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Dieter Hildebrandt Der große Tag des Hans im Glück die Welt an einem Wochenende? Die Idylle trügt. Aufstieg zur Märchenmetropole finden sich auf schwankendem Boden wieder: Die Dinge nehmen ihren Lauf... oder: Wie spaltet man scanned by unknown corrected by Ute77 Die Entdeckung, Hans im Glück sei eigentlich ein Masselbrunner gewesen, ist Lug und Trug - und alle die gekommen sind, den Grundstein zu legen für Masselbrunns ISBN 3-87511-144-5 Verlag und Autor danken der Ben - Witt er-Stiftung, Hamburg, für die Förderung der Arbeit an diesem Buch. 1. Auflage 1998 by MaroVerlag , Alle Rechte vorbehalten Umschlag: Rotraut Susanne Berner Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

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Dieter Hildebrandt

Der große Tag desHans im Glück

die Welt an einemWochenende?

Die Idylle trügt.

Aufstieg zur Märchenmetropole finden sich aufschwankendem Boden wieder:Die Dinge nehmen ihren Lauf...

oder: Wie spaltet man

scanned by unknowncorrected by Ute77

Die Entdeckung, Hans im Glück sei eigentlich ein Masselbrunner gewesen,ist Lug und Trug - und alle die gekommen sind, den Grundstein zu legen fürMasselbrunns

ISBN 3-87511-144-5Verlag und Autor danken der Ben-Witter-Stiftung, Hamburg, für die Förderung der

Arbeit an diesem Buch.1. Auflage 1998 by MaroVerlag , Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Rotraut Susanne BernerDieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

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Autor

Dieter Hildebrandt, 1931 in Berlin geboren, StudiumTheaterwissenschaft, Anglistik, Germanistik und Publizistik inMünchen, Bonn, Berlin und am Washington State College.

1961 bis 1968 Kulturkorrespondent der FAZ in Berlin. 1969/70 Lektor bei Suhrkamp. 1972 bis 1975 Dramaturg am Schiller-Theater, Berlin.

Seit 1975 freier Schriftsteller.

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Glück ist Talent für das Schicksal NOVALIS

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INHALT

Vorbesichtigung ODER: Die Dinge nehmen ihren Lauf ................................ 6

I DIE GOLDENE ZUKUNFT ........................................................................... 13 ODER: WILLKOMMEN IN MASSELBRUNN ........................................... 13

Incognito ........................................................................................................... 14 Das kupferrote Kopfüber................................................................................ 22 Der Ersatzmann................................................................................................ 27 Rallye ins Niemandsland................................................................................ 32 Heimatkunde .................................................................................................... 37 Die Hohe Frau .................................................................................................. 41

II AUF HOHEM ROSS ...................................................................................... 45

ODER: ES IST ALLES WIE VERHEXT!...................................................... 45 Das Fest steht auf der Kippe .......................................................................... 46 »Erzählen sie doch keine Märchen!« ........................................................... 51 Hand aufs Herz ................................................................................................ 63 Ungehaltene Reden ......................................................................................... 69 Sensation........................................................................................................... 79

III BLINDEKUH.................................................................................................. 81 ODER: WO DIE LIEBE H INFÄLLT .............................................................. 81

Burgfehde.......................................................................................................... 82

Heimsuchung.................................................................................................... 97 Die Leiter zum Erfolg ...................................................................................101 IV SCHWEIN HABEN; SCHWEIN SEIN ...................................................110 ODER: LAUFSTEG DER EITELKEITEN ..................................................110

Ein Kerl wie Samt und Seide.......................................................................111 Das Rad der Geschichte ...............................................................................115 Spiel über dem Abgrund ..............................................................................119 Es kommt noch besser..................................................................................124

V IM GÄNSEMARSCH...................................................................................129 ODER: ES BLEIBT IN DER FAMILIE........................................................129

Heim zu den Müttern ....................................................................................130 Kindervorstellung ..........................................................................................142 Spurensuche....................................................................................................148 Bankgeheimnis ...............................................................................................153

VI DIE STEINE IM WEG................................................................................160 ODER: AUF ZUM LETZTEN GEFECHT ...................................................160

Die Fronten klären sich ................................................................................161 Kostümfest......................................................................................................169 Hereinspaziert! ...............................................................................................175

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VII ALLES ODER NICHTS ...........................................................................181 Das Märchenhaus ..........................................................................................182 Ein Königreich für ein Pferd! ......................................................................190 Sensation II .....................................................................................................196 Zu guter Letzt .................................................................................................201

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Vorbesicht igung ODER: Die Ding e nehm en ihren Lauf

Wie das Leben so spielt:

Für sein Glück muß man was tun.

Reklameslogan der Deutschen Bank

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Die Dinge nahmen ihren Lauf. Denn das ist dieLieblingsbeschäftigung der Dinge, ihr Karrieretraum, ihreGlücksvorstellung, ihr Freudentaumel, ihr Katastrophentanz:

Wenn das Ding an sich mit dem Ding der Unmöglichkeitgemeinsame Sache macht, wenn der Kleinkram großrauskommt, der Nippes zum Hexenritt loslegt, wenn dieGegenstände ihr Stillhalteabkommen mit der Schwerkraftaufkündigen, die Souvenirs die Flucht in die Zukunft antretenund die Tücke des Objekts fröhliche Urstand feiert: Dann gerätdie stehende Redensart ins Rutschen, die Dinge nehmen ihrenLauf.

Die Dinge, die da ihren Lauf nahmen, waren ein biedermeierliches Puppentheater aus dem Besitz derer vonSäldeburg, fünf Wetzsteine aus der Hinterlassenschaft des altenMasselbrunner Scherenschleifers Jochil Kiefe, drei Spinnrädervon Bauernhöfen aus der näheren Umgebung, zwölfMarionettenfiguren aus der berühmten Sammlung des Conte ca'Foscari, eine in Wachstuch gebundene Kladde mit Kochrezepten

der Schwester der Brüder Grimm, ein barocker Bücherschrankmit einer ganzen Kollektion alter Kinderbücher, etliches irdenesBackgeschirr aus dem 17. und 18. Jahrhundert, eine Kindertruhemit Märchenmotiven und eine alte Tabaksdose, deren kurioserReiz darin bestand, daß ihr sämtliche Steine fehlten, mit denensie einst geschmückt gewesen sein mußte.

Die Dinge nahmen ihren Lauf aus Kellern und Verschlägenund Schachteln, von Auktionen und Trödelmärkten und selbstvom Sperrmüll, von Antiquariaten und Nachlässen undWohnungsauflösungen, - aber alsbald wurden sie schon wiedergebremst, sortiert, poliert, restauriert, kamen in Reih und Glied,unter Glas und Vitrinen und in die allerschönste, schmuckeOrdnung. Der Lauf all der seltsamen Dinge nahm sein Ende imneuen Märchenmuseum zu Masselbrunn, wo sie alsbald zurBesichtigung freigegeben sein werden.

Die Dinge hatten ihren Lauf genommen, als Masselbrunn sich-7

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in eine Märchenstadt zu verwandeln begann. Nicht über Nachtund als zauberhafter Vorgang, sondern auf einerGemeinderatssitzung, nach längerer Debatte und vielem Hin und

Her, in Form eines letztlich einstimmigen Beschlussesangesichts leerer Kassen, bröckelnder heimischer Betriebe undder verödenden Wirkung der neuen Umgehungsstraße. AlsIndustriestandort konnte Masselbrunn mit seiner Hosenfabrik,dem Sägewerk und der kleinen Brauerei schon gar nicht gelten.Es mußte deshalb etwas geschehen, eine Lösung aus dem Nichtsgefunden werden, nachdem auch die Pläne für einLandmaschinenwerk deshalb gescheitert waren, weilMasselbrunn schon seit drei Jahren keinen Bahnanschluß mehrhatte.

Nun hatte man von Gemeinden gehört, die mit Märchentripsgroß, berühmt, ja fast wohlhabend geworden waren, die hoheBesuc herzahlen, landesweites Interesse, lebhaftes Presseechozumindest in ihre Prospekte druckten, man hatte Wunderdingevernommen vom Verband Deutsche Märchenstraße, von den

Abenteuern auf der Frau-Holle-Route, und man hatte sich miteigenen Augen davon überze ugen können, welchen Erfolg dieStadtväter von Lohr am Main, ganz in der Nachbarschaft, mitSchneewittchen gelandet hatten, dank einer hanebüchenenGeschichte und geschickter Werbung.

Irgendein Märchen mußte man doch auch in Masselbrunnheimisch machen können, eine Tradition erfinden, ein Museumeinrichten und dem Ort ein neues Image, eine sagenhafteIdentität verpassen... Bürgermeister Otto Lorenz sah seinenStadtbibliothekar und Heimatforscher so an, als überprüfe erdessen Etat: »Irgend etwas Nützliches könntest auch du dochmal tun, Romeiser. Kannst du uns da nicht was ausgraben?«Matthias Romeiser schwebte, unter diesem Blick, auch gleichetwas vor: Es gebe da in einer alten Kirchenchronik einenHinweis auf einen Mann, der vielleicht als Vorbild für Hans im

Glück dienen könnte. Hans im Glück? Na wunderbar, fabelhafte-8

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Idee, Zustimmung von allen Seiten, zuversichtlicher Rundblickdes Bürgermeisters, Sitzung geschlossen und ran ans Werk:MASSELBRUNN, DIE HEIMAT DES HANS IM GLÜCK.

Wer suchet, der findet. Und wer nicht findet, der mußerfinden. Und wenn einer schon Masselbrunn retten soll, darf erauch den eigenen Job zu retten versuchen. Und da kann es dochnur eine Frage des guten Willens sein, bis man im Kirchenbuchaus dem späten 18. Jahrhundert auf eine entscheidende Spurstößt, auf die Erwähnung eines Gotthold Hanslick, »genanntHanselück, am 11. November 1791 an der Schwindsucht gest.«,mit dem Zusatz: »Im großen Krieg gewest.«

Und der große Krieg konnte ja nur der Siebenjährige gewesensein - denn die Historie hatte sich seinerzeit auch überMasselbrunn hergemacht, und viele Söhne der Stadt hatten fürdie gerechte Sache gekämpft, auf wessen Seite immer. Und siehtman da nicht vor sich, wie dieser arme Hanselück abgeschlepptwird, in den Krieg, wie er desertiert ist und aufs neue kämpfenmuß, mal für die Österreicher, mal mit den Franzosen, mal

zugunsten der Preußen, und waren die Russen nicht auch dabei?Muß es da nicht einen ganz großen Auftritt gegeben haben imLeben »unseres« Hanselück? »Hans hatte sieben Jahre beiseinem Herrn gedient« und siebenjähriger Krieg! Wie das dochalles zusammenhing! Wie die Dinge ihren Lauf nahmen!

