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Helmut Kohl Berichte zur Lage 1989–1998 Der Kanzler und Parteivorsitzende im Bundesvorstand der CDU Deutschlands Droste

Helmut Kohl Diese Edition der „Berichte zur poli

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Diese Edition der „Berichte zur poli-tischen Lage“, die Helmut Kohl als Bundeskanzler und Parteivorsitzender allmonatlich im Spitzengremium seiner Partei abgab, setzt 1989 ein, als sich die Nachkriegsordnung aufzulösen begann; sie reicht bis zur Bundestagswahl 1998, als die Ära Kohl endete. Die Auflösung des Ost-West-Gegensatzes, der Zerfall der Sowjetunion und die Überwindung der deutschen wie europäischen Tei-lung veränderten die Lage Deutschlands grundlegend. Tiefgreifende Anpassungen und Neujustierungen der deutschen Poli-tik wurden erforderlich. Die hier edierten Lageberichte spiegeln die großen Dis-kussionen dieser Zeitenwende wieder; sie dokumentieren die Probleme der Po-litikgestaltung in den Prozessen der deut-schen Einheit, der Europäischen Union und der Globalisierung; sie enthalten aufschlußreiche Informationen über die Rolle und die Orientierung der „Haupt-regierungspartei“ CDU im Verhältnis zu den anderen politischen Kräften.Diese 133 Lageberichte Helmut Kohls stellen eine der wichtigsten Quellen zur Frühgeschichte des wiedervereinten Deutschland dar. Die innen- und außen-politische Agenda der zweiten Hälfte der Ära Kohl findet sich darin in ihrer ganzen Dichte und Vielfalt behandelt. Darüber hinaus vermitteln sie einen authentischen Zugang zum Führungshandeln und poli-tischen Denken des Kanzlers der Einheit, der wie kein anderer deutscher Politiker diese epochale Umbruchzeit mitbestimmt hat. Seine Regierungszeit wie auch er selbst als Hauptakteur können anhand seiner „Berichte zur politischen Lage“ objektiver gesehen und gewertet werden.

Titelbild: Ulrich Wienke (Presse- und In-formationsamt der Bundesregierung)

Helmut Kohl

Berichte zur Lage 1989–1998

Der Kanzler und Parteivorsitzende im Bundesvorstand der CDU Deutschlands

Droste

Aus dem Inhalt:

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ISBN 978-3-7700-1915-1

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Dr. Günter Buchstab, Jg.1944, bis März 2009 Hauptabteilungsleiter Wissenschaft-liche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Poli-tik der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. in Sankt Augustin

Prof. Dr. Hans-Otto Kleinmann, Jg. 1937, 1992 apl. Professor für Neuere Geschichte an der Universi-tät Köln, 1982–1992 Wissenschaft-licher Mitarbeiter und 1992–2002 stv. Hauptabteilungsleiter Wissen-schaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

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Eine kurze Bemerkung vorweg. Ich glaube, man braucht heute hier nicht zu sagen, daß wir in einer ungewöhnlichen dramatischen gesamtpolitischen Entwicklung stehen. Die Bilder, die Sie in diesen Tagen, wie ich auch, aus der DDR sehen, machen das deut-lich. Die Erfahrungen, die ich jetzt in der Vorbereitung der Polenreise1 mache, machen das deutlich; aber, und das füge ich auch hinzu, gerade meine Gespräche mit westli-chen Gesprächspartnern in der EG, mit den Amerikanern, machen deutlich, daß der Aufmerksamkeitswert oder das Interesse an der Frage, was tut die Bundesrepublik, wie verhält sich die Bundesrepublik, eine ungeheure Dynamik gewonnen hat. Deswegen will ich noch einmal vorweg sagen, daß ich nicht sehr glücklich bin über das eine oder andere, was ich in der deutschen Öffentlichkeit an Ratschlägen höre, etwa, was die Leute in der DDR tun sollen, was man jetzt finanziell tun soll. Manche, die da Vor-schläge machen, haben offensichtlich die Dimension noch gar nicht bedacht, was möglicherweise auf uns zukommt. Darüber muß geredet werden, aber zunächst einmal unter uns und nicht öffentlich. Eine Sache, die mir gar nicht gefällt, ist, daß offenkun-dig in die verfaßte öffentliche Meinung so eine Grundtendenz hineinkommt, wir wen-den uns jetzt den Dingen in Osteuropa zu und reden kaum mehr über die notwendige Entwicklung innerhalb der europäischen Gemeinschaft im Einigungsprozeß und in der NATO. Sie können die Liste der Probleme und der Problemstellungen beliebig erwei-tern. 6. November 1989 6. November 1989

Ich will noch einmal ganz klar sagen: Für mich steht außer jeder Frage, daß der Reformprozeß, den wir jetzt erleben, über den wir auch gleich sprechen werden, ange-fangen von Ungarn bis hin zu den anderen Ländern, nur überhaupt möglich und denk-bar war, weil der Einigungsprozeß in Europa in einer so dynamischen Weise vorange-gangen ist. Das ist unser Proprium, das ist unser Erfolg. Den kann man gar nicht oft und deutlich genug machen. Wenn wir etwa im Blick auf Einheit der Nation, Wieder-vereinigung, in der Sache weiterkommen – und wir haben ja in diesem Raum über bestimmte Formulierungen gestritten, wie Sie sich sicher erinnern, in einer Wochen-endsitzung, ich glaube, es war im Mai letzten Jahres2 –, wenn wir darüber reden, dann müssen wir wissen, daß das Mittun, das Mithelfen unserer Partner in der freien Welt von entscheidender Bedeutung ist. Ich weiß nicht, ob alle bei uns wirklich begriffen haben, was es bedeutet hat, daß am Freitag der Präsident der französischen Republik in

1 Staatsbesuch in Polen vom 9.–14. November 1989. Am 10. November nach dem Mauerfall

Unterbrechung der Reise für einen Tag für die Kundgebung vor dem Schöneberger Rat-haus in Berlin und für eine Kabinettssitzung in Bonn am 11. November. Vgl. Kohl: Erinne-rungen Bd. 2 S. 959f., 964–982, 979–983.

2 Am 17./18. April 1988. – Ergebnisprotokoll in: ACDP 07-001-1094.

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Bonn mitten in Deutschland eine solche Erklärung abgegeben hat.3 Liebe Freunde, das ist ein Erfolg unserer Politik. Und machen Sie sich keine Illusionen, François Mitter-rand spricht zwar immer im Namen der französischen Republik, weil er ja die Inkarna-tion der französischen Republik vom Amt her – er sagt ja nicht ich, sondern er sagt immer Frankreich – ist. Aber wenn Sie in die französische Presse hineinschauen, dann werden Sie ganz andere Töne lesen. Und wenn Sie in die britische Presse hineinschau-en – ich rate Ihnen allen, ich glaube, es war der 31. Oktober, den Artikel in der „Ti-mes“4 zu lesen; das braucht man nicht überzubewerten –, dann werden Sie natürlich die Stimmung bemerken: Die permanente Verdächtigung nimmt jetzt wieder zu, die Deutschen seien dabei, sich von ihrer Linie abzuwenden, abzukoppeln, werden unsi-chere Kantonisten, der Geist von Rapallo5; das geht alles um die Welt. Deshalb ist es jetzt von größter Bedeutung, daß wir Freunde haben, die wissen und das auch ausspre-chen – wie George Bush und François Mitterrand –, daß die Deutschen klaren Kurs halten, daß – wie ich es einmal genannt habe – ein Teil unserer Staatsraison auch wei-terhin gilt. Das ist von ungeheurer Bedeutung für die nächsten Wochen und Monate.

Zweitens, es gibt keinen Grund zur Aufgeregtheit. Wir haben alle Karten wirklich in der Hand. Ich erinnere nur daran, wie schnellebig das ist. Es gab auch Stimmen aus der Union, die mir im Mai dringend geraten haben, jetzt nach Polen zu reisen. Wie sähe ich heute aus, wenn ich nach Polen gegangen wäre! Wir haben jetzt eine völlig andere Dimension der Begegnung. Ich sage das auch im Blick auf die Entwicklung in der DDR. Da treten jetzt Leute als Reformer auf, die dort überhaupt kein Vertrauen genießen. Ich habe dieser Tage den Kollegen der FDP gesagt – das ist nicht mein Geschäft –, also wenn ich mir vorstelle, daß der Mann, der jetzt da Reformen in der Liberal Demokratischen Partei fordert, über Jahrzehnte Mitglied des Staatsrats und einer der ersten Privilegierten der DDR Republik war6, nun ausgerechnet zum Refor-mer geeignet sein soll, da habe ich meine Zweifel. Die Entwicklung, der Spott und der Hohn, der jetzt bei einem offener werdenden Klima – etwa im Kabarett der DDR – über ihn schon hinweggeht, wo ja alles genau fixiert wird, was früher war, ist klar.

Ich weiß nicht, wie lange die jetzige DDR Führung sich halten kann. Das Drängen, jetzt von uns Geld zu bekommen, wirtschaftliche Hilfe zu bekommen, bevor überhaupt Reformen da sind, bestärkt mich sehr im Verdacht, daß sie ihre eigene Lage nicht sehr günstig einschätzen. Wir wissen nicht, was in vier Wochen dort ist, wie das Politbüro aussehen wird, wie die Regierung aussehen wird, und wir wissen auch nicht, wie das

3 Erklärung Mitterrands beim deutsch-französischen Gipfel in Bonn am 2./3. November

1989 in der abschließenden Pressekonferenz, vgl. La Politique étrangère de la France, no-vembre-décembre 1989, S. 5. – Vgl. Kohl: Erinnerungen Bd. 2 S. 956.

4 Conor Cruise O’Brien: „Beware a Reich Resurgeant“ (Times vom 31. Oktober 1989). 5 Vgl. Lagebericht vom 9. Oktober 1989 Anm. 48. 6 Gerlach, Manfred (geb. 1928), Jurist; 1946 Mitbegründer der Freien Deutschen Jugend

(FDJ) in Leipzig, 1954 Generalsekretär und 1967 Vorsitzender der LDPD, seit 1949 Mit-glied der Volkskammer der DDR, 1960–1989 stv. Vorsitzender des Staatsrats der DDR, 1989/90 letzter amtierender Staatsratsvorsitzender in der DDR, 1993 Parteiausschluß.

