befand.   

*  Der  Schwefelgeruch wurde derart  intensiv, daß Hage Nockemann sich unwillkürlich um die eigene Achse drehte, um festzustellen, ob der  Leibhaftige  persönlich  sein  Labor  betreten  hatte.  Er  durfte erleichtert  aufatmen,  denn  der  Gestank  kam  von  der Versuchsanordnung. Zufrieden zwirbelte Hage seinen Schnauzbart. Schade, daß Blödel diesen Triumph  nicht miterleben  konnte,  aber der Roboter weilte noch immer auf der SZ‐2. In den drei feldmagnetischen Reagenzröhren hatte das Plasma zu 

brodeln begonnen.  Jeden Moment mußte die Strukturumwandlung in Gang kommen, die eine unangreifbare kristalline Masse erzeugen würde. Zufrieden rieb der Scientologe sich die Hände. Drängend  fraß  sich  das  Summen  des  Schottmelders  in  seine 

Überlegungen  vor.  »Jetzt  nicht!«  murmelte  er  und  winkte gedankenverloren  ab,  als  würde  der  Besucher  unmittelbar  hinter ihm  stehen  und  nicht  zwanzig Meter  entfernt  hinter  einer  dicken Terkonitwand. Die Erhabenheit des Augenblicks faszinierte den Wissenschaftler. Das Summen des Schottmelders  störte  ihn. Wer  immer auf diese 

stürmische  Weise  Einlaß  begehrte,  sollte  sich  lieber  zum  Teufel scheren. Leider erwies sich dieser Jemand äußerst hartnäckig. »Ruhe!«  brüllte  Hage  Nockemann  verzweifelt.  »Ich  will  nicht 

gestört werden!« 

Das  Summen  erklang  jetzt  rhythmisch  –  in  gleichbleibenden Abständen.  Der  Scientologe  warf  einen  sehnsüchtigen  Blick  auf seine Versuchsanordnung  und wandte  sich  dann  abrupt  um. Das schrille Geräusch ging ihm auf die Nerven. Er löste die Verriegelung des  Schottes  und  kehrte  seinem  Besucher,  wer  immer  es  sein mochte,  sofort den Rücken  zu.  »Mund halten«,  fauchte  er  anstelle einer Begrüßung.  »Ich …« Nur  noch  ein  ersticktes Gurgeln drang aus  seiner  Kehle,  die  plötzlich  wie  zugeschnürt  war.  Er  glaubte, seinen Augen nicht mehr  trauen zu dürfen; zugleich war  ihm zum Heulen  zumute.  Die  Energiezufuhr  hatte  sich  automatisch abgeschaltet … …  in  den  feldmagnetischen  Röhren  wirbelte  feiner,  mehliger 

Staub. Ohnmächtiger  Zorn  über  den  Mißerfolg  ließ  Nockemann 

herumfahren.  »Ich  könnte  dich … Was  soll  das? Was willst  du?« Borallu  stand  vor  ihm  und  hielt  ihm  zwei  weiße,  dürre  Äste entgegen. »Ich habe Arbeit für dich«, sagte der Zyrtonier. »Davon  habe  ich  selbst  genug«,  erwiderte  Hage  wütend. 

»Verschwinde.« »Willst  du  sie  dir  nicht wenigstens  ansehen?  Ich  habe  versucht, 

hinter ihr Geheimnis zu kommen, aber ich schaffe es allein nicht.« »Du  glaubst,  ich wäre  dazu  in  der  Lage?« Nockemanns  Tonfall 

klang  schon weitaus  versöhnlicher.  »Was  sind  das  überhaupt  für Gebilde?« »Hast du die Durchsagen nicht gehört?« »Du meinst …« Der Wissenschaftler stieß einen überraschten Pfiff 

aus. »Gib her!« Ohne länger zu zögern, griff er zu – und fand sich im gleichen  Sekundenbruchteil  auf  seinem  verlängerten  Rückgrat sitzend,  mitten  im  Labor  wieder.  Entgeistert  starrte  er  seine geröteten  Handflächen  an.  »Die  Dinger  teilen  Stromschläge  aus. Woher hast du sie?« Borallu erklärte, daß die vermeintlichen Hölzer irgendwie mit den 

BRISBEE‐Kindern  in  Verbindung  standen.  Er  hatte  selbst  alle möglichen  Versuche  angestellt,  ohne  jedoch  irgendwelche Reaktionen zu erzielen. »Der Schlag, den du eben erhalten hast,  ist der erste Beweis für die Richtigkeit meiner Vermutung«, sagte er. »Ich bin nicht dein Versuchskaninchen«, brauste Nockemann auf. 

»Merke  dir  das.«  Er  deutete  auf  den  großen  Labortisch,  der inzwischen  Zentimeter  hoch  mit  feinem  Staub  bedeckt  war. »Hinlegen und  liegenlassen! Soweit mir bekannt  ist, hat Blödel mit diesen  Ästen  auf  der  SZ‐2  schon  enorme  Probleme.  Weißt  du davon?« »Nein«, machte Borallu überrascht. »Probleme welcher Art?« »Sie  fressen  sich durch Terkonit wie durch Butter.« Das  erneute 

Summen  des  Schottmelders  unterbrach  den  Wissenschaftler. »Herein!«  rief  er  so  laut, daß man  ihn draußen  auf dem Korridor verstehen mußte, und mehr für sich selbst fügte er hinzu: »Wenn es so weitergeht, lungert bald die ganze Besatzung bei mir herum.« »Deine  Befürchtungen  sind  unzutreffend«,  sagte  Bjo  Breiskoll 

spöttisch. »Mehr als 50 Personen passen ohnehin nicht ins Labor.« In Begleitung von Atlan und Tyari betrat der Katzer den Raum. »Ich  nehme  an,  du  suchst  mich«,  wandte  Borallu  sich  an  den 

Arkoniden. Atlan nickte und deutete auf die beiden Äste. »Warum hast du uns 

nicht informiert?« In seiner Stimme schwang Mißtrauen mit. »Ich  weiß  nicht,  ob  es  einen  Sinn  hat, meine  Beweggründe  zu 

erklären.« Atlan  erhielt  einen  Stoß  in  die  Seite,  der  ihn  taumeln  ließ. 

Gleichzeitig  hörte  er  Tyari  aufschreien.  Sich  an  einem  fest verankerten Panzerglasschrank  abfangen und den  Strahler  ziehen, war  eine  einzige  Reflexbewegung.  Aber  Borallu  hatte  ihn  nicht angegriffen. Der Zyrtonier starrte selbst überrascht auf den  Jungen im Raumanzug, der wie aus dem Nichts erschienen zwischen ihnen stand. Nur Sekundenbruchteile später materialisierten Monare und Dyla. 

»

Aufpassen!« warnte Hage Nockemann. An den Raumanzügen der Kinder hingen etliche der astähnlichen Gebilde. »Desmon  nennt  sie  ›Freunde‹«,  stieß  Bjo  Breiskoll  überrascht 

hervor. Tyari nickte bestätigend. »Alle drei fühlen sich wieder wohl, ohne 

daß sie selbst genau wissen, was sich zugetragen hat. Sie waren  in einem Raum voller Farben …« »In der Namenlosen Zone«, warf Borallu ein. »Das Heimweh hat 

sie  zurückgeführt. Nur  dort  konnten  sie  genesen, weil  sie wieder etwas von der Aura ihrer Heimat spürten.« »Warum  sind  sie  dann  zurückgekommen?«  wollte  Hage 

Nockemann wissen. Die Frage blieb unbeantwortet im Raum stehen. »Das klingt reichlich mystisch«, gab Atlan zu bedenken. Desmon  hatte  sich  mittlerweile  seines  Raumanzuges  entledigt. 

Während  die  beiden  Mädchen  es  ihm  nachmachten,  begann  er bereits damit, die reglosen Äste einzusammeln. Nockemann sah ihm aus weit aufgerissenen Augen zu, als warte er auf etwas, was nicht eintrat. »Es sind seine Freunde«, stellte Borallu  fest. »Weshalb sollten sie 

ihm einen ähnlichen Schlag versetzen wie dir?« »Fehlt bloß noch, daß du behauptest,  sie  stammten ebenfalls aus 

der Namenlosen Zone.« »Warum  eigentlich  nicht?  Oder  gibt  es  einen  anderen  Grund, 

weshalb die BRISBEE‐Kinder und ich offenbar immun sind?« »Du hast dich nie  in der Namenlosen Zone aufgehalten«, wandte 

Nockemann ein. »He«, machte Breiskoll überrascht. »Wenn du deine Behauptung 

beweisen willst, kannst du das in der Zentrale der SZ‐2 tun. Solania hat ziemliche Schwierigkeiten mit diesen Ästen.«   

*  

Der Transmitter besaß eine autarke Energieversorgung, sonst hätten sie sich anderer Transportmittel bedienen müssen, oder es wäre zu schwerwiegenden  Zwischenfällen  bei  der  Ent‐  oder Rematerialisierung gekommen. Gut die Hälfte aller Kontrollsysteme war ausgefallen. Solania von 

Terra hatte den Hauptenergiestrang abschalten lassen, um mögliche Nebenwirkungen  zu  vermeiden.  Die  Zentrale  lag  daher  in  ein düsteres Halbdunkel  getaucht,  von  grell  flackernden  Entladungen erhellt, die aus dem Boden kamen. »Irgendein  Erfolg?«  wollte  Atlan  wissen,  kaum  daß  er  das 

