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Jana Hensel Zonenkinder Rowohlt

Hensel, Jana - Zonenkinder

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Zonenkinder (los niños de la zona), alude a las cuatro zonas en las que fue dividida la Alemania de la posguerra, y que luego generó el eje Este-Oeste de la guerra fría. Libro en alemán sobre la niñez en la República Demócratica Alemana.

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JanaHensel Zonenkinder Rowohlt1.DasschnewarmeWir-GefhlberunsereKindheitAm letzten Tag meiner Kindheit, ich war dreizehn Jahre und drei Monate alt, verlie ichgemeinsam mit meiner Mutter am frhen Abend das Haus. Es war bereits dunkel, man sahden Atem vor dem Gesicht, Nieselregen fiel vom Himmel. Ich musste hohe Schuhe,Strumpfhosen und zwei Pullover unter meinen blauen Thermoanorak ziehen und niemandwollte mir so richtig sagen, wo es hingehen sollte. Auf dem Weg zur Straenbahn, den wirimmerliefen,umindieLeipzigerInnenstadtzukommen,musstenwirbereinBahngelnde,und ich wei nicht mehr, ob ich es mir heute einbilde oder ob wir tatschlich keinem -Menschen begegnet sind und ob ich damals schon dachte, dass der Regen, den man nur imgelben Licht der Laternen erkennen konnte, sehr schn aussah, wie er da so ruhig undgleichmigvorsichhinfiel.In der alten Straenbahn, deren Tren man mit der Hand aufziehen musste und die sich nierichtigschlieenlieen,sodassderWindeiskalthereinpfiff,whrend11 mansichaufdenbeheiztenLedersitzendenHinternverbrannte,warenalleLeutesokomischdickangezogen,alsgbeesandiesemAbendeinFuballspielodereinFeuerwerk.EinpaarFrauenhattenOhrenschtzer,diemanseitkurzemauchinunserenLdenkaufenkonnte,berden Kopf gezogen, andere selbst gestrickte Stulpen an den Fen, und seltsamerweise hatteniemand eine Tasche bei sich. Als nach einigen Stationen der Fahrer die vorderste Tr desWagens aufzog und rief, dass die Bahn jetzt hier halten und nicht mehr weiterfahren wrde,stiegenalleausundliefen,ohnedassjemandeinWortgesagthtte,weiterindieInnenstadt,soalshttenheuteAbendalledasselbeZiel.Spter, am Ziel, das mir immer noch niemand wirklich nennen konnte, waren viele Leutedicht zusammengedrngt und strebten zur Nikolaikirche und vor die Oper, auf den Karl-Marx-Platz. Dass man hier vereinzelt Transparente und Plakate ausmachen konnte und dasssich alle, als gbe es einen unsichtbaren Regisseur, zu einem Zug formierten und den RingentlangzogenunddassdasderAnfangvomEndewar,daskenntmanausdemFernsehen.Ichweiselbstauchnichtmehrgenau,wasichmiteigenenAugenundwasich,andiesemAbendzum ersten und dann unzhlige Male spter, in den Tagesthemen sah. Fest eingeprgtallerdingshabeichmir- unddasweiichvielleichtdeshalbnoch,weilichesniejemandemerzhlthabe-,dassichdenStudenten,derziemlichlangenebenmirlief,gernanderHandge-12 fasst htte und die Soldaten, die am Straenrand auf uns aufpassen mussten, gern gefragthtte,obsienichtmitzuunsrberkommenwollten,wirseiendochvielmehralssie.Stattdessen lief ich brav zwischen dem Studenten und meiner Mutter den Ring entlang unddachte wahrscheinlich zum ersten Mal in meinem Leben, dass mit dem Land, das immermeineHeimatgewesenwar,geradeetwasgeschah,vondemichgarnichtwusste,waseswar,und dass gewiss kein Erwachsener mir erklren konnte, wohin es fhren wrde. Htte derStudent neben mir gesagt: Dies hier sei erst der Anfang, knftig wrden von Montag zuMontag mehr Leute aufden Straen zufinden sein, und all daswrde dazu fhren, dass dieMauer fallen und unser Land bald verschwinden und alles mitnehmen werde, sodass nichtsmehrvonihmbrigbliebe,dannhtteichihnbestimmtverwundertangeschautundimStillenbei mir gedacht, unser Land knne das ruhig versuchen. Doch nie im Leben werde es dasschaffen.Heute sind diese letzten Tage unserer Kindheit, von denen ich damals natrlich noch nichtwusste,dasssiedieletztenseinwrden,frunswieTrenineineandereZeit,diedenGerucheinesMrchenshatundfrdiewirdierichtigenWortenichtmehrfinden.EineZeit,diesehrlangevergangenscheint,inderdieUhrenanders13 gingen,derWinterandersrochunddieSchleifenimHaarandersgebundenwurden.Esflltunsnichtleicht,unsandieseMrchenzeitzuerinnern,dennlangewolltenwirsievergessen,wnschtenunsnichtssehnlicher,alsdasssiesoschnellwiemglichverschwindenwrde.Eswar, als durfte sie nie existiert haben und als schmerzte es nicht, sich von Vertrautem zutrennen.EinesTagesschlossensichdieTrendanntatschlich.Pltzlichwarsieweg,diealteZeit.Heute, mehr als zehn Jahre spter und nach unserem zweiten halben Leben, ist unser ersteslangeher,undwirerinnernuns,selbstwennwirunsanstrengen,nurnochanwenig.Ganzso,wie unser ganzes Land es sich gewnscht hatte, ist nichts brig geblieben von unsererKindheit,undaufeinmal,wowirerwachsensindundesbeinahezusptscheint,bemerkeichalldieverlorenenErinnerungen.Michngstigt,denBodenuntermeinenFennurwenigzukennen, selten nach hinten und stets nur nach vorn geschaut zu haben. Ich mchte wiederwissen, wo wir herkommen, und so werde ich mich auf die Suche nach den verlorenenErinnerungenundunerkanntenErfahrungenmachen,auchwennichfrchte,denWegzurcknichtmehrzufinden.Als nach dem Mauerfall zuerst die Bilder von Erich Honecker und Wladimir Iljitsch LeninausdenKlassenzimmernverschwanden,gabeslangekeinanderesGe-14 sprchsthema. Tagein, tagaus hatten wir die Mnner angeguckt wie das Testbild imFernsehen, doch erst als sie nicht mehr da waren, fielen sie uns pltzlich auf Wann derMilchdienst ging, wann jeder seine Milchtte allein beim Hausmeister kaufen und nicht wiefrherdenganzenMonatimVorausbezahlenmusste,weildasmarktwirtschaftlichbetrachtetunsNeukundeneherhtteabschreckenknnen,habeichdannschongarnichtmehrbemerkt.Ich wei noch, dass es ein Ritterschlag gewesen war, wenn man es zum ersten Malhinbekommen hatte, so in der zweiten oder dritten Klasse, den glibberigen, immer leichtstinkenden Beutel hinter dem Rcken der Lehrer lssig mit zwei Zhnen aufzureien unddirekt aus der ffnung zu trinken, whrend die anderen noch ihren Kindergartenstrohhalmbenutzenmussten.Ich erinnere mich nicht, wann es pltzlich keine Samstage mehr gab, an denen wir in dieSchule gehen mussten. Nachdem die meisten Mitschler es vorgezogen hatten, mit ihrenElternindenWestenzufahren,umdasBegrungsgeldabzuholen,undbestenfallsnochdiehalbeKlasseindieSchulekam,hattenirgendwannauchdieLehrerdieNasevollundwolltenendlich ihre 100 DM abholen. Da musste man die Samstage gar nicht erst abschaffen; sieverschwandeneinfach,ohneeinWortzusagen.Die Dienstagnachmittagebald danach,dennohne AG Popgymnastik, Junge Historiker, Schach oder Knstlerisches Gestalten waren siesowiesoeinbisschenfunktionslosgeworden.Mittwochsum16Uhr15 gingichauchnichtmehrmitHalstuchundKppizumPioniernachmittag,sowiedieGroennicht mehr zur FDJ-Versammlung gingen. Ich sah meine Patenbrigade nicht wieder, derMilchgeldkassierer war verschwunden, der Gruppen-ratsvorsitzende, sein Stellvertreter unddiePionierleiterinauch.ber Nacht waren all unsere Termine verschwunden, obwohl doch unsere Kindheit fast nuraus Terminen bestanden hatte. Es passierte nicht mehr, dass wir morgens vor der erstenStunde eine Exkursion, einen Feueralarm oder einen Fahnenappell auf dem Tagesplanvorfanden. Die Reihenuntersuchung hatte man abgeschafft, und geschlossen imKlassenverband,wieunsereLehrerimmersagten,gingniemandmehrmitunszumZahnarztin den Schulkeller. Er hatte seine Praxis mit den langen Turnbnken und den endlosenKleiderhakenbrettern imWartezimmer lngst verlassen, und ichwar ganz froh, dass ich nundie stndigen Bohrgerusche nicht mehr hrte oder wegen der antiseptischen Gerche mitzugehaltenerNasedurchdasTreppenhaushetzenmusste.16 Niemandsagteuns,wohinmandieschwerenschwarzenTurnhallenboxenbrachte,ausderenLautsprechern frhmorgens olympische Hymnen verkndet hatten, dass der groe Tag derSpartakiade gekommen war. Immer gegen sieben Uhr, die Sonne war noch gar nicht richtigaufgegangenundderSportplatzziemlichkalt,hattenwirinReihundGliedgestandenundeskaum erwarten knnen, uns fr die Stadtbezirksspartakiade im Schlagballweitwurf, imDreisprungoderim60-m-Laufzuqualifizieren.DenTurnbeuteldrckteichda,wodiewarmeTeeflaschelag,einbisschenfestergegendenBauch,dachteanHeinzFlorianOertel,unddieanderen schlugen ihre Hnde kraftvoll gegen die Oberarme, so wie sie es bei denFriedensfahrernimFernsehengesehenhatten.Nun war Leistungssport zum Schimpfwort geworden. Keiner von uns ging mehr nach derletzten Unterrichtsstunde zum Training. Das war gar nicht so schlecht, denn es hatte unsimmer ein bisschen gergert, dass das Training so frh begann und wir, nach der Schulegerade zu Hause angelangt, stets nur den ersten Teil von Unsere kleine Farm oder Furygucken konnten, weil wir schon wieder losmussten. Ich kam auch nicht mehr abends nachsechs Uhr geschlaucht und fertig nach Hause, trank meine Flasche Milch nicht mehr imStehen aus und erledigte nicht mehr allzu rasch meine Hausaufgaben. Das freute unsereMtter,endlichhttenwirgenugZeitgehabt,MedizinnachNoten,Jockey17 MonikaoderDasKrankenhausamRandederStadtbiszumSchlusszugucken.Aberdiegabesjaauchnichtmehr.Nach und nach waren die ABC-Zeitungen der Kleinen von den Schulhfen verschwundenund damit nicht nur Rolli, Flitzi und Schnapp, sondern auch Manne Murmelauge, unserFreund mit Halstuch und Kppi, der uns auf der dritten Seite immer Tipps gab, wie wir denTimurtrupp besser organisierten, wie die Wandzeitung zur Woche der Waffenbrderschaftnoch besser wrde und was die drei Zipfel des Halstuches zu bedeuten hatten. Er rief unsnicht mehr dazu auf, fr den inhaftierten Nelson Mandela und die Sandinisten in NikaraguaAltpapier und leere Schnapsflaschen zu sammeln oder in der zweiten groen Pause einenKuchenbasarimEingangsbereichunsererSchulezuveranstalten.AmbestenvordemZimmerdes Direktors, an dem man vorbeimusste, wenn man auf den Hof wollte, und wo man dieDDR-, die Pionier-, die FDJ- und dieFahne der Union der Sozialistischen Sowjetrepublikengutsehenkonnte.FallswirdenSchulausscheidgewinnensollten,wrdenwirvorderganzenSchule einen Wimpel berreicht bekommen, und der nett aussehende, schwarze alte MannwrdeausdemGefngnisfreigelassen.18 Ein klarer Vorteil allerdings war, dass Manne Murmelauge mich mit seinen Aufgaben nunnicht mehr in brenzlige Situationen bringen konnte: Natrlich hatte ich so oft wie mglichAltstoffegesammelt,schlielichwareseinederwenigenMglichkeitengewesen,durchdenSERO-Altstoffhandel- proKilozahltedereinpaarPfennige- dasTaschengeldaufzubessern.Wenn ich nun aber immer mehr Zeitungen in die Schule tragen sollte und dort kein Gelddafrbekam,mussteichesschaffen,diedoppelteoderdreifacheMengezuorganisieren,umtrotz des hheren Solls noch immer ausreichend Sekundrrohstoffe an die Annahmestellenverklingeln zu knnen. Leider waren die Reviere abgesteckt, und es konnte bse enden,klingelte man mit den Worten: "Guten Tag, wir sind Junge Pioniere und sammeln FlaschenundAltpapier"anTreninjenenStraen,durchdiedieJungsausderSiebtenimmerzogen.Heuteahneich,warumRonnysMutterbeisolchenGelegenheitendenblauenRollfixniegernherausgab; heute wei ich,dass derjenige, der untenallein vor demHaus sa und aufpasste,auf ganz schn verlorenem Posten war, wenn die Jungs aus der Siebten von unseremunerlaubtenVorstoWindbekommenhattenundihrRevierverteidigenwollten.Korbine Frchtchen aus der FRSI ging nicht mehr mit mir in den Wald, um zu erzhlen,welcheBeerenwiressendurftenundwelchenicht.Sieerklrteunsnichtmehr,warumesfrdieForstwirtschaftsbetriebewichtig19 war,dasswirKastanienundEichelnsammelten,HeilkruterimSchulgartenanbautenundaufdiese