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an Weihnachten sein wird. Ich persönlich habe die ganz klare Prognose, daß es keine Beruhigung geben wird, wenn Herr Krenz7 auf dem bisher Gesagten beharrt: keinen Pluralismus, keine Öffnung, ein bißchen Wirtschaftsreform. Das muß man klar sehen und es ganz klar aussprechen. Das heißt also, was wir jetzt brauchen, ist ein ruhiger und stetiger Kurs und ein vernünftiges Abwarten. Es hat sich ja jetzt gezeigt, wie rich-tig es war – denn eigentlich ist das schon weg –, mit der amtlichen Ost-CDU keinen Kontakt aufzunehmen, aber die Kontakte auf einer anderen Ebene vorsichtig zu forcie-ren. Wir wissen auch nicht, wer sich dort später durchsetzen wird, wenn es wirklich zu einem Stück mehr an Pluralismus kommt. Das alles ist vor allem auch deswegen so wichtig, weil das Zusammenspiel der Linken halt national und international schon sehr bemerkenswert ist.

Was ich jetzt in Polen beobachte, ist doch, um das klar auszusprechen, daß die bis-herigen Machthaber alles tun, damit diese Reise kein Erfolg wird. Sie wollen das mit all ihren Mitteln; und sie sind mächtig im Land, im ganzen Mittelbau. Sie wollen das, damit der jetzige Ministerpräsident8 keinen Erfolg hat, sie wollen, daß wir keinen Erfolg haben. Wenn jetzt in den deutschen Zeitungen und in bestimmten Presseorga-nen die Frage hochgespielt wird – das sage ich Ihnen voraus für die kommende Woche –, ob ich eine genügende Grenzerklärung abgebe, dann ist das genau mit der Zielset-zung, diese Verständigung nicht zu erleichtern, sondern zu erschweren. Wir müssen daran denken – und es ist auch wahlpolitisch gesehen, aber eben nicht nur, ich habe das eben noch dem polnischen Kollegen am Telefon gesagt –, wir bekommen Versöh-nung nur, wenn wir alle Gruppen mit einbeziehen. Ich muß ausgesprochen erfreut hier feststellen, daß etwa die Erklärung, die der Generalsekretär des Verbandes des BdV abgegeben hat, oder das, was Czaja dazu sagte, für die Position, die sie vertreten und vertreten müssen, in einer abgewogenen Weise war.9 Ich bin absolut dagegen, diese

7 Krenz, Egon (geb. 1937), Lehrer; 1961–1964 und 1967–1974 Sekretär des Zentralrates der

FDJ, 1974–1983 Erster Sekretär der FDJ, 1971–1990 Volkskammer der DDR, ab 1973 Mitglied des Zentralkomitees, ab 1983 des Politbüros der SED, 1984–1989 stv. Staatsrats-vorsitzender, Oktober bis Dezember 1989 Staatsratsvorsitzender, 1990 Ausschluß aus der SED-Nachfolgepartei PDS, 1997 Verurteilung zu sechseinhalb Jahren Freiheitsstrafe.

8 Mazowiecki, Tadeusz (geb. 1927), polnischer Politiker; 1961–1971 Abgeordneter der Katholischen Partei (ZNAK) im Sejm, 1981 Chefredakteur der Zeitschrift „Solidarno “, 1989/90 Ministerpräsident von Polen, 1991 Vorsitzender der „Demokratischen Union“(seit 1994 „Union der Freiheit“).

9 Vgl. Lagebericht vom 9. Oktober 1989 Anm. 27. – Czaja, Herbert (1914–1997), Studien-rat; 1933 Mitglied der „Deutschen Christlichen Volkspartei“, Mitgründer der Union der Heimatvertriebenen in der CDU (ab 1952 Landesvorsitzender Nord-Württemberg), 1947–1953 Mitglied des Stadtrats von Stuttgart, 1953–1990 MdB (CDU, 1980–1990 Vorsitzen-der der Gruppe der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen in der CDU/CSU-Fraktion), 1970–1994 Präsident des Bundes der Vertriebenen. – Vgl. Koschyk am 3. November 1989 bei einer Kundgebung der Paneuropa-Union Deutschland in Berlin (dpa vom 5. November 1989); Rede Czajas beim „Tag der Heimatvertriebenen“ am 21. Oktober 1989 in Bonn (BdV Pressemitteilung, dpa vom 22. Oktober 1989; Herbert Czaja: Unterwegs zum kleins-ten Deutschland? Marginalien zu 50 Jahren Ostpolitik. Frankfurt/Main 1996, S. 661).

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Gruppe auszugrenzen und hinauszudrängen. Ich bin umgekehrt natürlich nicht der Meinung, daß alles, was von dieser Seite etwa brieflich an mich kommt, Akzeptanz von uns kriegen kann. Da gibt es natürlich auch Leute, die etwas ganz anderes wollen. Aber unser Interesse muß schon sein, möglichst viel Gemeinsamkeit dabei zu entwi-ckeln. Wir werden ja gleich über die Vorstellung für Kreisau10 reden. Dies kann nur etwas werden, wenn die Schlesier eben dort sind, wenn sie ihre Sprache hören, wenn sie ihre Lieder singen können und wenn wirklich deutlich wird, was wir wollen, näm-lich einen Anfang zu setzen zu mehr Miteinander mit dem Ziel – soweit dies möglich ist – auch zur Aussöhnung zu kommen. Aber das setzt Bewegung auf zwei Seiten voraus. Es kann nicht nur einer diesen Schritt tun, sondern das muß von beiden Seiten getan werden. Soviel ganz kurz zu Beginn.

Wir müssen natürlich über Fragen wie Währungsunion, wirtschaftliche Zukunft auch hier reden. Das muß aber sorgfältig vorbereitet werden und wird hier wiederum vorgetragen. Ich will jetzt sehr den Stil hier pflegen, daß möglichst viele andere vor-tragen. Mein Interesse ist nicht, hier als Hauptredner aufzutreten. Das habe ich in der Vergangenheit oft genug beklagt, daß das so an mir hängen geblieben ist.

Es folgen Ausführungen von Horst Teltschik11 über den Stand der Vorbereitungen der Polenreise.

Vielleicht kann ich noch ein paar Sätze ergänzen, auch zur Reise etwas sagen. Zu-nächst zur Wirtschaftshilfe. Wir brauchen ja hier, glaube ich, nicht weiter darüber zu reden, daß das ein Kapitel ist, das mit großer Skepsis betrachtet werden muß, wenn man realistisch ist. Das ist praktisch so, daß dort eine Infrastruktur im Sinne eines modernen Industriestaates weitgehend fehlt. Polen muß eine Währungsreform machen, fangen wir einmal mit diesem Thema an. Das Bankensystem ist überhaupt nicht aus-reichend. Es gibt Fachleute – ich gebe das nur wieder, ich kann es nicht beurteilen –, die behaupten, daß zwischen fünf und sieben Milliarden D-Mark und Dollars in den Strümpfen des polnischen Volkes ruhen und daß man nicht den Banken traut, daß sogar Kapital da ist. Es gibt viele der Dinge, die hier angegangen werden müssen. Das Grundproblem der Regierung besteht ja darin, und das muß man klar aussprechen, daß die Regierung jetzt wie so ein Überbau über den Apparat gestülpt wurde und daß sich

10 Niederschlesisches Gut des Grafen Helmuth James von Moltke, Hauptort der Zusammen-

künfte der um ihn gebildeten deutschen Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialis-mus. Der „Kreisauer Kreis“, der sich seit 1940 formierte, erarbeitete Vorstellungen zur Neuordnung Deutschlands nach der Überwindung des Nationalsozialismus.

11 Teltschik, Horst (geb. 1940), Politologe; 1970 Leiter der Abt. Deutschlandpolitik der CDU-Bundesgeschäftsstelle, 1972 Referent in der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz, 1977 Leiter des Büros des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, 1982–1990 Abteilungsleiter für auswärtige und innerdeutsche Beziehungen, Entwicklungspolitik und äußere Sicherheit im Kanzleramt und ab 1983 stv. Kanzleramtschef, 1991–1993 Geschäftsführer der Bertels-mann-Stiftung, 1993–2000 Vorstandsmitglied der BMW AG, 1999–2008 Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, 2003–2006 Repräsentant von Boeing in Deutschland.

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unten bis jetzt nichts geändert hat. Wir wissen – die Niedersachsen oder die Hessen können das schön berichten –, wie es ist, wenn ein Land, das parteipolitisch in eine Demokratie übergeht und nach Jahrzehnten nun plötzlich eine andere Regierung be-kommt, wie schwer sich ein Minister tut, in seinem Ressort irgendetwas zu bewegen, weil er ja auf latenten Widerstand stößt. Jetzt stellen Sie sich vor, das ist ein kommu-nistisches Regime, das ist eine Diktatur, das ist also eine besondere Situation. Das kann man ja auch in der Sowjetunion erkennen, wo man noch soviel über Perestroika12 sagt. Die Leute hocken auf ihren Stühlen und bewegen sich überhaupt nicht und ma-chen eine permanente Opposition; aber sie können es nicht nachweisen. Es wird gera-de im wirtschaftlichen Bereich sehr wichtig sein, wenn jetzt jemand aus der Bundesre-publik dorthin geht und eine Joint-Venture-Sache machen will, ob die zuständigen Leute in der Woiwodschaft mitmachen. Das ist ein Riesenproblem.

Ich sage ebenso klar, wir würden eine geschichtliche Situation verspielen, wenn wir hier die Chance nicht wahrnehmen würden, es zu versuchen, ungeachtet der Ge-fahr, daß wir möglicherweise dabei nicht erfolgreich sein werden. Bei dem, was die jetzige Regierung mitverabredet hat, gefällt mir im Gegensatz zu der Vorgängerregie-rung besonders, daß sie praktisch selber fordert, jede nur denkbare vernünftige Wirt-schaftskontrollmöglichkeit bei der Vergabe von Geld für Joint Ventures aufzunehmen. Sie wollen möglichst, daß die Deutschen – die deutschen Firmen, die deutschen Ban-ken – kontrollieren, was dort geschieht. Sie trauen ihrem eigenen Apparat nichts zu oder jedenfalls nicht viel. Deswegen glaube ich, daß das, was wir jetzt überlegen – das ist alles noch nicht ausgereift, wie man das in den Kreditausschüssen macht –, sehr wichtig ist. Wichtig ist auch, das sage ich vorsorglich, weil sich ein Geschrei bei deut-schen Unternehmern erheben wird, daß auch der Selbstbehalt eintritt, daß wir nicht 100 Prozent verbürgen. Denn wenn das Interesse der deutschen Unternehmer null ist, wenn sie das volle Risiko anderen, dem Staat hier, übertragen, wird natürlich das Inte-resse, sich bei dem Projekt selbst zu engagieren, geringer sein. Wenn der Unternehmer eigenes Geld drin hat, wird er genauer kontrollieren. Die beste Kontrolle ist sicherlich, daß er sich um sein eigenes Geld kümmert. Dies ist auch der Wunsch der Polen.