Transmitterfeld verlassen hatte. »Sieh dir Blödel an, dann weißt du, wie weit wir sind«, erwiderte 

die Kommandantin. »Er ist merklich kleinlaut geworden.« Es  stank  nach  verschmorten  Isolierungen  und  Ozon.  Qualm 

verschwand  in  den  Ansaugöffnungen  der  Lüftungsschächte.  Die Zerstörungen  hatten  mittlerweile  ein  Ausmaß  angenommen,  daß die  Reparaturarbeiten  sicherlich  einige  Tage  dauern  würden. Zerfressene,  glühende  Kabelstränge  zuckten  in  den Führungsschächten  hin  und  her.  Jedesmal, wenn  einer  von  ihnen mit den. Terkonitverstrebungen in Berührung kam, stob ein wahrer Funkenregen auf. Solania von Terra warf Desmon einen  forschenden Blick zu. »Dir 

haben wir das alles zu verdanken«, stellte sie ohne jeden Vorwurf in der Stimme fest. »Ich bin gekommen, um zu helfen«, sagte der Junge und schränkte 

im selben Atemzug ein: »Falls ich das kann.« »Es geht dir offensichtlich wieder besser.« Die Kommandantin der 

SZ‐2 wirkte überrascht. Desmon  gab  keine Antwort,  sondern wandte  sich dem Loch  im 

Boden  zu.  Unmittelbar  davor  blieb  er  stehen  und  starrte  in  den wogenden  Qualm  hinab.  Augenblicke  später  ließ  er  sich  auf  die Knie sinken und streckte die Arme aus. Schweiß brach ihm aus allen Poren, rann ihm von der Stirn in die Augen und ließ ihn blinzeln. Es 

wurde  still  ringsum.  Sogar  Blödel  hielt  in  seinen  vergeblichen Bemühungen inne und wandte sich dem Jungen zu. »Er schafft es«, flüsterte Tyari neben Atlan. »Paß auf, gleich ist es 

soweit.« Tatsächlich  ließen  die  drei Äste  von  ihrem  Zerstörungswerk  ab 

und  schwebten  in  die Höhe. Ziellos  taumelten  sie  durcheinander, bis Desmon zupackte und sie an sich zog. Nichts geschah. Für  ihn schienen  sie  tatsächlich  nur  dünne  Holzstücke  zu  sein.  Hage Nockemann bedachte Blödel mit einem fragenden Augenaufschlag. »Atlan, der High Sideryt sucht dich«, war unvermittelt eine weich 

modulierte Stimme zu vernehmen. »Was  ist geschehen, SENECA?« wandte der Arkonide sich an die 

Hyperinpotronik. »Die Vulnurer haben wieder Funkkontakt zu uns aufgenommen. 

Sie stehen mit ihren Heimatschiffen außerhalb des Junksystems.« »Ich  brauche  eine  Verbindung  zur  Hauptzentrale.«  Atlan  hatte 

noch nicht zu Ende gesprochen, als ihm Breckcrown Hayesʹ Gesicht bereits  von  einem  der  Schirme  entgegenblickte.  Die  interne Kommunikation  lief  über  ein  inzwischen  zugeschaltetes  zweites Energienetz. »Die Vulnurer sind im Begriff, Dummheiten zu begehen«, warnte 

Hayes.  »Sie machen  Auswirkungen  des  nicht mehr  existierenden Nabels  für das erneute Verschwinden  frisch geschlüpfter Bekehrer verantwortlich.« Er  legte  eine Pause  ein, als müsse  er das Gesagte selbst erst verdauen. »Von was für Dummheiten sprichst du?« wollte Atlan wissen. »Die Vulnurer besitzen genügend Waffensysteme, um die Sonne 

in  eine Nova  zu  verwandeln.  Sie  fordern  uns  regelrecht  auf,  die Gefahrenzone zu verlassen.« »Immerhin  ein  netter  Zug  von  ihnen.«  Weder  ihr 

Gesichtsausdruck  noch  der  Tonfall  ließen  erkennen,  ob  Tyari  die Bemerkung  ironisch meinte. Falls die Vulnurer  ihre Absicht  in die Tat  umsetzten,  konnte  das  jedoch  verheerende  Folgen  nach  sich 

ziehen. Hayes  schüttelte  den Kopf.  »Die  Bekehrer meinen  es  verdammt 

ernst, sie fürchten um den Bestand ihres Volkes. Womöglich gerade weil  sie  ihrem Ziel näher  sind als  je zuvor und es dennoch  für  sie unerreichbar scheint.« »Keineswegs  unerreichbar«, warf  Borallu  ein  und  erntete  dafür 

eine Reihe  überraschter Blicke.  »Die  Parallelen  sind  offensichtlich. Ich  vermute,  daß  zumindest  einige  der  jungen  Vulnurer  im Augenblick ihrer Geburt einen derart starken Drang zur Lichtquelle entwickeln,  daß  die  freiwerdenden  Kräfte  sie  in  die  Namenlose Zone  versetzen.  Wenn  sie  im  Vakuum  materialisieren,  ist  klar, warum keiner von ihnen bislang zurückkam.« »Du  meinst,  ich  soll  den  Bekehrern  raten,  ihre  Neugeborenen 

sofort  in Raumkapseln  oder  gar  Raumanzüge  zu  stecken?«  fragte Breckcrown Hayes skeptisch. »Genau  das«,  nickte  Borallu.  »Halte  sie  hin.  Sage  ihnen,  wir 

versuchen, ihre Kinder zurückzubringen.« Vielleicht  sind  die  Koordinaten  von  Varnhagher‐Ghynnst  doch 

noch nicht verloren, durchzuckte es Atlan. Falls Desmon und die anderen wirklich in der Namenlosen Zone waren, 

schwächte der Extrasinn ab. »Wenn ich dich recht verstehe«, sagten in dem Moment die beiden 

Scientologen Blödel und Hage Nockemann wie aus einem Mund zu dem  Zyrtonier,  »dann  hast  du  vor,  die  BRISBEES  noch  einmal hinauszuschicken.« Hage funkelte den Roboter zornig an: »Misch dich gefälligst nicht 

ein, wenn Männer miteinander reden.« Blödel schlug sich mit seinen voll ausgefahrenen Tentakelarme an 

die  Brust.  »Ich  habe  vor  dir  reagiert. Werfe mir  also  nicht  deine Langsamkeit vor.« Hage  Nockemann  murmelte  etwas  Unverständliches  in  seinen 

Bart. »Wer sind die erfahrensten BRISBEES?« erkundigte sich Borallu. 

»Lara und Menizza, nehme ich an«, erwiderte Tyari. »Dann  gebt  ihnen  Raumanzüge,  die mit  zusätzlichen Meß‐  und 

Aufzeichnungsgeräten  versehen  werden.  Charakteristische  Daten der  kosmischen  Strahlung  innerhalb  der Namenlosen Zone  liegen als Vergleichswerte ja vor.« Sekundenlang herrschte betretenes Schweigen. Borallus Vorschlag 

bedeutete nichts anderes, als die beiden Mädchen wissentlich einer noch unkalkulierbaren Gefahr auszusetzen. »Lara  und Menizza  werden  sich  freuen,  daß  die Wahl  auf  sie 

gefallen  ist«,  sagte  Dyla,  bevor  jemand  Bedenken  vorbringen konnte. »Alle anderen wären sicher gerne an ihrer Stelle.« Die  technischen  Vorbereitungen  nahmen  nur  kurze  Zeit  in 

Anspruch.  Atlan  und  Tyari  suchten  währenddessen  die Medostation  auf.  Obwohl  sie  nicht  erwartet  hatten,  daß  es  den Mädchen  mittlerweile  besser  ging,  erschraken  sie  dennoch  über deren labilen Gesundheitszustand. Doktor  Machon  wehrte  sich  entschieden  dagegen,  die  beiden 

Mädchen  als  Versuchskaninchen  heranzuziehen.  »Ich  nehme  an, Atlan,  du  gehst  von  selbst,  bevor  ich  dich  rausschmeißen  muß. Weder  du  noch  der High  Sideryt  haben  innerhalb meiner  Station Befehlsgewalt.« »Es  ist  im  Interesse  der  Kinder«,  versuchte  Tyari  zu 

beschwichtigen,  zog  sich  damit  aber  ebenfalls  den  Zorn  des Mediziners  zu. Bevor  es  zum Eklat kommen konnte, verließen  sie und Atlan die Medostation. »Er weiß  leider  genau, daß  er  am  längeren Hebel  sitzt«,  seufzte 

Tyari.  »Wenn  ihn  jemand  von  der  Notwendigkeit  überzeugen könnte, dann Desmon, Dyla und Monare. Ihnen wird er am ehesten Glauben schenken.« Sie sollte recht behalten. Machon sah schließlich ein, daß es so am 

besten war. Lara  und  Menizza  steckten  kaum  in  den  präparierten 

Raumanzügen, als sie spurlos verschwanden. 

Das Warten auf ihre Rückkehr wurde zur Qual. Immerhin konnte Bjo Breis‐koll zumindest die Dauer von Dylas Abwesenheit von der SOL  ziemlich  genau  belegen.  Knapp  drei  Stunden waren  bei  ihr vergangen. Auch  nach  vier  Stunden  kehrte  keines  der  beiden  Mädchen 

zurück. Und die Anzeigen der Uhren rückten unbarmherzig weiter vor. Die  Vulnurer  meldeten,  daß  drei  weitere  Neugeborene  in 

Schutzkapseln  verschwunden  waren.  Sie  blieben  ebenfalls verschollen.   