Denn da kam nun dem Herrn Romeiser die Dose zupaß, die erkürzlich bei einem Trödler gesehen hatte und sich nun für einenSpottpreis besorgte, ein bizarres Stück, fast wie einTotenschädel, mit lauter Löchern: Dort seien früher Edelsteinegewesen, sagte der Händler, die nach und nach der Not hättenweichen müssen. Und wer war als Sammler kostbarerTabatieren geradezu geschichtsnotorisch? Kein anderer alsFriedrich der Große! Und wie kam nun das eine zum andern, derKönig zum Hanselück, die Tabaksdose nach Masselbrunn, undMasselbrunn zu seinem Märchenhelden? Nichts leichter als das,

wenn man nun alles so genau vor sich sah wie Matthias-9

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Romeiser:Die berühmte Szene, wie Friedrich, noch nicht der Große, im

Gegenteil, geschlagen und abgeschlagen, von den Seinengetrennt, plötzlich einem feindlichen Musketier gegenübersteht,der auf ihn anlegt; jenen historischen Augenblick, da der Königgeistesgegenwärtig ausgerufen haben soll: »Kerl, Er hat ja garkein Pulver auf der Pfanne!« und sich, während der verdutzteSoldat auf seine Waffe schaut, mit einem Sprung in die Büschegerettet habe. Ach, alle drei sind sie doch in der Klemme,Friedrich, Hanselück und Romeiser, und zusammen muß ihnendoch eine viel bessere Geschichte gelingen, zum Beispiel so:

Der König am Ende, nicht nur mit seinem Krieg, auch mitseinem Lebensmut. Trug er nicht dauernd ein Döschen Opiumfür den Selbstmord bei sich, wünschte er sich nicht tausendmalden Tod in jenen katastrophalen Tagen, ekelte es ihn nichtdavor, »einen verbrauchten, zum Leiden verdammten Körper zu bewohnen«? Depeschen wagte er doch gar nicht mehr zu öffnen,und einen Offizier, der ihm die Rettung von Kanonen aus

irgendeinem Schlamassel meldete, fuhr er an: »Er lügt, ich habekeine Kanonen mehr!« Und dieser König sollte sich mit einemTrick davongemacht haben?

Nein, Matthias Romeiser erkannte die wirkliche Pointe desRencontres. Natürlich sagte der lebens müde König genau dasGegenteil von dem, was die Anekdote weismachte, er rief:»Kerl, hat auch Er kein Pulver mehr auf der Pfanne! So schieß

Er doch!« Worauf der Soldat die Waffe zu Boden hielt undsagte: »Der Hanselück schießt auf ka Majesté nit.« Und derKönig, halb wütend, halb erleichtert: »Sollte Ihn füsilierenlassen wegen Insubordination. Aber Kerl, Er hat recht. Indiesem Krieg ist Sterben die leichtere Sache. Komm, helf' Ermir zu den Meinen. Die Merde hat mich wieder.«

Und wie rasch und leicht erzä hlte sich's dann, daß Hanselückzum Burschen des Königs aufrückte, bis zum Friedensschluß blieb, dann aber seinen Abschied verlangte (»Herr, meine Zeit

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ist herum«) und dem König beinah davon laufen mußte, so liebhatte der ihn gewonnen. Wie er aber dann doch weg durfte undeine mit Edelsteinen besetzte Tabaksdose als

Abschiedsgeschenk bekam. Wie aber der Heimweg zu einerOdyssee wurde und der Hanselück unterwegs all den Schmuckherausbrechen und versetzen mußte, so daß nur noch jenes hohlespukhafte silberne Gerippe übrigblieb, das nun vor HerrnRomeiser auf dem Schreibtisch stand.

Und doch hätte man ihm sicherlich schiere Spekulationvorwerfen können, wäre da nicht die alte Ballade gewesen, dieder Heimatforscher aus einem leinengebundenen, aberzerschlissenen und schmierigen Haushaltsbuch herbeizuzaubernwußte, mit krakeligem, kaum lesbarem Bleistift in altdeutscherSchrift hingekritzelt, vor wer weiß wie langen Jahren, vielleichtvorzeiten, vielleicht sogar vorgestern. Da hieß es unter anderem:

Brauch ein Pferdsche für die Jagt, Ei, was soll mir derSmaracht. (Rößsche wirft den Reiter ab und verschwindet dannim Trapp.) Nu, dann ebbe der Safir, und die schönste Kuh istmir.

Und so weiter, reichlich hessisch gereimt, und zum Schlußgab's sogar eine Art Moral:

Doch den allerletzten Steintauscht Hanslück für zweie ein: Nimmt mit Freude, nimmt mit Eifer,Wetzewerk vom Scherenschleifer.Hat daran sein Glück gefunneIn dem schönen Masselbrunne.

Gegen solche Verse konnte die Heimatliebe schwer wassagen, und wenn dann noch hinzukam, daß der Hanselück ein

armer, aber sparsamer Mensch gewesen war und bei seinem Tod-11

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200 Taler fürs Armenhaus gestiftet hatte, dann muß manzugeben, daß Matthias Romeiser ganze Arbeit geleistet hatte.Apropos: gestiftet...

Zu den allerersten Dingen, die da ihren Lauf genommenhatten, gehörte ein Scheck über 250.000 Mark, eine Spende desgroßen Industriellen Jean-Marie Zinckhan, der vor Jahren durcheine Parteispendenaffäre so skandalös in die Schlagzeilengeraten war, und nun von Zeit zu Zeit, wie er selber sagte, seinGeld zum Fenster hinauswarf. Diesmal war es eben inMasselbrunn gelandet, zum Aufbau des Märchenmuseums.

Und so war unter den letzten Dingen, die ihren Lauf nahmen,eine in schöner Kursivschrift (rot auf grauem Papier) gedruckteEinladung, die sich wie folgt las:

DIE STADT MASSELBRUNN a.d. M. eröffnet ihr Märchen-Museum

(Jean-Marie-Zinckhan-Stiftung)und lädt ein zu einem

Symposion über

MÄRCHENGLÜCK und GLÜCKSMÄRCHEN

Namhafte Volkskundler, Heimatforscher, Literaturwissenschaftler, Schriftsteller, Märchenerzähler und Psychologen haben ihr Erscheinen zugesagt. Märchenvorstellung für Kinder mit dem Puppentheater

»Pantinenköpfe«. Quartierwünsche bitte an das VerkehrsamtTorstraße

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I DIE GOL DENE ZUKUNFT

ODER: WILL K OMMEN IN MA SSELB RUNN

Aufs Glücklichsein paßt das Glück ganz einfach gar nicht auf.

Robert Walser

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Incognito

Er war viel zu früh da. Er, der nie auftrat, ehe nicht alles ingespanntester Bereitschaft war; er, der die raunende Ungeduldeiner tausendköpfigen Aktionärsversammlung nach zehnMinuten Wartezeit wie Adrenalin spürte; er, der das Hinhaltenvon Sitzungsteilnehmern als Autoritätsübung zu betreiben liebte,der mit virtuosem Erscheinungs-Rubato die wenigen

Gleichrangigen zu reizen und damit unter sich zu lassenverstand; er, von dem das Gerücht ging, daß er selbst denBundeskanzler (diesen oder jenen?) einmal eine halbe Stundelang habe sitzen lassen, und zwar aus Nervenkitzel; er, derwußte, daß einer wie Michail Gorbatschow scheitern mußte,weil man im Leben nie zu spät, sondern immer nur zu zeitigkommen kann; er, der zu der Einsicht gelangt war, daß man eineEpoche nur prägen kann, wenn man sich Zeit nahm, und zwardie der anderen -, er war heute eine ganze Stunde zu früh an Ortund Stelle.

Diesmal kam es ihm nicht darauf an. Schon »an Ort undStelle« war zuviel gesagt. Der Anlaß war zu läppisch und dieArt Leute, die er treffen würde, zu bedeutungslos, als daß sichder Gedanke an einen Auftritt, an eine dehnungskeckeVerspätung hätte einstellen können. Dies war die Visite in

einem Milieu, das mit dem seinen nichts zu tun hatte. Dies wareine Auszeit. Den Chauffeur hatte er weggeschickt, dengepanzerten Wagen in einer Tankstelle am Ortseinganguntergestellt. Abends, ab 10 Uhr, würden sich beide vor demSchloß zur Verfügung halten. Natürlich kein Gedanke daran,hier in diesem Nest zu übernachten. Die guten Dienste derSchloßherrin würde er erst recht nicht in Anspruch nehmen.

So wie einer, der auf einem andern Stern gelandet ist, machte

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er sich auf den Gang durch die mittägliche sommerträgesonnenstaubige Stadt. Er begab sich in das Abenteuer einesIncognito, das er seit Jahrzehnten nicht mehr gehabt hatte. Weil

es keine Situation gab, in der er nicht jederzeit, überall, erkannt,anerkannt, gefeiert, auch angefeindet, aber eben aufgenommenund angenommen war.

(Denn wir lassen da nicht irgendwen losspazieren durch diealten Fachwerkgassen von Masselbrunn. Dieser Mann, unserHerr der Erzählung, steht im öffentlichen Leben, ist eineausgewiesene Person der Zeitgeschichte, eine maßgebendePersönlichkeit. Er ist ein Imperienchef, der es gewohnt ist, sichzu kaufen, was er will: Mürbe Zeitungsverlage oder marodeLebensmittelketten, kleine Privatbanken oder versunkene VEBs,russische Konstruktivisten oder deutsche Golfclubs undmanchmal auch einen geltungssüchtigen Politiker.)

Das Incognito gelang prompt. Das heißt: es gelang gar nicht.Stürzten denn die Leute nicht auf ihn zu und stammelten: SindSie's oder sind Sie's nicht? Standen sie nicht andächtig am

Straßenrand und flüsterten ihren Kindern zu, wer da geradevorbeikomme? Keineswegs. Nicht nur, daß niemand hier wußte,wer er war; nicht nur, daß niemand da war, der von ihm zwarhätte wissen können, aber nur nicht damit rechnete, ihn hier zusehen. Nein, es war überhaupt keine Seele da im dösendenMittag des Ortes. Gerade ein Incognito braucht ja Publikum,Leute, Gesellschaft. Zum Versteckspiel muß man Mitspielerhaben, die einen suchen. Zum Unerkanntsein sollte es Menschengeben, die einen nicht erkennen.