Beim Geld will ich noch sagen, wenn Sie das öffentliche Geschwätz und die Tat-sachen nehmen, stellen Sie fest, daß viele unserer Freunde im Westen fast nichts tun. Wenn ein großes Land wie Großbritannien in fünf Jahren, glaube ich, insgesamt 75 Millionen Pfund ausgibt, ist das natürlich keine Relation. Die Franzosen haben wesent-lich mehr getan. Die Amerikaner haben ein Projekt mit einer Milliarde Dollar aufge-stellt.13 Wir haben aus gutem Grund die Summe bei den Hermes-Bürgschaften14 redu-

12 Der 1985 von Gorbatschow geprägte Begriff der Perestroika meinte ein Reformprogramm

zum tiefgreifenden „Umbau“ der sowjetischen Gesellschaft und Wirtschaft. 13 Vgl. Lagebericht vom 9. Oktober 1989 Anm. 42. 14 Form der Absicherung von Ausfuhrkrediten, die durch eine von der Bundesrepublik man-

datierte (Euler)-Hermes-Kreditversicherung gewährleistet wird. Diese Exportkreditversi-cherungen schützen deutsche Unternehmen vor Verlusten durch ausbleibende Zahlungen

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ziert, um uns auch optisch an dem amerikanischen Projekt zu beteiligen, weil das in Amerika natürlich sehr genau beobachtet wird, und damit tun wir sozusagen direkt etwas weniger, aber über dieses Gesamtprojekt mehr. Das sind Finanzierungen, das ist ein Gesamtdarlehen, eine reine Investitionssache. Wir wollen mit der gleichen Summe hinein wie die Amerikaner, das sind jeweils 200, 250 Millionen Dollar. Das hat aber die Wirkung, daß ich sehr gespannt bin, ob alle anderen die 500 Millionen Dollar zusammenbringen, die dann als Restbestand bleiben. Ich habe hier meine Skepsis, aber es ist sehr wichtig, zentral gegenüber Amerika – das merke ich auch in meinen Ge-sprächen mit George Bush –, daß die Deutschen hier eine hilfreiche Position einneh-men.

Ich halte für fast so wichtig – vielleicht sogar genau so wichtig, wie es Geld und Hermes-Bürgschaften sind –, was ich jetzt einmal die personelle Hilfe nennen will. Die brauchen wirklich Leute, die etwas tun. Jetzt sind wir dabei, drei oder vier Leute sozusagen auszuheben, die das dann in meinem Auftrag auch tun. Da haben wir einen Glücksfall, daß bei der Bundesbank ein Mitglied gerade jetzt in Ruhestand geht, der auch noch aus seiner Jugendzeit perfekt polnisch spricht, das ist Herr Gleske15, der die Währungspolitik gemacht hat – also das genau fehlt – und der das dort machen wird. Jetzt suche ich noch Leute, etwa von den Banken einen wichtigen Mann, der an dieses Thema der Banken herangeht, wobei es jetzt wirklich nicht darauf ankommt, einen bekannten Pensionisten zu nehmen, sondern jemanden, der etwas tut. Leute, die mir sagen, was wir tun sollen, habe ich genug. Ich brauche jetzt Leute, die etwas selber tun und mitreden. Bei der Wirtschaft wollen wir eine enge Verbindung zum DIHT herstel-len, weil die Apparatur der Kammern – gerade weil ja viele Mittelständler dabei sein werden – wichtig ist. Und Ignaz Kiechle16 ist sehr, sehr wirksam im Bereich der Landwirtschaft. Da gibt es bereits eine Menge wirklich guter Ideen. Beispielsweise eine Sache, die, wie ich finde, viel Pfiff hat: So, wie wir einen Gebrauchtwagenmarkt bei uns in der Bundesrepublik haben, kann man ja jetzt einmal den Versuch unterneh-men, noch gut erhaltene landwirtschaftliche Maschinen, die allerdings vom TÜV überholt und mit Zertifikat versehen werden, damit da kein Schrott hingeliefert wird, dorthin zu geben. Ein Mähdrescher aus dem Jahr 80 ist dort natürlich immer noch ein Supermodell, das muß nicht immer das Modell 89 sein. Jedenfalls sollen Genossen-schaften, Molkereien usw. dazu gebracht werden, die Dinge in die Hand zu nehmen.

ausländischer Geschäftspartner. Hauptaktionär des deutschen Unternehmensteils ist die Al-lianz-Versicherung. Sitz der deutsch-französischen Kreditversicherungsgruppe ist Paris.

15 Gleske, Leonhard (geb.1921), Bankier; 1958–1964 Direktor für Währungsfragen bei der Europäischen Kommission, 1964–1976 Präsident der Landeszentralbank Bremen und Mit-glied des Zentralbankrats der Bundesbank, 1976–1989 Direktoriumsmitglied der Deut-schen Bundesbank (zuständig für Devisenmarkt, Währungsreserven und internationale Währungsfragen).

16 Kiechle, Ignaz (1930–2003), Landwirt; 1966–1972 Mitglied des Kreistags Kempten (CSU), 1972–1982 Vorsitzender des CSU-Kreisverbands Oberallgäu, 1969–1994 MdB, 1983–1993 Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten.

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Der Staat kann hier nur ganz bedingt etwas tun. Mit einem Wort, wir wollen das auf einer ganz breiten Front tun, und ich hoffe schon, daß sich das entwickelt.

Dazu gehört auch die Verstärkung der Kontakte zu den Universitäten. Damit sind Sie automatisch bei der Wissenschaft, da gibt es natürlich ein riesiges Interesse. Da gibt es übrigens schon mehr, wie ich jetzt festgestellt habe, als man ahnt. Da war vie-les, Gott sei Dank, unter der Decke schon gelaufen, Chirurgen miteinander und in vielen anderen Bereichen. Ich hoffe auch – das will ich schon sagen –, daß es jetzt gelingt, bei den Historikern Leute zusammenzubringen, die auf beiden Seiten Vertrau-en haben. Das bisherige Geschäft bei der Darstellung der Geschichte hat ja doch sehr an Einseitigkeit gelitten und kam dann sofort bei uns in die öffentliche Debatte; das, glaube ich, muß man vermeiden.

Zur Reise selbst. Das wird eine ungeheure Strapaze. Das ergibt sich notwendiger-weise aus den einzelnen Orten, die ich besuchen muß. Ich will bloß ein paar Punkte davon erwähnen. Wir werden zum erstenmal eine offizielle Kranzniederlegung am Grab eines deutschen Soldaten haben mit all den Aufmerksamkeiten, die dabei entste-hen, jedenfalls in einer offiziellen Weise. Wir werden eine Reihe von anderen Begeg-nungen haben. Ich werde dort Gespräche führen. Ich finde, es ist einfach überfällig, daß die Bundesrepublik Deutschland in ihrer Weise versucht, in Auschwitz eine Ge-denkstätte zu begründen, was sehr schwierig sein wird, das sage ich Ihnen voraus, weil Sie ja wissen, was es dort für einen Streit mit dem Kloster gegeben hat.17 Es ist ein unheimlich vermintes Terrain, um das so auszudrücken; aber wir müssen es beginnen, wir müssen an die Sache herangehen. Und damit bin ich bei dem Thema Annaberg.18 Ich will das hier noch einmal schildern, weil ja ganz bewußt Verfälschungen hier stattfinden, in dem Fall klar von der linken Seite.

Die Vorgeschichte ist ganz einfach, daß Bischof Nossol19, ein Mann, der besondere Sympathie bei uns verdient, der Bischof von Oppeln, sich unter den polnischen Bi-schöfen für die Aussöhnung und für das Gespräch mit den Deutschen besonders her-vorgetan hat, auch für die Seelsorge mit den dort lebenden Deutschen, was man ja nicht von allen polnischen Bischöfen sagen kann, das brauche ich Ihnen hier nicht zu erläutern. Andere sind auch Oberschlesier und haben es nicht getan. Er hat es getan

17 Die Gründung eines Karmelitinnenklosters in Auschwitz (1985) zur Sühne für den dort

geschehenen millionenfachen Mord von Juden hatte eine Kontroverse zwischen Juden und Katholiken zur Folge, nachdem 1989 das unmittelbar am Lagerzaun des KZ Auschwitz I gelegene alte „Theater“, wo das Giftgas für Birkenau und andere Vernichtungsorte gelagert war, von dem Orden angekauft worden war.

18 Der katholische Wallfahrtsort Sankt Annaberg mit Kloster und Kalvarienberg in Ober-schlesien (Kreis Groß-Strehlitz) hat im Zusammenhang mit der oberschlesischen Volksab-stimmung 1921 als Symbol für den Selbstbehauptungswillen der Oberschlesier eine politi-sche Bedeutung erhalten. Die Erstürmung des von der polnischen Militärorganisation (POW) besetzten Annabergs im Mai 1921 durch deutsche Freikorps diente in der Folgezeit den Nationalisten auf beiden Seiten zum Propagandastoff.

19 Nossol, Alfons (geb. 1932), Professor der Theologie in Lublin und Oppeln; 1977–2009 Bischof der Diözese Oppeln, 1999 Verleihung des Ehrentitels Erzbischof.