6.  Von einem Augenblick zum anderen war vieles anders. Obwohl der Übergang  wie  ein  Schock  wirkte,  wurden  Lara  und  Menizza merklich  ruhiger.  Sie  waren  zu  schwach  gewesen,  um  alles  zu verstehen, was Desmon und Atlan ihnen erzählt hatten – aber nach und  nach  begriffen  sie, was  von  ihnen  erwartet wurde. Die  träge dahintreibenden  Farbschleier  weckten  ohnehin  ihre Aufmerksamkeit. Menizza  brauchte  nicht  sehr  lange,  um  ihre 

durcheinanderschwirrenden  Gedanken  zu  ordnen  und  sich  zur Ruhe  zu mahnen.  An  Laras  von  Störungen  überlagerten Worten erkannte sie, daß es der Freundin ähnlich erging. Allmählich konzentrierte sie sich auf die  in der Sichtscheibe  ihres 

Helmes  eingeblendeten  Meßdaten.  Demnach  tobten  starke Energiestürme  durch  diesen  Abschnitt  des  Weltraums,  und  die leuchtenden Wolken  bestanden  zum  größten  Teil  aus  ionisierten Gasen  wie  Wasserstoff  und  Helium.  Und  noch  etwas  erkannte Menizza: Lara und sie befanden sich  in der Namenlosen Zone. An der  Richtigkeit  dieser  Annahme  konnte  es  kaum  noch  Zweifel geben. »Wir haben es geschafft«, lachte sie. 

Lara  reagierte  weit  weniger  überschwenglich.  »Wo  ist  Solist?« wollte  sie  wissen.  »Nachdem  die  Schockfront  um  das  System zusammengebrochen ist, müßten wir unsere Welt orten können.« »Nicht mit den begrenzten Möglichkeiten unserer Raumanzüge«, 

wehrte Menizza  ab.  »Und  bis  das  Licht  der  Sonne  uns  erreicht, können etliche Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte vergehen.« »Ich messe da etwas an«, sagte Lara unvermittelt. »Es scheint eben 

erst materialisiert zu sein.« Vergeblich versuchten  sie, Funkkontakt  zu bekommen. Lara, die 

sich  inzwischen wesentlich wohler  fühlte, aktivierte  schließlich  ihr Tornisteraggregat  und  näherte  sich  langsam  den Koordinaten  der Ortungsreflexe. Im  Widerschein  der  wehenden  Gaswolken  erkannte  sie  drei 

kastenförmige  Gebilde.  Sie  bestanden  aus  einer  metallisch glänzenden  Hälfte  und  einer  transparenten,  die  fahle  Helligkeit ausstrahlte.  Die  Größe  dieser  Kästen  war  schwer  zu  schätzen, allerdings schien keiner länger als zwei Meter zu sein. »Sei vorsichtig!« Menizza, die ebenfalls beschleunigte,  fühlte sich 

plötzlich beobachtet. Hinter  einer der durchsichtigen Wände  zeichnete  sich  eine  vage 

Bewegung ab. »He«, rief Lara überrascht, »das sind Vulnurer.« Die  drei  Ameisenartigen mochten  sie  ebenfalls  entdeckt  haben, 

denn  sie blickten  ihnen  entgegen. Eine Funkverbindung kam  aber selbst jetzt nicht zustande. Lara suchte den körperlichen Kontakt zu einer  der  Raumkapseln  und  berührte  mit  dem  Helm  deren transparente Oberfläche. »Kannst du mich verstehen?« fragte sie. Sie mußte  den  Satz  zweimal wiederholen,  bevor  der  junge  Vulnurer endlich  reagierte.  Sein  Name  klang  wie  eine  unverständliche Aneinanderreihung von Vokalen. Auf  jeden Fall fand das Mädchen rasch heraus, daß  er und die  anderen  von der HEUTE  stammten. »Ich werde dich Ouou nennen«, sagte sie. »Das ist einfacher.« Der  Vulnurer  war  einverstanden.  Er  wirkte  desinteressiert, 

durchzuckte  es  Lara. Als  hätte  er  eine  große  Enttäuschung  hinter sich, die zu überwinden ihm schwerfiel. Sie sprach Ouou kurzerhand darauf an. »Ich hatte gehofft, die Lichtquelle würde uns erwarten«, sagte er 

stockend,  und  dasselbe  galt  vermutlich  für  seine  Begleiter. »Während meines Weges  durch  das Nichts  spürte  ich  ihre Nähe. Aber warum  verleugnet  sie  ihre Kinder?« Den  letzten  Satz  schrie der  Vulnurer  regelrecht  heraus.  Lara  konnte  seine  Verwirrung spüren. »Die Lichtquelle wird kommen, wenn es an der Zeit ist«, versuchte 

sie zu besänftigen. »Es ist an der Zeit«, beharrte Ouou. Etwas was wie ein dünner, schuppiger Ast aussah, setzte sich auf 

der  Raumkapsel  fest.  Im  ersten  Moment  erschrak  Lara,  dann erkannte sie einen ganzen Schwarm dieser merkwürdigen Gebilde, der sich langsam näherte. Warum mußte  sie  ausgerechnet  jetzt  an  Solist  denken? Und  an 

Sirhat,  die  Spinne,  und  Kitt,  das  Echsenwesen,  und  die  anderen Emulatoren? Atlan hatte gesagt, daß die Kinder der BRISBEE deren Lebensinhalt  gewesen  waren,  und  daß  sie  den  Tod  auf  sich genommen hatten, als sie die Kinder gehen  ließen. Ein Hauch von Vertrautheit spann sich zwischen Lara, Menizza und dem Schwarm weißer Äste. Wenn sie Geschöpfe der Namenlosen Zone waren, so konnten sie dennoch nicht böse sein. »Ich  fühle  mich  wieder  frisch,  als  wäre  ich  nie  von  Solist  fort 

gewesen«,  sagte  Lara.  »Wahrscheinlich werden wir  bald  zur  SOL zurückkehren.  Glaubst  du,  daß  wir  die  Vulnurer  mitnehmen können?« »Ich  denke,  es  ist  soweit«,  erwiderte  Menizza  stockend.  Dann 

brach  ein  gequälter Aufschrei über  ihre Lippen.  »Etwas hält mich fest.« Von plötzlicher Panik erfüllt, begann sie um sich zu schlagen. Wahrscheinlich aktivierte  sie dabei  ihr Tornisteraggregat, denn  sie wurde mit steigender Geschwindigkeit abgetrieben. 

Auch Lara  fühlte, wie  etwas Unsichtbares nach  ihr griff und  sie einengte. Daß sie ebenfalls schrie, bemerkte sie nicht. Neben  ihr  entstand  eine  Öffnung  in  der  Raumkapsel  des 

Vulnurers. Sekunden später detonierte die abgefeuerte Lichtbombe in  einer  Entfernung  von  nur  wenigen  Kilometern.  Eine  grelle, blendende Lichtflut riß die Schwärze des Alls auf. Schlagartig wurde  sichtbar, was bislang  im Schutz der Finsternis 

verborgen war. Ein  riesiges Raumschiff von der Form  einer Zecke schwebte in unmittelbarer Nähe. Zyrtonier! Der  Anblick  der  drohenden  Gefahr  fuhr  Lara  regelrecht  in  die 

Glieder.  Ihre Kehle war wie  zugeschnürt.  Sirhat!  schrie  jede  Faser ihres Körpers. Mein Emulator, hilf mir! Lara konnte nicht gegen die Ohnmacht ankämpfen, die sie gnädig 

umfing.  So  entging  ihr,  daß  das  Raumschiff  der  Zyrtonier  sich weiter  näherte  und  die  im  Raum  schwebenden  Fremdkörper  an Bord gezogen wurden.   

*  »Wir nähern uns dem vom Rat bezeichneten Sektor«, meldete das Schiff. 451‐Page  Palterwahn murmelte  eine  flüchtige  Zustimmung  und 

widmete  sich  wieder  den  Ortungen.  Was  immer  er  zu  sehen erwartet hatte, er wurde enttäuscht. Vor  ihm  lag  das  System  einer  kleinen  orangen  Sonne  –  besser 

gesagt die Überreste davon, nachdem aus unerklärlichen Gründen die  Schockfront  in  sich  zusammengefallen war.  Eine Vielzahl  von Ortungsechos deutete darauf hin, daß die Bruchstücke des einzigen Planeten mit großer Geschwindigkeit auseinanderstrebten.  Jemand hatte  versucht,  die  umspannende  Schockfront  in  seinem  Sinn  zu manipulieren  und  war  daran  gescheitert.  Vergeblich  hielt 

Palterwahn nach fremden Schiffen Ausschau. Gigantische  Sonneneruptionen  erweckten  den  Eindruck,  das All 

würde  brennen. Wenn  der  Zyrtonier  den  Instrumenten  Glauben schenkte,  dann mußte  er  damit  rechnen,  daß  die  Sonne  in  relativ kurzer Zeit zur Nova wurde. Das  Schiff  tangierte  die  frühere  Umlaufbahn  des  zerstörten 

Planeten und entfernte sich wieder von der Sonne Yeith, nachdem die  vorgenommenen  Messungen  keine  Ergebnisse  im  Sinne  des Rates  der  Pagen  erbracht  hatten.  Palterwahn  ließ  mehrere Robotbojen  ausschleusen,  die  im  Schutz  größerer  Trümmerstücke eine zumindest vorübergehende Kontrolle des Sektors ermöglichten. Ihr Verlust, wenn Yeith sich aufblähte und alle Materie im Umkreis verschlang, würde unbedeutend sein. Ein  winziger,  jedoch  rasch  größer  werdender,  pulsierender 

Leuchtpunkt  im  Haupthologramm  weckte  451‐Pages Aufmerksamkeit.  Der  eingeschlagene  Kurs  mußte  das  Schiff  in geringer Entfernung daran vorbeiführen. Der Leuchtpunkt teilte sich. Innerhalb weniger Sekunden wurden 

fünf  Einzelortungen  daraus,  deren  nach  wie  vor  pulsierender Charakter das Vorhandensein  einer  höheren Lebensform  anzeigte. Die Energieemissionen blieben allerdings überraschend gering, auch die Massewerte enttäuschten Palterwahns Erwartungen. »Kurs und Geschwindigkeit angleichen!« befahl er dem Schiff. Er  wurde  aus  den  georteten  Objekten  nicht  schlau,  zumal 

zwischen  ihnen  deutliche  Unterschiede  bestanden,  ordnete  aber vorsorglich Feuerbereitschaft an. Noch sah er keine Notwendigkeit, seine Beobachtungen dem Rat der Pagen zu melden. Zwei der größer gewordenen Ortungsreflexe verloren schlagartig 

ihre  Leuchtkraft.  »Sie  sind  im  Begriff,  die  Namenlose  Zone  zu verlassen«, meldete das Schiff. Also  doch!  Von Anfang  an  hatte  Palterwahn  geahnt,  daß  diese 

Objekte mit Atlan und der SOL in Verbindung standen. Es bedurfte keines anderen Beweises mehr. 