Nichts da. Vergitterte Ladentüren, heruntergelasseneJalousien, zugezogene Gardinen, versperrte Einfahrten. DieAutos an den Straßenrändern stanken in der Hitze vor sich hin.Die zwei Hunde, an denen er vorbeikam, hoben nicht einmalden Kopf. DORNRÖSCHENSCHLAF. Selbst die Tür deritalienischen Eisdiele (Italiener haben doch immer auf) gab nicht

nach. Straßennamen wie Alte Bastei, Wildkammer, Bräustraße.-15

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Einmal passierte er ein paar Pferdeäpfel. Von der Hauptstraßegelegentlich das Geräusch eines vorbeidonnernden Lastwagens.Hinter verhängten Fenstern der bläuliche Schein eines

Fernsehers. Der Jugendtreff »Igel« erst ab 19 Uhr geöffnet(wäre eine tolle Zuflucht gewesen). In einem Vorgartenzwischen Gartenzwergen ein Kinderwagen; er konnte nichtausmachen, ob ein Baby oder eine Puppe darin lag; nichts rührtesich.

Über die Häuser hinweg sah er den Kirchturm und stieg dieStraße bergan. Er gehörte nicht zu den Leuten, die schwitzen,aber er bemerkte jetzt, was hinter dem ganzen Spuk, der leerenStadt, dem gelähmten Leben, steckte: eine brennende,einbalsamierende Hitze. Ein flirrendes Sengen. Ein fiebrigerSpannungszustand. Eine gleißende Nervosität. Fata-Morgana-Ängste.

Die Kirche, als er sie nach fünf Minuten erreichte, war real,aber geschlossen. (Die haben es einfach nicht nötig, aber dannsollen sie sich über die leeren Sonntage auch nicht wundern.)

Doch Schatten bot sie genug und sogar eine kühle granitenePlatte. Er setzte sich auf irgendeine römische Jahreszahl undfühlte sich von diesem kurzen Alleingang erschöpft - undamüsiert. Der Gönner der Stadt, der neue Mäzen, der spendableSponsor, ihr Glücksbringer sozusagen - da saß er nun, einDenkmal des Leerlaufs. Der Sockel jedenfalls war schon da.

So rasch also ging das. So schnell konnte man ins Abseits

geraten, wenn man den Chauffeur wegschickte. So ungeschütztwar man ohne die gepanzerte Limousine. So atemlos ohne diemachtvolle Hektik eines ausgefüllten Tages. So ohnmächtigohne die Nötigung, jederzeit eine Entscheidung zu treffen. Eswar, als habe sich, seit seiner Ankunft in Masselbrunn, seinLebenswerk aus seinem Leben verabschiedet, und er hocke nunda mit sich selbst herum, ohne alle Aura, ohne sein Charisma,ohne die Hornhaut des Prestiges. Was aber war das für eine

Hornhaut, die so schnell von einem abfallen konnte? Was war-16

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das für ein Prestige, das so jäh erlosch? Was war das für eineAura, die sich aus Terminen, Konferenzen, Entscheidungenaufbaute und nichts sonst? War sein vielgerühmtes Charisma

nur die Tabuzone der vielfach abgesicherten Autorität? DieFragen durchfluteten ihn wie eine seltsame Droge. Er mußteeine Entscheidung treffen: Er stand auf und wandte sich zumGehen.

Den Penner entdeckte er zu spät, jedenfalls ehe er die Chancehatte, ihm auszuweichen. Auf dem Friedhof einer Kleinstadthätte er solche Existenzen nicht erwartet.

Da saß er, auf einer Bank unter einer Zeder, einer für hiesigeVerhältnisse mächtigen Zeder, aber er saß nicht nur, sondernsiedelte dort, hatte die Bank in Besitz genommen mit Utensilien,die man sich vor lauter Ekel gar nicht näher anzusehen traute;nur soviel war auf den ersten Blick zu merken, daß auch dieobligatorische Flasche unter dem Krempel hervorblinkte, den erda neben sich ausgebreitet hatte. Ein Mann von etwa sechzigJahren, mit weißen, bläßlichen, strähnigen Haaren, die ihm

fransenartig ins Gesicht hingen, in ein pastoses, magermilchiges, jedenfalls unappetitliches Gesicht. Und wennKarriere nichts ist, dachte der Herr, als daß man solchen Leutennicht über den Weg laufen muß, nichts mit ihnen zu schaffenhat, sie nicht einmal für möglich halten muß, dann bedeutet dasschon mehr als alle Privilegien, dann ist das der wirkliche, dereigentlich erstrebenswerte Reichtum.

Es grauste ihn vor der nicht mehr zu umgehenden Begegnung(en passant). Das Hallo, Kumpel! hatte er schon im Ohr, oderhieß es Hey, Mann! in diesen Kreisen? Gab es, in irgendeinerSprache dieser Welt, ein Wort, das darauf hätte gesagt werdenkönnen? Er, der Industrielle, der Wirtschaftsimperator, derMega-Unternehmer, und auf der anderen Seite ein Nichtsnutz,ein Schmarotzer, ein Tagedieb! Das waren ja nicht zweiverschiedene Lebeweisen, das waren verschiedene Lebewesen.

Solche Visavis finden normalerweise nicht statt. Nur daß es hier,-17

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auf dem alten Kirchhof des hessischen Masselbrunn, zwischenden Gräbern, doch zu einer Begegnung kommen mußte, zu einerganz unvorhergesehen Konjunktion. (Will alles nur sagen, daß

auch wir Schwierigkeiten haben, diese beiden Figurenaneinander vorbei zu bringen, die aber nun doch, da die letztenSchritte schon unternommen sind, aneinander vorbei müssen aufknappste Distanz, denn der Weg des Herrn zielt direkt auf dieBank. Und eine Kehrtwendung wollen wir ihm nun doch nichtzumuten.)

Lachen, das war es; lachend mußte das Defilee gelingen.Lachen, auch wenn es Maske war, bot hinreichend Schutz,Lachen war eine verläßliche Leitplanke. Er war, in der Deckungseines forcierten Amüsements, schon an der skandalösenErscheinung vorbei, ohne sie noch weiter in Augenschein zunehmen, als ihn der Mann überfiel. Nein, nicht körperlich (dazuhätte er wohl kaum die Kraft gehabt), sondern mit Worten:

»Hätten Sie mal 'n Schreiber für mich?«Jetzt bettelt er mich an, dachte der Herr.»Muß mir was Wichtiges notieren. Vergeß' immer alles. Nicht

daß Sie denken, ich hätte nicht selber einen, hier, ganzeKollektion, abgebrochen, zerknabbert, stumpf geworden, Mineleer, finden Sie nicht, daß Minen immer leer sind, wenn man sie braucht. Kein Verlaß drauf. Muß mir das aufschreiben. Kannmir nichts mehr merken. Muß alles dastehen. Wußten Sie, daßdas Glück ein Flachmann ist? So klein und so kurz und so knapp

wie ein Flachmann? So schnell vorbei? Wenn man's intus hat, istes auch schon weg. Bißchen Dusel im Kopf, bißchen Wärme imBauch, bißchen Liebe im Herzen, aber eigentlich schon vorbei.Muß mir aufmalen, daß das Glück ein Flachmann ist, sonstverwechsel' ich das, und denke, der Flachmann ist das Glück...«

Der Herr war, wider Willen, einen Augenblick stehengeblieben, hatte sich von dem Gesabbel in Bann ziehen lassen.Jetzt wandte er sich zum Weitergehen. Ein Griff in die

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Brusttasche, und ein knapper Wurf: Dem Penner flog dergoldene Kugelschreiber vor die ausgetretenen Schuhe. Diekleine Pretiose mit dem eingravierten Namen.

Hinter ihm Rufe: Aber nicht doch! Nur einen Moment! MeinGott, Gold, doch nicht etwa richtiges Gold! Mann, warten Siedoch. Mensch, Zinker, Du?! Aber der Herr hütete sich, weiterhinzuhören.

Er konnte nicht richtig gehört haben. Unmöglich, daß dieserMensch, dieses arme Schwein »Zinker« gerufen hatte. Zinker,das wäre ja kein Zuruf, das wäre ein Tabubruch gewesen, ein

Echo aus tiefster Vergangenheit, ein Verstoß gegen das eigeneVergessen. Diesen Namen, diesen Jugendhohn hatte nichteinmal der findigste Reporter herausbekommen, wie denn einLandstreicher auf dem Friedhof von Masselbrunn? Klar, daß ersich verhört haben mußte. Aber es war nicht zu leugnen, daß esden hohen Herrn ein wenig gruselte, als er nun schnellerenSchritts zurück in den Ort strebte. Und gleich noch einmal einerunziemlichen Begegnung ausgesetzt wurde.

»Hallo, Sie da, könnten Sie mal für einen Moment dasSchwein halten?« Eine junge, weibliche Stimme, aber dieFragerin blieb für ihn unsichtbar, und von einem Schwein warauch nichts zu sehen.

Natürlich konnte es nicht so weitergehen. Natürlich konnteder Ort nicht fortfahren, mit ihm Schabernack zu spielen. Jetztwar es Zeit für sein berühmtes Nein. Sein guillotinierendes

Nein. Sein Nein, das Köpfe rollen ließ. Sein Nein, das diePlanungen eines Jahrzehnts kippen konnte in dem Nu, da er essagte. Ein Nein, das knisterte von der Macht, mit der es geladenwar und vibrierte von den Nerven, die es auch ihn kostete. Sein Nein, das ihn groß gemacht hatte und unnahbar.

»Nein!« sagte Jean-Marie Zinckhan in den Schatten hinein,aus dem die Frage gekommen war. Aber es kam ganz tonlosheraus, verpuffte ihm noch im Mund, und verdiente unser

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Ausrufungszeichen gar nicht. Gegen die schiere Lachhaftigkeitkam sein Nein nicht an. Er sah noch immer kein Schwein, rochkeinen Dung, hörte kein Quieken. Was er fand, als er nähertrat,

waren ein paar hölzerne Bänke, die im Dunkel eines Schuppensaufgestellt waren, davor, in einigem Abstand, ein Gerüst miteiner größeren Öffnung etwa in Mannshöhe. Ein Kasperltheater!Eine Puppenbühne! Ein Kinderspiel! Kein Wunder, daß sein Nein versagt ha tte.

»Wo stecken Sie denn?« Das klang schon eher nach seinereingefleischten Kommandogewalt.