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und hat auch seit vielen Jahren in der polnischen Bischofskonferenz eisern Position gehalten, hat auch das Vertrauen der dort lebenden Deutschen. Der war am 20. Juli bei mir, wir haben über die Reise geredet, und er hat mich dann eingeladen, zu ihm nach Oppeln zu kommen, auch ins Krankenhaus. Der Krankenhausbesuch hat natürlich nicht den Sinn, mich dort einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, sondern dort einen entsprechenden Tomographen zu hinterlassen. Ein richtiger Bischof kann ja auch sehr gut mit dem Geld umgehen, das hat er also sehr geschickt gemacht. Und dann hat er mich zur Messe auf dem Annaberg eingeladen. Ich habe zugesagt. Ich habe ihm gesagt, gibt es Probleme? Er meinte nein, und so weit so gut. Dann hat Teltschik das zu einem Zeitpunkt, wo es gemäß war – es ist also gar nichts zu spät gemacht worden, und es kann auch gar keine Rede sein von einem schlechten Management, es ist ein wirklicher Unsinn, was da zum Teil in den Zeitungen verzapft wird –, das Thema eingebracht, und dann ging in Polen sofort auf der kommunistischen Seite die Hetzerei los mit all den Auflagen. Bischof Nossol ist dann in eine ziemliche Bedrängnis geraten und hat sehr frühzeitig – das muß ich schon sagen – hier angerufen, hat seine deut-schen Amtskollegen auch zu Hilfe gerufen, die ihn gut kennen. Da ergab sich eine ganz schwierige Situation. Ich habe gesagt, ich kann diese Reise von mir aus streichen, wenn ich klar seine Positionen kenne. Und er hat mich dann dringendst gebeten, nicht auf den Annaberg zu kommen, weil er befürchtet, daß die Messe dort nicht nur gestört wird, sondern daß genau das Gegenteil eines Aktes der Versöhnung herauskommt. Es gab da sicher massive Drohungen – ich will das jetzt nicht im Detail erläutern –, und dann ist sozusagen im Gemeinschaftswerk die Idee entstanden, nach Kreisau zu gehen. Das hat eine Reihe von sehr positiven Seiten. Kreisau gibt die Möglichkeit, daß dieser Gottesdienst so gestaltet wird, daß Deutsche, die in Polen leben, auch Leute aus dem Umfeld von Annaberg – um das deutlich zu sagen, das ist auch so beabsichtigt – dort-hin kommen, also Schlesier mit Tracht, daß Polen dorthin kommen, daß die Messe polnisch-deutsch gehalten wird, also daß es ein Gottesdienst ist, der beides zeigt, was mich sehr erfreut hat. Ich muß ganz offen sagen, ich habe nicht erwartet, daß der Kar-dinal von Breslau20, der die Sache in Kreisau übrigens sehr fördert – das hat ein biß-chen mein Bild verändert, das muß ich ehrlich zugeben –, eigens Teltschik am Freitag zu sich gebeten und darauf hingewiesen hat, ob man nicht im Blick auf Ökumene hier eine Geste machen könnte. Ich will das jetzt nicht ausbreiten, weil ich das mit dem mitreisenden Bischof Binder21 noch einmal bereden will, aber es ließe sich ja denken, daß die Fürbitten dort beispielsweise von einem deutschen Bischof, der nicht katho-

20 Gulbinowicz, Henryk Roman (geb. 1923), 1950 Priesterweihe, 1970 Titularbischof von

Acci und Apostolischer Administrator der Erzdiözese Vilnius, 1976–2004 Erzbischof von Breslau, 1985 Kardinal.

21 Binder, Heinz-Georg Wilhelm (1929–2009), evangelischer Theologe; 1956 ordiniert, 1957–1960 Pastor an Sankt Andreas in Hamburg-Harvesterhude, 1966–1971 Öffentlich-keitspastor in Bremen, 1977–1992 Bevollmächtigter des Rates der EKD bei der Bundesre-gierung, 1985–1994 Militärbischof.

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lisch ist, vorgetragen werden. Also da kann man schon, wenn man gutwillig ist, Ideen in Praxis umsetzen, die einen tiefen Eindruck hinterlassen werden.

Wir werden jetzt in Kreisau den Gottesdienst haben. Da ist das Problem mit dem Wetter, da das ein Feldgottesdienst ist, aber das sind technische Einzelheiten, die jetzt nicht berühren. Das wird ein ungeheures Echo und Interesse finden. Bischof Nossol wird die Messe halten. Ich glaube, daß das gut ist. Ich füge hinzu, für mich hat dieser Ort noch einen ganz anderen sympathischen Wert. Das ist die wirkliche Repräsentanz des „anderen Deutschland“. Wenn Sie sich einmal die Mühe machen nachzulesen, wer alles während des Krieges in Kreisau war: Leute wie Pater Delp22, um einen aus mei-ner Heimat zu nennen, Eugen Gerstenmaier23, großartige Sozialdemokraten, von Leuschner24 angefangen bis hin zu Julius Leber25, Gründer der CDU – Gerstenmaier ist später erst zur CDU gekommen, anderthalb Jahre später –, aber einer der wirklichen Gründer der CDU war Lukaschek26, der erste Vertriebenenminister, übrigens der Mann, der die große Kundgebung in Cannstatt damals präsidiert hat, bei der Cannstat-ter Erklärung der Vertriebenen im August 195027, Militärs, die die beste preußische Tradition vertreten, also das ist schon eine Repräsentanz des „anderen Deutschland“.

Für mich war sehr interessant – das war nicht entscheidend –, wie beispielsweise ein Mann wie François Mitterrand, mit dem ich am Freitag über die Sache redete, damit er es dann nicht aus der Zeitung erfährt, sofort sagte, er fände, wenn bei der

22 Delp SJ, Alfred (1907–1945), Theologe; 1926 Eintritt in den Jesuitenorden, 1937 Priester-

weihe, seit 1941 Kirchenrektor von Sankt Georg in München, ab Frühjahr 1942 im Krei-sauer Widerstandskreis, 1945 hingerichtet.

23 Gerstenmaier, Eugen (1906–1986), Lic. theol., Lic. habil., Theologe; 1935/36 Stadtvikar in Gaildorf/Württemberg, danach wissenschaftlicher Hilfsarbeiter im Kirchlichen Außenamt der Deutschen Evangelischen Kirche, 1939 Konsistorialrat, 1942 Kirchenbeamter auf Le-benszeit, als Teilnehmer des Kreisauer Kreises verhaftet und 1945 zu sieben Jahren Zucht-haus verurteilt, 1945 Mitgründer und Leiter (bis 1951) des Hilfswerks der EKD, 1949–1969 MdB (CDU), 1954–1969 Bundestagspräsident.

24 Leuschner, Wilhelm (1890–1944), Gewerkschafter und Politiker (SPD); ab 1926 Bezirks-sekretär des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) in Hessen, 1928–1932 Innenminister des Landes Hessen, 1932/33 stv. Vorsitzender des ADGB, Organisator des gewerkschaftlichen Widerstands gegen den Nationalsozialismus, 1944 verhaftet und hinge-richtet.

25 Leber, Julius (1891–1945), Journalist; 1921–1933 Chefredakteur des „Lübecker Volksbo-ten“, 1924–1933 MdR (SPD), 1933–1937 Konzentrationslager Esterwegen und Sachsen-hausen, während des Zweiten Weltkrieges aktiv in der Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus, 1945 hingerichtet.

26 Lukaschek, Hans (1885–1960), Rechtsanwalt; 1922–1927 Mitglied der Gemischten Kom-mission für Oberschlesien, 1929–1933 Oberpräsident von Oberschlesien, 1934–1944 Rechtsanwalt in Breslau, 1944/45 wegen Teilnahme am Kreisauer Kreis in Gestapohaft, 1945 Mitgründer der CDU in Berlin, 1945/46 Mitglied der thüringischen Landesregierung, 1946 Flucht aus der SBZ, 1949–1953 Bundesvertriebenenminister.

27 In Bad Cannstatt wurde am 9. April 1950 vom Zentralverband der vertriebenen Deutschen und den Vereinigten ostdeutschen Landsmannschaften die Charta der deutschen Heimat-vertriebenen verkündet.

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Gelegenheit in Schlesien – wie er sagt im „alten deutschen Land“, ich zitiere ihn, jetzt ein Teil Polens, wo Polen leben –, des deutschen Widerstands in einer so differenzier-ten Weise gedacht würde, das würde auch im westlichen Ausland eine große Bedeu-tung haben. Ich bin eigentlich ganz optimistisch, daß wir in der Sache erfolgreich sein werden.

Ich werde auch in der Universität in Lublin sprechen, ich werde eine ganze Reihe Begegnungen und Diskussionen mit jungen Leuten haben. Ich bin mir, um das noch einmal abschließend zu sagen, völlig im klaren, daß das eine Reise ist, die auf einem schmalen Grat vorangeht. Nur, und das muß man deutlich sagen, diese Reise wird weit über die speziell deutsch-polnischen Verhältnisse hinaus ein großes Augenmerk im Westen finden, nicht zuletzt in Frankreich. Aus der Bismarckzeit28 kommt das Wort, daß der direkte Kontakt nach Warschau über Paris geht, und daran ist immer etwas Wahres gewesen. Das wird in vielen anderen Bereichen eine große Rolle spielen, auch in Amerika. Vergessen Sie nicht, daß es im Großraum Chicago und anderswo eine mächtige polnische Kolonie gibt und daß jeder amerikanische Präsidentschaftskandi-dat im Wahlkampf dorthin rennt und irgendetwas an Verehrung von Tschenstochau29 bis sonstwohin deutlich macht. Das ist ein fixer Punkt der amerikanischen Wahl-kampfstrategie, die Polen anzusprechen, die auch ein bestimmtes Gefühl dafür haben. Die Sache wird in Budapest sehr bemerkt werden, ich will das auch noch sagen. Aus meinem letzten Telefonat mit Michael Gorbatschow habe ich entnehmen können, wie natürlich auch die Sowjetunion diese Reise aus vielerlei Gründen besonders betrachtet. Also ich kann nur hoffen, daß wir unter einem guten Stern arbeiten und daß wir das Menschenmögliche im Sinne unseres Landes zu erreichen versuchen. Dies um so mehr, weil ja diese Reise in einem Augenblick stattfindet, wo Millionen in der DDR auf die Straße gehen und dabei das polnische Modell eine Rolle spielt, zumal Herr Krenz im Gespräch mit mir am Telefon sagte, daß er sich nicht am Warschauer oder Budapester Modell orientieren wird. Also es ist genau die umgekehrte Position, und insofern ist das, glaube ich, auch unter diesem Gesichtspunkt wichtig.

28 Bismarck, Otto Graf von (1815–1898), seit 1871 Fürst, 1847 Mitglied des Vereinigten

Preußischen Landtags (Konservative Partei), 1851 preußischer Gesandter beim Frankfurter Bundestag, 1859 Botschafter in Rußland, 1862 in Frankreich, 1862 preußischer Minister-präsident und Außenminister, 1867 Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes, 1871–1890 Reichskanzler, ab 1880 auch preußischer Minister für Handel und Gewerbe.