»Energiefesseln aktivieren! Sie dürfen nicht entkommen!« Ein Ball gleißender Helligkeit entstand unmittelbar vor dem Schiff 

und breitete  sich  in Gedankenschnelle aus. Aber  fast  ebenso  rasch erlosch  dieses  Leuchten  wieder.  Palterwahn  registrierte,  daß  die Fremden ihn entdeckt hatten. »Die Energiefesseln verstärken! Wir holen sie an Bord!« Sein Entschluß kam zu  spät. Eines der kleineren Objekte  entglitt 

seinem  Zugriff.  Innerhalb  von  Sekunden  verschwand  es  aus  dem Gefüge der Namenlosen Zone. Palterwahn  tobte, während  sich  im  Schutzfeld  des  Schiffes  eine 

Strukturlücke öffnete. Deshalb entging  ihm, daß nicht nur die vier zurückgebliebenen  Fremden  eingeschleust  wurden.  Dutzende winziger  weißer  Gebilde  hatten  sich  an  die  Raumkapseln  der Vulnurer und Menizzas Anzug geheftet. Mehrere  Lichtminuten  entfernt  erfolgten  zwei  heftige 

Detonationen.  Mit  stoischem  Gleichmut  meldete  der Schiffscomputer  den  Verlust  zweier  der  ausgesetzten  Robotbojen. Die Ursache der Explosion war ungeklärt. Palterwahn glaubte nicht an einen Zufall. Er begann zu ahnen, daß 

mehr dahintersteckte, als es den Anschein hatte.   

*  Die  Sensoren  registrierten  die  Anwesenheit  eines  menschlichen Körpers,  ohne  jedoch  Atmungsaktivität  festzustellen.  Ihrem Programm folgend, lösten sie im Aufenthaltsraum Alarm aus. Genau  dreißig  Sekunden  vergingen,  bis  Doktor  Machon  in 

Begleitung eines Medoroboters das Krankenzimmer betrat. Der Anblick der  reglosen,  in  sich zusammengekrümmten Gestalt 

im  Raumanzug  entlockte  Machon  ein  entsetztes  Stöhnen.  Später konnte er sich weder an seine Gedanken erinnern, noch daran, was er zuerst getan hatte. Er mußte einfach  instinktiv gehandelt haben, 

und erst als der  leere Raumanzug neben  ihm  lag und er  feststellte, daß  Lara  zwar  bewußtlos  war,  aber  keine  körperlichen  Schäden davongetragen  hatte, wurde  er  ruhiger. Der Roboter  injizierte  ein kreislaufstabilisierendes  Mittel,  das  zugleich  die  Auswirkungen eines  möglicherweise  vorhandenen  Schocks  eindämmen  sollte. Laras Atemfrequenz wurde daraufhin regelmäßiger. Der  Arzt  nickte  zufrieden.  »Wir  müssen  Atlan  verständigen«, 

stellte er fest. »Das hast du bereits getan.« Machon blinzelte verwirrt, als ihm auffiel, daß der Interkom noch 

aktiviert war. Sanft  tupfte er Lara den Schweiß von der Stirn. Das Mädchen zitterte. »Wie geht es ihr?« Ohne  sich  zum  Schott  umzuwenden,  wußte  der  Arzt,  daß  nur 

Atlan  und  Tyari  den  Raum  betreten  haben  konnten.  »Sie  hat  das Bewußtsein noch nicht wiedererlangt«, antwortete er. »Wo ist Menizza?« »Ich weiß es nicht.« Langsam erhob Machon sich; sein Blick streifte 

den Arkoniden nur flüchtig, wobei er es vermied, ihm in die Augen zu schauen. »Du machst mir Vorwürfe?«  fragte Atlan  bitter.  »Ich  kann  dich 

sogar verstehen.« »Wirklich?« mehr sagte der Arzt nicht. Doch in diesem einen Wort 

drückte sich seine ganze Sorge aus. »Seine Aufgabe ist es, Menschenleben zu schützen«, flüsterte Tyari 

so  leise,  daß  Machon  sie  nicht  verstehen  konnte.  »Er  fürchtet, versagt  zu  haben, weil  er  dir  gegenüber  nicht  konsequent  genug seine Meinung vertreten hat.« »Das ist doch Blödsinn.« »Er läßt sich die Verantwortung nicht abnehmen.« »Lara braucht  jetzt Ruhe«, bestimmte der Arzt. »Verlaßt bitte den 

Raum.« »Ich warte hier«, begann Atlan, wurde aber schroff unterbrochen. 

»Wenn sich ihr Zustand gebessert hat, werde ich dich rufen.«   

*  In dem Moment, in dem Lara verschwand, wußte Menizza, daß die Freundin  auf  die  SOL  zurückgekehrt war.  Sie  selbst  konnte  dem Traktorstrahl nicht mehr entkommen, der sie und die Vulnurer auf das riesige Zeckenschiff zu zog. Menizza schätzte dessen Länge auf mindestens 1.500 Meter. Dicht  an  dicht  hingen  die  weißen  Äste  an  den  Kapseln  der 

Bekehrer. Auch  an  ihrem  Raumanzug  hatten  sie  sich  festgesaugt. Dabei  fühlte  das  Mädchen  sich  in  keiner  Weise  bedroht  –  eher erschien es ihr, als weile etwas Vertrautes in der Nähe. Eine  Schleuse  dicht  unterhalb  des  Zeckenkopfes  öffnete  sich. 

Skurril  anmutende  Roboter  schleppten  die  Gefangenen  tiefer  ins Schiff hinein. Menizza versuchte zwar, sich so viel wie möglich von der ungewohnten Umgebung einzuprägen, doch der wabenförmige Aufbau  eines  Großteils  der  Gänge  und  Räumlichkeiten  verwirrte nur und machte es unmöglich, sich zurechtzufinden. Mehrmals  konzentrierte  sie  sich  auf  die  SOL.  Aber  irgendein 

äußerer Einfluß hinderte sie daran zurückzukehren. Enttäuscht und voll böser Vorahnungen gab sie es schließlich auf. Die  Kammer,  in  die  die  Roboter  sie  einschlossen,  war  wie  ein 

fugenloser,  kahler Würfel  mit  zehn  Meter  Kantenlänge  und  nur einem einzigen Zugang. Woher das  trübe, milchige Licht kam, das den  Raum  gleichmäßig  erhellte,  ließ  sich  nicht  erkennen.  Es zeichnete keine Schatten und schmerzte den Augen,  je  länger man ihm ausgesetzt war. Die  Kontrollskalen  ihres  Raumanzugs  zeigten  Menizza  eine 

atembare Atmosphäre  ohne  schädliche  Beimengungen;  sie  öffnete ihren Anzug und bedeutete den Vulnurern, das gleiche zu tun. Die weißen  Äste  waren  von  den  Robotern  offenbar  nicht  als 

eigenständige Geschöpfe  identifiziert worden.  Erst  jetzt  begannen die ersten von  ihnen sich zu bewegen. Menizza  fragte sich, welche Absichten  diese  Lebewesen  verfolgten,  die  sich  anscheinend  im Vakuum  nicht  minder  wohl  fühlten  als  in  einer  normalen Sauerstoffumgebung. »Die  Lichtquelle  hat  sich  von  uns  zurückgezogen«,  sagte Ouou. 