»Hier hinten, hinter dem Vorhang.«Und dann kam es zum Vorschein, ein kleines,wuschelköpfiges Geschöpf. Kein Kind, kein Mädchen: wohleher eine junge Frau. Eine, wie er sie ungern sah in seinenBetrieben. Ärger, Extrawürste, Aufsässigkeit. Sah man ihr schonan den Augen an. Ungeniert, blank, grün. Grünäugige ließ er nieeinstellen.

»Gott, sind Sie schnieke. Sorry, wußte nicht, wer dalangkommt. Hab bloß die Schritte gehört. Schon gut, hatte nurein kleines Problem. Alles paletti jetzt, Sie würden sich doch nurschmutzig machen, Sir.« Über das »Sir« mußte sie auch nochlachen.

»Wo ist denn nun das Schwein«, fragte Zinckhan streng.»Vergessen Sie's«.»Ich will es sehe n. Hier ist doch gar kein Stall!«Und dann brachte sie das Schwein an: ein rosig angemaltes,

offenbar selbstgebasteltes Holzschweinchen mit Ringelschwanzund einem langen Führungsstab.

»Gehört zu meinem Puppenspiel. Morgen nachmittag istVorstellung, und ich muß ein bißchen improvisieren. Sonstmachen wir das nämlich zu zweit. Und da brauchte ich gerad' jemand für ein paar Handgriffe.«

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»Und die schaffe ich nicht?« »Nee ehrlich, Sir, so wie Sie aussehen.« »Und wie bitte sehe ich aus?« »Na, so aus'm Ei, viel zu pikobello. Ich hab' Sie ja nur gehört

und dachte, da kommt ein richtiger Mensch.«»Ich werde es probieren, auch wenn ich kein richtiger Mensch

bin.«»Ich mein doch nur: mehr so'n brauchbarer Typ. Echt, Sir, hat

kein' Zweck.«

»Sagen Sie bloß, Sie schicken mich weg!«»In dem Aufzug geht es nicht. Anzug, mein' ich. Hier hintensieht's wüst aus. Sorry, Sir, muß weitermachen.«

Und dann verschwand sie wieder hinter ihrem Vorhang undließ ihn einfach stehen.

Dieses Masselbrunn hat es in sich, dachte Zinckhan, als er denWeg zurück in ein Zentrum nahm, das es eigentlich auch nichtgab. Dort, immerhin, fand er sich wieder: Hinter derschmuddeligen Vitrinenscheibe eines Zeitungsstandes(geschlossen) das Titelblatt einer Boulevardzeitung, mit derSchlagzeile

JEAN-MARIE ZINCKHAN UND SEINE SCHECKS

Und dazu sein Foto, gestern vor dem Untersuchungsausschuß,grob gerastert und briefmarkenklein. Aber solche Unschärfe bekam ihm immer gut: die kantige Hornbrille, die scharfe Faltesenkrecht im Kinn, die grauen, stopplig ge schnittenen Haare.Klischee, was willst du mehr.

Jean-Marie Zinckhan war sich endlich selbst über den Weggelaufen.

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Das kupferrote Kopfüber

So, Frau Löhr, es wär' soweit!« Drei Stunden unter der Haube bei den Temperaturen! Du lieber Gott! Aber sie hatte es sichvorgenommen, und was sie sich vornahm, führte sie aus, auchwenn es nur stillsitzen hieß und den eigenen Kopf hinhalten. Sieließ die Augen geschlossen, auch als die Haube längst weg warund die Wickel herausgenommen und die Locken ausgekämmtwurden. Sie wollte nichts sehen, ehe nicht alles zu sehen war,die ganze Verwandlung, der neue Kopf. Sie wollte den Triumphtotal, und sie wollte ihn auf einen Blick.

Ob das Rot ihr stehen würde? Denn sie hatte nicht tönenlassen diesmal, sie hatte das absolute Extrem gewählt, Kupferrotund Dauerwellen. Einen neuen Kopf zu Beginn einer neuen

Karriere. Ilse Löhr wollte das Fest ihrer Inthronisation mit einerKrönungsfrisur begehen, und der sah sie nun, im Spiegel, mittapferem Augenaufschlag entgegen. War sie beglückt, ergriffen,entsetzt? Nein, sie war einfach weg, sie war platterdings weg!Ilse Löhr, 52 Jahre alt, Witwe, stolze Mutter eines Sohnes, derim diplomatischen Dienst stand (Chauffeur, derzeit, anirgendeiner deutschen Botschaft) und noch immer nichtgeheiratet hatte (die jungen Frauen heute taugen ja durch die

Bank nichts), saß da und war weg. Ein unbekanntes Gesichtstarrte sie an, verriet Verwirrung übers Angestarrtwerden, undüber der Fassungslosigkeit wölbte sich eine Girlande aus rotenLocken, eine kupferne Glut, ein Feuerwerk aus Haaren. FrauLöhr probierte ein Lächeln. Das Gesicht unter der purpurnenPracht lächelte zurück. Frau Löhr grüßte amüsiert. DieAmüsiertheit wurde geteilt. Frau Löhr probte den Ernstfall.Auch das Gesicht gegenüber wurde ernst. Frau Löhr kam zu

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sich: »Na so was!« sagte sie endlich. Und dann tapfer: »Siehtdas nicht aus wie eine Perücke?«

»Aber wo denken Sie hin!«Eine neue Frisur ist immer ein Stück Therapie. Sage niemand,

daß man sich nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehenkönne. Für Frau Löhr war die rote Lockenpracht so etwas wiedie Rahmung eines biographischen Aufschwungs, einer neuenLebensaufgabe. Sie hatte sich wieder einmal durchgesetzt. Siehatte sich nicht nur den Zutritt zum neuen Märchenmuseumerkämpft, sie besaß dort das Hausrecht. Sie würde nicht nur an

der Kasse hocken, Eintrittskarten verkaufen, Broschüren undPostkarten, sie - und nur sie - würde auch die Führungenmachen, Fragen beantworten, Ausstellungsstücke erläutern undins rechte Licht rücken.

Denn, so hatte sie kategorisch erklärt: Wenn ich da schon dieAufsicht mache, dann mache ich auch alles. Wenn ich die Türhüte, hüte ich auch die Schätze. Was zu einer alten Kinderwiegezu sagen ist, weiß ich besser als jeder Mann. Märchen kenne ichaus me iner Jugend noch genug. Keine Angst, ich finde michschon durch.

So wurde aus einer entschlossenen Putzfrau eine etwasaufgeputzte Persönlichkeit, aus einer Nebenfigur eine unsererHauptgestalten. Worauf Ilse Löhr sich in Wahrheit berief, warennicht die Märchen aus ihrer Kinderzeit. Es war Wissen andererArt. Wenn man seit so vielen Jahren in drei prominenten

Haushalten der Stadt für Ordnung sorgte, bekam man docheiniges an Einsichten mit. Besser: an Einblicken.Dienstags und freitags putzte sie beim Bürgermeister,

mittwochs im Bungalow des Sparkassenleiters und donnerstags beim neuen Verwalter der Fürstin. Da kam einiges zusammen anVertrautheit mit alten Möbeln und interessantem Nippes, mit derGeschichte der Stadt und ihren Geschichten erst recht, mit denLeuten und ihren Eigenheiten. Man staubte ja nicht nur die

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Kommoden ab und die Klaviere, man war auch Abstauberin vonInformationen und Peinlichkeiten, von kleinen Pannen undgroßen Verlegenheiten. Man wurde vor allem Expertin für das,

was in den diversen Häusern unter den Teppich gekehrt wurde.Frau Löhr war eine umgekehrte Scheherezade: Sie lebte

davon, daß sie ihre Geschichten nicht erzählte. Denn nichteinmal die sieben Berge, hinter denen Schneewittchen ja auchnur unzureichenden Schutz fand, sind so eindrucksvoll und bezaubernd, wie der Berg, hinter dem man mit einem Geheimnishält oder mit der bloßen Andeutung: Ich könnte Ihnen Dingeerzählen... Dinge!

Sachen wie die merkwürdigen Brandschutzpläne, die sie ineinem Regal beim Schloßverwalter entdeckt hatte und dieeigentlich mehr wie Anweisungen zum Zündeln aussahen, vorallem, was die Pferdeställe anging, das eigentliche Heiligtumder Säldeburg (»unbedingt Gewittertage abwarten!« hatte es dageheißen); Sachen wie die, daß der Sparkassenleiter eine seinerAzubi, die hübsche Annegret, einmal zu einem mehrtägigen

Fortbildungslehrgang geschickt hatte, von dem sie elendwiedergekehrt war, eine Fünfzehnjährige, die um zehn Jahregealtert aussah in den Wochen danach (das Kind hätte das Kindgern behalten) und dann ihre Lehrstelle aufgegeben hatte;Sachen wie die Eintrittskarten von Spielbanken, die sie ziemlichhäufig, zwar zweifach zerrissen, aus dem Papierkorb desBürgermeisters gefischt hatte; was jedenfalls bedeutete, daß dievielen kommunalen Konferenze n, zu denen der Bürgermeisterimmer öfter unter der Woche aufbrach, zumindest eingleichbleibendes Rahmenprogramm hatten...

Man übertreibt also nicht mit der Behauptung, daß Frau Löhrweit eher eine Geheimnisträgerin als eine Reinigungskraft war.

Nur in den letzten Wochen hatte sie doch einmal etwasdeutlicher werden müssen, als es um den Posten des neuenMuseumsleiters gegangen war und sich neben dem Filialleiterder Sparkasse auch der Trödelheinrich (weil er einiges

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gespendet hatte) und der pensionierte Rektor Borchert dafürinteressiert hatten. Sie alle wollten das ehrenamtlich machen.

Zuerst hatte der Bürgermeister unsere Frau Löhr nicht für vollgenommen und laut losgelacht. »Was denn! Sie? Das Museum?Ich glaub', ich hör' nicht recht!« Aber als sie dann fragte:»Gewinne Se da eigentlich immer, in dene Spielbanke?« dahörte er doch ziemlich recht und es dämmerte ihm, daß sie esverdammt ernst meinte.

Den Trödelheinrich zu vertrösten kostete nicht mehr als dreiFlaschen Rum, der Filialleiter (dessen Institut für den Ankauf

einiger Pretiosen gespendet hatte) ließ sich den Ehrentitel einesKurators gefallen, nur der Rektor blieb hartnäckig in seinerKonkurrenz (»Was denn, dieser ungebildete Drachen!?«). Hatteer nicht einmal eine kleine Broschüre über die GeschichteMasselbrunns geschrieben, hatte er nicht die beste Kenntnis vonallen am Ort, weit besser noch als dieser reingeschmeckte HerrRomeiser?