29 Das Jasna Góra-Kloster in Tschenstochau (Cz stochowa) im Süden Polens, an der oberen Warthe gelegen, ist wegen seines Marienbildes („Schwarze Madonna“) ein berühmter ka-tholischer Wallfahrtsort.

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Ich will kurz über meine Polen-Reise berichten.1 Für mich selbst war diese Reise in meiner bisherigen Amtszeit, neben dem Besuch in Israel2, die schwierigste Reise. Es ist eine Reise mitten nach Europa, aber zugleich auch eine Reise in ein anderes Land. Denn der Kenntnisstand über die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland ist dort doch in weiten Kreisen sehr rudimentär. Die über vierzigjährige Abschottung vom Westen – die DDR hatte noch das West-Fernsehen, und die Sprache ist gleich – hat doch zu ganz erheblichen Verständnisproblemen geführt. Wer nach Polen kommt und wer sich ernsthaft mit der Geschichte des Landes beschäftigt und auseinandersetzt, kann nur voller Bewunderung sein über das, was die jetzige Regierung auf den Weg bringt, wobei ich jetzt über die Erfolgsaussichten nichts sagen will; das ist eine sehr schwierige Sache. Diese Regierung ist ins Amt gekommen, ja praktisch einem System übergestülpt worden, das vierzig Jahre mit kommunistischen Tradierungen festgeba-cken war. Die Persönlichkeiten, die die Regierung bilden, sind sehr eindrucksvoll, allen voran der Ministerpräsident3. Das sind Leute, die zum Teil direkt aus dem Ge-fängnis in ihr Ministeramt gekommen sind, das sind Leute, die als Ziel nehmen – und es scheint sogar zu funktionieren –, daß derjenige, der bei dem Kriegsrecht den Befehl gegeben hat4, den Großteil der Führung der Solidarno zu verhaften, jetzt als Fachmi-nister mit dem besonderen Vertrauen des Militärs am Tisch sitzt. 15. November 1989 15. November 1989

Ich finde, daß die beiden entscheidenden Persönlichkeiten, Präsident Jaruzelski5 und Ministerpräsident Mazowiecki, sich zunächst als Patrioten verstehen, die sagen, was auch immer war und man erlebt hat, es ist jetzt unsere Pflicht, das Land aus dieser Lage herauszuführen. Das entspricht den besten europäischen Traditionen, wobei ich gelegentlich den Eindruck habe, daß sie in der Bundesrepublik so selbstverständlich nicht mehr vorhanden sind. Sie sind in der Tat dabei, das Land umzukrempeln. Im Moment ist das große Thema, daß sie ein neues Kommunalwahlrecht machen und daß sie bis März Kommunalwahlen durchführen. Daß in diesen Wahlen praktisch der ganze Unterbau umstrukturiert wird, was natürlich zu gewaltigen Ängsten in der No-

1 Vgl. Lagebericht vom 6. November 1989 Anm. 1. 2 Staatsbesuch in Israel vom 24.–29. Januar 1984. Vgl. Kohl: Erinnerungen Bd. 2 S. 218–

234. 3 Tadeusz Mazowiecki. 4 General Wojciech Jaruzelski rief am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht aus; am 22. Juli

1983 wurde es offiziell aufgehoben. 5 Jaruzelski, Wojciech Witolf (geb. 1923), polnischer Politiker; 1956 General, 1960 Leiter

der Politischen Hauptverwaltung der polnischen Volksarmee, 1968 Verteidigungsminister, 1971 Mitglied im Politbüro und 1981–1989 Vorsitzender der Polnischen Vereinigten Ar-beiterpartei (PZPR), 1981–1985 Ministerpräsident, 1985–1989 Staatsratsvorsitzender, 1989–1990 Staatspräsident.

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menklatura und bei den bisherigen Amts- und Machtinhabern führt, das ist alles ganz normal; der Prozeß einer Umgestaltung hat hier ganz natürliche Folgen.

In wirtschaftlicher Hinsicht stehen sie vor dramatischen Notwendigkeiten; sie wer-den die Gesetze, die notwendig sind, um eine soziale marktwirtschaftliche Perspektive zu eröffnen, in den nächsten Wochen erlassen. Die Zeit nach dem 1. Januar wird sehr schwierig werden, weil sie auf allen Gebieten, nicht zuletzt im Energiesektor, zu dras-tischen Kürzungen greifen müssen, um überhaupt das Land in seiner ökonomischen Balance halten und die Inflation bekämpfen zu können. Die Durchführung einer Wäh-rungsreform, die überfällig ist, fällt dort überaus schwer. Sie haben ein Parlament, ich habe die beiden Kammern gesehen, den Senat und den Sejm, in dem die meisten erst seit ein paar Tagen sitzen. Das heißt, es fängt alles neu an. Es ist ganz wichtig, Frau Süßmuth, daß wir auf allen Ebenen die Kontakte mit diesem Parlament haben, und sie haben sehr gewürdigt, daß Sie dort waren und Hilfe zugesagt haben.6

Betrachten Sie das, was ich jetzt sage, bitte nicht als abwertend: Der Idealismus ist ungeheuer, das Profihafte, das auch zum Geschäft gehört, ist allerdings sehr gering entwickelt, weil einfach keine Erfahrungen existieren. Sie verstehen aber schon, ihre Vorteile wahrzunehmen, und sie haben dabei im Psychologischen zwei Säulen, die Kirche und den Glauben an Polen, diesen Glauben ohne jede Einschränkung, der den Deutschen eher eigenartig berührt; aber das hält sie fest. Sie haben den weiteren gro-ßen Vorteil, daß die Reformbewegung bis zur Stunde ungebrochen populär ist. Das merkt man deutlich, wenn der Ministerpräsident auftaucht. Der Präsident der Republik sagt auch ganz offen: Das ist unser Glückfall, daß das Volk dem Ministerpräsidenten vertraut. Das ist auch spürbar.

In der Sache selbst, zum Vertragstext7, will ich jetzt nicht viel sagen. Wir haben, glaube ich, das ausgehandelt, was zu machen ist. Wir haben zum erstenmal die aller-meisten Forderungen, die unsere Vertriebenen aufgestellt haben, durchgesetzt. Ich habe gestern noch ein langes Gespräch mit den Vertretern der Deutschen gehabt, die in Nieder- und Oberschlesien leben. Die waren glücklich, daß jetzt, von der Schule ange-fangen über Druckerzeugnisse bis zu deutschen Vereinen, vieles möglich ist. Es kommt jetzt darauf an – das haben wir vereinbart –, daß wir alle zwölf Monate eine Leistungskontrolle machen, ob das, was auf dem Papier steht, auch durchgesetzt wird. Denn im Verhältnis Deutschland/Polen hat schon oft etwas auf dem Papier gestanden. Es wird jetzt wichtig sein, wie das in der Praxis realisiert wird. In wirtschaftlicher Hinsicht, glaube ich, ist der Ansatz Hilfe zur Selbsthilfe, den wir gemacht haben, gut. Es wird darauf ankommen, daß sie jetzt die Rahmengesetze machen und daß dann die Joint Ventures kommen wie in Ungarn auch. Das Potential im Land ist gewaltig. Man kann dort, wenn die Regierung die Vertrauensbasis und die Sicherheit bei Investitio-

6 Süßmuth hielt sich am 14. Oktober in Warschau auf (dpa vom 14. Oktober 1989). 7 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Förde-

rung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen vom 10. November 1989 (BGBl 1990 II S. 606).

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nen bietet, sehr gute Geschäfte machen. Es gibt jetzt die Sorge, so positiv sie die Ent-wicklung in der DDR und die dortigen Reformen auch beurteilen, daß Polen aus dem Gesichtspunkt der Bundesrepublik – Ungarn hat die gleiche Sorge – nebensächlich würde. Das wäre eine fatale Fehleinschätzung. Ohne die Reformen in Polen und Un-garn hätte es nie die Entwicklung in der DDR gegeben, und wenn der Prozeß der Re-formen in Polen und in Ungarn scheitert, ist die Aussicht für eine Fortentwicklung in der DDR miserabel, das muß man klar sehen. Das ist ein Prozeß nach dem Prinzip kommunizierender Röhren, davon muß man ausgehen.

Kritische Themen gibt es zwei. Das ist zum einen die Grenzfrage, bei der es keinen Unterschied zwischen Kommunisten oder katholischen Erzbischöfen gibt. Sie wollen uns, in irgendeiner Form, mit dem Warschauer Vertrag8 sozusagen über den Tisch ziehen, ungeachtet dessen, was beschlossen und besprochen wurde. Sie reden nahezu ausschließlich vom Artikel 1 und nicht vom Artikel 4, der den Vorbehalt der anderen Verträge enthält. Sie haben mit einer gewissen Würde hingenommen, daß ich klar unseren Standpunkt vertreten habe. Ich will noch einmal sagen, ich habe bei den Ver-triebenen, im Deutschen Bundestag und in Warschau, bei jeder nur denkbaren Gele-genheit, die gleichen Formulierungen gebraucht. Ich habe noch ein anderes Argument verwandt, indem ich gesagt habe, wenn ihr euch im Blick auf die DDR jetzt zu dem Ergebnis durchringt, daß die Einheit der Nation für die Deutschen kommt, dann könnt ihr doch nicht von den gleichen Deutschen in der Bundesrepublik erwarten, daß sie just in diesem Augenblick eine vertragliche Regelung, die für die Lage der Nation so wichtig ist wie der Deutschland-Vertrag9, plötzlich aufgeben. Das ist ein Argument, das über die Argumentation mit einer endgültigen Regelung im Friedensvertrag hi-nausgeht. Das ist für die Polen ein nationales Anliegen. Man kann dieses Thema nur besprechen, indem wir ruhig unsere Position wahrnehmen – ohne jede wilde Gestik –, aber gleichzeitig hinzufügen, daß wir wohl wissen, daß in diesen Gebieten heute Polen der zweiten oder gar dritten Generation leben. Dieses wichtige Argument darf von uns nicht weggewischt werden. Ich glaube übrigens, daß die Frage sich entspannt, wenn die Vereinbarung Wirklichkeit wird und das Zusammenleben zwischen Deutschen und Polen sich so entwickelt, daß die Diskriminierung der dort lebenden Deutschen auf-hört.

Die zweite Frage ist noch schwieriger, weil sie eigentlich rechtlich gelöst ist. Aber es fällt einem wahnsinnig schwer, rechtlich zu argumentieren, wenn die Betroffenen vor einem stehen. Das ist die Frage der Haftentschädigung für die vielen Betroffenen.