»Unsere Existenz ist damit sinnlos geworden.« »Du  redest Unsinn«,  fuhr Menizza auf. »Wer gibt dir das Recht, 

deswegen zu verzweifeln?« »Du weißt  nicht, was  die  Lichtquelle  für  unser Volk  bedeutet«, 

warf ein anderer Vulnurer ein. Oh doch, wollte Menizza sagen, die Solaner haben es uns Kindern 

von  Solist  erzählt. Aber  sie  kam  nicht  dazu, weil  das  Schott  sich öffnete und Roboter  hereinschwebten. Mit  ihren  langen Tentakeln ergriffen  sie  einen  der  Vulnurer,  der  sich  soeben  erst  aus  seiner Kapsel befreit hatte, und  schleppten  ihn  trotz heftiger Gegenwehr davon. »Was  habt  ihr mit  uns  vor?«  rief Menizza  ihnen  nach  –  freilich 

ohne eine Antwort zu erhalten. »Willst du  es wirklich wissen?«  fragte Ouou  tonlos, und  als das 

Mädchen heftig nickte,  fügte  er hinzu: »Es  ist nur  logisch, daß  sie Untersuchungen anstellen, um herauszufinden, was sie eingefangen haben.«   

*  Regungslos  blickte Palterwahn  auf den Bildschirm, der  eben noch das  starre  Gesicht  von  211‐Page  gezeigt  hatte.  »Abwarten«, wiederholte  er  wütend.  »Weshalb  erhalte  ich  keine  Verstärkung, wenn  der  Rat  ebenfalls  mit  dem  baldigen  Auftauchen  von Angreifern rechnet?« Die dritte Robotboje funkte Notsignale. Allem Anschein nach war 

sie  in  einen  Meteoritenschwarm  geraten,  aus  dem  sie  sich  mit eigener  Kraft  nicht  befreien  konnte.  Sekunden  später  brach  der Kontakt  ab  und  war  nicht  wiederherzustellen.  Damit  hatte  sich innerhalb kürzester Zeit die Anzahl der ausgesetzten Bojen um ein Drittel reduziert. Zufall? 451‐Page glaubte nicht daran. Vorübergehend wurde  er  abgelenkt, weil die Roboter mit  einem 

der  Gefangenen  das  Analysezentrum  betraten.  Um  die Untersuchungen in Ruhe durchführen zu können, war es nötig, das insektoide  Lebewesen  zu  betäuben.  Aber  noch  wurde  es  nicht seziert.  Palterwahn  begnügte  sich  vorerst  damit,  Blut‐  und Gewebeentnahmen  sowie  die  Anfertigung  von  Zelldiagrammen anzuordnen.  Insbesondere  die  gepanzerte  Körperstruktur  weckte sein Interesse. Während  dieser  Zeit  fiel  eine weitere  Boje  aus.  Für  Palterwahn 

wurde es zur Gewißheit, daß der Gegner dabei die Hände im Spiel hatte. Dennoch zögerte er, den Rat der Pagen von diesen Vorfällen in Kenntnis  zu  setzen.  Solange  das  Schiff  nicht  direkt  angegriffen wurde, mußte  er  selbst  damit  fertig werden.  Er  ließ  ein Dutzend weiterer  Bojen  mit  Schirmfeldaggregaten  ausstatten  und ausschleusen. Die  Auswertung  der  Gewebeuntersuchungen  brachte  eine 

Überraschung, mit der er nicht gerechnet hatte. Es gab keine Zweifel daran, daß  zwischen dem  Fremden und den Zyrtoniern  eine  sehr große  biologische  Ähnlichkeit  bestand.  Hinsichtlich  etlicher Blutwerte gab es sogar eine Duplizität, über die man sich unmöglich hinwegsetzen  konnte. Die  einzig  logische  Folgerung war  die,  daß die  Fremden  von  den  Zyrtoniern  abstammten.  Das  kam  beinahe einer Sensation gleich, die Palterwahn zwang, umgehend mit seiner Heimatwelt in Verbindung zu treten. Er  hatte  kaum  berichtet,  als  die  Bildverbindung  durchgeschaltet 

wurde.  Daß  1‐Page  auf  dem  Schirm  erschien,  sprach  für  die Wichtigkeit  der  Erkenntnisse.  Palterwahn  fühlte  seine  Gelenke zittern, als 1‐Page ihn ansah. 

»Du mußt alle Wesen dieser Art sofort  töten und das Gebiet der Sonne Yeith verlassen. Wir werden den gesamten Raumsektor von der Namenlosen Zone abkapseln, denn eine Stelle, an der Vulnurer eindringen  können,  bedeutet  enorme  Gefahr.«  Ohne  weitere Erklärung  löschte 1‐Page die Verbindung. Dabei  lagen Palterwahn so viele Fragen  auf der Zunge. Auch wenn niemand  es  je gewagt hatte,  einem Befehl des Rates  zu widersprechen,  er war neugierig und  verärgert  zugleich,  weil  das  den  Abbruch  seiner Untersuchungen bedeutete. Außerdem erschienen ihm die Fremden harmlos – nicht nur, weil sie unbewaffnet waren. Palterwahn ahnte, daß der Zufall ihn einem der großen Geheimnisse seines Volkes auf die Spur geführt hatte.   

*  »Manchmal  ist  es  schwerer,  dich  zu  finden,  als  eine  Nadel  im Heuhaufen«,  stellte  Blödel  fest. Dabei  hätte  es  nur  einer  einzigen Anfrage bei SENECA bedurft, um zu erfahren, daß Atlan und Tyari sich in der Zentrale der SZ‐2 aufhielten. »Daß dieser Doktor Machon dich absichtlich warten läßt, ist klar«, fuhr der Scientologen‐Roboter in spöttischem Tonfall fort. »Ich komme eben von Lara. Sie ist noch schwach auf den Beinen, aber einigermaßen wieder ansprechbar.« »Was hat sie gesagt?« wollte der Arkonide wissen. Wenn der Roboter in der Lage gewesen wäre, zu lächeln, hätte er 

dies  jetzt  sicherlich  getan.  »Immer der Reihe nach«,  sagte  er.  »Ich habe  dir  einen Vorschlag  zu  unterbreiten. Hage meinte  zwar,  du wirst mich  nicht  für  voll  nehmen,  aber  gerade deshalb mußte  ich erst mit Lara sprechen.« Atlan schürzte die Lippen. Weil er wußte, daß Blödel nicht  lange 

hinter dem Berg halten konnte, schwieg er. »Hast  du  wirklich  kein  Interesse  daran?«  fragte  der  Roboter. 

»Willst du nicht wissen, welch geniale Idee …?« 

»Ist sie von dir?« »Naja«, machte Blödel. »Von wem dann?« Vermutlich  war  es  eine  Geste  der  Verlegenheit,  daß  er  seine 

Tentakelarme  um  den  röhrenförmigen  Körper  wickelte.  »Borallu glaubt, wenn man alle heimatsüchtigen BRISBEE‐Kinder auf einem Kreuzer  versammelt,  reicht  deren Affinität  zur Namenlosen  Zone aus, um das ganze Schiff  in die Nähe Menizzas oder zumindest  in die Namenlose Zone zu versetzen. Selbstverständlich«, fügte Blödel rasch  hinzu,  »haben  ich  und  Hage  dem  Zyrtonier  bei  der Ausarbeitung dieser Idee wichtige Impulse vermittelt.« »Du bist ebenfalls der Meinung, ein solches Vorhaben könnte zum 

Erfolg  führen?«  Atlan  gab  sich  keine  Mühe,  seine  Skepsis  zu verbergen. »SENECA, was hältst du davon?« »Das  ist  unlogisch«,  lautete  die  Antwort  der  Hyperinpotronik. 

»Allein  die  Masseverhältnisse  lassen  ein  solches  Unternehmen scheitern.« »Die  Kräfte  der  Kinder  potenzieren  sich  in  der  Gemeinschaft«, 

widersprach Blödel. »Das ist einwandfrei berechnet.« »Von wem?« wollte Tyari wissen. »Borallu behauptet es.« »Du  hast  gehört,  wie  SENECA  dazu  steht.«  Atlans  schroffe 

Handbewegung duldete keinen Widerspruch. »Dann willst du Menizza und drei junge Vulnurer schutzlos in der 

Gewalt der Zyrtonier zurücklassen.« »Wie kommst du darauf?« machte der Arkonide erstaunt. »Lara  hat  es  mir  erzählt.  Sie  sagte  etwas  von  einer  riesigen 

Raumzecke, der nur sie entkommen konnte.«   

*  »Diese Äste sind auch an Bord unserer Heimatschiffe aufgetaucht«, 

erklärte  Ouou.  »Wir  können  nun  ziemlich  sicher  behaupten,  daß zwischen  ihnen und uns  eine Wechselwirkung besteht. Aber ohne Schutzkapseln müssen die vor uns verschwundenen Vulnurer sofort gestorben sein.« Menizza war mit dem Phänomen vertraut, daß  frisch geschlüpfte 

Bekehrer  bereits  über  ein  beträchtliches  Wissen  verfügten  –  als würden sie durch die Eischale hindurch alles aus  ihrer Umgebung aufnehmen. Sie dachte an die SOL. Und während sie dabei einen der Äste musterte, verschwand dieser von einem Moment zum anderen. Minuten vergingen, ohne daß er zurückkehrte. »Was  hast  du  vor?«  fragte  Ouou,  als  Menizza  von  ihrer 

Kombination einen schmalen Streifen Stoff abriß und einen zweiten Ast damit umwickelte. Sekunden später war ihre Hand leer. »Glaubst du, deine Freunde finden einen Weg, um uns zu helfen?« 

Ouous Fühler bewegten sich unruhig. »Wir müssen  es  hoffen. Hier  kommen wir  von  allein  jedenfalls 

nicht heraus.« Mehrfach  hatten  die  Vulnurer  jeden  Zentimeter  Wandfläche 

abgetastet,  ohne  einen  Öffnungsmechanismus  aufzuspüren. Wahrscheinlich gab es keinen. Das Mädchen  zuckte  zusammen,  als  ein  leises  Summen  hörbar 

wurde,  das  sich  ihrem  Gefängnis  näherte.  Sie  hatte  nicht  damit gerechnet, daß die Roboter so bald wiederkommen würden. »Wen von uns holen sie diesmal?« Ouou sprach aus, was Menizza 

krampfhaft zu denken vermied. Nach allem, was sie bisher von den Zyrtoniern wußte, mußte sie das Schlimmste befürchten. Einige Äste  breiteten  ihre Hautlappen  aus  und  schwebten  zum 

Schott, über dem sie sich festsaugten, während es aufglitt. Eine der bereits bekannten skurrilen Maschinen stakte auf Menizza zu, zwei weitere verharrten unmittelbar vor dem Raum. »Nein!«  schrie  das Mädchen  auf,  als metallene Greifklauen  sich 

um  ihre Arme schlossen. »Ich will nicht mit euch gehen!« Aber sie war zu schwach, um sich zu behaupten. 