Weise halfen, die Ertrge zu steigern. Statt Otto-&-Alwin-Bildchen sammelten wirberraschungseier, statt Puffreis aen wir Popkorn, die ersetzte die ,und statt an verregneten Sonntagnachmittagen Kastanienmnnchen zu basteln, Bierdeckelzwischen die Speichen unserer Fahrrder zu montieren oder Mau-Mau zu spielen, saen wirnunvorMonopolyoderlasenMickymaus.Oberhaupt waren sie auf einmal verschwunden, diese ganzen pdagogischenBerufsgruppenspiele, die aus uns eine sozialistische Persnlichkeit machen sollten und mitdenen wir uns in unseren Kinderzimmern als Konstrukteure, Ingenieure, Kosmonauten,LehreroderVerkehrshelferaufeineziemlichklareZukunftvorbereitethatten.IchsehemichnochaufaltenFotos:DieSanitascheschrgberdenBauchgehngt,dieweieHaube mit dem roten Kreuz auf dem Kopf und die Hand auf den Lenker meines grnenRollers gelegt, schaue ich in die Kamera und wirke ein bisschen wie von derKindereinsatztruppe der Polizei. Aber das ist mehr als zehn Jahre her. In dieser Zeit ist ausunsererKindheiteinMuseumgeworden,daskeinenNamenundkeineAdressehatunddaszuerffnenkaumnochjemandeninteressiert.Gehe20 ichmanchmal,nichtoft,alleinundwieimTraumindenverdunkeltenRumenumher,treffeich viele alte Bekannte und freue mich, sie wieder zu sehen. Im selben Augenblick aberbemerke ich, wie bel sie es uns genommen haben, dass wir uns damals so pltzlich vonihnen abwandten, ohne uns zu verabschieden, und je nher ich mit meinem Gesicht an dieVitrinen herangehe, desto weiter weichen sie zurck. Ein bisschen sehen sie unter demGlaswieToteaus,undaufeinmalbinichnichtmehrganzsicher,obsiejemalsunsereFreundeundwirmitihnenamLebengewesensind.DieKaufhallehiejetztSupermarkt,JugendherbergenwurdenzuSchullandheimen,NickiszuT-Shirts und Lehrlinge Azubis. In der Straenbahn musste man nicht mehr den Schnipselentlochen, sondern den Fahrschein entwerten. Aus Pop-Gymnastik wurde Aerobic, und aufderfrischgestrichenenPoliklinikstandeinesMorgenspltzlich"rztehaus".DieSpeckitonneverschwandundwurdedurchdengrnenPunktersetzt.MondoshieenjetztKondome,aberdasgingunsnochnichtsan.Statt ins Pionierhaus ging ich jetzt ins Freizeitzentrum, unsere Pionierleiter waren unsereVertrauenslehrer, und aus Arbeitsgemeinschaften wurden Interessengemeinschaften. in denLdengabesallesausderReklamezukaufen.AufdenStraensaenberallHtchenspieler.UndMitschler,dievorderWendeinden21 Westen gemacht hatten, wie das damals hie, tauchten pltzlich auf dem Schulhof auf, alsseiensienieweggewesen,redetensokomischbetontundsahenauswieausderMedi&Zini.Zu den Fidschis durfte ich nicht lnger Fidschis sagen, sondern musste sie Auslnder oderAsylbewerber nennen, was irgendwie sonderbar klang, waren sie doch immer da undzwischendurchnieweggewesen.FrdieKubanerunddieMosambikanerhatteeskeinWortgegeben.Keinsvorherundkeinshinterher.Siewarensowiesoaufeinmalalleverschwunden.Nicht anders als die Knastis, die die Flaschen und Glser in den SERO-Annahmestellenentgegengenommen, nach Farbe und Gre sortiert und darauf aufgepasst hatten, dass wirabends nicht heimlich durch das Loch im Zaun in die groen Zeitschriftencontainer stiegen,umWestzeitschriftenihrervolkswirtschaftlichsinnvollenZweitverwertungzuentreien.DieDingehieeneinfachnichtmehrdanach,wassiewaren.Vielleichtwarensieauchnichtmehr dieselben. Schalter hieen Terminals, Verpflegungsbeutel wurden zu Lunchpaketen,Zweigstellen zu Filialen, der Polylux zum Overheadprojektor und der Trffner in derStraenbahn zum Fahrgastwunsch. Assis zu sagen habe ich mir schnell abgewhnt, undAssikinder, mit denen wir in Lernpatenschaften Mathe und Rechtschreibung lernten und aufdiewireinAugehabensollten,damitsienichtgergertwurden,unddiewirbesuchen22 gingen,wennsienichtzurSchulekamen,diegabesauchnichtmehr.Die Olsenbande dagegen, ber die wir uns an vielen Sonntagvormittagen in einer Artsozialistischer Kinderkinomatin ohne Sekt fr 35 Pfennig halb zu Tode gelacht hatten, diegabesnoch;undgenaudasbrachtemeinWeltbildendgltigzumEinsturz:GenerationenvonKindern hatten diesen leider ziemlich einfltigen Dnen bei ihren Taschenspielertrickszugesehen und geglaubt, die groe Welt liee sie, zumindest ein wenig, teilhaben und httesie nicht ganz vergessen. Als nach der Wende dann jedoch kein Mensch im Westen je vonEgon,BenniundKjeldgehrthatte,dafraberjederKarelGottkannte,denPrager,vondemwir nun wirklich glaubten, er habe nur fr uns Deutsch gelernt und gehre uns, uns ganzallein,daverstandichgarnichtsmehr.WennmirheuteFreundeausHeidelbergoderKrefeldsagen,siehttenlangegebraucht,sichdaranzugewhnen,dassRaidernichtmehrRaider,sondernirgendwannTwixhie,undwiesehrsieeslieben,indenFerienfreinpaarTagenachHausezufahren,weilmanesdazwarnicht lange aushalte, aber alles noch so schn wie frher und an seinem Platz sei, dannbeneide ich sie ein bisschen. Ich stelle mir in solchen Momenten heimlich vor, noch einmaldurchdieStraenunsererKindheitge-23 hen zu knnen, die alten Schulwege entlangzulaufen, vergangene Bilder, LadeninschriftenundGerchewiederzufinden.InGedankenlegeichmichstillundvonniemandenbemerkt,wie zwischen zwei Pausenklingeln, auf den verstaubten Matratzenberg in der hinteren Eckeder Turnhalle und halte meine Nase ganz dicht an die groen, schweren Medizinblle. IchsehehinberzudenlangenTurnbnkenausHolz,streichemitdemHandrckendarberunderinneremichanunsereAngstvordenSplittern,zogenwiraufdemBauchliegend,mitweitausholenden Armbewegungen ber sie hinweg. Nur wenn die eigene Mannschaft am Randstandundeinenlautstarkanfeuerte,verlorsichdieAngstfrSekunden.Lieber waren mir da die knchelhohen Turnbnke beim Vlkerball, wo sie alsSpielfeldmarkierungen den Vlkermann von der gegnerischen Mannschaft trennten. Seinegroe Stunde schlug, wenn alle Mitspieler ausgeschieden waren und die Ungelenken undDickenoftlngstinderUmkleidekabinewarteten,gleichgltig,welcheGruppedenSiegnachHause tragen sollte. Leider sahen sie auf diese Weise nie, wie ein guter Vlkermann einelngst verloren geglaubte Mannschaft wieder ins Spiel bringen konnte und wie wir anderen,vor Aufregung glhend, unseren Vlkermann dafr liebten. In den darauf folgendenUnterrichtsstunden habe ich mich heimlich zu meinem Vlkermann umgedreht und ihnbetrachtet,zufriedenundohneNeid.Dochunsere24 Heldenvondamalslebenschonlangenichtmehr,undweilunsereKindheiteinMuseumohneNamen ist, fehlen mir die Worte dafr; weil das Haus keine Adresse hat, wei ich nicht,welchenWegicheinschlagensoll,undkommeinkeinerKindheitmehran.Wir werden es nie schaffen, Teil einer Jugendbewegung zu sein, dachte ich einige Jahrespter, als ich mit italienischen, spanischen, franzsischen, deutschen und sterreichischenFreunden eng zusammengequetscht in einem Marseiller Wohnheimzimmer sa. Die WendewarbereitsmehralssechsJahreher.DieItalienerhattenfrallegekocht,Sthlegabesnicht,manaaufdenKnienundsaaufdemBett,demFuboden,inderSchranktroderstand,nurdenKopfinsZimmergestreckt,anderoffenenTr.AlseinigeFlaschenWeingeleertwarenund die Aschenbecher langsam berquollen, begannen alle laut, euphorisiert und wilddurcheinanderzureden.AlteNamenundKindheitsheldenflogenwieBlledurchdenRaum:welcheSchlmpfemanamliebstenhatte,welchesSchlumpfkindmitwemverwandtwarundwie sie auf Italienisch, Deutsch oder Spanisch hieen. Lieblingsfilme wurden ausgetauscht;Lieblingsbcher beschworen und erhitzt die Frage debattiert, ob man den Herrn der Ringe,PippiLangstrumpf,DonaldDuckoderDagobertliebermochte,LuckyLukeoderAsterixundObelixverschlungenhatte.25 IchmussteanAlfonsZitterbackedenken,erinnertemichandenbravenSchlerOttokarundhtte gern den anderen vomZauberer der Smaragdenstadt erzhlt. Ich sah Timur und seinenTrupp, Ede und Unku, den Antennenaugust und Frank und Irene vor mir, mir fielen LttMatten und die weie Muschel, der kleine Trompeter und der Bootsmann auf der Schollewieder ein. Einmal versuchte ich es, hob kurz an, um von meinen unbekannten Helden zuberichten,undschauteininteressierteGesichterohneEuphorie.MiteinemSchlaghatteichessatt, anders zu sein als all die anderen. Ich wollte meine Geschichten genauso einfacherzhlen wie die Italiener, Franzosen oder sterreicher, ohne Erklrungen zu suchen undmeine Erinnerungen in Worte bersetzen zu mssen, in denen ich sie nicht erlebt hatte unddie sie mit jedem Versuch ein Stck mehr zerschlugen. Ich verstummte, und um ihre PartyundihrschneswarmesWir-Gefhlnichtlngerzustren,hieltichdenMund.Ichberlegte,was ich stattdessen mit meiner Kindheit anfangen knnte, in welches Regal ich sie stellenoderinwelchenOrdnerichsieheftenknnte.WieeinSommerkleidwarsieanscheinendausder Mode geraten und taugte nicht einmal mehr fr ein Partygesprch. Ich nahm noch einenSchluckausdemWeinglasundbeschloss,michlangsamaufdenWegzumachen.2.SonnenuntergangimMauerparkberdieHeimat,dieschne"SehrgeehrteFahrgste,inwenigenMinutenerreichenwirLeipzigHauptbahnhof.Siehabendort Anschluss ... ", schallte es durch den Zug, und wenn es dem Chef des ICE-Teams ausHamburg oder Mnchen auch nie gelang, die Namen der Orte, in die man mit denRegionalbahnen fahren konnte, richtig auszusprechen, so machte sich in mir doch einwohligesGefhlbreit,dasmanalsHeimatgefhlbezeichnenknnte.Eswarjaauchnichtsoleicht, sich als Fremder unter all diesen Eutritzsch', Delitzsch', Meuselwitz' oder Schkeuditz'zurechtzufinden.Wie einige andere stand ich auf und stellte mich mit meinem Gepck brav an der Tr an.Vielleichtbildeteichesmirnurein,aberichhatteimmerdasGefhl,dieanderenFahrgste,dieweiternachNrnbergoderMnchenfuhren,beobachtetendieMenscheninderSchlangeeinbisschengenaueralsbeijedemanderenplanmigenHalt.Alswolltensiesicheinprgen,wergeradehierausstieg.27 NochbiszumEndederNeunzigerwarendieICEsausderHauptstadtnachSachsensehrleer.Nie war es ntig, sich vorher eine Sitzplatzreservierung zu besorgen. Seit aber die DeutscheBahn den Zug von Hamburg nach Mnchen ber ostdeutsches Terrain schickte, waren dieWagen regelmig bis auf den letzten Platz besetzt. Ich empfand es als eine gewisseGenugtuung, dass diese ganzen Menschen - Oktoberfestliebhaber, Strandurlauber, SkifahrerundWattwanderer- nundurchunserLandkutschiertwurden.HinterJena,wennesdurchdasSaaletalvorbeiandenDornburgerSchlssernging,waressogarrichtignettanzusehen.DieToskana des Ostens, wie ein bayerischer Unternehmer den Landstrich einmal bezeichnethatte,gefieldenendochbestimmt.NurleidermussteichjetztabundzudenGesprchensddeutscherRentnerprchenlauschen,dieesbeiderDurchquerungostdeutscherVorstdteoderderstillgelegtenFabrikanlagenvonWolfenoderBitterfeldvorEntsetzenregelrechtschttelte,sodassichschonmeinte,aufstehenunddiebeidenberuhigenzumssen.Esfielihnennichtleicht,ihreAbscheuundihrenHassaufdenmenschenunwrdigenKommunismuszuzgeln;unvorstellbar,wiemanuntersolchenVerhltnissen hatte berleben knnen. Man konnte wirklich von Glck sagen, dass das allesnunvorbeiwar.Der Leipziger Hauptbahnhof htte den alten Leuten, wren sie hier ausgestiegen, bestimmtgefallen.Er28 boteinschnesundberuhigendesBilddesostdeutschenAufschwungsundwarnichtnurzumbeliebtesten Einkaufstempel der Messestadt, wie sie sich ja nannte, sondern auch zumLieblingskindderDeutschenBahngeworden.ZndetemansichamBahnsteigeineZigarettean,sprangensofortdreiTypenvoneinerSicherheitsfirmaaufeinenzu,inderDB-Loungeliefjenseits von Eden, und alle Lden hatten bis 22 Uhr geffnet. Sieben Tage die Woche. Hierwaralles,wiemaneshabenwollte,undweilmandieBahnhofsmissiondernervendenPennerwegengeschlossenhatte,strtenauchdiedenAnblickdesHochglanzostensinzwischennichtmehr.DieLiebederSachsenzuihremHauptbahnhofschientatschlichgrenzenlos.AusallenEckendes