Aber gerade das wurde nun sein Handicap, denn auf einmalkursierten in der Stadt Fotokopien aus der ersten Auflage, 1938,zur Nazizeit, in der er sich nicht entblödet hatte, eine Änderungdes Ortsnamens vorzuschlagen, nur weil Massel auch einehebräische Bedeutung habe. (Daß er ein Nazi gewesen war,störte so gut wie niemanden im Ort, denn das zeigte nur, daß erwirklich einer der ihren war, aber daß er den Namen seinerHeimatstadt hatte opfern wollen, zeigte doch, wie wenig man

ihm wirklich vertrauen konnte.)So war denn, zum Erstaunen des ganzen Ortes, die resoluteFünfzigerin das geworden, was der Bürgermeister in einemformlosen Schreiben »Beschließerin im Märchenhaus«, was sieselbst aber Museumsdirektorin nannte und weswegen sie sichdie neue Frisur in den Kopf gesetzt hatte.

Die Friseurin hatte den Umhang entfernt, die Haare von derBluse gebürstet, und nahm nun noch einmal die flammende

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Pracht liebevoll auflockernd in die Hände. Dann war dieProzedur beendet.

»So, Frau Löhr, jetzt können Sie sich sehen lassen.«

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Der Ersatzmann

Mit heiterem Schwung betrat er das Tagungsbüro,überschwemmte es mit einem »Fröhlichen Guten Tag!« und warauf der Stelle so vehement anwesend, daß alle im Raum denKopf zu ihm wendeten und die zwei Damen hinter demEmpfangstisch sogar ein wenig erschreckt zusammenfuhren. Eswar kein Eintritt, sondern ein Auftritt, den Pfarrer JoachimLichtwitz da vollführte, ein Auftritt mit Erfolg: Denn ob er nunschon an der Reihe war oder nicht; ohne weiteres erlangte erdurch dieses überwältigende Hereinpreschen auch den Vortritt,grüßte noch einmal in kleinerem Format, sah die Tagungsdamengewinnend an, nannte seinen Namen und erwartete die schöneBescherung in Gestalt der Tagungsunterlagen, die da, reichlichgestapelt und schön geschichtet, auf dem Tisch lagen. So einPäckchen Gedrucktes in Empfang zu nehmen, hat doch immeretwas Erhebendes, auch wenn man das meiste davon gleichwieder aussondern und in den nächsten Papierkorb werfen wird.Aber erst einmal ist es doch, wie die Kirche so gern sagt:Handreichung und ein Beweis, daß man dazu gehört.

Joachim Lichtwitz war einer jener Pastoren, die sich gern alsfröhliche Gottesmänner empfinden. Er begriff Frömmigkeit als

eine Dauerverpflichtung zu heiterem Elan, zu programmatischerguter Laune. Der gute Hirte war für ihn nicht nur einfreundlicher, sondern ganz entschieden ein freudiger Hirte, dennwie anders hätte er seiner Gemeinde das verkünden sollen, wasdoch nicht von ungefähr »die frohe Botschaft« heißt. Alle seinePredigten, sosehr sie zur Buße aufriefen und den Leuten insGewissen redeten, so tief er sich entsetzt zeigte über Kriege undKatastrophen in der Welt, so peinigend er die Not in Ruanda

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oder im Kosovo ausmalte, so sehr er das kurze Gedächtnis unddie langen Ausreden der Politiker verhöhnte, so wirkungsvoll erdas Bild einer verrotteten, zerrütteten Welt zeichnete -, alle seine

Predigten schlossen mit einem happy end, mit einer fasthalsbrecherischen Wende zum Guten, er kratzte, buchstäblich,die Kurve von der Hölle zum Heil, kurz vor dem Amen lichtetesich die Welt, und der Pastor verbreitete Zuversicht.

Dazu gehörte, daß er singen ließ in seinen Gottesdiensten,singen in einem, wie das Konsistorium befand, schon fastskandalösen Ausmaß, mit Vorliebe alles, was von zehn Strophenan aufwärts ging. Bei ihm gab es an den Stecktafeln nie jeneknappe Auswahl wie etwa »Vs. 1-3, 7+8«, sondern wenn es dahieß »Lied 105« (»Zeuch ein zu deinen Toren«), dann bedeutetees Gemeindegesang bis zur letzten, zur 13. Strophe, eineschleppende Viertelstunde lang. Dabei führte er gern Regie wieein Entertainer oder ein Animateur im Ferienklub, indem erzwischen den Strophen Einsätze gab wie »Alle Männer!«, »Alleunter 30!«, »Jetzt nur die Frauen!« oder »Großeltern, laßt euch

hören!«, ein Spaß, den er sich natürlich nur erlauben konnte,wenn mehr als die ortsüblichen zwanzig Leute versammeltwaren, also zu den Feiertagen.

In seinen jüngeren Jahren hatte er einmal seiner Sangesfreudeeine eigene Studie gewidmet über »Freude und Frommen desSingens im Gottesdienst«, hatte das kleine, aber passionierteWerk leider nie bei einem Verlag unterbringen können; so daßer schließlich eine Studienreise auf den Spuren des Paulusfahren ließ und das Geld für einen Privatdruck verwendete, 53Seiten lang, mit Notenbeispielen, zu beziehen über denVerfasser. Niemand bezog es, jetzt verstaubten die restlichenExemplare neben Karl Barths Dogmatik und den großenKommentarbänden zum Neuen Testament.

Aber gar nicht abgetan, sondern geweckt war sein Wunsch,weiterzuschreiben. Es wurde seine Lust, sein Laster, seine

Sucht. Er hatte von Schriftstellern gehört, die über das Schreiben-28

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klagten, es eine Qual nannten, ein hündisches Metier; vonAutoren, die Horror hatten vor einem leeren Blatt oderBrechreiz bekamen beim Anblick einer Schreibmaschine; oder

für jede Seite einen Vollrausch brauchten. Für ihn dagegen war jede Seite ein Vollrausch, ein Selbstentzücken, ein Fest. Und dahatte er sich auf Märchen verlegt, hatte die Prinzipien derExegese auf die Brüder Grimm angewandt, und siehe, binnenvier Jahren waren drei solcher Deutungen, aus christlichem,fröhlich-tröstlichen Geist entstanden. Und nicht etwa in derSchublade versteckt, nicht mehr im Selbstverlagliegengeblieben, sondern wirklich »erschienen«, kleineschmucke Bändchen, preiswert und kartoniert und gar nicht malschlecht verkauft. Das vierte aber, so spürte er, würde seinMeisterstück, und er war nun hier in Masselbrunn, um aus demfast fertigen Manuskript zu lesen, »Hans im Glück - eineEinkehr zum Frieden.«

So galt denn sein erster Blick nicht der Quartieradresse undden anderen lokalen Informationen, sondern dem

Tagungsprogramm, das hübsch aufgemacht war, in roterKursivschrift auf schmalem hochformatigem Doppelbogen.Irgendein Professor Brockes sollte »Von der Wünschbarkeit desWünschens« sprechen, eine Frau von der Mühlen über »Mütterund Stiefmütter im Märchen«, und dieser BesserwisserKirchhoff redete natürlich mal wieder über sein Lieblingsthema»Form und Fundus der Fantasie«, Kirchhoff, der in denBibliothekskatalogen immer zentimeterdick mit Karteikartenvertreten war.

Aber einen schlimmen Schönheitsfehler hatte das Blatt: KeinJoachim Lichtwitz. Keine »Einkehr zum Frieden«. Er sah dasProgramm noch einmal durch, aber es blieb dabei: sein Namefehlte. Statt dessen sollte es, gleich am Anfang, einen Vortraggeben mit dem Titel: »Der große Tag des Hans im Glück«. Voneinem Beat Loderer. Nie auch nur gehört, den Namen.

Jetzt kam ihm doch sehr zustatten, daß er ein fröhlicher-29

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Gottesmann war; jedenfalls behielt er fürs erste die Nerven. Erfragte sich zum Tagungsleiter durch, Wenzel hieß er, und sahsich alsbald einer verlegenen Burschikosität (»Mein lieber

Pastor, welche Freude!«) und der Auskunft preisgegeben, da seileider eine Panne passiert oder eigentlich keine Panne, nur seidas Programm doch schon gedruckt gewesen, als Drewermannvor vierzehn Tagen, also ganz kurzfristig, abgesagt habe, erwisse doch, der berühmte Drewermann. Da habe man das nichtmehr neu drucken können, und ein Aufkleber sehe doch sohäßlich aus.

»Ich für Drewermann?«, fragte der Pastor.»Eine Ehre, nicht wahr?« sagte Herr Wenzel.»Ein Lückenbüßer also! Und ein Lückenbüßer noch dazu für

diesen Pulloverapostel!«»Aber ich bitte Sie, lieber Pfarrer!«»Nein, ich muß bitten, nämlich darum, daß Sie mir

geschrieben hätten. Hier als Reserve aufzutreten - das hätte ich

mir gründlich überlegt.«»Aber genau das hatte ich ja gefürchtet, Herr Lichtwitz. Undmir lag doch so daran, Sie zu gewinnen.«

»Zu gewinnen! Als wenn ich zum Trostpreis tauge.«Pastor Lichtwitz mußte sich mit Macht an das Bild erinnern,

das er von sich selbst hatte, an den fröhlichen Gottesmann undan sein sorgfältig getipptes Manuskript, so daß er nicht sagte,

was ja auch seines Amtes gewesen wäre - »Gott befohlen« sondern nur:»Gut, ich an der Stelle von Drewermann. Aber keineswegs für

ihn. Wenn ich spreche, spreche ich gegen ihn. Ein Ersatzmann bin ich nämlich auf keinen Fall.«

»Einen Drewermann kann man eigentlich auch gar nichtersetzen«, sagte Herr Wenzel zweideutig.

Es war ein geradezu heiliger Zorn, der den Pfarrer auf seinem-30

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Weg ins Quartier begleitete. Was, wenn er in diesemAugenblick scho n gewußt hätte, daß er der einzige sein würde,der an diesem Wochenende seinen vorbereiteten Vortrag, wie

geplant, überhaupt halten konnte, ehe eine seltsame Verkettungvon Umständen das ganze Programm über den Haufen warf?