In dem Moment griffen die Äste an, ließen sich einfach fallen. Wo sie  die  Maschinen  berührten,  begann  deren Oberflächenbeschichtung blasenwerfend zu verdampfen.  Innerhalb von Sekunden gerieten die empfindlichen Steuerungsmechanismen außer Kontrolle. Rückwärts  raste  einer der Roboter  auf den Gang hinaus, prallte heftig gegen die Wand und blieb bewegungsunfähig liegen. Menizza kam frei. »Raus hier!« rief Ouou ihr zu. »Wir müssen Zeit 

gewinnen.« Ohne  zu wissen, wohin  sie  sich wenden  sollten, hetzten  sie den 

Korridor  entlang, wählten blindlings  irgendwelche Abzweigungen und  vertrauten  sich  schließlich  einem Antigravschacht  an, den  sie fünf Decks  tiefer wieder  verließen.  Schier  endlose Containerstapel legten  die  Vermutung  nahe,  daß  die  Laderäume  der  Raumzecke erreicht waren. Da noch  immer keine Verfolger auftauchten, durfte man sich einigermaßen sicher fühlen. »Wir  brauchen Waffen«,  sagte  Ouou.  »Andernfalls müssen  wir 

uns hier verbergen.« »Und?«  schnaufte  Menizza,  noch  immer  außer  Atem.  »Was 

mißfällt dir daran?« »Der  Gedanke,  daß  die  Roboter  uns  irgendwann  aufspüren 

werden.  Wir  haben  nur  dann  eine  reelle  Chance,  wenn  wir  sie überraschen.« Das war  einleuchtend. Außerdem  hatten  die Äste  sich  auf  ihre 

Seite  gestellt.  Von  Anfang  an  schien  das  Handeln  dieser eigenartigen  Geschöpfe  nach  einem  ganz  bestimmten  Plan abzulaufen.  Menizza  bedauerte,  daß  eine  Verständigung  bislang nicht möglich war. Sie vollführte eine umfassende Handbewegung, die  alle  Containerstapel  mit  einbezog.  »Ich  fürchte,  wir  werden Stunden benötigen, um wirklich Waffen zu finden.« Die Vulnurer hatten bereits damit begonnen, die ersten Behältnisse 

zu öffnen. Mit  ihren Kieferzangen  fiel  es  ihnen  leicht, die dünnen Plastikwände  aufzuschlitzen.  Sie  fanden  eine  Vielzahl 

verschiedenster  Maschinenteile,  deren  Verwendung  zunächst unklar blieb. Erst nach und nach kristallisierte sich heraus, daß dies die  Bauteile  zeckenartiger  Roboter  waren,  von  denen  jeder vermutlich bis zu vier Metern groß wurde. Mit  einemmal  hielt Ouou  inne  und  richtete  sich  auf.  Sein  Blick 

verlor sich irgendwo hinter Menizza. Nichts  Gutes  ahnend,  wandte  das  Mädchen  sich  um.  Die 

aktivierten  Abstrahlmündungen  der  Waffenarme  etlicher Kampfmaschinen machten jede Hoffnung zunichte.   

*  Der  kleine  Konferenzraum  der  Medostation  war  hoffnungslos überfüllt. Doch daran störte sich im Augenblick niemand. Lara schwebte auf einer Antigravbahre fast zwei Meter über dem 

Boden.  Sie  erholte  sich  zusehends  von  ihrem  Erlebnis  in  der Namenlosen Zone, und  je  länger sie berichtete, desto mehr bewies sich,  daß  sofortiges  Handeln  geboten  war.  Desmons,  Dylas  und Monares  Erzählungen  wurden  weitgehend  bestätigt  –  jetzt  stand einwandfrei  fest,  daß  die  Verschwundenen  die  Namenlose  Zone erreicht  hatten.  Dort  allerdings  schien  der  potentielle  Gegner inzwischen  Lunte  gerochen  zu  haben.  Wie  anders  war  die Anwesenheit  einer  mindestes  1.500 Meter  großen  Raumzecke  zu erklären? »Womöglich handelt es sich um die Vorhut einer größeren Flotte«, 

gab Atlan zu bedenken. »Die Zyrtonier sind gewarnt. Vorausgesetzt, wir schaffen es wirklich, mit der MJAILAM …« »Wir  schaffen  es«,  unterbrach  Blödel.  »Vergiß  endlich  deine 

Zweifel.« »Also  gut«,  seufzte  Atlan.  »Falls wir mit  der MJAILAM  in  die 

Namenlose  Zone  gelangen,  müssen  wir  damit  rechnen, augenblicklich  von mehreren  Seiten  unter  Beschuß  genommen  zu 

werden.« Er  fühlte sich mehr und mehr  in die Defensive gedrängt, weil  er  das  für  die  Kinder  entstehende  Risiko  ablehnen  mußte. Dabei war gerade er daran interessiert, einen Weg in die Namenlose Zone zu finden. Das Ganze wurde zu einem Teufelskreis. Du vergißt Menizza und die drei Vulnurer, wisperte der Extrasinn. In deiner übertriebenen Vorsicht setzt du ihr Leben aufs Spiel. »Ich  bin  dafür,  daß wir  den  Versuch wagen«,  hörte  Atlan  sich 

sagen.  »Aber  lediglich mit  einer  Space‐Jet  und  drei  oder  vier  der BRISBEE‐Kinder.  Falls  etwas  schiefläuft,  sind  wir  dann  nicht unwiderruflich abgeschnitten.« »Du  irrst  dich«, warf  Borallu  ein.  »Der  erhoffte Mitnahmeeffekt 

läßt  sich  nur  erreichen,  wenn  alle  Kinder  versammelt  sind.  Und dabei  ist  ein  Kreuzer  wie  die  MJAILAM  das  größte  zu transportierende Objekt und zugleich am schlagkräftigsten,  falls es zu einem bewaffneten Konflikt kommt.« »Achtung!« schnarrte Blödel. »Da ist etwas.« Neben  der  Antigravliege  flimmerte  in  einem  eng  begrenzten 

Bereich die Luft. Innerhalb von Sekundenbruchteilen materialisierte aus  einem durchscheinenden Nebel heraus  einer der weißen Äste, schwebte zu Lara und verharrte dicht über  ihr. Das bunte Schillern seiner Hautlappen wirkte überaus intensiv. »Ich  denke,  Desmon  hält  diese  gefährlichen  Wesen  in  deinem 

Labor  zusammen«,  wandte  Machon  sich  an  den  Scientologen Nockemann. »In  Gegenwart  der  Kinder  und  von  Borallu  sind  sie  harmlos«, 

erwiderte  Blödel  an  Stelle  seines  Herrn.  »Wenn  wirklich  einer entkommt, ist das nicht weiter tragisch.« Hage Nockemann nickte beifällig. »Gerade weil diese Gebilde sich 

bislang  jeder  gezielten  Untersuchung  entziehen  konnten, müssen wir davon ausgehen, daß es sich um höherentwickelte Lebewesen, vielleicht  sogar  um  echte  Intelligenzen  handelt.  Wir  wissen inzwischen, daß sie aus der Namenlosen Zone stammen und daß ihr erstes Auftreten  an  Bord  der  SOL wohl  einem  unbewußten  Sich‐

Entwickeln  der  besonderen  Kräfte  unserer  BRISBEE‐Kinder zuzuschreiben  ist.  Das  sogenannte  Extrem‐Heimweh  muß  in gewissem  Sinne  eine  Perforation  unseres  Raum‐Zeit‐Gefüges bewirkt haben.« »Also  mehr  oder  weniger  eine  Wechselwirkung,  die  den 

Austausch  materieller  Bestandteile  beider  Kontinua  ermöglicht?« wollte Bjo Breiskoll wissen. »Ungefähr  so,  wie  Wärme  immer  das  Bestreben  hat,  einen 

Temperaturausgleich  herbeizuführen  und  dabei  so  lange  von  der wärmeren zur kälteren Seite fließt, bis ein Temperaturgleichgewicht erreicht  ist«,  vermutete  Tyari.  »Ich  will  damit  sagen,  daß  die energetischen Bestrebungen innerhalb der Namenlosen Zone darauf ausgerichtet sind, sich dem Einsteinraum anzugleichen. Warum das allerdings  nicht  geschieht,  ist  eine  Frage,  deren  Lösung  bei  den Schockfronten und den Zyrtoniern zu suchen sein dürfte.« Ein graugrünes Gebilde materialisierte,  in dem man erst auf den 

zweiten Blick einen weiteren Ast erkennen konnte. »Wir haben ein neues  Besatzungsmitglied«,  stellte  Blödel  fest.  »Der  Stoff  stammt einwandfrei von einer Bordkombination.« »Menizza will uns damit ein Zeichen geben«, behauptete Lara. »Dann  dürfen  wir  nicht  länger  warten«,  pflichtete  Hage 

Nockemann  bei.  »Jede Minute  ist  verlorene Zeit.  Tyari,  Bjo,  ist  es euch möglich, wenigstens  einzelne Gedankengänge unserer neuen Freunde zu erfassen?« Breiskoll  schüttelte  den  Kopf.  »Entweder  verstehen  sie  es 

hervorragend, sich abzuschirmen, oder aber sie denken in uns völlig fremden Bahnen.« »SENECA«, wandte Atlan  sich an die Hyperinpotronik der SOL. 