Freistaates strmten sie herbei. Als man nach der Wiedererffnung in der riesigenEmpfangshalle noch schnell Plakate mit Ansichten anderer wichtiger europischerVerkehrsknotenpunkte wie Mailand oder Amsterdam aufhngte, glaubten wirklich alle, vonhierausreisemanjetztwiederindieWelt.IchfandeseinbisschentraurigfrunsLeipziger,dassderBundeskanzlerzurfeierlichenErffnung- frdiemanTagundNachtgearbeitetundbei der drei Arbeiter ihr Leben verloren hatten - am Ende doch nicht gekommen war. Anjenem Tag war Nebel, sein Hubschrauber konnte nicht landen, und so verschwand erunverrichteterDingewiederindenWolken.29 Unser Bahnhof aber war dieser Hauptbahnhof nicht mehr. Von ihm oder den anderenhochglnzenden Servicetempeln in Dresden oder Ostberlin, wo sich Arbeitslose, denen mananmerkte, wie schwer das fiel, als Gepcktrger verdingten und Bahnbedienstete sich umservile Untertnigkeit bemhten, sind wir nicht in die Fremde aufgebrochen. Diesebermalten Orte kennen wir nicht, sie sind uns nicht vertraut, und als Tor zur Ferne undSchlsselzurHeimattaugensie,andersalsihreVorgnger,nichtmehr.30 MeinLeipzigallerdingswardasauchnichtmehr.SchonaufdenerstenAusflgenmitGstenausdemWesten,diedieberhmteMdler-Passagesehenwollten,nocheinmaldiePleitestorydes Baulwen Schneider zu hren verlangten und sich vorstellten, in der vitalstenKneipenszene des Ostens wilde Nchte zu erleben, verabschiedete sich die Stadt meinerKindheit von mir. Auch wenn ich auf die sanierten Huser stolz war, auf die neuenLadenpassagen, die Geschfte und Fahrradwege, wurde ich das Gefhl nicht los, die GstesuchtenhierdochnurdieselbenauthentischenGeschichten,diesieschonausdemSPIEGELoder dem FOCUS kannten. Sie waren zufrieden, ging man mit ihnen ins Stasimuseum, zurNikolaikirche und beschrieb man genau, wo die berwachungskameras whrend derMontagsdemonstrationengestandenhatten.DazuliefertemaneinpaarO-Tne,ambesteninleichtem Dialekt, dann hatten sie gefunden, was sie suchten, und mussten ihr Abonnementnach der Reise nicht kndigen. Leider bemerkten weder wir noch sie, dass hinter solchenauthentischen Geschichten ein ganzes Land verschwand, sich erst wie hinter einer Maskeversteckte und dann ganz langsam auflste. Weil wir aber glauben wollten, aus diesenAnekdoten setze sich unser neues Leben zusammen, haben wir sie gern erzhlt und sptersogarangefangen,sieuntereinanderauszutauschen;eineErinnerungnachderanderen,einOrtnachdemanderengingsoverloren.31 Meine Gste liebten es, im Tagebau, dessen Halden die Stadt im Sden nahezu vollstndigumschlossen,umherzuspazierenunddiesenungeheurenRaubbau,wiesieesnannten,einmalmit eigenen Augen anzusehen. Die Krne und Frderbnder, die teilweise verrostet undunttig, als seien sie vergessen worden, herumstanden, riefen sie beglckt zu sthlernenMonumenten des Industriezeitalters aus, whrend in einiger Entfernung noch immer dieletzten Arbeiter geschftig nach Braunkohle baggerten. Ich hielt mich in diesen heroischenAugenblickeneinwenigabseits.Ichwarhiergeboren.IchkanntedenAnblickundobendreinvieleLeute,diejedenMorgenaufdereinzigenStrae,dieamRandderAbraumtlerentlanginsChemiewerkgefhrthatte,zurArbeitgefahrenwaren.Auf der anderen Seite der Grube lag mein Gymnasium. Es war erstaunlich, dass sie esberhauptstehengelassenhatten.GleichhinterderSporthallebegannderTagebau,undwennwir an windigen Tagen zu lange mit zugekniffenen Augen auf dem Schulhof herumstanden,knirschte der Sand zwischen den Zhnen und bestubte die Rahmen unserer Fahrrder miteiner feinen Schicht, und die Jungs fluchten wegen ihrer Gangschaltungen, und dieInternatsschler,derenFensteraufdenTagebauzeigten,trumtennachtsmanchmalvondemblauenLichtderFrderbnder,dasmanweithinsehenkonnte.Ichhasstees,michdortnunwieeinTouristimeige-32 nenLebenzubewegen,dieMaschinenzubestaunenunddabeimeineBiografieaufjeneHandvollAnekdotenzureduzieren,diemeinewestlichenBesucherhrenwollten.Odervondenenich dachte, sie wollten sie hren. Unsere Kindheit hatte weder in einer Boomtown noch ineiner Mondlandschaft stattgefunden, sie kannte weder einen Raubbau noch eineverantwortungslose Wohnungsbaupolitik. Wir waren auf Wschepltzen, in Hinterhfen,unter Kastanienbumen und Pergolas oder auf Rollschuhbahnen zu Hause gewesen, undzwischen den wei, gelb oder rosa sanierten Wohnhusern, den glsernen Brokomplexen,den sthlernen Monumenten des Industriezeitalters und den eintnigen Ladenstraen derneunzigerJahrehattenwirnichtserlebt.Hierhattenichtsstattgefunden.Doch es gelang mir nicht, mich damit abzufinden. Ich hrte nicht auf, nach denLeinwandbildern unserer Kindheit zu suchen, die so pltzlich verschwunden waren. Ichwollte wissen, was wir damals mit eigenen Augen gesehen hatten. Oft legte ich, war ich inOstdeutschland unterwegs, Daumen und Zeigefinger vor dem Gesicht zu einemKameraausschnitt zusammen und suchte die Straen und Huserzeilen nach einem Bild ab,das DDR sein konnte. Eine Weile betrachtete ich mein Fundstck, versuchte, an damals zudenken, und musste mir bald eingestehen, dass es nicht funktionierte. Kein Kindergefhlstelltesichein.ImGegenteil:NahmichdieHndeweg,befandichmichwieineiner33 Zeitkapsel.berallneunzigerJahre.EinanderesJahrzehntschienesaufdemBodenderDDRnie gegeben zu haben. Die sechziger, siebziger und achtziger Jahre hatte man vor unserenAugeninWindeseilewegsaniert,undpltzlichwarenesPostmterinWiesbaden,Brauhuserin Kln, Schuhlden in Erlangen und Haltestellen in Frankfurt am Main, die uns bewiesen,dassesdieseZeitberhauptgegebenhatteundwiesieausgesehenhabenmochte.DerOstendagegenwargeschichtslosgeworden.Doch erst einmal brachte mich die Straenbahn vom Bahnhof zu meinen Eltern, die amStadtrand wohnten. "Nchste Haltestelle: Augustusplatz. Zentraler Umsteigepunkt. Zugangzur Innenstadt", teilte mir eine blecherne Computerstimme in unsympathischer Lautstrkemit.Auermir,einpaarRentnernundlrmendenSchulkindernwarniemandimWagen,derauf die Innenstadt zugehen wollte. Da boten auch die drei Bildschirme unter der Decke derStraenbahneinlcherlichesBild,dieverkndeten,derSachsenexportsteigevonTagzuTag.DasssodieoffizielleVersionfrdiestndigabnehmendenEinwohnerzahlenlautete,warmirzwar neu, doch ich wusste ja vom Hauptbahnhof, wie sehr der Ostdeutsche diese kleinenHightech-Inselnbrauchte.Siebewiesenihm,dassauchermaldieNasevornhabendurfte.34 DieStraenbahnhielt,undsokonnteichdenAugustusplatz,derfrherKarl-Marx-Platzhie,genauer betrachten. Damals war hier der Sitz der Leipziger Universitt, und dashochgeschossige Verwaltungsgebude galt als Erkennungsmerkmal der Stadt, zumindestverschickte man vor der Wende Postkarten mit dem Uniriesen drauf. In den unzhligenGeschichten, die man dann in den neunziger Jahren ber die Boomtown lesen konnte,kolportierte sich hartnckig das Gercht, der Einheimische wrde zu dem Hochhaus, daseinemaufgeschlagenenBuchnachempfundenwar,verschmitzt"Weisheitszahn"sagen.Michhat das immer gewundert; mir gegenber hatte nie jemand diesen behbigen, nun wirklichnichtsonderlichkomischenKosenamenbenutzt.Heute,nachderSanierung,gehrtderRieseeinerBank,undganzobenprangtinschwarz-rot-goldenen FarbendasfetteLogodesMDR.Es sieht aus wie eine DDR-Fahne ohne Emblem, dachte ich noch, aber da hatte dieStraenbahnihreTrenschongeschlossen.VorbeiandemStudentenklubMoritzbasteiundderStadtbibliothekverlieichdieInnenstadtRichtungSdenundglaubtepltzlich,inOstberlin,Chemnitzund Geragleichzeitigzusein.Wie sich doch die ostdeutschen Vorstdte glichen: Da gab es Connys Container und RudisResterampe,SonderpostenmrkteundDiscountsohneNamenundohneEndeundjedeMengeSchleckerundDrospa,sodassmandenkenmusste,der35 OstdeutschelebeausschlielichinKcheoderBadoderhaltesichnurzumPutzeninseinerWohnungauf.DieleerenSchaufensterdazwischenwarenmitbereitsverblichenenWerbezettelnbeklebt,diewie Grabsteine an die vielen vergeblich getrumten Kleinunternehmertrume gemahnten.WarumisteigentlichnochniemandaufdieIdeegekommen,dieseZettelzusammelnundalsBilderchronikdeserstengesamtdeutschenJahrzehntsherauszugeben?Dennwasistwohlausall diesen Maiks, Silvias, Ronnys und Susis geworden, die einmal glaubten, mit einer CD-Brennerei, einer Schreibstube, einem Tattoostudio oder einer Snackeria reich zu werden? InstillemGedenkenanihrenamenlosenSchicksalewarichfastbeimeinenElternangelangt,dateilte mir die Computerstimme mit: "Moritzhof. Endhaltestelle. Bitte alle aussteigen. WirdankenIhnen,dassSiesichfrdieLVBentschiedenhaben."MeinganzesLebenhattemeineHeimathaltestelle auf den schlichten, doch schnen Namen Watestrae gehrt, den ich alsKind sehr mochte, weil ich mir nicht erklren konnte, was er bedeutete. Nun hatte man sienach dem Moritzhof, einer dieser neu erbauten Einkaufspassagen, benannt. Man lernt dieDingeebenerstdannzuschtzen,wennsieverschwundensind.Der Moritzhof ist heute das neue wirtschaftliche, soziale und geistige Zentrum desNeubaugebietes.IchmieddiesenOrt:eineehemaligeKlassenkameradinsaanderKassedesSupermarktes,frhereLehrerinnen36 konntenunbemerktinderSchlangebeimFleischerauftauchen,undderMann,derinmeinerKindheitinderSchlergaststttedieKbelberwachte,indiewirdieEssensrestekipptenunddendieJungsausdengroenKlassenimmerrgerten,streuntehierziellosumher.IchwolltediesenMenschennichtbegegnen,siesolltenaufderSeitemeinesFotoalbumsverbleiben,aufderichsievorvielenJahreneingeklebthatte.VordemMoritzhoflagdiebreiteJohannes-R.-Becher-Strae.Siewarfrher,wennauchnichtbesondersschn,dieHauptaderdesViertelsgewesen. An ihrem einen Ende, direkt neben einem Neubaublock, stand das Haus meinerEltern, und an ihrem anderen war die Schule. Schon von weitem konnte man den Bauerkennen,derausPlattenundebenfallsnachJohannesR.Becherbenanntwar.Wennichmirberlegte,dassichachtJahreindiesePolytechnischeOberschulegegangenwar,dasseinJahr365 Tage hatte und noch immer hat, dass ich in den ersten vier Jahren auch noch an denFerienspielen teilnahm, dass ich diesen Weg tglich hin- und zurcklief, anPioniernachmittagen sogar zweimal, dann bedeutete das, dass ich diese Johannes-R.