8 Warschauer Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen

über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen vom 7. Dezem-ber 1970. Art.1 bekräftigt die Unverletzlichkeit der Grenzen, Art. 4 besagt, daß der Vertrag früher geschlossene bilaterale oder internationale Vereinbarungen nicht berührt.

9 Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten vom 26. Mai 1952. Die Anpassung des Vertrags in der endgültigen Fassung vom 23. Oktober 1954 wurde nach dem Eintritt der Bundesrepublik zur NATO und WEU auf den Pariser Konferenzen vom 19. bis 23. Oktober 1954 geregelt.

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Die Polen haben dafür schon in Jahrzehnten Geld eingesteckt, aber die Leute haben es nie bekommen. Jetzt sagen sie, das war die Gierek-Ära10 und was weiß ich. Das war alles gestern. Sonderschuldenabkommen war vorgestern, wir stehen jetzt da, wir sind jetzt in Not. Ich habe keinen Zweifel daran gelassen, daß es völlig undenkbar ist, sechshundert- oder achthunderttausend Entschädigungen vorzunehmen, das habe ich völlig ausgeschlossen. Wir machen damit ein Faß auf, das weltweit wirkt. Eine andere Frage ist, ob wir – da bin ich offener geworden – für besondere Härtefälle, katastro-phale Fälle, im einzelnen Überlegungen anstellen, wie wir es bei anderen Ländern auch getan haben. Das kann aber nur eine sehr begrenzte Summe sein, wobei die Kri-terien ziemlich schwierig sind. Ich habe darüber noch keine abschließende Meinung. Wir haben das schon bei Frankreich im Elsaß getan, wir haben es bei Luxemburg getan, bloß sind die Dimensionen in Polen von einer ganz anderen Größenordnung.

Von den Ergebnissen meiner Polenreise her ist bemerkenswert, wie spürbar die Stimmung innerhalb von wenigen Tagen umgeschlagen ist. Die Begrüßung von Leuten auf der Straße war zunächst freundlich, aber sehr zurückhaltend. Die Verabschiedung nach den vielen Übertragungen im polnischen Fernsehen war zum Teil von einer be-merkenswerten Herzlichkeit. In Polen ist die Messe in Kreisau auch live übertragen worden und hat dort eine große Wirkung gehabt. Ich denke, sie hat auch hier ihre Wirkung getan, aber darüber will ich jetzt nicht reden. Man muß wissen, daß die Mes-se und die Kirche in der Gesellschaft dort einen völlig anderen Stellenwert haben als hier. Diese Begegnung in Kreisau gehört für mich zu den bemerkenswerten Stunden meines Lebens. So unangenehm es war, daß wir nicht fliegen konnten, es war dann aber sehr angenehm, weil es – im Psychologischen, auch im Tiefenpsychologischen – die Spur einer Wallfahrt hatte. Es war nicht gerade angenehm, nachts um 3 Uhr abzu-fahren, aber ich habe so einiges vom schlesischen Land erfahren. Wir waren in Schweidnitz in dieser traumhaft schönen evangelischen Friedenskirche, einer der schönsten Holzkirchen, die ich überhaupt kenne. Selbst bei den Hartgesottenen aus dem journalistischen Metier war hier eine gewisse Wirkung spürbar. In Kreisau waren so zehntausend Leute, wenn ich das richtig einschätze, im Verhältnis 6:4 – Deutsche, die dort leben und zum Teil von weit herkamen, und Polen. Der gemeinsame Gottes-dienst und die Predigt von Bischof Nossol waren für mich sehr erfreulich, weil die polnische Kirche von Anfang an auf einen klaren ökumenischen Charakter gedrängt hat. Beispielsweise hat sich der Kardinalerzbischof von Breslau11 ganz besonders darum bemüht, daß Bischof Binder die Fürbitten spricht. Wissen Sie, bei der Austei-lung der Kommunion war auch ein Stück von deutscher Geschichte und deutscher Tradition zu beobachten, in der verinnerlichten Frömmigkeit, die heute in weiten Tei-len der Bundesrepublik nicht mehr anzutreffen ist. Die Reaktionen waren einfach

10 Gierek, Edward (1913–2001), polnischer Politiker; 1957–1970 Parteibezirkssekretär von

Kattowitz, 1970–1980 Erster Sekretär des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Ar-beiterpartei (PZPR), 1981 Parteiausschluß.

11 Henryk Roman Gulbinowicz.

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rührend. Ich habe, während ich da oben saß – es war entsetzlich kalt – immer gedacht, jetzt müßte für einen Augenblick noch einmal Eugen Gerstenmaier diese Treppe he-runterkommen, das wäre für ihn eine riesige Stunde gewesen. Ich habe mit Freya von Moltke12, bevor wir dorthin fuhren, lange gesprochen. Sie sagte auch, wenn sie sich den ganzen Kreis vorstellt, ihren Mann13, Pater Rösch14 und Pater Delp und die ande-ren, wie sie es empfinden würden, daß wir jetzt in diesem Hof zusammenkommen, das wäre schon eine ganz große Sache.

In Polen, da gibt es keinen Zweifel, hat dieser Besuch in Kreisau eine große Wir-kung getan. Ich konnte das am nächsten Tag bei der Verleihung des Ehrendoktorgrads beobachten, die aus der katholischen Universität in Lublin übrigens auch live übertra-gen wurde, was wiederum eine entsprechende Wirkung hatte. Die Art und Weise, wie die Studenten dort reagiert haben, war traumhaft. Eine solche Begegnung mit tausen-den jungen Leuten in einer Universität ist schon eine besondere Sache. Wir waren am Mittag, nach dem Treffen in Kreisau, in Tschenstochau bei der Schwarzen Mutter Gottes, begleitet von vielen Tausenden Wallfahrern. Die Mönche hatten den Besuch in einer Weise aufgezogen, wie es freundlicher, freundschaftlicher überhaupt nicht sein konnte. Es war wichtig für Polen, daß das katholische Polen, und zwar das Volk und die Mönche – vielleicht nicht alle Bischöfe, unter denen es ja sehr eigenartige Leute gibt, an der Spitze angefangen, aber der war in Rom15, was ich nicht bedauert habe – akzeptiert hat, daß wir einen neuen Anfang setzen wollen, daß es möglich sein muß, im Jugendaustausch mit den Deutschen zu einem Ausgleich zu kommen und daß die Deutschen die wichtigsten Nachbarn sind. Das ist, glaube ich, übergekommen. Jetzt muß man versuchen, auf dieser Linie weiterzuarbeiten. Da bleibt viel zu tun.

Ich habe auch über die Parteienentwicklung gesprochen. Kluge Leute haben mir geraten, daß wir das abwartend betrachten sollten. Die Solidarno -Führung – wenn ich Wa esa16 betrachte und den Ministerpräsidenten und noch ein paar andere – sieht

12 Moltke, Freya Gräfin von (1911–2010), Juristin und Schriftstellerin; 1931 Heirat mit

Helmuth James Graf Moltke, Ehrenvorsitzende des Stiftungsrates der Stiftung Kreisau. 13 Moltke, Helmuth James Graf von (1907–1945), Jurist, aktiver Gegner des Nationalsozia-

lismus; 1939 Kriegs- und Völkerrechtsabteilung beim OKW, seit 1940 Widerstandsbera-tungen im „Kreisauer Kreis“, 1945 hingerichtet.

14 Rösch SJ, Augustin (1893–1961), 1925 Priesterweihe, 1928 Generalpräfekt, später Rektor am Jesuitenkolleg Stella Matutina in Feldkirch, 1935 Provinzial der oberdeutschen Provinz der Jesuiten, 1941 Kreisauer Kreis, 1945 Haft im KZ Dachau und in Berlin-Moabit, 1946–1961 Landesdirektor der bayerischen Caritas, 1947–1961 Mitglied des bayerischen Senats.

15 Glemp, Józef (geb. 1929), polnischer Erzbischof, Primas von Polen, 1956 Priesterweihe, 1958 Studium in Rom, 1964 Rückkehr nach Polen, Kaplan und Religionslehrer, Jurist am Gnesener Metropolitangericht, 1979 Bischof von Ermland, 1981 Erzbischof von Gnesen (bis 1992) und Warschau (bis 2006), 1983 Kardinal (Titelkirche Santa Maria de Trasteve-re).

16 Wa esa, Leszek (geb. 1943), polnischer Gewerkschafter und Politiker; ab 1966 Elektro-monteur in Danzig (Leninwerft), 1980 Vorsitzender der neu gegründeten unabhängigen

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sehr wohl, daß das Regieren, wenn sie jetzt anfangen, den Solidarno -Kreis in Partei-en aufzulösen, in kürzester Zeit unendlich schwierig wird, denn die Solidarno ist keine Partei. Darin sind Elemente einer Sozialdemokratie, darin sind Elemente einer Christlichen Demokratie, vielleicht auch noch andere Richtungen. Mein Eindruck ist, daß sie jetzt versuchen, noch die Kommunalwahl mit personalen Listen hinter sich zu bringen. Man darf auch nicht davon ausgehen, daß die Leute im Senat jetzt alles Soli-darno -Leute sind. Es sitzen wieder Leute darin, die früher wichtige Funktionen hatten, die aber aus bestimmten Gründen, was dort sehr respektiert wird, von der Ar-beiter-Partei weggegangen sind und sich frühzeitig für die Reformbewegung eingesetzt haben. Man kann nur mit blankem Neid sagen: In dieser Regierung, in diesem Parla-ment sitzt das intellektuelle Polen, ob das nun berühmte Filmregisseure oder Theater-leute sind. Es erinnert an die Haltung, wie wir sie unmittelbar nach dem Krieg hatten, als man sich nach dem Motto „Das Vaterland ist in Gefahr, das Vaterland ist in Not“ zur Verfügung stellte. In diese Situation paßt jetzt eine Parteigründung nicht. Die Parteien werden kommen, das blanke, graue Alltagsleben wird auch kommen – die Intelligenten sind sich darüber im klaren –, aber nicht sofort; da haben sie einen ver-nünftigen Instinkt.