»Wie hoch  schätzt du mögliche Erfolgsaussichten eines Fluges mit der MJAILAM ein?« Die  Antwort  kam  prompt,  und  eigentlich  hatte  der  Arkonide 

nichts  anderes  erwartet:  »Das  genannte  Unternehmen  ist  von  zu vielen  unwägbaren  Faktoren  abhängig.  Unter  diesen  Umständen 

sprechen nach wie vor 97,8 Prozent für ein Mißlingen.« Atlan wußte, daß die Entscheidung nun einzig und allein bei ihm 

lag. Selten war ihm ein Entschluß ähnlich schwergefallen. Er mußte an  das  Ziel  denken,  das  er  anstrebte,  an  die  Koordinaten  von Varnhagher‐Ghynnst. Warum meldete Chybrain sich nicht mehr? Ein altes terranisches Sprichwort besagt, daß ein Ertrinkender sogar nach einem Strohhalm greift, spottete der Extrasinn. Du glaubt, ich bin dieser Ertrinkende? Bist du anderer Meinung? »Gut«, nickte Atlan.  »Wir  starten mit der MJAILAM,  sobald die 

BRISBEE‐Kinder  an  Bord  sind.  Ich  nehme  an,  daß  alle  hier Anwesenden den Flug mitmachen werden.« »Selbst auf die Gefahr hin, daß wir in der Hölle landen«, bestätigte 

Hage Nockemann.   

*  »Warum liegt uns die Durchführungsmeldung von Palterwahn noch nicht vor?« 2‐Page deutete auf die dreidimensionale Projektion eines relativ großen Raumsektors, in dem sich das Gebiet der Sonne Yeith besonders abzeichnete. »Palterwahn  ist  uns  als  überaus  zuverlässig  und  gewissenhaft 

bekannt«,  erwiderte  3‐Page.  »Ich  bin  überzeugt  davon,  daß  seine Meldung sehr bald eintreffen wird.« »,Sehr baldʹ  ist  zu  spät«,  fauchte  1‐Page  aufgebracht.  »Etwas hat 

nicht  in  unserem  Sinn  funktioniert. Deshalb müssen wir  ihn  und sein Schiff aufgeben und das Gebiet, in dem er sich befindet, sofort durch Aktivierung von der Namenlosen Zone abtrennen.« 2‐Page  vollführte  eine  zustimmende  Geste.  »Für  Palterwahn 

bedeutet  dies  das  Todesurteil«,  stellte  er  emotionslos  fest.  »Aber vermutlich  unterliegt  er  inzwischen  ohnehin  einem  falschen Einfluß.« 

Es  gab  nichts  mehr  zu  besprechen.  1‐Page  wartete  mit offensichtlicher Ungeduld, bis das Schott sich hinter 2‐Page und 3‐Page geschlossen hatte und nahm dann eine Reihe von Schaltungen vor.  Auf  einem  Bildschirm  erschien  das  Symbol  einer  stilisierten Zecke. Niemand außer 1‐Page kannte es, und niemand wußte, daß sein  unsichtbar  bleibender  Gesprächspartner  überhaupt  existierte. »Null‐Page«,  sagte er  in demütig gedämpftem Tonfall. »Wie du es verlangt hast, werden wir den Sektor der Sonne Yeith nun von der Namenlosen Zone abtrennen.« »Gut«,  erwiderte  eine  bis  zur Unkenntlichkeit  verzerrte  Stimme. 

»Ich erwarte den umgehenden Vollzug.«   

7.  Von  ihren  Antigravfeldern  getragen,  schwebte  die  MJAILAM langsam  aus  dem Hangar.  Uster  Brick  flog  eine  Position  an,  die sowohl  von  der  SOL  als  auch  den  Heimatschiffen  jeweils  fünf Lichtminuten entfernt war. Unbewegt stand Atlan vor dem Panoramaschirm  in der Zentrale. 

Wenn das Experiment Erfolg hatte, würden die unzähligen Sterne einer grenzenlos scheinenden Leere weichen. »Alle sind zuversichtlich«, sagte Tyari  leise. »Daß wir neben den 

Kindern  sämtliche  Äste  an  Bord  haben,  hält  Borallu  für  einen zusätzlichen Stabilisierungsfaktor.« Der  Arkonide  zuckte  kurz  zusammen,  hatte  sich  aber  sofort 

wieder unter Kontrolle. Dennoch hatte sich etwas verändert. Tyari, die  ihn von der  Seite her musterte,  entging nicht, daß  seine Lider zuckten und seine Augäpfel sich heftig bewegten, als folge er einem für  sie  unsichtbaren  Geschehen.  Atlan  sah  sie  zögernd  auf  sich zukommen,  während  ringsum  die  Umgebung  in  erschreckender Veränderung begriffen war. Im nächsten Moment hielt die Frau einen Strahlenkarabiner in Händen; 

ihre  Finger  umkrampften  den  Abzug,  daß  die  Knöchel  bleich  durch  die Haut schimmerten. Atlan spürte das Unwirkliche der Situation, konnte sich aber nicht 

dagegen wehren. Der Extrasinn schwieg. Es war, als entstünden die Bilder aus seinem Innern. Ein heiseres Krächzen ließ mich aufschauen. Obwohl ich wußte, wonach ich  zu  suchen  hatte,  entdeckte  ich  Ticker,  den  Adlerähnlichen  vom Arsenalplaneten,  keineswegs  auf  Anhieb.  Das  Tier  hatte  seine  Gefieder nahezu  vollständig  der  Färbung  der  rotbraunen  Gesteinsschichten angepaßt, die das unterirdische Höhlensystem durchzogen. »Sie werden gleich wieder angreifen«, sagte Tyari unvermittelt. »Kannst du inzwischen ihre Gedanken erkennen?« »Nur  dumpfe  Emotionen.  Die  Psi‐Paralyse  des  Roboters  läßt  mich schaudern.« Ich nickte flüchtig, wobei ich mich zum wiederholten Male fragte, wo wir uns eigentlich befanden. Ich wußte nur, daß Tyari, Ticker und ich uns auf einer  unbekannten Welt  aufhielten.  Irgendwann  in  der  Zukunft  –  aber nicht  einmal  das  stand  fest. Was war  aus  der SOL  geworden?  Ich  hatte ebenfalls  keine  Ahnung  und  machte  den  gegnerischen  flugfähigen Kleinroboter für meine Erinnerungslücken verantwortlich. Tyaris panische Angst vor dieser Maschine hatte längst auf mich übergegriffen. Flügelschlagend  ließ  Ticker  sich  nieder;  das  mächtige  Tier  besaß immerhin  eine  Spannweite  von  fast  vier Metern.  Ich  erkannte,  daß  der Adler  eine  der  letzten  uns  verbliebenen  Lähmbomben  aufnehmen wollte, um  sie  gegen  die  Angreifereinzusetzen.  Meine  gedankliche  Warnung konnte Ticker jedoch nicht aufhalten. Der Adler hatte das Ende der Höhle  fast erreicht, da  tauchte aus einem der  in die Tiefe  führenden Stollen der kaum  fünfzig Zentimeter messende Roboter  auf.  Tyari  schrie,  als  die  Ausläufer  der  sich  wellenförmig ausbreitenden  Psi‐Paralyse  sie  ebenfalls  erreichten.  Ticker  verlor  in  dem Moment nicht nur  seine Mimikry‐Fähigkeit,  sondern  auch  seine  anderen besonderen Kräfte. Zu einem normalen Vogel geworden, suchte er sein Heil in der Flucht. Der Roboter folgte ihm, in seinen winzigen Tentakeln hielt er 

eine bogenförmige Waffe. Nur Sekunden später stürzte Ticker, von einem stählernen Pfeil getroffen, wie ein Stein zwischen die sich heranwälzenden Angreifer.  Die  detonierende  Lähmbombe  verschaffte  Tyari  und  mir  ein wenig Luft. Ungeachtet  ihrer  eigenen Sicherheit  sprang Tyari auf und  stürmte vor. Ihr Strahlenkarabiner säte Tod und Verderben, dann fand sie das Ziel, das sie  gesucht  hatte. Der  Schutzschirm  des Roboters  glühte  zwar  auf,  hielt jedoch stand.  Ich  feuerte  ebenfalls. Erst als unsere Waffenstrahlen sich  in einem Punkt vereinigten, verging der Roboter. In dem Augenblick, da die Angreifer sich zurückzogen, wurde mir klar, daß wir vorerst gesiegt hatten. Leider um  einen hohen Preis. Ticker, uns längst zu einem treuen Gefährten geworden, war tot. Schlagartig  veränderte  sich  die  Realität  zum  zweitenmal.  Atlan 

sah  auf  dem  Panoramaschirm  die  SOL  nur  mehr  als  winzigen Lichtpunkt.  Innerlich  aufgewühlt, wich  er  Tyaris  fragendem  Blick aus. Hatte er geträumt? Mit offenen Augen? Es war eine Vision,  ließ der Extrasinn  ihn wissen. Aber was  bedeutete  sie? Eine Warnung vor  dem,  was  ihn  in  der  Namenlosen  Zone  erwartete,  falls  der Durchbruch  gelang?  Entsetzt  dachte  Atlan  daran,  daß  Ticker tatsächlich auf der MJAILAM mitflog. Bevor er aus naheliegenden Gründen den einstweiligen Abbruch 

des Experiments befehlen konnte, wechselte auf den Schirmen die Umgebung.   