-Becher-Strae ber 5000 Mal in meinem Leben durchschritten hatte. War man vorbei an derStadtbezirksbibliothek und einem Getrnkesttzpunkt, hie es an jeder Straenecke einenKlassenkameraden morgens zu begren oder nachmittags zu verabschieden. AlleSteinplattenkannteich,undberdieRissedazwischenwarenwiraufdemNachhauseweg37 entwedergesprungenodermitAbsichtdaraufgetreten.AberdieStraegabesnichtmehr,siewar komplett stillgelegt worden, und da, wo ich frher entlangging, standen heuteSitzgruppen, lagen riesige Betonkugeln als Kunst am Bau herum, durfte man Streetballspielen. So waren in krzester Zeit alle Orte unserer Kindheit verschwunden oder hatten einneues Gesicht erhalten. Die Schlerspeisegaststtte, die riesig war und die wir immer nurFresswrfel nannten, hatte einem Parkplatz weichen mssen. Der Ascheberg hinter demNeubaugebiet,andessenRndernwirmitunserenKlappfahrrdernBMX-BandespieltenoderBuden bauten, war zu einem Naherholungszentrum geworden. Heimat, das war ein Ort, andemwirnurkurzseindurften.In der Fremde treibt es einen zu Gleichgesinnten, und so verstand ich mich in meinemMarseiller Studienjahr mit sterreichern am besten. Sie kannten das Gefhl, aus einemkleinen Land zu kommen und berall fr Deutsche gehalten zu werden, und nahmen es mitHumor. Ich brauchte lange, bis ich fr eine Deutsche gehalten werden wollte, und nahm esnicht kommentarlos hin. Tatschlich wurde ich aber erst sieben Jahre nach der Wende dasersteMalgefragt,woicheigentlichherkme.NochniehatteicheinesolcheSituationerlebt,undmirwurdeklar,dassmanunsvorderWende,wennwirinPolen,UngarnoderBulgarienUrlaubmachten,wiealle38 anderen sofort enttarnt haben musste. Die Polen, immer zu fnft in einen Polski Fiateingezwngt, erkannte man an ihren selbst genhten Grteltaschen mit den kopierten Logosvon adidas, Aufbglern von Sandra oder der Rose von Depeche Mode. Die SowjetmdelshattengroerosaSchleifenimHaar,trugenbrauneSchuluniformenundhattenoftJungsmitkantigen, slawischen Gesichtern und platt gedrckten Nasen neben sich. Die Tschechenliebten Stoffturnschuhe mit roten und blauen Streifen, aen immerzu Oblaten und fuhrennichtsanderesalsSkoda.DerUngarwarelegant,sahgutausundinteressiertesichnichtfrden Ostblock. Der Glanz der alten Monarchie lie ihn sich noch immer fr etwas Bessereshalten. Bulgaren und Rumnen traf man auerhalb ihrer Lnder nicht an, und war man drin,warsowiesoallesklar.ObesAlbanerundJugoslawentatschlichgab,sowiemanunsinderSchulewiederholtbeteuerthatte,konntenwiralsKindernichtsogenausagen.DiebekamenwirnmlichniezuGesicht,unddasfandenwir,schlielichwarensiedochunsereBrder,einbisschenseltsam.WieaberhattemanunsOstdeutscheenttarnt,diewirunsdochstetsfrdieWesteuroper des Ostblocks gehalten hatten? Waren es am Ende doch nur unsere Trabbis,Wartburgs und Jesuslatschen, die uns auf den ersten Blick verrieten? Ich wusste keineAntwortundhattemirdieseFrage,dasmussichzugeben,auchniegestellt.Ichhatte,wiealle,einfachgehofft,manwrdemichfreineausdemWestenhalten.39 NachderWendeaberkammirIch bin Deutsche niesorichtigberdieLippen,undausdemWestenwollteichgleichgarnichtmehrsein.Stetsundstndigsetzteichan,Erklrungenber meine Herkunft anzufgen, und meine Zuhrer nahmen die Information, ich sei zwarDeutsche,aberausLeipzig,ausOstdeutschlandundalsoausderehemaligenDDR,mitjenerfreundlichen Nachsicht auf, die man fr Desinteresse halten konnte. Warum sollte meinealgerische Zimmernachbarin im Marseiller Studentenwohnheim, die zurzeit der tglichenMassakerinalgerischenDrfernjedenAbendmitihrerFamiliezuHausetelefonierte,umzuerfahren,oballenochamLebenwaren,warumsolltesiesichfrdieUnterschiedezwischenOst und West interessieren? Deutschland war ein reiches Land. Dass ein Groteil meinerLandsleute sich als Menschen zweiter Klasse fhlte und unter Arbeitslosigkeit litt, verstandsiewohl.AbersiehatteSchlimmeresgesehen.Sozogichesvor,densterreicherndieUnter-40 schiede zwischen Ost und West zu erklren. Der Osten, dozierte ich, sei bunter. Im Kopf,meinte ich. Die Menschen, die sich an das neue System erst gewhnen mussten, gingenkritischer damit um, machten sich Gedanken, suchten Alternativen. Viele Westdeutsche, dieihrer alten Heimat berdrssig seien, kmen nun nach Leipzig, Dresden und Ostberlin, umnochmal etwas anderes anzufangen, und wrden die komplette Umschichtung einer ganzenGesellschaft genieen. Die Kunstszene, die sich gerade aus der Grauzone des Untergrundesbefreie,sichaberandieRestriktionendesaltenSystemsnochallzuguterinnernknne,blheaufundzehredabeivoneinerSelbstauffassung,dieGutundBsenichtnurabstrakt,sondernam eigenen Leib erfahren habe. Meine Zuhrer staunten. Sie wollten mich unbedingtbesuchenkommen,umsichdasallesselbstanzusehen.Zurck in Leipzig, schmiedete ich jeden Tag neue Plne, was ich meinen auslndischenGsten in meiner Heimatstadt nun alles zeigen wrde. Doch von dieser Stadt, die imUnterschiedzuSdfrankreichsehrgrauwirkte,konnteichmichnichterinnern,gesprochenzuhaben. Dachten wir uns den Osten vielleicht nur aus? Wollten wir diesen ganzen miefigenNachwendealltagnurfrunsertrglichergestaltenundmachtenunsetwasvor-41 Tatschlich begannen vielevon uns in den letzten drei oder vier Jahren der neunziger Jahre,denOstenaufzugeben.ErboteinfachkeineChancen.Hierpassiertenichtsmehr.Esseidenn,man wollte in Banken, Regionalzeitungen, Versicherungen oder den Stadtwerken sein Geldverdienen.WeilwirunsabernochnichtganzvonderaltenHeimatlsenkonnten,gingenwirnachBerlin,wobeiesfrmichkeineFragewar,imOstteilderStadtzuwohnen.AuchwennKreuzbergmichirgendwieanzogundderSavignyplatz,schickundedel,lockte,wreichdanie hingezogen. Keiner meiner ostdeutschen Freunde lebte dort. Das war ungeschriebenesGesetz,frdessenberschreitungichmichwiefrdieWahleinerfalschenZigarettenmarkehtterechtfertigenmssen.AlsichEndederneunzigerJahremeinenKommilitonenJanaufderKreuzbergerSpreeseite,gleichhinterdemehemaligenGrenzbergangOberbaumbrcke,besuchte- ichmusstenurdieWarschauer Strae bis an ihr Ende fahren, dann war ich schon drben -, erzhlte ich ihmaufgeregt, ich sei sehr erleichtert, denn man habe mich trotz der Dunkelheit und des Nebelstatschlich auf die andere Spreeseite rbergelassen. Das msse man sich mal vorstellen:ObwohlmeineVorderlampenichtgingundichnureinkleinesLichtanderHosentaschetrug,habemichniemandangehaltenundnachdemInhaltmeinesRucksackesgefragt.Ichknneesnoch gar nicht richtig glauben, das also sei mein erster Grenzbertritt mit dem Fahrradgewesen.Jansahmichge-42 nervt an. Sein Gesicht verriet, dass er wirklich keine Lust hatte, auf meine bldsinnigenGeschichteneinzusteigen.Witzigfanderdasauchnicht.EinpaarWochenspter,JanundichsaenimOlympiastadionundwartetenaufdenAnpfiff,gestand er mir, dass ihm der ganze Ostschei, wie er sagte, ziemlich auf die Nerven gehe.Schondamals,inderNachtdesMauerfalls,hatteersichnurmitMhevomFernseherlsenknnen,umzumnchstliegendenGrenzbergangzulaufen.Janhattemichberredet,mitihmdasSpieldes1.FCKlngegenHerthaanzuschauen,unddaderKlubausdemRheinlandseinHeimatverein war, hatte ich nichts dagegen, dass wir uns in den kleinen, nur fr dieangereistenKlnerFansreserviertenFanblockeinsperrenlieen.VieleNeuberlinerausBonnwarenauchgekommen,undsowarendiePltzeinderrheinischenEnklavegutgefllt.Sei er zu Anfang der neunziger Jahre, vor allem, als die Herthaner in die 1. Bundesligaaufgestiegen waren, noch voller Sympathie fr den Berliner Verein gewesen und fast jedesWochenendeinsStadiongegangen,soregistriereerheutedieschleichendeOssifizierungvorallemderFans,gestandJanmiroffenherzigundhoffte,ichwrdeseinLeidenverstehen.Wiezur Demonstration seiner Ausfhrungen hob er die linke Hand und zeigte zu der Kurve, wodie brutaler aussehenden Fans gerade dabei waren, ihre Vereinsfahnen mit den TotenkpfenandenAbsperrungsgitternanzubringen.Jan43 hatte Recht. Die Transparente bewiesen ihm, dass diese Fans zum groen Teil aus denstlichenBerlinerRandbezirkenkamen.Warumeraber,nachdemernunschonmehralszehnJahre an der Spree wohnte, noch immer an seinem Klner Heimatverein hing, brauchte ichnichtzufragen;dasverstandichauchso.InBerlinkommenwirjetzt,imzweitenJahrzehntnachderWende,langsaman.Schonistzuspren, dass die nchsten zehn Jahre ruhiger werden, dass das Grbste hinter uns liegt. WirliebendieFrankfurterAllee,dasBahngelndeanderWarschauerStrae,dasPlanetariumimPrenzlauerBerg,denGrlitzerParkinKreuzbergunddieSophienstraeinMitte.Wirfreuenuns, dass man seit kurzem auf dem Helmholtzplatz Tischtennis spielen kann, sitzen nachtsgernimBiergartenamPraterundschauenimMauerparkdemSonnenuntergangzu.AufdenStufen von Schloss Sanssouci reden wir ber unsere Lieben, an der Volksbhne stellen wirunsnachKartenan,wirverehrenFrankCastorfundJrgenKuttner,imRheingoldfhlenwirunsfremd,undderFlohmarktamArkonaplatzistunseinbisschenzuversnobt.AnschnenSonntagnachmittagen machen wir Ausflge nach Schneberg, Friedenau und an denNikolassee,stellenunsvor,dassmanhierbestimmtsehrschnwohnenkann,undfahrenmitderS-BahnwiedernachHause.44 Meine heimliche Stadtgrenze aber verluft hinter der Humboldt-Universitt. DussmannsKulturkaufhaus, die Galerie Lafayette und das Borchardts gehren nicht mehr auf meinenLageplan,auchwennichinderStaatsbankbisindieMorgenstundengetanzthabe.Freunde,die am Savignyplatz wohnen, gestehen uns manchmal, sie wssten gar nicht, woFriedrichshain liege, was man ja eigentlich niemandem sagen drfe, und dass sie jetztunbedingt mal hinfahren mssten, um sich alles selbst anzusehen. Mich strt das, ehrlichgesagt,wenig.Diesolltenruhigdableiben;fallswirLusthabensollten,siezusehen,kommenwirebenrber.ZurneuenHeimatjedochistBerlinnichtgeworden,undwennmirOstberlinerFreunde,diehiergeborensind,erzhlen,dashierseinichtmehrihreStadtundsiesehnensichnach vertrauten Hinterhfen, alten Bckereien und unsanierten Husern, hassen dieAuguststrae, weil sie hier frher spielten, und verabscheuen den Hackeschen Markt, danndenke ich an Leipzig und wei, Wovon sie sprechen. Wie ich waren auch sie bemht, sichdauerhaft in einer Fremdheit einzurichten, die sich auf dem Boden des Heimatlandesausbreiteteundvonunsverlangte,permanentaltegegenneueBilderauszutauschen.3.DiehsslichenJahreberdengutenGeschmackWeihnachten war im Osten der neunziger Jahre ein eigenartiges Fest. Schon nachmittagsgegenzweiUhr,derBaumstandnochverpacktimGarten,konnteespassieren,dassmanberdieriesengroen,berallimHausverteiltenEinkaufsttenflogunddabeisehrunsanftaufdieHerkunftdernochverpacktenGeschenkehingewiesenwurde:DiesmalwarendieElternalsobei Globus gewesen, und uns Kindern wurde wieder einmal klar, dass sie diese Tempel desschlechten Geschmacks, die auf den grnen Wiesen zwischen Rostock, Sonneberg undGrlitz binnen weniger Monate wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, wie nichts aufderWeltzuliebenschienenundnichteinmalamWeihnachtsfestaufsieverzichtenwollten.jenachSonderangebotslagestelltesichsoderGabentischzusammen.BeispielsweisebestanderausvierStiegenMandarinenundApfelsinen,zweiTteneingeschweiterNsseundzweiPckchenMelittaAuslese,vierTafelnSarotti-SchokoladeundeinpaarFlaschen47 Rotkppchen Sekt der Geschmacksrichtung Mild. Letzterer vertrug sich, auch wenn er sichausschlielichzumSenvonKinderbowleeignete,offensichtlichgutmitdemprallgeflltenWerberucksackgleichdaneben,ausdemunszehnKilogrammTeigwarenRiesaerProvenienzund damit einheimischer Produktion anguckten. Die schne, bunte Warenwelt konntemanchenberfordern,undsohattevorallemdieltereGenerationsichindenJahrennachderWende,wiesieglaubten,einenFundusSicherheitverheienderKriterienzusammengeklaubt.Quantitt dominierte hierbei eindeutig ber Qualitt, Pralinenschachteln hatten die Ausmaevon Tischfuballfeldern, mit Keksrollen konnte man gewaltttig werden, und die letztenLebkuchenwrdenwir,sovielwarsicher,imSommeramStrandverzehren.Doch der Nachmittag hatte seinen Hhepunkt noch nicht erreicht. Erst musste an Ort undStelle eine Flasche Rotkppchen gekpft werden. Prost. Frohe Weihnachten. Dass alleanderen ihr Glas flugs leeren und auf diese Weise schnell die ganze Flasche killen wrden,daskannteichschonvondenletztenMalen.ZumGlckahntensienicht,dassichmeinGlasspter in die Sple kippen und die brigen Flaschen zu den Vorjahreskontingenten in denKellerschaffenwrdeunddabeihoffte,dortmgesieirgendwannmalirgendwerfindenundeinfach mitnehmen. Manchmal lieen sie sich fr uns Studentenkinder noch etwasBesondereseinfallen:SieverzichtetenaufPlastikttenundentschiedensichfr48 die kologischeren Stoffbeutel, die man, hbsch mit dem Namen der Supermarktketteverziert, gleich an der Kasse kaufen konnte, und legten diese dann, wie zur Krnung,obendrauf.Alleinundvlligerschpft,eswarnochnichteinmaldreiUhr,standichvordemriesigen Berg mit Geschenken, die niemand brauchte und keiner wollte, und wnschte michweitweg.Auch wenn das an einen schlechten Film erinnert, auch wenn es bertrieben sein mag, soerschrecktemichdiegeschmacklicheEntwicklungunsererElternindenletztenJahrendoch.Warf ich mit Freunden, wie zur Beruhigung, einen Blick auf die alten Fotos ihrerHochzeitsreisen, die