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Rallye ins Niemandsland

Soweit also war es mit ihr schon gekommen:MASSELBRUNN20 km. Sie jetzt ins letzte Dorf zu schicken, irgendeinHeimatmuseum hochzujubeln, sie zur Märchentante zu machen- das grenzte an Psychoterror. Nicht mit mir, hätte sie sagensollen, hatte sie auch gesagt (nur eben nicht laut). Da saß sie nunim Kleinbus und fuhr dem Tiefpunkt ihrer Karriere entgegen,wahrhaft zur Strecke gebracht. Und, klar, mit dem allerletztenTeam: der Kameramann, der die Bilder verwackelte, derTonmann schwerhörig, der Fahrer, der fürs Licht verantwortlichwar, mit den ältesten Witzen, und allenfalls der Assistenterträglich, der war wenigstens schwul. Sie hätte den eigenenWagen nehmen können, aber sie hatte sich geweigert,Masselbrunn auf eigene Faust zu finden. Wo das lag, ging sienichts an.

Sie haßte das Mickrige, Kleine, Enge, alles was nach Heimatund Dünger roch, nach Blut und Boden und Mutter Erde, nachScholle und Scheune. Sie grauste sich vor Fachwerkwinkeln undwindschiefen Gassen, vor der Kleinkariertheit der altenHäuserfronten und den Schindelfassaden, sie reagierte allergischauf Geranienbalkons und Netzgardinen und am meisten auf die

Menschen dahinter. Ihr wurde schlecht schon beim Gedanken anall diese kleinstädtische Zurückgebliebenheit. Zur Durchfahrt,wenn die Autobahn verstopft war, gerade noch erträglich, aberschon beim Tanken, wenn es denn sein mußte, überkam einendas heulende Elend. Nun war sie in so einen Nicht-Ort verbannt,für drei endlose Tage! Zu einer Märchentagung. Zum schierenPipifax.

Und dieser Name schon! Wie eine vom Rundfunkrat

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erfundene Schikane: Masselbrunn!Dafür hatte sie nicht schon als Kind den Aufstand gegen die

Eltern und das heimische Kaff betrieben, die Feld-Wald-Wiesen-Freundschaften platzen lassen, die Flucht nach Berlingewagt, sich erst zur Stewardess und dann zum Modelhochgekämpft, um jetzt doch wieder in irgendwelchen pökelsauren und frittenfetten Gasthöfen mit Plastiktischdeckenzu landen, sie, Goggi Güttler-Fahrenholz; schließlich war es ihrnicht leicht gefallen, den Laufsteg zu verlassen und ins Studiozu gehen, die High Society mit der Einschaltquote zuvertauschen. Aber immerhin: War sie nicht »das frische Gesichtam Bildschirm« gewesen, das »kecke Grübchen im Pokerfacedes Polit-Talks«, ja sogar »unsere schönste Eigenwerbung«?Hatte sie nicht den Männern des Senders gezeigt, wie manThemen anging und auf Leute zuging? Die Methusalems in denRedaktionen hatten doch vorher nicht einmal gewußt, daß dasKnie, auf das sie bei Konferenzen so gierig starrten, auch aufdem Bildschirm ankommen würde.

Einmal hatte sie sich zuviel erlaubt. Nicht Knie, sondernCourage. »Sie haben alle Freiheiten«, hatte es geheißen, aber alssie sich wirklich die Freiheit nahm, war es mit ihrer Talkshowauf einen Schlag aus. Als sie einmal empfindlich »auf denPunkt« kam (wie ihre Sendung hieß), da machten die feigenhohen Herrn den berühmten Punkt. Gut, sie war diesem Typennicht ins Wort gefallen, als er seine böse Nummer abzog, denKanzler eine aufgeblasene Null nannte, die Kinnlade einesMinisters eine Selbstschußanlage und die deutsche Vereinigungeine Schutzgelderpressung. Sie hätte das so nicht im Raumstehen lassen sollen, aber sie war von der schlimmen Suadairgendwie mitgerissen worden. Aber das hätte sich ja nochglätten, reparieren lassen. Nur, als der Mensch dann auch nochden Big Boss persönlich angriff, der mit am Tisch saß, und ihnfragte, ob er Käuflichkeit für einen Grundwert halte und seine

Steuertrickserei für christlich, da wäre wohl der »Punkt«-33

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gewesen, nicht mehr zu moderieren, sondern zu maßregeln.»Der Neid der Versager«, hatte Zinckhan lächelnd gesagt, waraufgestanden, hatte sich verbeugt, ihr einen Handkuß gegeben

und dann hocherhobenen Hauptes das Studio verlassen.Vielleicht wäre noch was zu retten gewesen, wenn sie vor

dem Rundfunkrat nicht so unklug gewesen wäre und dieGewissensfrage gestellt hätte, ob die Damen und Herren nichtselbst manchmal so lockere Gedanken hätten. Die aber fühltensich überhaupt nicht animiert, außer zu einer ernsten Rüge, unddanach geschah alles sehr schnell: Die Versetzung insRegionale, keine politischen Themen mehr. Nur nochKindergärten, Ausstellungen, Weinköniginnen undStadtjubiläen. Und eben jetzt: ein Märchenmuseum. Jetzt warsie auf dem kurvenreichen Weg nach Masselbrunn und mußtesich eine Männerunterhaltung anhören, schlimmer noch, sich anihr beteiligen. Denn das »Team« versuchte sich in Konversation.

»Bikini eingepackt?« (Das Licht) »Man trägt jetzt Einteiler.« (Die Kamera)

»Wo, unten oder oben?« (Der Ton) »Als Totale.« (Kamera) Sie: »Was soll denn der Blödsinn?« »Schwimmbad. Masselbrunn hat ein tolles Freibad.« (Der

Assistent)Sie: »Ich hasse Schwimmbäder. Chlor und Fußpilz.«

»Liegt aber mitten im Wald. Man sieht den Wald vor lauterWasser nicht mehr.« (Kamera)Sie: »Könnt ihr denn überhaupt schwimmen?« (Sie dachte an

die Bierbäuche.)»Die haben auch eins für Nichtschwimmer.« (Ton).»Und ein supercooles Kneippbecken. Mit zwei Ps.«

(Assistent)

»Das hättet ihr einem auch vorher sagen können.«-34

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»Kneippbecken?« (Licht) »Das mit dem Waldschwimmbad. Be i der Hitze heute.« »Was wär's denn geworden?« (Kamera) Sie: »Wie bitte?« »Na, Bikini oder Einteiler?« (Kamera).

Sie: »Ich bade nur nackt. Aber jetzt habe ich dummerweisenichts eingepackt.«

»Echt? Freikörper?« (Licht)»Na, Sie kommen ja auch von der Kultur, oder?« (Kamera)

Sie: »Jetzt reicht's aber, Leute!«»Märchen ist schließlich auch Kultur, könnt man sagen.«

(Ton)Sie: »Schluß jetzt!«»Apropos Schwimmbad. Der Sie hat baden gehen lassen, der

kommt auch.« (Kamera)Sie: »Wer hat mich denn baden gehen lassen?«»Na, Ihr spezieller Freund.« (Licht)»Der persönliche Karriereknick.« (Kamera)Sie: »Ich versteh noch immer nicht.«»Na, der große Boss. Der, ohne den nichts läuft.« (Kamera)Sie: »Doch nicht Zinckhan?«»Genau: der Zinckhan.« (Ton)

»Gewissermaßen: Ihr Zinckhan.« (Kamera)Sie: »Das gibt's doch nicht. Das ist doch ganz unmöglich.

Was sucht denn der in Masselbrunn?«»Vielleicht Sie? Wer weiß?« (Kamera)Sie: »Euch hält man ja im Kopf nicht aus. Also erklärt mir's

bitte.«»Der hat das irgendwie gesponsert, das mit dem Museum.«

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(Licht)Sie: »So'n Quatsch sollte der machen? Geld für das

Märchendings von Masselbrunn?«»Na ja, gewissermaßen als Wiedergutmachung für all die

Tricksereien.« (Ton)»'ne Art Buße«. (Assistent)Sie: »Und wieso weiß ich das nicht?«»Man kann schließlich nicht alles wissen.« (Ton)Sie: »Aber die Redaktion?«

»Die haben bestimmt keine Ahnung. Denken Sie, man hätteSie sonst hingeschickt? Das hätte doch der Intendant persönlichverhindert.« (Kamera)

Sie: »Leute, da ist ja ganz wunderbar. Das ist ja echtmärchenhaft.«

»Mal sachte. Keine falsche Bewegung. Wir sind hier nicht aufeinem Rachefeldzug.« (Kamera)

»Schließlich hat er ihnen damals sogar einen Handkußgegeben.« (Assistent).Goggi Güttler-Fahrenholz hat auf einmal große Lust auf

Masselb runn.Sie wird ihr blaues Wunder erleben.

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Heimatkunde

Die acht jungen Männer trafen sich auf der BlankenhornerLichtung, einen Kilometer oberhalb der Burg, unter demeinzigen Baum, der dort stand. Es war eine Eiche, keinPrachtexemplar, nicht besonders alt, aber gut belaubt undschattenspendend. Als der alte Herr dazu kam, ein seltsam jünglingshaft wirkender Greis mit straffgescheiteltem

blondgrauem Haar und scharfer Nase, umringten sie ihn, wiewenn er eine ersehnte Botschaft brächte. Der Alte übergab ihneneinen in Packpapier gehüllten Gegenstand, den sie auswickeltenund andächtig betrachteten. Es war eine Bronzetafel. Zwei vonihnen nahmen sie und legten sie zeremoniell an den Fuß desBaumes. Dann begann die ganze Gruppe zu singen:

»Land der Eichen, Land der Treue, Männerstammes reiferKern...«

Es war ein verhaltener, gleichsam verschwörerischer Gesang,und keinem kam bei dem kuriosen Text irgendein Lächeln aufdie Lippen. Der juvenile Greis visierte einen nach dem andernan: Es waren, wie er fand, stramme Kerle, ein bißchen feist dereine oder andere, aber gutaussehend, sauber, und vor allem:ergeben. Es war seine Mannschaft, die er sich, der pensionierteRektor Borchert, »geformt« hatte.