*  Irgend etwas  in  ihm war zerbrochen – etwas, was  ihm als Maßstab gedient  hatte,  so  lange  er  denken  konnte.  451‐Page  Palterwahn konnte  sich die Veränderung  nicht  erklären, die mit  ihm  vor  sich ging. Auf den Schirmen der Bordüberwachung verfolgte er, wie die entflohenen Gefangenen von Robotern gestellt wurden. Obwohl er sich  selbst  darüber  wunderte,  befahl  er,  sie  in  die  Zentrale  zu 

bringen.  Desgleichen  den  dritten  Vulnurer  aus  dem Analysezentrum. Alarmsirenen  schrillten  auf.  Palterwahn  brauchte  nur  einen 

flüchtigen Blick auf die Ortungsschirme zu werfen, um zu erkennen, was  geschah.  Hauchdünn  anmutende,  netzartige  Erscheinungen weiteten  sich  rasend  schnell  aus. Der  Rat  der  Pagen  hatte  damit begonnen, das Gebiet der  Sonne Yeith  von der Namenlosen Zone abzuriegeln. »Fluchtgeschwindigkeit!« ordnete Palterwahn an. »Wir  können  nicht  entkommen«,  antwortete  das  Schiff.  »Dem 

Programm folgend, wurde die Selbstzerstörungsanlage aktiviert. Ich darf dem Gegner nicht in die Hände fallen.« »Du mußt die Vernichtung rückgängig machen!« fuhr Palterwahn 

auf. »Die  Befehlsgewalt  ist  dir  ab  Aktivierung  entzogen.  Das 

Programm …«  451‐Page  hörte  schon  nicht mehr  hin.  Ihm  blieben noch  30  Minuten.  Aber  konnte  er  die  Zerstörung  des  Schiffes verhindern? Der Rat der Pagen würde  ihn  sicherlich  nicht  einmal mehr anhören. Sie laden neues Unrecht auf sich, durchzuckte es ihn. Was waren das  für Gedanken? Eine Weile  stand  er wie  erstarrt, 

dann  schüttelte  er  sich  heftig.  Besaßen  die  Vulnurer  versteckte Waffen, mit denen sie ihn beeinflussen konnten? Ein  Roboter  brachte  den Gefangenen  aus  dem Analysezentrum. 

Die  unmittelbare  Konfrontation  mit  dem  Fremden  ließ  in Palterwahn Gefühle  aufbrechen, die  er  nie  gekannt  hatte. Wie  ein Zwang kam es über ihn, alles Gewesene abzustreifen. Noch fünfzehn Minuten bis zur Selbstzerstörung des Schiffes … »Geh!«  sagte Palterwahn plötzlich.  »Du und deine  Freunde  seid 

frei. Verlaßt das Schiff so schnell ihr könnt, oder ihr werdet mit ihm untergehen.« Der Vulnurer  ließ keine Regung  erkennen. Offenbar hielt  er das 

Ganze für eine Falle. »Ich danke dir und den anderen«, fuhr Palterwahn fort. »Vielleicht 

ohne  es  zu wissen oder  zu wollen, habt  ihr mir kurz vor meinem Tod die wahre Erkenntnis über Gut und Böse vermittelt. Ich glaube, daß  allein  eure  Anwesenheit  auf  dem  Schiff  meine  Gefühle verändert  hat.«  Abrupt  wandte  er  sich  um  und  gab  die erforderlichen  Befehle  an  seine  Roboter  weiter.  Die  Maschinen würden die Gefangenen zu ihren Raumkapseln bringen. Als er kurz zum Schott blickte, war der Vulnurer verschwunden. Palterwahn  lächelte  zufrieden.  Zum  erstenmal  in  seinem  Leben 

fühlte  er  sich  frei.  Selbst  das  nahende  Ende  seiner  Existenz  war vergessen.   

*  Das  an‐  und  abschwellende  Heulen  des  von  der  Bordpositronik ausgelösten Distanzalarms übertönte die ersten  freudigen Ausrufe. Die MJAILAM hatte es zwar geschafft, sie befand sich innerhalb der Namenlosen Zone,  aber  auf  den  Bildschirmen  und  den Ortungen zeigte  sich  eine  gewaltige  Schockfront,  die  ein  im  Vergleich  zum Kreuzer  riesiges  Zeckenschiff  der  Zyrtonier  einschloß.  Die Schockfront war instabil – sonst hätte es keine Möglichkeit gegeben, sie zu orten, außer durch die Buhrlos. »Die  Überreste  eines  Planeten  schwirren  durch  den  Raum«, 

meldete Uster Brick vom Pilotenpult. »Greifen wir an?« »Atlan!« schrie Desmon gequält auf. »Meine Freunde …« Der Arkonide wirbelte herum. Entsetzt sah er, wie der Junge sich 

zusammenkrampfte.  Das  Blut war  fast  völlig  aus  seinem  Gesicht gewichen;  er zitterte und begann um  sich zu  schlagen, als  jemand ihm helfen wollte. Aus seinem Mund kamen röchelnde Laute. Laute, wie Atlan sie vor nicht allzu langer Zeit vernommen hatte. »Ich  freue mich, euch noch einmal zu  sehen«,  sagte Desmon mit 

völlig veränderter Stimme. »Du  bist  der‐mit‐dem‐unaussprechlichen  Namen?«  erinnerte 

Atlan sich. »Desmons Emulator, oder vielmehr das, was von meiner einstigen 

Daseinsform noch übrig ist«, wurde ihm bestätigt. »Keiner von uns wollte sein Leben auf Solist beenden, ohne ihm einen letzten Sinn zu geben.  Deshalb  beschlossen  wir,  ein  zweites  Sonnensystem  von seiner Schockfront zu befreien. Wie du siehst, wäre uns dies beinahe gelungen.  Im  letzten Moment  zerstörte  jedoch  eine  Sicherung  der Zyrtonier  den  Planeten  und  verwandelte  Yeith  in  eine  Nova.« Desmon rang nach Luft. Das Sprechen überanstrengte ihn offenbar. Heiser  fuhr  er  fort:  »Die  Wesen,  die  ihr  Äste  nennt,  sind  die aggressiven Nachkommen der  früheren Planetenbewohner. Unsere Körper  starben auf  ihrer Welt, doch unseren Bewußtseinen gelang es, viele von ihnen zu übernehmen und zu beeinflussen. Aber auch das wird bald zu Ende sein, dann gehen wir für immer. Einige der Kinder spürten  intuitiv unsere Nähe und nannten die 

Äste  Freunde.  Wir  wollten  euch  und  den  Vulnurern  im  Kampf gegen die Zyrtonier beistehen. Es tut mir leid, daß wir das nun nicht mehr können.« Desmon brach bewußtlos zusammen. »Das  Schiff  verschwindet!«  rief  Brick.  Tatsächlich  begann  die 

Schockfront  sich  in  einem  nur  Sekunden  währenden  Vorgang aufzulösen. Danach war das All von samtener, lichtloser Schwärze, als  hätte  es  in  diesem  Abschnitt  nie  auseinandertreibende Bruchstücke eines Planeten, keine sich aufblähende Sonne und auch kein Zeckenschiff gegeben. Sämtliche Äste an Bord der MJAILAM wären ebenfalls verschwunden. Die  Ortungen  erfaßten  lediglich  vier  kleinere  Körper,  die 

zusammen  im Raum trieben. Es waren Menizza und drei Vulnurer in  ihren  Schutzkapseln,  die  in  fieberhafter  Eile  an  Bord  geholt wurden. Staunend hörten Atlan und seine Besatzung dann dem Bericht der 

Geretteten  zu,  vor  allem  welche  Reaktionen  die  Gegenwart  der jungen  Bekehrer  bei  Palterwahn  ausgelöst  hatte.  Der  Arkonide 

begann  zu  verstehen,  weshalb  die  Lichtquelle  auf  der  Basis  des Ersten  Zählers  so  sehr  gedrängt  hatte,  die  Vulnurer  in  die Namenlose Zone  zu  holen. Denn  diese  bildeten  offensichtlich  das entscheidende Gegengewicht zu den Zyrtoniern im Kräfteverhältnis zwischen Gut und Böse. Stunden  später  zeigte  keines  der  BRISBEE‐Kinder  noch 

Krankheitssymptome. Als  sie beschlossen, wieder  in der Nähe der SOL zu sein, genügte  ihr gemeinsamer Wille, um die MJAILAM  in den Einsteinraum zu versetzen. Mit  einer  gemurmelten  Entschuldigung  zog  Atlan  sich  zurück. 

Tyari  folgte  ihm  in  seine Kabine.  »Was  bedrückt  dich?« wollte  er wissen. »Die Vision  vom  Tod  Tickers«,  erwiderte  er  nach  anfänglichem 

Zögern.  »Sie  schwingt  immer  noch  in mir  nach,  als  hätte  ich  das Geschehen wirklich  erlebt.  Ich  frage mich, welche  Bedeutung  sie haben kann.« »Du  glaubst,  die  Emulatoren  wollten  dich  auf  diese  Weise 

warnen?« »Es wäre immerhin möglich. Aber ich tröste mich erst einmal mit 

dem  Gedanken,  daß  wir  in  den  BRISBEE‐Kindern  wieder  eine Möglichkeit haben, in die Namenlose Zone zu gelangen.«   

ENDE   Während an Bord der SOL Ruhe herrscht, gibt es Unruhe bei den Vulnurern. Die Auffindung einer seltsamen Skulptur alarmiert Atlan und seine Gefährten und führt schließlich zu einem weiteren Vorstoß in die Namenlose Zone – und zum Chaos um die Futurboje.  CHAOS  UM  DIE  FUTURBOJE  –  so  lautet  auch  der  Titel  des  nächsten Atlan‐Bandes. Der Roman wurde von Hans Kneifel geschrieben.