nach Warnemnde, Potsdam, Weimar oder Oberwiesenthal gefhrthatten, dann bemerkten wir, dass sie darauf eigentlich aussahen wie normale Kinder ihrerZeit.DieVtertrugenweieHemdenmitumgeschlagenenManschetten,aufderHftehingenJeans,unddieHaarefielenindieStirnundberdieOhren.DieMtterliebtenkurzeRckeundhoheStiefel,MntelmitFellkragenundRingelpullismitSilberfden.Nichts,waswirunsnichtauchhttenvorstellenknnen,nichts,wofrmansichhtteschmenmssen.FrherwarensieschonkurznachdemEndedergroenSommerferien,wennwirKinderdenneuen Stundenplan gerade halbwegs auswendig kannten, losgezogen, um ber Umwege undmitHilfevonBeziehun-49 gen, wie sie sagten, ungarische Salami und Schweinelende zu besorgen, ohne dieWeihnachten fr sie nicht Weihnachten war. Stets gab es Apfelsinen, Nsse, Perlzwiebeln,Engerlinge,WrzfleischmitSpargelspitzenundWestschokoladefrunsKinder,selbstwennmankeineVerwandtenjenseitsderGrenzehatte.DamalswusstenunsereElternnoch,wasgutwar und was nicht. Was also hatte sie in den Neunzigern so schwer irritiert und ihreGeschmackssinne derart aus dem Gleichgewicht gebracht? Warum konnten sie nichtbegreifen,dassmanmiteinemPckchenKaffee,dasfrherjedeTrzuffnenhalfundberJahrzehnte das beliebteste Schiebergeschenk der DDR gewesen war, heute niemanden mehrbeeindruckte? Und berhaupt, wo waren sie geblieben, die Prsente, mit denen wir KinderdamalszufremdenLeutengeschicktwurden?WasfrSachen,50 fragtenwiruns,lieenunsereElternwohlheutewieausVersehenaufanderenStubentischenliegen?Wir wurden in einem materialistischen Staat geboren, obwohl heute oft das Gegenteilbehauptet wird. Mit einfachen Statussymbolen baute jeder seine kleine Welt, und bereits alsKinder konnten wir Kfer- und Boxerjeans von solchen aus dem Westen unterscheiden. EinGermina-SkateboardbliebfrunsimmereineschlechteKopiedesberhmtenAdidasbruders.An rosafarbenen Radiergummis, es ging das Gercht, die seien mit Geschmack, haben wirheimlich und genussvoll unsere Zungen geleckt, und leere Pelikan-Tintenpatronen, derenkleine Verschlusskgelchen im Inneren so schn klapperten, htten wir nie im Leben gegeneinen LKW mit Heiko-Patronen eingetauscht. Und als es in der Mitte der achtziger Jahreneben Leninschwei auch Maracuja-Limonade gab, die wir Limo nannten, wollten wir nurnoch die. Kamen die Sticker von a-ha, C.C. Catch oder Modern Talking aus Polen statt ausder oder und die Glitzis nicht aus dem Intershop, dann war uns dasvordenanderenpeinlich.Die ganze DDR trumte von Bockbier und Pils aus der Tschechei. Man sparte fr einenFarbfernseher oder einen Lada und beneidete die Nachbarn um ihren Bastei. An denWochenendenbasteltemanandenDatschen,diebiszurKlobrilleholzvertfeltseinmussten.Als zonale Kleinstvillen wiesen sie Girlandenketten, Hollywoodschaukel, Plastepool,Klettergerst,Kaffee-51 maschine, Khlschrank, Couchgarnitur, Farbfernseher, Campingsthle und CampingliegenaufundwarenohnediesamteneVelourstapete,berdieichalsKindimmergegendenStrichentlangfuhr und mich danach ber die roten Punkte und den Juckreiz an den Hnden freute,einfach keine richtigen Datschen. Aber vielleicht hatten die Dinge, als sie nach der Wendeoffen und fr alle erreichbar in den Schaufenstern aus lagen, fr unsere Eltern einfach ihrenReizverloren.VielleichthattensiesichvonderWarenweltverabschiedet,weilsienunnichtmehr wie Fhrtensucher auf eine Expedition mit offenem Ausgang gehen mussten, um diekleinen Fetische ber groe Umwege zu besorgen. Fr sie war das Spiel aus; sie warenausgeschieden.Viele52 vonihnenfuhrenweiterhinnachUngarnundBulgarienindenUrlaub,undhttedereineoderandere nicht in irgendeinem Autohaus eine Reise nach Hamburg gewonnen, er htte daswestdeutscheMeerwomglichniegesehen.Vor den Geburtstagen unserer Eltern kam es unter uns Kindern seitdem zu hitzigenDiskussionen darber, was wir ihnen schenken sollten. Einigen konnten wir uns nie. Langesuchten wir nach einer besonderen Idee und bemerkten dabei gar nicht, wie sehr wir unslngst den feinen Distinktionen der westlichen Warenwelt ergeben hatten, mit ihnen lebtenund wie weit sich der Abstand zwischen uns und unseren Eltern schon vergrert hatte. Sostellten wir uns in diesen Gesprchen vor, wie unsere Eltern, umringt vom Rest der Familieund ihren Freunden, in der Gaststtte einer nahe gelegenen Kleingartensparte saen, dieGeschenke vor sich aufgebaut. Ohne einen Blick auf den Gabentisch zu werfen, wusste ich,dass man unseren Vtern zu solchen Gelegenheiten immer Schnaps und Rasierwasserschenkte.DazwischenkonnteeinBuchberdenZweitenWeltkriegliegen,einesvondenen,die man an Zeitungskiosken billig kaufen konnte unddenen man ihren Revanchismus schonvon weitem ansah. Rommels Feldzge nach Afrika oder so. Ansonsten gab es Hemden,Schlafanzge oder Unterwschegarnituren. Unsere Mtter bekamen Duschbder mitpassenderBody-Lotion,Weinflaschen,TischdeckenoderGewrzmhlen.53 Unser Geschenk dagegen wre klein und in das gewickelt, was wir als stilvollesGeschenkpapier bezeichneten. Die anderen Gste wrden mich bestimmt erschrockenansehen,wennichdasPckchenberreichte.DasGeburtstagskindwrdeesraschauspacken,sich artig bedanken und es schnell hinter die brigen Geschenke legen, als solle es vor denBlickenderanderenverstecktwerden.SeineAugenjedochwrdendeutlichverraten,dassesunsdieunntigeundvorallemunpassendeGeldausgabenurschwerverzeihenknne.Manchmal schien es fast, als suchten wir zwittrigen Ostwestkinder diese Auftritte. Alsmsstenwirallenbeweisen,dasswirunsvonderOstwelthierverabschiedethatten,dasswirstilvoller zu leben wussten. Wir ignorierten dabei bewusst, dass der alte Osten gar nicht soweit war und alle hier mit viel Mhe dabei waren, sich in der neuen Zeit, wie sie sagten,zurechtzufinden und irgendwann einzurichten. Sie hatten Angst, selbst die eigenen Kinderknnten ber ihr Leben richten und ihnen ihre Geschichte vorwerfen, wenn sie, wie unsereGeschenkeesanzudrohenschienen,nundieSeitenwechselten.ZuwasumallesinderWeltaberbrauchtensie,diesichinSozialprojektenmitjugendlichenoder mit Grnpflegearbeiten von einer ABM in die nchste retteten, die inUmschulungsmanahmenlernten,wiemaneinenApplebedientoderKonstruktionsplnefrFlugzeugezeichnet,einenMontBlanc-Fller,gestandich54 mir ein und sah, dass wir uns von unseren absurden Vorstellungen verabschieden mussten.Vielleicht,umdasAnmeldeformularfrdieVolkshochschulezuunterschreiben,witzelteich.Aber es gelang mir nicht, die Stimmung zu heben. Die Sache lag klar auf der Hand: WirfandenkeinepassendenGeschenke,derOstenbliebpragmatisch;ihmstandderSinneinfachnichtnachunseremGeschmackundneuenVorlieben.Vondaanschenktenwirnichtsmehr.In Wahrheit allerdings war auch unser Weg zu den feinen Unterschieden der westlichenWarenwelt lang und steinig. In der Mitte der neunziger Jahre erfreute sich der Osten eineshohen Zuzugs aus den alten Bundeslndern, wie es in den Statistiken so schn hie. Ichwundertemichdarber,dassdieWestler,dienunschonreichlichspt,wieichfand,beiunsankamen,nochimmernichtsBessereszutunhatten,alsunsbeeindrucktdieGeschichtenihrerAbenteuerurlaube in der Hohen Tatra, Warschau oder Bratislava zu erzhlen. Wir gabenihnenzumAusgleichunsereBoomlandgeschichten,unddasnervtebestimmtnichtweniger.Die Mutter meines neuen Hamburger Mitbrgers Jonathan schickte regelmig Care-Pakete.Jonathan wiederum teilte den fair gehandelten Kaffee, die durchgefrbten, handgedrehtenKerzen,dieRosinen-Dattel-SchnittenunddasGetreidederGttergernmitmir.Von55 derSchokoladeauskologischemAnbau,mitRohrzuckerundechtemKakao,trauteichmichnie, mehr als ein oder zwei Stck zu nehmen, sie schien wirklich nicht dafr gemacht, soachtlos und nebenbei gegessen zu werden. Lud mich Jonathan bisweilen zu sich zum Essenein- erwarstolzaufseineheruntergekommeneWohnungmitOfenheizungundAuenklo-,gab es gednsteten Fenchel in sahniger Soe, Vollkornbrot und franzsischen Rotwein, undich hatte Mhe, das Besteck ordentlich zu halten. Whrend er mir beim Essen erzhlte, wieauthentisch er die dicken Milchverkuferinnen in ihren Kittelschrzen fand, wie er sichanfangsbeimOfenheizenangestellthatteunddasserjetztaufdenGeschmack vonSoljankaund Szegediner Gulasch gekommen sei, versuchte ich, mir das Gemse auf dem Tellereinzuprgen,umesspterbeimGemsemannerkennenundverlangenzuknnen.Ich bewunderte Jonathans kahles, spartanisches Zimmer, das wie zufllig um eine gesundeMischung Chaos organisiert war. DDR-Wohnungen waren immer restlos voll gestelltgewesen. Bei unseren neuen Freunden stand vor dem Fenster nur ein schwerer, rustikalerSchreibtischmitComputer,derdurchUnmengenvonZetteln,PapierenundOrdnernwiemitOrnamentenverziertwar.IneinerEckedesZimmerslagdieMatratze,andenwei56 gekalktenWndenhingenFotos,getrockneteBltter,PostkartenundZeitungsausschnitte,dieAnlagestandaufdemBoden,undberallstolperteichberTaschenbcher,leereKassetten-und CD-Hllen, Fotobnde und Comics, irgendwo natrlich auch ber den obligatorischenFicus. Besonders stolz aber war Jonathan auf seinen Stuck, den er mhevoll mit einerZahnbrste,wieermirerklrte,wiederhervorgeholtundanschlieend,daerunbedingtnachaussehensollte,fleischfarbengestrichenhatte.Ging ich mit Jonathan in die Kaufhalle, die er, statt Kaufhalle zu sagen, bei ihrem Namennannte, ging ich also mittags zu Marktfrisch, kaufte er zwei pfel und erkundigte sich beiden verdutzten Verkuferinnen, ob die Tomaten auch aus Deutschland kmen. Nach demAbwiegensteckteerdieSachennichtindiekleine,dafrvorgeseheneZellophantte,sondernbehielt seine Schtze, getrennt von den Preisaufklebern, in der Hand. Mller Blutorangen-Drink, den es leider nur im Plastikbecher gab, wie er mir entschuldigend zuflsterte,komplettierte seinen Mittagstisch. Als ich meine Packung Schoko-Crossies, eine StangeHanutasundeineBchseCocaColadanebenaufdasRollbandlegte,schauteermichan57 undsagtevorwurfsvoll,alsowennmanmichsosehe,knnemanwirklichdenken,dieMauerseierstgesterngefallen.InsgeheimgabichihmRechtundhoffte,JonathanwrdeGeduldmitmirhaben.Heute, wo wir erwachsener sind und man uns nur noch mit Mhe ansehen kann, wo wirursprnglich herkommen, betrachte ich oft verschmt acht- bis zehnjhrige Kinder inOstberlin, Dresden oder Rostock bei ihren nachmittglichen Reibereien auf demNachhauseweg. Ihre geschmackssichere Kleidung lsst mich leicht erschauern und neidvollanmeineeigeneKindheitdenken.DieNike-Mtze,denScout-SchulranzenunddieHosevonEsprit oder H&M? haben sie sich das selbst ausgesucht, oder haben ihre Eltern ihnen dasgekauft? Wie nur, um alles in der Welt, gelingt es ihnen, schon in so jungen Jahren wierichtigeWestlerauszusehen?Die erste Snowjeans bekam ich erst nach der Wende und lange nachdem der Trend vorbeiwar.MeineMuttervermachtemirihrealte,diemeinVaterwahrscheinlichnochindenletztenJahren der DDR im Intershop erstanden hatte. Auch wenn die Hose nun schon lange nichtmehrderletzteSchreiwar,trugichsiemitStolzundnhtezurAufbesserunglinksundrechtsleuchtfarbene Schnrsenkel an, einen orangefarbenen und einen grnen. Spter einmalerzhltemireinltererFreund,dasserinderDDRmitdiesenDingernseinenLebens-58 unterhaltbestrittenhabe.ErkauftestapelweiseweieSchnrsenkelinderDrogerieundfrbtesie zu Hause in groen Kochtpfen mit Lebensmittelfarbe ein. Wenn er mehrereHundertschaftendavoninseinerWohnungzumTrocknenaufgehngthatte,sodassmansichkaum noch bewegen konnte, muss es ausgesehen haben, als regne es Bindfden. Doch auchunsere Mtter taten alles, um uns Kinder ordentlich zu kleiden. Kinderklamotten aus demWesten wurden nicht nur in der Familie von Hand zu Hand, sondern selbst unter Nachbarnund