»Kameraden!« sagte er, und die Anrede tat ihnen sichtlichgut. Es war, als ginge noch einmal ein Ruck durch ihreAufmerksamkeit. »Kameraden, dies ist unser Tag. Heute könntihr euch um unser Vaterland verdient machen. Dulce et decorumest..., ihr wißt ja. Und ihr müßt nicht einmal sterben. Heute müßt

ihr zeigen, was eure Entschlossenheit wert ist. Ist jemand unter-37

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euch, der jetzt in der Stunde der Bewährung, zurückschreckt, somöge er gehen, ehe ich den Auftrag erteile. Es steht ihm frei,uns ungestraft zu verlassen.«

Er machte eine Pause, in der er die Gruppe noch fester in denBlick nahm. Niemand rührte sich. Jeder versuchte, nochentschlossener als zuvor auszusehen. Wieviel Mut die neueAufgabe auch verlangen mochte - soviel Courage hatte keiner,sich jetzt davonzumachen.

»Meine jungen Kameraden«, hob der Greisenjüngling wiederan, »ihr kennt meinen langen Kampf um ein rechtes,

aufrichtiges, gutdeutsches Masselbrunn. Ich habe euch ofterzählt, wie ich schon vor mehr als fünfzig Jahren dafüreingetreten bin, dieses schändliche Massel, diesen jiddischenJauchzer, aus unserem Namen zu tilgen und durch den Namendieses standfesten Baumes, unter dem wir jetzt stehen, zuersetzen. Wäre ich durchgedrungen, so lebten wir jetzt inEichenbrunn. Nun, es ist nicht aller Tage Abend. Aber gerade jetzt erleben wir die Invasion der zersetzenden Geister, von

überall her, giftiger Intellektualismus fällt über unsere Heimather, die treue Scholle, unser Blut und Boden, wird besudelt. Sollich euch Namen nennen, Teilnehmer vorlesen aus demVortragsverzeichnis. Jakob Singer, sagt euch das was? JoachimLichtwitz, geht euch da ein Licht auf? Silvio Anselm, muß ichdazu noch etwas sagen? Und dieser Plutokrat Jean-MarieZinckhan? Ist doch auch nicht koscher, um mal im Jargon zu bleiben. Und daß sie jetzt das Judenhaus dafür hergerichtethaben, das spricht doch Bände. Und genau da setzen wir an.«

»Das Museum?« fragte einer ungläubig?»Abfackeln?« fragte ein anderer.»Wieso Judenhaus?« ein dritter.»Das erklär ich euch später. Ich dachte, ihr wüßtet Bescheid.

Was ich brauche, ist euer bedingungsloses Vertrauen. Kapiert?«

»Das Museum in Brand stecken?« fragten jetzt mehrere-38

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besorgt.»Nicht doch, nein!« sagte der betagte Anführer. »Wir sind

doch keine Vandalen. Denkzettel. Die Schrift an der Wand.Heimleuchtung. Wir schicken sie in alle Winde...«

»Aber Rektor, ich dachte, Sie selbst wollten da...?«Der Alte sah den Frager stechend an: »Was wollte ich da?

Und den Rektor will ich nicht gehört haben.«»Es hat doch geheißen, Sie würden vielleicht selbst das

Museum übernehmen.«»Hört euch das an, Kameraden: Da fällt doch einer von uns

auf den plumpesten Schwindel herein. Zersetzungskampagne.Freundchen, ich rate dir, sei wachsam.« Aber dann bezwang ersich und entwickelte seinen Plan.

So erleichtert sie waren, daß es nicht um Brandstiftung gehensollte - die Variante gefiel ihnen auch nicht sonderlich.

»Graffiti! Aber Sprayen, das machen doch die anderen. DieLinken, die Punks, die Chaoten!« rief einer entsetzt. »Das istdoch nicht unser Bier!«

»Schon mal was von Kriegslist gehört, Kameraden?«»Ist das nicht ehrenrührig? Für einen deutschen Kämpfer?«»Aber der deutsche Kämpfer ist doch kein tumber Tor, ich

bitte euch, Kameraden. Man muß die größte Treue zur Idee mitder Fähigkeit vereinen, im Zickzack vorzugehen, falsche Spurenzu lesen, sich unangreifbar zu machen. Es gilt, den Gegner zuschlagen und der Konkurrenz zu schaden.«

»Ich würde da lieber mit unserem Banner aufmarschieren«,sagte einer.

»Können wir immer noch, wenn die erste Attacke nicht hilft.Aber erst einmal sprengen wir die Einweihung. Mit der Kraftdes Wortes. Hier ist der Text.«

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Sie lasen und sahen sich ziemlich konsterniert an. Dann lasensie laut. »Hanf statt Hans!« und »Märchenonkels, verpißt euch.«

»Na, schön ist das nicht«, wollte einer sagen, aber unter demBlick des Anführers blieb er bei »Na, schön...« stecken.

»Und die Dosen?«»Die geb' ich euch gleich am Waldrand aus meinem

Kofferraum.«Und dann hob der zeitgestählte alte Herr die Gedenkplatte

vom Fuß des Baumes hoch und las sie den jungen Leuten wie zueiner Einschwörung vor: »Unserem Führer Adolf Hitler pflanzen diese Eiche die treuen Masselbrunner. 20. April 1936«,ehe er sie wieder in braunes Packpapier wickelte.

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Die Hohe Frau

Die Fürstin fällt uns am schwersten. Das Bild der Fürstinverlangt Fingerspitzengefühl. Wer Fürstin sagt, muß gleich umseinen guten Ruf fürchten als Erzähler. Einmal, weil er da inKreise eindringt, die seit anderthalb Jahrhunderten vorwiegendder Trivialliteratur vorbehalten sind, zum andern, weil dieFürstinnen selbst seit neuerem mit allen unseren

Wunschvorstellungen aufgeräumt haben.Sie beherrschen nicht mehr einen Hofstaat, sie beherrschen

die Medien. Sie spielen nicht mehr Klavier, sie spielen Polo. Siestellen keine Rätselfragen mehr, sie geben Antworten inInterviews. Sie sitzen nicht mehr auf Thronen, sondern inAufsichtsräten. Sie knallen nicht mehr Frösche an die Wand, siefeuern Manager. Sie entwerfen Parfüms, Sonnenbrillen undDessous. Sie fahren Rennen und machen Schlagzeilen. Siehängen an den Kiosken und liegen in Tausenden vonWartezimmern herum.

Solch eine Fürstin ist hier nicht im Spiele. Sontraud IthaFürstin von Welsberg ist nicht von dieser Medienwelt, sie istHerrin auf der Burg, die Masselbrunn, jenseits des Flüßchens,überragt. Ihr gehört auch der weitläufige Park, den sie voretlichen Jahren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Dort,

auf der Säldeburg, lebt die Fürstin so exklusiv, daß anirgendeine Exklusivberichterstattung nicht im Traum zu denkenist.

So hoch ihr Haus über der Stadt liegt, so abseits hält sie sichdort auch, erhaben über Geschwätz und Kleinkram desStädtchens, enthoben den Lokalintrigen und dem Verkehrslärm:eine hohe Frau, die eine gleichsam naturgegebene Distanzwahrt. Undenkbar, daß sie mit einem Einkaufskorb vom Schloß

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herabstiege an den Markttagen und sich unter die Leute mengte,leutselig, mitteilsam oder gar feilschend; aber auch kaumerinnerlich, daß der Chauffeur sie mit dem für die engen Straßen

Masselbrunns viel zu unpraktischen Bentley vor demBürgermeisteramt oder der Sparkasse abgesetzt hätte. Und ihrletzter Kirchgang war, soweit richtig beobachtet, vor anderthalbJahren gewesen, als der alte Persegehl, ihr langjährigerVerwalter, mit 73 das Zeitliche segnete. Eher schon bekamen siefrühe Pilzesucher oder Wanderer zu Gesicht, wenn sie morgensihre Lieblingspferde ausritt; denn das Gestüt Säldeburg hatte inihr die passionierteste Reiterin, die manchen Waldweg zumParcours machte. Mitunter kam sie auch als eine Dame aus dem19. Jahrhundert zum Vorschein, im Damensattel, angetan miteinem spukhaft langen Kleid, eine Frau aus vergangenen Zeiten.

In Masselbrunn rätselte man über ihr Alter. Die Boshaftenhielten sie für sechzig, aber nicht weniger boshaft waren die, diesie für dreißig und vor der Zeit gealtert hielten. Sie sah, wennman sie aus der landläufig respektvollen Ferne betrachtete, noch

immer sehr gut aus, so daß man sich zurechtreimen konnte:Wenn sie sechzig war, hatte sie sich gut gehalten, war sie abererst halb so alt, mußte sie irgendwann zu schnell gelebt haben.Vielleicht war sie auch gleichsam alterslos, altersbeliebig,hochbetagt und morgenfrisch, greisenmunter und sportgestählt,eine Frau mit vielen Gesichtern? Extravagante haben ohnehinkein richtiges Alter, weil für sie weder Konventionen noch Jahrezählen. Die Akten in Masselbrunn gaben nichts her; auch in denAdelshandbüchern fehlten genaue Angaben, seltsam genug. DieAbergläubischen in Masselbrunn waren sich sicher, daß sie eineHexe war. Die Männer träumten von ihr.

Und der Fürst? Das eben war das eigentlich Verwunderlichean der Fürstin, daß es einen Fürsten nicht gab, nicht mehr gab,so lange schon nicht mehr, daß auch die andere Frage im Ortrumorte, wie diese Frau denn eigentlich lebe, was natürlich hieß:

mit wem? Denn fünf Jahre allein zu sein, ohne irgendeinen-42

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Schutz und Kümmerer, einen Gesprächspartner undBettgefährten, mochte man sich nicht vorstellen bei denen untenin Masselbrunn. Konnte denn eine Frau, die ja zumindest beim

Tod des Fürsten noch nicht jenseits von Gut und Böse gewesensein mochte, die Hände einfach in den Schoß legen?

Der Tod des Fürsten war übrigens keine MasselbrunnerAngelegenheit gewesen, weder der Sterbefall selbst, noch dieBeisetzung in der Familiengruft (denn die lag irgendwo imÖsterreichischen), obwohl es die Stadt sich nicht hatte nehmen

lassen, ihres nobelsten und förderlichsten Einwohners in einerTrauerfeier zu gedenken. Nein, der Fürst war von einer Reise andie Riviera nicht heimgekehrt, einer Reise, die er, wie paradox,aus Gesundheitsgründen unternommen hatte; Bilder seines vonder Küstenstraße abgekommenen und beim Sturz völligdemolierten Jaguars fanden zwar den Weg in die Zeitungen (undnatürlich auch in die Kreis- und Lokalblätter), aber dieHintergründe des Unfalls blieben unklar.