Ein abschließendes Wort. Ich bin sehr froh, daß dies so möglich war. Für einen Deutschen ist es schlimm, von einer Erinnerungsstätte zur anderen zu gehen. Sie kön-nen nicht eine einzige vermeiden, das ist unsere jüngste Geschichte. Daß die Professo-ren der nationalen Universität Krakau schon Ende 1939 zu einer Besprechung geladen und umgebracht wurden, ist ein Gebrauch von Macht wie bei den Hunnen, so haben wir uns benommen, bis hin zu diesem ganz und gar die Sprache verschlagenden Bild in Auschwitz, das man körperlich in sich aufnehmen muß. Gestern gab es auch eine Stunde der Begegnung mit dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutsch-land17, und ich sage ausdrücklich, weil ich ihn ja oft kritisiere und kein automatischer Verehrer von ihm bin, man kann ihn verstehen, wenn man auf der Rampe in Birkenau steht, und die Bilder sind da. Wo die Frauen und die Männer getrennt wurden, ein SS-Scherge saß da und hat eben so oder so gemacht; das eine bedeutete, man kann arbei-ten, das andere bedeutete weitergehen in die Gaskammer. Ein Mann erzählte, wie er da stand und seine Mutter und seine Frau zum letztenmal gesehen hat. Es ist ein Unter-schied, ob man das theoretisch bespricht oder ob man mit dem, der das erlebt hat, zusammensteht. Das ist ein Ort, an dem man keine Reden halten kann. Und dieser Esel, der mir das im ZDF vorgehalten hat, ist wirklich ein Gefühlsesel, finde ich. Was wollen Sie in einer solchen Situation viel sagen? Wir waren auch in der Zelle von

Gewerkschaft Solidarno , 1983 Friedensnobelpreis, 1990–1995 Staatspräsident von Po-len.

17 Galinski, Heinz (1912–1992), Textilkaufmann; 1943 Deportation nach Auschwitz, bis 1945 Zwangsarbeiter im KZ Buchenwald, 1949 Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Berlin, 1981–1992 Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland.

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Maximilian Kolbe18, einem anderen Ort, an dem man beinahe greifbar erleben kann, wie die Umstände des jämmerlichen Zugrundegehens waren. Es gehen jedes Jahr 650.000 bis 700.000 Leute dorthin, über die Hälfte von ihnen Ausländer. Ein Deut-scher muß sehr wohl bedenken, was es heißt, daß diese Stätte Jahr für Jahr aufgesucht wird. Man braucht nur die Inschriften zu studieren, man braucht da keinen Führer, um zu begreifen, daß hier Unvorstellbares Wirklichkeit geworden ist. Wir müssen aber mit unserer Geschichte leben, weil wir Teil unseres Volkes sind. Deswegen ist es wichtig, aus der Geschichte zu lernen.

Nach Dankesworten aus dem Vorstand für diese schwierige Reise

Ich brauche nicht zu sagen, daß das, was jetzt in der DDR sich ereignet, für uns alle nicht nur faszinierend, sondern mit viel Hoffnung verbunden ist. Es ist so faszinierend, daß jeder, der ehrlich ist, zugeben muß, daß er die Prozesse, die hier in Gang gekom-men sind, vor einem Jahr für undenkbar gehalten hätte. Was wir jetzt brauchen, ist zweierlei. Wir dürfen über aller Aufmerksamkeit für die Entwicklung in Deutschland nicht vergessen, was ringsum in der Welt geschieht. Die Betrachtung aller unserer Nachbarn – ich mache da keinen Unterschied zwischen Ost und West – ist von aller-größter Bedeutung. Es ist ein absoluter Irrtum zu glauben, daß die Entwicklung in Deutschland vonstatten gehen kann ohne die Einflüsse, die von draußen kommen. Da ist die Allianz, das können Sie in der EG fortsetzen, das können Sie fortsetzen für die Beziehungen von Gorbatschow zum Reformprozeß in der DDR. Wir sind auf einen gewaltigen Weg eingeschwenkt. Aber ob dieser Weg zu einem guten Ende findet, ist entscheidend auch von uns abhängig, in erster Linie von der Entwicklung in der DDR. Die Reformen müssen in der DDR passieren und nicht bei uns. Aber wir müssen uns darüber im klaren sein, daß wir diesen Prozeß beeinflussen können und daß der Prozeß elementar beeinflußt wird von vielen von draußen. Wenn wir am Samstagabend im Elysée in der EG-Gemeinschaft über das Thema reden19, werden Sie deutlich merken, wer sich positiv geäußert hat. Es ist bemerkenswert, daß sich die christlich-demokratische Gemeinschaft in Europa zurückhält. Mich haben angerufen sozialisti-sche Regierungschefs, allen voran der französische und der spanische20. Ich habe wenig gehört von einer Reihe von anderen, was eigentlich naheliegend war, daß sie wenigs-tens ein gutes Wort sagen. Wenn ich die Briefe und Telegramme sehe, ist die Zahl derer aus der Sozialistischen Internationale in einem eindeutigen Übergewicht. Mein

18 Kolbe, Maksymilian Maria (1894–1941), polnischer Priester; 1919 Priesterweihe, 1941

nach Auschwitz verbracht, wo er den Opfertod starb, 1982 von Papst Johannes Paul II. hei-liggesprochen.

19 EG-Sondergipfel am 18. November 1989 in Paris. 20 Vermutlich meint Kohl hier Mitterand. – González, Felipe (geb. 1942), spanischer Politi-

ker; 1974–1997 Generalsekretär der Spanischen Sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE), 1982–1996 Ministerpräsident.

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bekanntes Engagement für die internationale christlich-demokratische Bewegung ist durch diese Erfahrung nicht noch weiter reduziert worden. Das ist keine sehr erfreuli-che Sache. Wir werden bei nächster Gelegenheit einmal darüber reden.

Ich sage dies, weil mir die Debatte hier zu dem Punkt nicht gefällt. Ich meine nicht die Christlichen Demokraten, sondern daß wir zu wenig in dieser Stunde aufs Ausland gucken. Das ist natürlich unsere Sache. Ich will gleich hinzufügen, es gibt ja die For-derung – auch aus unserem Kreis –, es sei jetzt die Stunde für einen Friedensvertrag. Ich weiß wirklich nicht, was uns bei einem solchen Friedensvertrag erwartet. Ich kann das aber beschreiben. Wenn ich dann noch im Amt bin, sitzt da die Bundesregierung und 120 oder wieviel Siegermächte. Wir haben ja eine ganze Menge Siegermächte, die sind am 1. Mai 1945 noch in den Krieg eingetreten. Und ich sage Ihnen auch, mit der Behauptung, wir hätten bis Ende des Jahres 100 Milliarden an Wiedergutmachung gezahlt, machen wir da keinen großen Eindruck. Das ist ein großer Irrtum. Die sagen schlankweg, das war gestern. Die Polen verhalten sich so wie alle anderen. Die Polen sagen zwar, das ist alles wahr, das haben wir einmal ausgemacht, aber euch geht es jetzt gut und uns geht es sehr schlecht. Und da es den meisten schlechter geht als uns, kann ich Ihnen voraussagen, wie so etwas läuft. Ich warne wirklich Neugierige. Ich warne aber die Neugierigen auch aus innenpolitischen Gründen. Wollen Sie wirklich, wo es auf die innere Souveränität, ich spreche nicht von der rechtlichen, ankommt, daß der Außenminister Dumas21, daß der Außenminister Schewardnadse22, daß der Au-ßenminister Baker23 und der jetzige britische Außenminister24 zu einer Konferenz zusammentreten und mir mit einer Souveränitätsdebatte über die Bundesrepublik kommen? Wenn Sie das wollen, vergessen Sie die Bundestagswahlen. Das muß man ganz klar sehen. Ich sage das noch einmal; wer anderer Meinung ist, soll das hier sagen. Ich werde jedem aus der CDU ab heute öffentlich widersprechen, der jetzt eine Friedensvertragsdebatte verlangt. Es verstehen auch die Leute drüben nicht. Deren Perspektive ist es wirklich nicht. Eine völlig andere Frage ist, daß wir mit Blick auf Berlin zu gegebenem Zeitpunkt die Vier-Mächte-Verantwortung25 in Erinnerung brin-

21 Dumas, Roland (geb. 1922), französischer Politiker (Sozialistische Partei); 1983 Europa-

minister, 1984–1986 und 1988–1993 Außenminister, 1995–2000 Präsident des französi-schen Verfassungsgerichts.

22 Schewardnadse, Eduard (geb.1928), georgischer Politiker (bis 1991 KPdSU); 1965–1972 georgischer Innenminister, 1985–1991 sowjetischer Außenminister, 1992–1995 Vorsitzen-der des georgischen Staatsrats, 1995–2003 Präsident Georgiens.

23 Baker, James Addison (geb. 1930), amerikanischer Politiker (Republikaner); 1981–1985 und 1992 Stabschef des Weißen Hauses, 1985–1988 Finanzminister, 1989–1992 Außen-minister.

24 Hurd, Douglas (geb. 1930), britischer Diplomat und Politiker (Konservativer); 1954–1966 diplomatischer Dienst, 1974–1997 Mitglied des Unterhauses, 1985–1989 Home Secretary, 1989–1995 Außenminister, 1997 Baron Hurd of Westwell.

25 Das am 3. September 1971 unterzeichnete Vier-Mächte-Abkommen über Berlin (in Kraft getreten am 3. Juni 1972) regelte die Verantwortlichkeiten der vier Mächte in Berlin, das

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gen. Aber das würde ich in einer anderen Weise machen und nicht oder weit getrennt von einer Friedensvertragsdebatte.

Zweiter Punkt. Das große Problem, das wir jetzt einfach haben, ist, daß unsere Ge-sprächspartner in der DDR jetzt selber nicht wissen, was werden wird. Wenn ich mei-nen Informationsstand von heute mittag zugrunde lege, muß ich Ihnen sagen, daß ich der Überzeugung bin, daß der neue Ministerpräsident26 und der Staatsratsvorsitzende27 über den Weg, der gemeinsam vor uns liegt, sehr unterschiedliche Auffassungen ha-ben. Nun werden wir ja diese Woche eine Regierungserklärung28 dort hören und die Neubildung einer Regierung haben. Ich selbst bin noch völlig unentschieden, ob ich vor dem SED-Parteitag29 oder danach hingehe. Das werde ich abhängig machen von der Entwicklung der nächsten Tage und von dem, was dort gesagt wird. Es wäre ganz falsch, würde ich sagen, ich muß unbedingt vorher hin. Es könnte sein, daß das zur Stabilisierung einer Gruppe führen würde, die nicht unbedingt stabilisiert werden sollte. Es kann aber auch das Umgekehrte sein. Man muß einfach die nächsten Tage abwarten. Es ist jetzt ja auch gar keine Notwendigkeit, mich festzulegen. Nur eines ist ganz klar, ich muß – von heute an gerechnet – in den nächsten vier Wochen diesen Besuch machen. Der Besuch kann nicht verschoben werden. Ich will ihn auch gar nicht verschieben. Ich will auch mit beiden reden. Aber ich gehe nicht nach Ost-Berlin. Ich habe nicht die Absicht, bei dieser Gelegenheit etwas zu applanieren, was wir immer abgelehnt haben. Das habe ich Herrn Krenz schon mitgeteilt, und er hat es auch akzeptiert. Wir brauchen jetzt in der Situation diese Diskussion nicht auch noch.