Arbeitskollegen weitergegeben. Woche fr Woche liefen sie fr uns durch die Lden,nichtumzukaufen,wasntig,sondernumzugucken,wasmglichwar.AusweienMalimoundTextilfarbenhtensiefrunsSweat-Shirts,diewirSweet-Shirtsnannten,undbedrucktensie mit Hilfe von Schablonen aus alten Heftumschlgen mit Motiven, die wir uns in altenOTTO-Katalogenausgesuchthatten.InderSchulekonntemandamalsdafrsehrbewundertwerden.SchaueichmirheuteabundzualteKinderfotosan,aufdenenderJogginganzuggeradedenTrainingsanzug vertrieben hat, und betrachte uns in den elenden Bettlakenanzgen, dannberkommenmichnocheinmaldiealtenGefhle.Daistsiepltzlichwieder,diesePein,59 die unsere Urlaube in Ungarn und Bulgarien einst wie Klebstoff berzog, wennwir dort aufgutgekleideteWestdeutsche,Englnder,BelgieroderHollndertrafenundunsnichtsweiterwnschten, als irgendwann genau so auszusehen. Dann sehe ich uns wieder, wie wir imWendeherbst mit unserem Begrungsgeld bei Hertie in Hof und Woolworth in Hannover denletztenSchrottkauftenundsehrstolzaufalleswaren. berhaupt? Denke ich andiese Zeit und betrachte Bilder unsererJugend, wird mir schlecht. Unsicher, etwas verschreckt und immer unpassend gekleidet schauen wir in die Kamera. UnserBlickverrt,dasswirdocheigentlichnurallesrichtigmachenwollten.Aberesgelang nicht. Vielleichtwerdeichspter,wennichmeinenKindernvonunsererJugenderzhle,einfachso tun, als habe sie erst mit zweiundzwanzig begonnen, vielleicht werde ich diese ersten, unsicheren und hsslichen Jahre kurzerhand aus unserem Leben streichen. Die Beweisfotos der Lehrjahre wrde ich jedenfalls schon jetzt gern vernichten. Mitte der Neunziger, wir waren mittlerweile ber fnf Jahre im Westen, hatten wir noch immer nicht gelernt, uns richtiganzuziehen.jedersahsofort,wowirherkamen. Dabei haben wir in den Anfangsjahren jede freie Minute genutzt, um den Westen zu beobachten,zuerkennen 60 und zu verstehen. Wir wollten ihn tuschend echt imitieren. Ich hatte keine Lust mehr,aufzufallen,imSupermarktwegenmeinesschlechtenGeschmacksangemachtzuwerdenoderin ein Restaurant zu gehen, in dem ich wieder irgendetwas nicht kannte. Ich wollte ebensoBescheid wissen, und so lief die Bildmaschine in meinem Kopf stndig, scannte alles ummich herum und registrierte die Gesten, Begrungsfloskeln, Redewendungen, Sprche,FrisurenundKlamottenmeinerwestdeutschenMitmenschen.In der Universitt konnte man das Ratespiel, wer aus welchem Teil des Landes kam,besonders gut spielen. Nach einigem Training hatte ich es zu einer gewissen Perfektiongebracht. Frauen waren leichter zu entschlsseln als Mnner. Westfrauen bestachen in derRegel durch ihren legeren Umgang mit Markenklamotten, die sie in einer Geste desUnderstatementsgernmiteinemTeilausdemSecondhandodervonH&Mkonterkarierten,soals wollten sie sich erden. Auch gab sich die Weststudentin mit Vorliebe gnzlichunbeeindruckt von modischen Attitden, die den etwas schalen Eindruck von Eintagsfliegenerzeugt htten; war ein Pullover aus der Mode geraten, wurde er genau aus diesem Grundwieder hervorgekramt. Bei mir, da war ich mir sicher, htte das einfach nur schlechtenGeschmack bewiesen. Die junge Studentin aus Mnchen, Freiburg oder Kassel aber lebteindividuellundgriff,wieichfand,niedaneben.IndenletztenfnfMinutenvorKursbeginnberflogsienoch61 schnell die SZ und hatte sich dadurch eigentlich schon enttarnt, whrend die Ostdeutsche inRegionalblttern las, am Pausenbrot knabberte oder die anderen im Raum beobachtete. Ihrwestliches Pendant htte ohne Zeitung in Gedanken versunken vor sich hin gestarrt, ohnejemandeneinesBlickeszuwrdigen.Die junge Ostfrau der frhen Neunziger liebte ein buntes Potpourri diverser Hersteller, diemannichtals Markenbezeichnenkonnte.Shopptesie,dannging siebummeln undliesichvon neuen Werbetafeln gern mal vom Weg abbringen. Sie mochte es, etwas Neuesauszuprobieren. Eine feste Route, Unterwsche immer hier und T-Shirts immer da, wre ihreintnig erschienen. Warum sollte sie die neu gewonnene Freiheit gleich wieder aufgeben?Auerdem hatte sie doch gerade erst verstanden, dass Klamotten ihre Qualitt nicht mehrdadurch verrieten, dass jeder sie trug. Da vereinigte sich der weibliche, immer eine Spur zuordinreStilvonPimkie mitdersolidenModigkeitvonYoungFashion,KarstadtoderZero.Datrugmanklobige,andenRndernmitFellverseheneAbsatzschuhevonDeichmannoderReno. Die Bluse durfte noch eine Bluse sein und wurde unter dem Pullover in die Hosegesteckt. Strickpullover mit farbigen Mustern waren eigentlich immer en vogue. Was dieFrisuren anging, legte die Frau aus dem Osten eine an Unerschtterlichkeit grenzendeKontinuitt an den Tag. Warum sollte pltzlich ausgedient haben, was sich schon in derPuberttbewhrthatte?62 Gruppen, die sich ber Klamotten definierten, bereiteten mir dagegen eindeutig Probleme.Ostdeutsche und westdeutsche Mslis glichen sich aufs Haar, rosafarbene Blschen untergrauen Benetton-Pullovern hatten sich die Dresdner Jurastudentinnen ziemlich schnell vonihren Hamburger Kolleginnen abgeschaut. Hypergestylte Mdels, die jeden Morgen vomCoverdesjetztMagazinsindenHrsaalschwebten,machtenmiresebenfallsschwer.Diesezur schalen Uniformitt heruntergekommene Hipheit bedurfte in jedem Fall eines gutenTrainingsundeinerausdauerndenZeitschriftenlektre,egalwohermanstammte.SptergabichmeinSpiel aufDieNeunzigergingenihremEndeentgegen,undvoralleminderHauptstadtstelltenmirdieNeuberlinernichtandersalsdiealtenausOst- oderWestberlinimmerhufigereinBeinundentpupptensichalsdergenauentgegengesetztenHerkunft.Wofr man mich hielt? In den letzten Jahren immer hufiger fr einen Westler. Ich hattemeine Lektionen gelernt und war nicht mehr zu enttarnen. Natrlich trugen wir lngst mitderselben Lssigkeit Markenklamotten, die wir sogar in seltenen Anfllen von bermut miteinem Billigteil konterkarierten, um uns auch ein bisschen zu erden. Unsere Schuhe kauftenwir in kleinen Lden, und unsere Frisuren, meine ich, waren auch irgendwie individuell.MeinenschsischenDialekthatteichmirabgewhnt.Niemandkonnteihnmehrerkennen.63 Aber seltsamerweise machte es mich jedes Mal traurig, wenn jemand glaubte, ich sei ausNrnbergoderSchleswig-Holstein.Htte man mir aber gesagt, ich kme aus der DDR, das sehe man mir doch sofort an, dannhtte ich Mhe gehabt, mich gerade zu halten und nicht ein paar Trnen in die Augen zubekommen.Dochdasgeschahnicht.NureinalterFreund,denichausKindertagenkannte- erwarSchauspielergewordenundhattedafrauchneusprechenlernenmssen-,machtemichdann und wann auf Fehler in meiner zu weichen Aussprache aufmerksam. Zum Beispiel,wennichzuHauseaufdasBandsprach:"HieristderAnrufbeantwortor..."undmanmichanderEndungalsOstdeutscheidentifizierenkonnte.Weilichdasabernichtwollte,jaunbedingtverhindernmusste,sagteichinZukunftstattdessen"Anschluss".64 4.SchulteranSchulter,ZahnumZahnberunsereElternUnserewestdeutschenFreundehattenmanchmalkomischeIdeen.Siewarengernbermtig,mitunter exzentrisch und leidenschaftlich generationsbergreifend. Sie liebten es, sich ingroen Freundschaftsgesten und ausladenden Familienfesten zu inszenieren, und lieen gernWeltenaufeinandertreffen,diefrunsnichtzusammengehrten.Ihre Eltern waren ihre Freunde. Sie gingen mit ihnen durch dick und dnn. Hatten sie sichgerade mit ihrem Freund oder ihrer Freundin gestritten oder waren sie durch eine Prfunggefallen, riefen sie sofort bei ihren Eltern an, heulten sich ein bisschen aus und setzten sichnoch in derselben Nacht spontan, am Ende und hoffnungslos allein in den Zug und fuhrennachHause.HierlieensiesicheinpaarTageaufpppeln,bewegtensichkeinenMillimetervomSofaweg,liefenhchstensmaleinehalbeStundedurchdenWald.Erstwennsiewiederrichtig gesund waren, kehrten sie zu uns zurck ins Grostadtleben. Mutter war ihnen insolchenPha-65 sen, wie sie sagten, die liebste Gesprchspartnerin. Sie hatte das eine oder andere schonerlebt,konntereifeTippsfrsLebengebenundwarselbstnachtsumhalbviernochfrihreKinder da. Vater verdiente wie nebenbei das Geld, fuhr seinen Kindern die Umzge, sprachmit dem Makler, baute das Bcherregal zusammen oder kmmerte sich um dieSteuererklrung.Kndigten sich unsere Eltern aus Hoyerswerda, Schwerin oder Weimar an, dann kamenunsere westdeutschen Freunde auf die Idee, wir knnten doch die Chance nutzen undgemeinsam ins Theater oder essen gehen. So lerne man sich besser kennen und knneErfahrungenaustauschen.OberhauptsolltenwirDDR-Kinderendlichaufhren,sozutun,alskmenwirausdemNichtsundseienganzalleinaufderWelt.Wir mochten unsere westdeutschen Freunde wirklich sehr, aber dass sie ihre Eltern berallmit hinschleppten, mit ihnen in ihr Lieblingscaf gingen, ihnen die Hrsle und die Mensazeigten und gemeinsam mit ihren Mttern wie verliebt Arm in Arm ber den Flohmarktschlenderten, das hatte uns schon immer genervt. Nun schlugen sie uns denselben Quatschvor. Wir wussten gar nicht, was wir sagen sollten. Es war klar, dass das nur schief gehenkonnte.UnsereElternwarennichtwieihre.Natrlich gingen wir mit ihnen ins Theater oder ins Restaurant, aber allein. Vor unseremwirklichenLebenverstecktenwirsie,denndavonhattensienichtserlebt,66 dafr konnten sie uns keine Tipps geben, und nachts um vier riefen wir auch lieber andereLeutean.Im Laufe der Neunziger hatten wir einiges mit Westeltern zu tun. ber diese Treffen habenwir oft gesprochen und uns viel erzhlt. Ich war immer ein bisschen neidisch, wenn meineFreundinJenny,dieschoneineWeilemitJonathanzusammenwar,begann,vomSilbergrauenVolvoseinerElternzuschwrmen,undhundertmalwiederholte,alswrdeichesandersnichtkapieren,wiesubtilsiedenWagenfand.StetszndetesiesichdannbeilufigeineZigarettean und spielte mir vor, wie sie - sie durfte den Wagen whrend der Besuche von JonathansEltern ab und zu allein fahren - zuerst die Automatik einschaltete, dann die Scheibe nebensichherunterkurbelteunddenEllbogenausdemoffenenFensterhngenlie,umsichselbstunsterblichcoolzufindenundimMundwinkeleineZigarettezurauchen.Unddasalles,dasmsseichmirmalvorstellen!,miteinemHamburgerKennzeichen.Die Abendessen jedoch, setzte sie hinzu, waren immer gleich: Nach langen, meist etwasberschwnglichenBegrungenfandmanschnellzudenblichenThemen.Wieschnsichder Osten herausgeputzt habe, seit sie das letzte Mal da gewesen seien, lobten sie die ElternvonJonathan.DasbemerkemanbereitsaufderAutobahn.EndlichseiendieSchlaglcherunddieImbissbudenamStraenrandverschwunden.Sieknntensichnochgenauerinnern,wieeshierausgesehenhabe,67 alssieihrKindhierdasletzteMalbesuchthtten.DastankesanjederEckeerbrmlichnachBraunkohle, die Zweitakter verpesteten noch zustzlich die Luft, und ein guter Italiener warauch nicht aufzutreiben. Kein Vergleich mehr zu heute. Es sei gut, wie alles gekommen sei,freute sich Jonathans Vater und fgte seufzend hinzu, dass man dafr ja auch gern einbisschen tiefer in die Tasche gegriffen habe. Jenny als ostdeutsche Freundin wusste, was insolchen Momenten von ihr erwartet wurde: Sie drckte ihren Rcken strker durch alsnormal, setzte ihr stolzestes Gesicht auf und lchelte Jonathans Vater dankbar neudeutschmitteninsGesicht.Dann bernahm Jonathans Mutter die Regie und redete sich von der Theaterlandschaft derZoneundManfredKrugberKurtMasurunddiePrinzenbiszudenChancenderneuenZeitund erklrte, dass jetzt auch hier im Osten jeder seines Glckes Schmied sein knne. ManmssenurzurrechtenZeitamrechtenOrtsein.Jennyahntedaschon,dassnunderZeitpunktgekommenwar,andemdieElternihresFreundessieeinluden,docheinmaloffenzusprechenund zu berichten, ob sie und ihre anderen ostdeutschen Freunde ihre Chance genutzt, ihrPionierhalstuch verbrannt und etwas aus sich gemacht htten. Kaum hatte sie angesetzt zuerzhlen, wie es ihr in den letzten Jahren ergangen war, da begannen nun ihrerseits dieWesteltern, den Rcken strker durchzudrcken und ganz vaterlndisch zu gucken. Aufeinmalsahensiesehrstolzaus,undalsma-68 che dieses Gefhl vor niemandem Halt, als wrde es vielmehr grer und immer grer,wurdenumJennyherumpltzlichallesehrglcklicheMenschen.Mit unseren Osteltern hingegen blieben wir unabnderlich ein wenig unglcklich. NiemandvonunshtteangemeinsamenAbendenmitWestfreundenundOsteltern- Abenden,zudenenesallerdingsgarnichtkam,weilwirunsereElternjaversteckten- aufirgendetwasstolzseinknnen. Auch Jenny kannte die Dramaturgie der Tischmonologe ihrer Eltern zu genau undwusste, dass sich dabei nie etwas wie feierliche Stimmung einstellte; sie begannen stets mitderpauschalenErklrung,dassesjaaufderHandliege,wievielsichzumBesserenvernderthabe, und dass man die BRD und die DDR nicht vergleichen knne. Es sei schn, dass dieFreiheit gekommen sei, schlielich htten sie sich vierzig Jahre lang nichts sehnlichergewnscht.UrlaubsreisennachItalienundParis.NunhttensiesichendlichihrenTraumerfllenknnenundeinHausamDorfrandgekauft.Dabei htten sie eine Menge Glck gehabt, denn ein Bekannter besitze einenSanitrfachhandel, und man habe die Badeeinrichtung und die Fliesen im Waschkeller zumEinkaufspreisbekommen.berhaupthttensieamHausvielselbst,alsomiteigenenHndenundamWochenende,gemacht.SeiteinigerZeitseienauchNachbarnindieanderenHusereingezogen,dieWegeinderSiedlunggeteertunddieStraenschilderaufgestelltworden.69 Ganzbesondersfreutensiesich,dassderneue,auseinemTagebaulochentstandeneBadeseenun vollstndig mit Wasser zugelaufen sei. Zu Fu seien es nur fnf Minuten zum Strand.Nein,daknnemansichaufkeinenFallbeklagen,sagtensiedannundlchelten.Schade sei es allerdings schon, setzte Jennys Vater nach kurzem Schweigen mit leisererStimme wieder ein, dass seine Frau, die frher als Buchillustratorin ein gesichertesAuskommen gehabt habe, schon seit mehreren Jahren ohne Auftrag sei und auch keineAnstellungmehrfinde.Undalswollteersichstrken,griffernachdemBierglas,nahmeinenSchluckundstellteesschlielicheinbisschenzulaut,wieJonathanfindenwrde,zurckaufdenTisch.Jennywusste,daswardasSignal:Erwrdeloslegen.FrdiejungenMenschen,ja,daseidasheuteeineprimaZeit.DasshensieanihrenKindern,dienuninderganzenWeltstudierenknnten.SieseienauchmalnachLondongefahrenundhtten sich den Campus und die Hrsle angesehen; es sei ihr grtes Glck, wenn ihreKinderetwasausdenneuenMglichkeitenmachten.IhreZeitaberseidasnichtmehr:Diedadrben htten einfach nichts begriffen. Jenny stellte sich jetzt vor, wie sie sich in diesemAugenblick nher zu Jonathan hinberbeugen wrden. Und, ehrlich gesagt und unter uns,htte man ihnen damals, im Herbst 89, prophezeit, dass es so kommen wrde, sie wsstennicht,obsieandenMontagabendennichtdochlieberzuHause70 gebliebenwren.Denndafr,nein,dafrseiensienichtaufdieStraegegangen.Als gut erzogene Kinder wrden unsere westdeutschen Freunde in solchen Momentenberlegen, wie sie die Situation retten knnten, und sich wahrscheinlich fr die offensiveVariante entscheiden; hier musste Verstndigung herbeigefhrt werden, am besten mitArgumenten und Antworten und Erklrungen und so. Wir aber kannten unsere Ostelternbesserundwussten,dasseshiernichtsnachzufragenoderzuerluterngab.ZuofthattenwirsolcheGesprcheschonerlebt:wiesiemildebegannenunddochdamitendeten,dasNeuezuverfluchenoderdiealtenZeitenwenigstenszuverteidigen.SowardasLebenunsererEltern.Erklrungenntztenihnennichts.DavonbekamensieauchkeineJobs.FrdieGesprchezuHausegabesausdiesemGrundwichtigeRegeln,diewirnichtverletzendurften. Man quatschte bei den Monologen der Eltern nicht dazwischen, meldete keineZweifel an und stellte keine rhetorischen Fragen. Diskussionen konnten unsere Eltern sehraufbringen.Nichtnur,dasssiemeinten,wirGrnschnabelwolltenbeweisen,wiewestdeutschwirschonwarenundwiegutwirdasSystemverstandenhatten,nein,unsereElternglaubteninsolchenMomentennurnochmehr,zeigenzumssen,wiesehrsiedieheutigenZustnde,wie sie sagten, durchschauten. Ohne Unterbrechung wrden sie uns ber Arbeitslosigkeit,sozialeKlte,KorruptheitimBundestag,dieostdeutsche71 Misere und den Bundesdeutschen, den sie Bundi nannten, in seiner natrlichen Umgebungaufklrenmssen.Wirkonntenesnichtmehrhren.KinderhatteneinfachwenigerverstandenzuhabenalsihreEltern.Undsoverheimlichtenwirvorihnen,waswirschonerlebthattenundsienochnicht.Jennyerwhntenicht,dasssiemitdenElternvonJonathanschongemeinsamgegessenhatte.Sieerzhltenicht,wennsiedurcheinePrfunggefallenwar,dassderJobinderAgenturwichtigerwaralseinTeilnahmescheininderUniunddassmanheutewedermitzweiundzwanzigheiratetenochmitvierundzwanzigsein Studium beendet hatte. Unsere Eltern wussten nicht, wie hoch die Miete unsererWohnungenwirklichwar,wievieldasMietautofrdenUmzuggekostethatte,dasswirPDSgewhlthatten,weilwirGysimochten,undwieteuerderletzteUrlaubinItalientatschlichgewesen war. So wie wir sie vor unserem Leben versteckten, so versteckten wir auch unserLebenvorihnen.Die Wende hatte uns alle zu Aufstiegskindern gemacht, die pltzlich aus dem Nirgendwokamen und denen von allen Seiten eingeflstert wurde, wo sie hinzuwollen hatten. UnserBlick ging nur nach vorn, nie zurck. Unablssig das Ziel vor Augen, taten wir gut daran,unsereWurzelnsoschnellwiemglichzuvergessen,geschmeidig, anpassungsfhigundeinbisschengesichtsloszuwerden.DabeimachteeskeinenUnterschied,obunsereElternMaler,Heizungsmonteure,Fotografen,72 Zahnrzte, Lehrer oder Pfarrer waren. Wir waren die Shne und Tchter der Verlierer, vonden Gewinnern als Proletarier bespttelt, mit dem Geruch von Totalitarismus undArbeitsscheubehaftet.Wirhattennichtvor,daslngerzubleiben.DieWahrheitberdenOstenbehieltenwirselbstredendauchfruns.WirgestandenunserenElternnicht,dassunsdiefnfneuenLnderinihrerBanalittundHsslichkeiteigentlichaufdie Nerven gingen, dass es uns anwiderte, wie Dresden und Leipzig sich wichtig nahmen.Kurt Biedenkopf war ein Kaiser ohne Kleider, Pfarrer Schorlemmer zu engagiert, AngelaMerkel einfach inakzeptabel, Pfarrer Stolpe allemal suspekt, und Carsten Schwanitz httenwiraufeinemFotonichteinmalwiedererkannt.Es besttigte unser Bild aus den Medien, wenn wir in Neubrandenburg auf der Strae vonKidsalsalteSuebeschimpftwurden,diesichnachHausescherensollten,oderwennwirander Ostsee kahl rasierte Magdeburger Jungs auf dem Zeltplatz Aufstellung nehmen sahen.Wenn ltere Mnner uns in der Kaufhalle anschnauzten, wir sollten geflligst einenEinkaufskorb nehmen, und ihre Frauen uns mit gewissenhafter Bestimmtheit daraufhinwiesen, dass wir unser Auto gerade in der Einfahrt zum Wscheplatz abgestellt hatten.Fuhren wir mit dem Fahrrad auf dem Brgersteig, mussten wir jeden Augenblick damitrechnen,dasseinstockschwingenderRentnersichvorunsaufbauteundwirbeimBremsen73 berdenLenkerflogen.DerOstenwaroftnichtsanderesalsdas,waswirinunsererFantasiedaraus machten, doch als Gegenstck zur Bundesrepublik erfllte er in jedem Fall seinenZweck. Unsere Eltern allerdings wussten von all dem nichts. Gesprche mit ihnen warenkaumdierichtigeBhne,umsichalszwittrigeOstwestkinderzuerkennenzugeben.UnsereEltern waren in keinem Nachwendealltag angekommen. Zu Hause wurde nur mit Ostzungegesprochen,undwennwirderMeinungwaren,dasOstdeutscheschonabgelegtundverlerntzu haben, dann wrden wir diese Sprache eben wieder zu lernen haben. So einfach entliemanimOstendieknftigenGenerationennichtausderPflicht.Wirerwidertennichts.Natrlich verstand Jonathan unser Schweigen nicht, und so passierte es manchmal, dass nunwiederum er sich zu Jenny rberbeugte und mit leiser Stimme fragte, ob sie denn nicht mitihren Eltern konstruktiv ber den Inhalt unseres Studiums diskutierte. Jenny schaute dannerschreckt hoch und berlegte blitzschnell, ob sie wirklich sagen sollte, dass sie gar nichtsicher war, ob ihre Elternwussten, was sie studierte.Aber dann sah sie noch einmal kurz indasGesichtihresFreundesundlieesbleiben.Jonathan htte Jenny und mir in solchen Situationen sicherlich etwas von typischemGenerationskonflikt,vomWandelderZeiten,vomOpferbringensowiedavon74 erzhlt, dass jeder einmal an den Punkt komme, an dem er sich von zu Hause lsen msse.Das habe er auch erlebt, als er aus der Provinz in die Grostadt gezogen sei. Jenny warwhrend solcher Referate nicht sicher, ob er wirklich verstand, was wir meinten, undauerdemrgertesiedasGefhl,JonathansehesieinsolchenMomentenvonderSeitean,alsbemerkeerzumerstenMal,dasssieausderDDRkam,undberlegedabei,obsieauchsoseiwieihreEltern.Ichstelltemirdannvor,wieJonathanzuHauseinseinerwestdeutschenProvinzkonstruktivdiskutierte, und dabei dehnte ich das Wort "konstruktiv" in Gedanken, als hielte ich eszwischen zwei spitze Finger. Sicherlich lsten sie abends am Esstisch erst alle zusammenTratschke fragt: Wer wars?,bevoreswaszuessengab,besprachendanachdieProblemederDritten Welt,die jngstenHaushaltsbeschlsse imBundestag undklrten demokratisch, weramWochenendezumBauernaufsLandfuhrunddenNachschubanRohmilchksebesorgte.DerGenerationskonflikt,beidemimWestenallesofortan1968dachten,gingmirnichtausdemKopfDieSachelagbeiunsjedochetwasanders:EineRebelliongabesfrunsnicht.ImGegenteil:WirwarennahezudieEinzigen,dienichtsgegenunsereElterntaten,sozumindestkam es uns manchmal vor. Sie lagen ja schon am Boden, inmitten der Depression einerganzen Generation, und wir, die wir mit viel Glck und nur dank unserer spten Geburt umeinDDR-Schicksalher-75 umgekommen waren, wollten die am Boden Liegenden nicht noch mit Fen treten. DieGeschichte der Wende hatte die Illusionen und Selbstbilder unserer Eltern zerstrt undweggefegt.Ihnenwarnichtsmehrzuentreien,dassienochinBesitzgehabthtten.Wie sollten wir glaubhaft versichern knnen, wir htten uns damals nicht von der Stasianwerbenlassen,wirwrennichtindieSEDeingetreten,sondernhttenFlugbltterverteilt,Untergrundzeitschriften publiziert und einen Ausreiseantrag gestellt? Unsere DDR war zuEnde,bevorwirsolcheFragenbeantwortenmussten.Mittlerweile hatten wir das halbe Leben in der Bundesrepublik verbracht und wussten keineAntwortaufdieFrage:Waswregewesen,wennnichtsgewesenwre?WiesolltenwiraberdannberdasLebenunsererElterneinUrteilfllen?SohabenwirmitihnenschonvorlangerZeit einen Nichtangriffspakt geschlossen. Wir hatten uns in den letzten Jahren ohnediesauseinander gelebt und wrden uns, das wussten wir, in der nchsten Zeit noch weiter vonihnen entfernen. Unsere gemeinsame Geschichte endete an dem Tag, als die Mauer fiel: Siengstigten sich um ihre Jobs, wir suchten uns das passende Gymnasium, bffelten dort dieSitzverteilung im Bundestag, lernten die Nationalhymne nun wieder mit Text und dieEreignissedes17.Juni1953auswendig.Sielieensichscheiden,wirberlegten,obwirdasAustauschjahr in Amerika schon jetzt machen sollten oder erst im Studium. Sie schimpftenberihrewestdeut-76 schen Chefs, wir knutschten in den Hrslen mit Friedrich aus Lbeck und Julia ausIngolstadt.DagabeskeineGemeinsamkeiten.SieredetenkaumberihrLeben,wirgarnichtber das unsere. Ihre Erfahrungen schienen nutzlos geworden, nutzlos fr uns jedenfalls,sodasswirgutaufsieverzichtenkonnten.NurwenigevonunswrenaufdieIdeegekommen,mitunserenElternundunserenFreundenaus dem Westen gemeinsam ins Theater oder essen zu gehen, unser Band zu ihnen war zudnn.EsreichtegeradeeinmalfrVerstndnis,RhrungundeineziemlichePortionMitleidaus. Wir griffen unsere Eltern nicht an. Wir stellten keine Fragen