Wir müssen jetzt die drei Punkte sehen bei dem, was jetzt möglich ist oder viel-leicht nicht möglich ist. Ich habe es im Bundestag genannt.30 Ich will es jetzt nur mit einem Stichwort nennen. Wir schließen dabei alles ein. Wenn wir von freien Wahlen reden, meinen wir natürlich wirklich freie Wahlen. Das heißt, freie Zulassung von Parteien, freie Meinungsäußerung, Publikationsfreiheit, Organisationsfreiheit, Ge-werkschaftsfreiheit. Da ist also der ganze Katalog enthalten. Mir ist zur Stunde nicht klar, wenn sie jetzt vom SPD/SED-Papier und freien Wahlen reden, ob sie diese Defi-nition von freien Wahlen meinen. Denn diese Definition beinhaltet eine Verfassungs-änderung. Ich habe Stimmen aus der Führung, die sagen, genau das muß gemacht

Verhältnis West-Berlins zur Bundesrepublik Deutschland sowie den Zugang zu West-Berlin (BAnz Nr. 174/72 – Beilage).

26 Modrow, Hans (geb. 1928), Maschinenschlosser; 1967 Mitglied des Zentralkomitees der SED, 1973–1989 Parteichef von Dresden, November 1989–April 1990 Ministerpräsident der DDR, ab Dezember 1989 Mitglied des Parteivorstandes der PDS, der Nachfolgepartei der SED, 1990 Ehrenvorsitzender der PDS, 1990–1994 MdB (PDS), 1999–2004 MdEP (PDS).

27 Egon Krenz. 28 Regierungserklärung von Ministerpräsident Modrow vom 17. November 1989 in: Volks-

kammer 9. WP Bd. 25 S. 272–281. 29 Siehe Lagebericht vom 27. November 1989 Anm. 12. 30 Am 8. November 1989 Sten. Ber. 11. WP 173 Sitzung S. 13010–13018.

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werden. Aber Herr Krenz hat mir am Telefon gesagt, unser Modell ist Moskau und ist nicht Warschau und nicht Budapest. Dies ist in der Tat der springende Punkt. Das ist nicht unsere Forderung nach freien Wahlen. Bei den freien Wahlen will ich gleich hinzufügen, wenn wir weitreichende Aktivitäten zugunsten der Opposition unterneh-men, mit bestimmten Voraussetzungen, muß das natürlich so sein, daß, wenn man freie Wahlen macht, diese Wahlen in einem Terminplan eingegliedert sind, in dem eine faire Grundausstattung, eine Chance für neuzugründende Parteien gegeben ist. Da gibt es also viele Möglichkeiten, am Wegrand Schlingen zu legen. Es hat auch keinen Sinn, von bürgerlichen Freiheiten zu reden, wenn sich die Wirtschaftsordnung nicht ebenfalls in diesem Sinne entwickelt.

Das Problem, vor dem wir jetzt stehen – ich will es ganz verallgemeinert formulie-ren –, ist, wir sagen das aus gutem Grund, und so habe ich es auch im Bundestag ge-sagt: Ein wirklich breites Engagement auf allen Gebieten geht nur, wenn wir eine Chance haben zu mehr Freiheit im weitesten Sinn des Wortes und wenn das nicht eine vage Vermutung ist, sondern wenn wir auf diesem Weg die Sicherheit haben. Ich bleibe bei dieser Feststellung. Ich werde es morgen auch in der Regierungserklärung wiederholen.31 Aber wir können nicht gleichzeitig dasitzen und gucken, bis der Zeit-punkt etwa der Vollendung der Sozialen Marktwirtschaft in der DDR kommt; da habe ich meine Zweifel, selbst wenn alles dynamisch geht. Schauen Sie sich den Prozeß bei uns im Jahr 1948 an. Im Sommer 1950 haben sie in den Couloirs des Bundestags über die Ablösung Ludwig Erhards32 nachgedacht – bei uns, nicht bei andern –, weil die Soziale Marktwirtschaft, wie man damals sagte, gescheitert war. Aber es muß die Richtung sein, und es muß ein Prozeß sein, der irrreversibel ist, also aus der Sicht der DDR, wenn eine Welt zusammenstürzt. Wenn eine Weltmacht Aktivitäten macht, ist das eine andere Frage. Ich spreche jetzt aus der DDR-Sicht. Die DDR wird nur auf die Beine kommen, auch aus der Sicht und den Ansprüchen der Bürger, wenn sie wirt-schaftlich auf die Beine kommt. Das heißt, sie muß in ihrer Wirtschaftsordnung sich in Richtung auf Ungarn und auf Polen bewegen. Aber bis diese Sache wirklich Erfolg bringt, können wir nicht einfach dahocken und sagen, wir machen gar nichts.

Deswegen ist mein Rat – und da sind wir mitten in der Diskussion –, daß wir ein paar Dinge, die wir ohnedies vorhaben, die den Deutschen in beiden Teilen des Landes dienen und die wir auch gemacht hätten, wenn jetzt diese Vorgänge nicht gewesen wären, einfach fortsetzen, vielleicht verstärkt. Dazu gehört das Thema Umweltschutz. Das katastrophale Beispiel der Elbverschmutzung gilt so oder so. Aber es ist zugleich

31 Sten. Ber. 11. WP 176. Sitzung S. 13326–13335. 32 Erhard, Ludwig (1897–1977), Honorarprofessor; 1942–1945 Leiter des „Instituts für In-

dustrieforschung“; 1945/46 Staatsminister für Wirtschaft in Bayern, 1947/48 Leiter der „Sonderstelle Geld und Kredit“ zur Vorbereitung einer Währungsreform; 1948/49 Direktor der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebiets der Bizone, 1949–1977 MdB; 1949–1963 Bundesminister für Wirtschaft; 1963–1966 Bundeskanzler; 1966/67 Bundesvorsitzender der CDU; 1967–1977 Ehrenvorsitzender der CDU.

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ein Zeichen nach drüben, daß wir jetzt nicht stoppen, sondern daß wir weitermachen. Ich sehe ein anderes Thema, das nicht so ganz vorne lag und das ich gerne vorziehen möchte. – Das kostet übrigens Geld; bei uns ist ja eine Stimmung ausgebrochen, als würde man das Geld abends zwischen 9 und 10 Uhr drucken, und sonst braucht man keine Rücksicht zu nehmen. – Wir haben eine miserable Kommunikationsmöglichkeit im Bereich des Telefons. Egal, was ist, eine Verbesserung auf diesem Sektor dient den Menschen. Es ist natürlich ein Zeichen, wenn die Bundesrepublik auf diesem Feld sozusagen die Bürger der DDR persönlich anspricht, weil ihre Kommunikationsmög-lichkeit verbessert wird. Es gibt eine Reihe von anderen Sachen, die ich nur erwähne, beispielsweise im ärztlichen Bereich Dialysehilfen und dergleichen. Man muß einmal überlegen – man trifft ja hier hin und wieder auf die Meinung, jeder Mensch in der DDR hätte einen Trabi, das ist eine verschwindende Minderheit –, es gibt dort viele alte Leute mit kleinen Renten, ob man vielleicht jetzt über Weihnachten etwas macht. Ich bin gegen Paketaktionen. Ich glaube aber schon, daß es eine Geste wäre gegenüber den Menschen in der DDR, wenn man die Gruppe bei den Sondertarifen der Bahn für Weihnachten etwa bedenkt. Wir müssen irgendwie zu Weihnachten ein Stück Wärme hineinbringen. Ich muß allen, die mir sagen, ich soll jetzt aufrufen, daß die Bundes-bürger Pakete hinschicken, offen sagen, da habe ich Reserven. Denn dann kommen die herüber mit ihren 100 Mark, und das führt bei denen, die hier eine kleine Rente haben, zu dem Ergebnis, sollen wir denen auch noch Pakete schicken?

Dann, das will ich nur andeuten, das ist ein ganz schwieriger Punkt, wie wir das mit dem Zwangsumtausch machen von uns nach dort, und umgekehrt von dort nach hier, wie wir das mit dem Geld machen – wir haben bisher 100 Mark gegeben –; bei den Hochrechnungen wird da jetzt alles gesprengt. Wenn die Berechnung richtig ist, die angestellt wurde, käme das darauf hinaus, daß die einmal im Jahr gezahlten 100 Mark bei der jetzigen Situation auf eine Milliarde wächst. Jetzt denke ich einfach einmal laut. Bei einer Rechnung muß ich natürlich auch sehen, unser Interesse kann nicht sein, daß nach einer Wartepause die Enttäuschung umschlägt in eine gewaltige Welle, die zu uns kommt. Das kostet übrigens auch Geld. Bei manchen hat man den Eindruck, die tun so, wenn die einmal da sind, kosten sie uns kein Geld. Das ist ein großer Irrtum, das kostet gewaltiges Geld. Und es ist politisch falsch, daß die Leute von daheim fortlaufen. Die sollen in ihrer Heimat bleiben. Aber das werden sie nur tun, wenn sie nach einer gewissen Warteschleife, die sie jetzt sehen, sagen, es passiert etwas. Wenn sie sehen, es passiert nichts, werden wir bei dieser geöffneten Grenze die tollsten Verhältnisse erleben. Hier stellen wir noch Überlegungen an. Eines ist klar, ich mache jetzt nicht öffentliche Erklärungen, wie dauernd von mir verlangt wird, was wir nun der DDR anbieten. Ich weiß ja nicht, was die bringen. Täuschen Sie sich nicht, die Sympathie hier ist sehr groß, daß das jetzt besser geworden ist. Wenn es aber ans Bare geht und die Rechnung aufgemacht wird, haben wir die ganze Debatte, die wir hier an diesem Tisch schon mit den Aussiedlern hatten.