nach historischer Schuldoderhnlichem.DasEinzige,waswirtaten:WirverteidigtenunsereEltern.WirwichennievonihrerSeite,sondernbliebendabiszumletztenAugenblick,soalsgltees,einemkleinenBruderbeizustehen.Wir saen mit unseren ostdeutschen Familien aber auch nicht oft allein zusammen. WarfrherderkleinsteAnlassrechtgewesen,alleeinzuladen,sahmansichheutegeradenochzurunden Geburtstagen, goldenen Hochzeiten oder Jugendweihen. Erinnere ich mich an meineKindheit, dann sehe ich wilde Gelage bis tief in die Nacht vor mir, bei denen niemand umzehnUhraufstandundnachHauseging.UmdieseZeitwurdendieSchnapsflaschenausdemDelikatberhauptersther-77 vorgeholt und die zehnte Tte Engerlinge in die Kristallschale aus Prag gekippt. Die MuttistrankenMoccaEdel,RosenthalerKadarkaoderRotkppchenSekt,undfrunsKinderwurdeEierlikrinWaffelbechernmitinnenSchokoladeausgeschenkt,indiewirgenussvollunsereZungenversenkenkonnten.DannschwangsicheinerderVterzumSprecherdesAbendsauf,undso,alsseierderAnfhrereinerkleinenrevolutionrenBewegung,schimpfteerlautberdieheutigenZustndeunddarber,wasdieKommunistenausunsundberhauptausdiesemganzen Land gemacht htten. Wenn des Anfhrers Ehefrau ngstlich guckte und denZeigefinger an den Mund legte, wussten wir Kinder, dass jetzt der rechte Zeitpunktgekommenwar,genauerhinzuhren.Doch im Grunde kannten alle das Gerede schon; der Redner musste nicht erst langeberzeugungsarbeit leisten. Man war sich schnell einig: Im Westen war alles besser, undwenn man dieselben Mglichkeiten htte wie die da drben, wre man schon lngst jemandganzanderes.WennsieeinendochnurmalandenSchalterlieen.ZumSchlusserzhlteeinanderer Vati Honi- und Gorbiwitze. Wir Kinder, die Zungen noch immer im Eierlikr,versuchtennocheinmal,genauhinzuhrenundunsdieWitzezumindestbisMontagmorgen,erste groe Pause, zu merken. Damit knnte es uns gelingen, die anderen in der groenAuswertungsrundezuWettendass?,daswirjaleidernichtgesehenhatten,inden78 Schattenzustellen:AberdawurdenwirschonmitalkoholischenGute-Nacht-KsseninsBettgeschickt.Besuchen wir heute unsere Eltern, haben wir immer ein bisschen das Gefhl, wir holten sieauseinemAltersheimab,soweitsindsievonunseremLebenentfernt.Esist,alsfhrenwireinwenigmitihnenspazieren,gingenindasCafEisessen,indemsiedenKellnernochvonfrher kennen, und setzten sie am Ende des Nachmittags wieder im Heim ab. Die Eltern-Kind-Beziehung hat sich fr uns schon lnger erledigt, und wir sehnen den Tag herbei, andem wir vollkommen unabhngig sein und Geld verdienen werden. Nicht nur, dass unsereEltern daran den Grad des Angekommenseins in der neuen Zeit, wie sie sagen, messenknnten,esschmerztunseinfachauch,mitansehenzumssen,wiesie,dienurnocheinpaarJahrevonderPensionierungentferntsind,wieDreiigjhrigegeradeeinmalsoweitsind,dasGeld fr ihre monatlichen Ausgaben zu verdienen. Sie sind um mehr als zwanzig Jahrezurckgeworfen, und beobachten wir sie in ihrem Schlamassel, dann nervt uns das: WieHamster in Laufrdern, denen niemand sagt, dass man die Geschwindigkeit darin selbstbestimmen kann, und stattdessen voller Angst, das Rad knnte irgendwann zum Stehenkommenundesgbedannnichtsmehr,waseswiederinBewegungbrchte,laufensieimmerweiterundweiter.ErzhltenunsFreundeaus79 demWesten,dassihreMtterAngstdavorhtten,indenZugzusteigen,umihreKinderzubesuchen, und lieber den berlandbus nhmen, dann mussten wir lachen. Unsere ElternhattensichgeradeeinenComputergekauft,weilsiederMeinungwaren,jetztauchzuHauseonlinegehenzumssen,undsielerntenzweimaldieWocheEnglisch,wofr,daswsstezwarkeinMensch,dochwarensiederfestenOberzeugung,dasbrauchtemaninderheutigenZeit.Wenn wir daran dachten, berfiel uns eine groe, schwere Sehnsucht nach diesemStillstandim anderen Teil des Landes, aus dem wir nicht kamen. Wir sehnten uns nach dieserZeitlosigkeitundLangeweile,diedortallesinsicheinzuhllenundzuberdeckenschien,bisnichtsBrchigesundUnebenesmehrdarunterzusehenwar.UnsereEltern,sosehenwires,sindmdeundeinbisschenzualtfrdieneueZeit.SiesinddieSitzenbleibereineranderenEpoche,diesichgeradeerledigthatundausdernurCarmenNebel, das Ampelmnnchen, Nordhuser Doppelkorn, Plauener Spitze und die PDS briggeblieben sind. Wer wollte es uns da verbeln, dass wir uns ihnen berlegen fhlen undglauben,dieDingebesserverstandenzuhabenalssie?UndsosehenwirfrunskeineandereMglichkeit,alserfolgreichzusein.WirwollenGeldverdienen und allen zeigen, dass wir die Spielregeln des Westens gelernt haben und damitumgehenknnen.WennwirunsindennchstenzehnJahrengutschlagenundeinenan?80 stndigenJobbekommen,dannerhaltenunsereElternimmerhinimNachhineinRechtunddrfenglauben,imWestenundinderDDRnichtallesfalschgemachtzuhaben.Scheiternwirjedoch,sindwireinBeweismehrdafr,dassdiesemSystemnichtbeizukommenistunddassohneBeziehungenhierniemandetwasaussichmachenkann.Aberauchdasbehaltenwirfruns.81 5.Ja,dasgelobenwir!berunsereErziehungNimm die Hnde aus der Tasche. Sei kein Frosch und keine Flasche. Zieh nicht Leine, das ist deineSachehier, so lautet das Erkennungslied unserer Kindheit als Junge Pioniere undFDJ1er.WirhabendenaltenOmasinderStraenbahnunserenSitzplatzangeboten,ihnenwieTimur und sein Trupp die Kohlen aus dem Keller geholt und die Einkaufsnetze nach Hausegetragen.SamstagliefenwirinallerFrhezumSubbotnikindieSchule,strichenSchul- undFensterbnkeneuundlieenunsvondenVatis82 SonnenaufdengrauenPflasterstein malen. Vor der Kaufhalle verkauften wir Samen undBlumen aus dem Schulgarten und spendeten den Erls fr die Kinder in Vietnam. WirsubertendieRabattenvorderTurnhalle,sammeltenalteMilchttenausdenGebschenoderbernahmen Patenschaften fr ein Pflegeobjekt im Wohngebiet. Zum 1. Mai bastelten wirrote Nelken aus Krepppapier oder paukten mit den schwcheren Schlern im SchulkellerMatheaufgaben.Wir waren immer bereit, ein Amt zu bernehmen. Der Agitator schrieb Berichte ber dieMnner an der Trasse oder las der Klasse hinter einem zum Fernseher umgebautenSchuhkarton die Highlights der Aktuellen Kamera vor. Der Schriftfhrer, das war eins derschnstenMdchenmitderschnstenSchrift,verfassteimGruppenbuchlangeAufstzeberden letzten Pioniernachmittag. Der Brigadeleiter kontrollierte die Hausaufgaben, derKlassenbuch-84 diensttrugdasKlassenbuch,derMilchdienstholtedieMilch,undderKassiererkassierte.WirallekmpftenumdasSportabzeichen,dieSchwimmstufeIIIunddieAuszeichnungfrgutesLernen.ZumFahnenappellerschienenwirmitHalstuchundKppi.ZuMuttisFreudehattenwirimmereinsauberesTaschentuchinderTasche.BisicheinesTageswirklichgefordertundwie Lenin geheime Botschaften mit Milch schreiben wrde, begngte ich mich damit,Kartoffelschalen in die Speckitonne zu tragen, die Geschichte der SED auswendig zu lernenund wie Teddy den rmeren Mitschlern von meinen Schulschnitten abzugeben. MeineSchreibhefte hatten keine Eselsohren, das Hausaufgabenheft war immer vorgetragen, und inMathegabichmirMhe,beimZahlenschreibennichtandenoberenblauenKstchenrandzustoen.Alle sollten sich auf mich verlassen knnen. Ich war einer der jngsten Staatsbrger derjungen DDR und sollte den Sozialismus weiterbringen, damit er vielleicht doch noch, einesfernenTages,zumKommunismuswrde.EswarunsergroesGlck,dasswirinFriedenundSozialismus geboren und aufgewachsen sein durften, Krieg und Bomben, Not und HungernichtameigenenLeibversprenmussten.AbernochimmerwarendiedrohendenWolkenderKriegsgefahrnichtverschwunden,derKampfunseres VolkesumdenFriedennichtzuEndegefochten. Auch ich musste meinen Mann stehen und, notfalls mit der Waffe in der Hand,verhin-85 dernhelfen,dassdieimperialistischeGefahrsichweiterausbreitete.So wie ErichHonecker und seine Genossen ins Zuchthaus mussten, weil siedafr gekmpfthatten,dassvondeutschemBodenniewiedereinKriegausgehe,sodurftenwirdaskostbaresozialistische Erbe nicht leichtsinnig aus den Hnden geben. Gleich dem Arbeiter an derDrehbank, dem Bauer auf dem Mhdrescher und dem Volkspolizist am Fahrdamm gelobtenwirSchler,nachhoherBildungundKulturzustrebenundunserWissenundKnnenfrdieVerwirklichungdergroenhumanistischenIdealeeinzusetzen.HierhattejedereineAufgabezubernehmen,undunsereEltern,Lehrer,dieerfahrenerenFreundeinderFreienDeutschenJugendunddiePatenausdenBetriebenwrdenunsdabeimitRatundTatzurSeitestehen.Eskamaufjedenan.Fr allestrugenwirVerantwortung.Wenn dieKinderin Afrikanichtszu essen hatten, nahm ich mein Spielzeug mit in die Schule und gab es in der Turnhalle analteFrauenvonderVolkssolidaritt,dieanlangenSchulbnkensaenundallesaufschreibenmussten. Spter sollte es verkauft und in Medikamente oder neues Spielzeug umgewandeltwerden. Mich aber interessierte eigentlich nur, wo die alten Frauen mein Spielzeug wohlhinbringen wrden und wo man es wieder zurckkaufen knnte. Denn natrlich wollte ichalleswiederhaben,unddasvonmeinenMitschlernambestengleichmit.86 ich war auch verantwortlich fr das Sternenkriegsprogramm von Ronald Reagan, zumindestdann, wenn ich mich nicht glaubhaft und zu jeder Zeit zum Sozialismus bekannte und nichtrichtig mitmachte, wenn hinter der Schule Marschieren gebt wurde. Zu Ehren des Fest desLiedes und des Marsches vergrub unsere Klasse 1985 schon mal vorsichtshalber dasGruppenbuch, damit die Pioniere des Jahres 2000, wenn der Atomschlag nicht doch vorhergekommen war, was zum Ausgraben hatten und sicher sein konnten, dass es schonGenerationen von Kindern vor ihnen gab, die auch fr die gute Sache gekmpft hatten. VorallemdemSchriftfhrer,derWochefrWocheinderschwarzenKlemmmappedieEreignisseund Verlufe unserer Pioniernachmittage notiert und bebildert hatte, muss diese BeerdigungdasHerzgebrochenhaben.Undauchmichstimmtesbestenfallsvershnlich,dasBuchnochdort, am Fue des Ascheberges, gleich hinter unserem Neubaugebiet, liegen zu wissen undmirvorzustellen,wieesdortalleineinenendlosenTraumtrumt.In meiner Kindheit, so kommt es mir heute vor, herrschte Krieg. berall auf der Erde. Allekmpften.DieSandinisteninNikaragua,derANCinSdafrikaunddieAngolanerinAngola.Nur die DDR blieb dank der sozialistischen Bruderstaaten, der sowjetischen Streitkrfte undder Freunde der NVA vorerst verschont. Falls wir aber unsere Wandzeitungen ber denBielefelderLehrermitBerufsverbotwiedernichtrechtzeitig87 fertig stellen sollten, wrden wir genau tun, worauf die Imperialisten nur warteten; dannkonntederAtomschlagschonmorgenkommen.NachmittagsbauteichmitmeinenFreundenHhlen, in die ich, sobald die Bomben fielen, kriechen wrde und mich verstecken knnte.WirdachtenunsFrhwarnsystemeaus,werbeiwemklingelnundwenmanalarmierensollte,dennnatrlichwolltenwir,wennesberlebendegab,daruntersein.Lag ich abends allein im Bett - zum Abendbrot hatte es wunderbare Makkaroni mitJgerschnitzel gegeben - und frbte dann pltzlich das Abendrot mein Kinderzimmer sokomisch feuerfarben, wusste ich, jetzt ging es los. Die ersten Huser im Viertel branntenschon,undunsereHhlewarziemlichweitweg.IchbekamAngst,diesolangeblieb,bisichberdenBriefeneinschlief,dieichinGedankenanErichHoneckerschriebundindenenichihn bat, alles zu tun, damit die Amerikaner ihre Bomber wieder in die Garage fuhren, wirwrdenmorgenauchgeloben,nochmehrAltpapierzusammeln,undobernichtvielleichteingroes Glasdach ber die DDR bauen knne, das die Bomben abhielte, schlielich wisse erdoch,wiesoetwasgehe.ZuHausewarnatrlichallesanders.SelbstwennunsereVatisinElternbeirtensaenundmitdemDirektorbesprachen,womanneueFensterfrsSchulkloherbe-88 kam, und unsere Muttis an Pioniernachmittagen vorfhrten, wie man mit Kartoffeldruck frdie anderen Muttis zum Frauentag Deckchen gestaltete, hielten sie das doch fr ziemlichlstige Angelegenheiten. Re