Da niemand Genaues wußte, wurde das Ungenaue destofreigiebiger gehandelt: Wie er im Casino, erst von Nizza, dannvon Monte Carlo, schließlich in San Remo, sein Glück probierthabe, zwar mit einzelnen Gewinnsträhnen, aber letztlich ohneFortune, wie er von der Fürstin (angeblich über die Sparkasse)immer neue Beträge angefordert habe, wie er zuletzt starrsinnignur noch auf Zero gesetzt habe, immer wieder auf Zero und auf

diese Weise, in guter Haltung, an einem Abend binnen einerhalben Stunde dreihunderttausend Mark losgeworden sei. DieContenance habe er erst verloren, als er nichts mehr setzenkonnte: bis auf den großen Brillanten seiner Krawattennadel, deraber nicht akzeptiert worden war, eben in dem Augenblick nichtakzeptiert, als endlich doch die Zero kam. Die Legende wußteauch, wie er daraufhin in fürchterliche Raserei geriet, an der Bareinen Whisky nach dem anderen in sich hineinschüttete und

anschließend in seinen Wagen stieg, aus dem dann später nur-43

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noch einzelne Körperteile herausgeschweißt werden konnten...Sein Tod indes betraf die Stadt Masselbrunn dennoch, weil er,

trotz allem, ein freigiebiger Mann gewesen war, der den kleinenOrt mit mancher Hochherzigkeit unterstützt hatte: An dasWaldschwimmbad, zum Beispiel, wäre nie zu denken gewesen,hätte der Fürst der Gemeinde das Gelände nicht zum Geschenkgemacht (freilich bei gleichzeitigen Abstrichen an den seitJahren aufgelaufenen Steuern). Nicht, als ob nun die Fürstin, imGegensatz zu ihm, knausrig gewesen wäre; aber seit dem Todihres Gemahls hatte sie spürbar »Sorgen« und wartete, so wurdegeraunt, noch immer auf die Auszahlung einer riesigen Summeaus der Lebensversicherung des Fürsten. Vergebens, wie dasallerneueste Gerücht wissen wollte, denn alle Umständesprachen immer deutlicher für Suizid.

Aber das Märchenmuseum nun war das Werk der Fürstin, ihrhöchsteigener Einfall, ihr Lieblingsprojekt, ihre Parforcetourgegen Geschäftemacher und lokalen Schlendrian. Bei dieserGelegenheit hatte sie sich zum erstenmal als eine Art

Schutzpatronin der Stadt hervorgetan, war aus ihrer Diskretionherausgetreten und zu Planungsgesprächen erschienen. Und warsie es nicht auch gewesen, die den Namen Zinckhan insGespräch gebracht hatte, als es um die knochentrockene Frageder Finanzierung gegangen war und die Gemeinde sich taubgestellt hatte? Die Fürstin jedenfalls war in dieser schönenSache zur treibenden Kraft geworden. Auch wenn nicht alleMasselbrunner das schon als Segen begriffen.

Sie wird nicht präsent sein bei der Eröffnung. Sie verabscheutPublizität, selbst Dank. Sie wird ihre eigene kleine Vernissagefeiern, in kleinstem Kreis, wenn der Rummel vorbei ist.

Eine gute Fee begibt sich nicht ins Gedränge.

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II A UF HOHEM R OSS

ODER: ES IST AL L ES WIE VERHEXT!

Er stürzte so unglücklich, daß das Glücksrad über ihnhinweggrollte.

Jules Renard

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Das Fest steht auf der Kippe

Bürgermeister Otto Lorenz stolperte über die eigenen Beine, alser plötzlich von seinem Amtssitz auffuhr, den schweren Sesselhintüber kippte und gleichzeitig vom Schreibtisch wegstürzte,ohne sich festhalten zu können, denn in der einen Hand hielt erdie druckfrische Broschüre »Masselbrunn und seinMärchenhans« und in der anderen eine dicke Zigarre, die er sich

vor ein paar Minuten angezündet hatte, um in Ruhe in demkleinen Büchlein blättern zu können. Im Taumeln suchte er danndoch mit einer Hand Halt an der Stuhlkante und konnte sich vordem völligen Fall fangen um den Preis eines grellen Schmerzes,denn er hatte sich mit der Zigarrenhand abgestützt und in dieGlut gegriffen. Der Handballen, als er ihn besah, war ein wunderroter großer Fleck. Der Schmerz steigerte die Wut, und beideswurde eins in einem krächzenden Ausbruch, indem er die Namen seiner Vorzimmerdamen herausbrüllte und dazwischenimmer wieder so hochpolitische Worte schrie wie »Sabotage!«,»Skandal!« und »Nestbeschmutzung!«, die dann aber, weil siesein Ungemach nicht abwendeten, von praktischerenKommandos ersetzt wurden: »Her mit dem Mann! Bringt mirsofort den Romeiser her! Auf der Stelle! Schickt den Willy undden Markus hin!« (Das waren die Ortspolizisten.)

»Sie meinen: festnehmen?« fragte die eine Sekretärin, dieerschreckt in der Tür stand.»Festnehmen, verhaften, Handschellen, jedenfalls

herschaffen«, tobte der Bürgermeister weiter; dann kläglich:»Was macht man denn gegen Brandwunden?«

»Kaltes Wasser, glaub' ich«, sagte sie.»Ich brauch' kein Wasser, ich brauch' ein' Schnaps.«

»Soll ich die jetzt losschicken?« fragte sie, als der-46

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Bürgermeister getrunken hatte, aber nun winkte er ab.»Rufen Sie ihn an, daß ich ihn sprechen will. Und zwar

sofort.«Als Romeiser kam, wedelte ihm der Bürgermeister mit der

Festschrift unter der Nase; fast hätte er ihn damit geohrfeigt.»Sag mal, Romeiser, was hast du eigentlich gegen mich?

Intrigierst du schon lange? Gefällt dir mein Stuhl so gut? (Derlag noch immer umgekippt im Zimmer.) Wollt ihr mich allereinlegen, oder was?«

»Aber Otto, Lorenz, Mensch Bürgermeister, was ist denn mitdir los? Wie redst' du denn mit mir? Gefällt dir etwa dieFestschrift nicht?«

»Festschrift, Festschrift. Ich höre immer Festschrift. EinPamphlet ist das. Aber ich habe euer Spiel durchschaut:abservieren wollt ihr mich, rausekeln, blamieren, jetzt, wo dieinternationale Öffentlichkeit uns beehrt, wird BürgermeisterLorenz gnadenlos dementiert.«

»Demontiert, willst du wohl sagen.«»Gnadenlos will ich sagen. Gnadenlos demontiert.«»Otto, so komm doch erst mal zu dir. So red doch wenigstens

vernünftig. Was paßt dir nicht? Was regt dich so auf? Meinst dudas über Masselbrunn unter den Nazis? Das Foto von denHakenkreuzfahnen in der Reinoldikirche? Pflanzung derHitlereiche? Aber das hatten wir doch abgesprochen, von wegen

Recht auf historische Irrtümer...«»Red doch nicht rum. Natürlich stehen wir zu unsererVergangenheit, gerade jetzt, gerade ich.«

»Na, dann weiß ich gar nicht, was du hast. So klär mich dochendlich auf, Mensch!«

»Du wirst mich gleich verstehen. Du wirst mich gleich sehrgenau verstehen. Du solltest uns einen Knüller erfinden. Du

solltest für ein bißchen frischen Wind sorgen in der Stadt. Das-47

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märchenhafte Masselbrunn solltest du erfinden. Marketingsolltest du machen, nicht Mumpitz. Du solltest unsern Ort inSchwung bringen, und was tust du: gibst ihm einen Tritt in den

Hintern!«»Aber das mit dem Hanselück fandst du doch gut. Ich hab's

dir doch vorher zu lesen gegeben. Ganz schön clever, hast dugesagt.«

Der Bürgermeister knallte das Heftchen auf den Schreibtisch,daß die Aktenberge wankten und die Blumenvase zitterte, blätterte wild, hielt mit dickem Daumen der unversehrten Hand

die inkriminierte Stelle aufgeschlagen und schrie inwiederaufbrandendem Zorn:»Und was ist das? Was soll das? Was hast du dazu zu sagen?

Zu dieser Blamage? Zu dieser Hinterfotzigkeit?«Romeiser sah hin, und dann ging über sein Gesicht ein

Staunen wie ein Sonnenaufgang. Es war also alles nur einScherz, eine Scharade, ein Schabernack. »Jetzt hast du michaber ganz schön erschreckt«, sagte er mit erleichtertem Lachen.Es kam aber nicht an.

»Ich frage dich, was das ist?« brüllte der Bürgermeister.Romeisers Sonnenaufgang ging unter. »Ja, das siehst du dochselbst. Das is t doch das Märchen. Unser Märchen. Das Märchen,auf das wir uns geeinigt hatten. Masselbrunns Spezialität. Dasvon den Brüdern Grimm. Extra für uns geschrieben. Hans imGlück. Gemeinsamer Beschluß. Kannst du im Protokoll

nachlesen.«Erschreckend, was jetzt mit dem Bürgermeister geschah: Eine

Art Implosion, ein tiefes Einsaugen von Furor, das geradezugierige Inhalieren von Rage. Er lief rot an, dann weiß, dannwieder rot, Schweiß brach aus auf seiner Stirn; er goß sich mitzitternden Händen einen Schnaps ein, den er aber zu trinkenvergaß, und dann begann er zu flüstern. Ein Flüstern, das aus derTiefe seines Zorns, aus dem brodelnden Krater seiner

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Eingeweide kam. Ein Flüstern zum Fürchten. Und Romeiserfürchtete sich jetzt.

»Kannst du eigentlich lesen? Außer altem Dokumenten-Scheiß? Hast du dieses Märchen überhaupt schon mal gelesen?Weißt du zufällig, was da drinsteht?«

»Na hör mal! Na klar! Wir haben doch alle dafür plädiert. Duwarst doch der Lauteste.«

»Ja, muß ich denn wirklich alles nachkontrollieren? Jetzt auchnoch Märchen? Hans im Glück - da denkt man doch: primaJunge, kommt überall durch, haut voll rein, macht aus allem das

Beste, locker vom Hocker, Glückspilz in allen Lebenslagen und jetzt, und jetzt! Jetzt haben wir uns auf den allerletztenDorftrottel eingelassen, einen Oberdovi, den absolutenBlödmann, den größten Versager aller Zeiten! Als Vorbild fürunsere Stadt! Gratuliere, Romeiser!«

Dem ging endlich ein Licht auf. »Ja, Otto, soll das heißen, duhast das Märchen gar nicht gekannt? Als Kind nie gelesen, undspäter auch nicht? Das gibt's doch nicht! Das kann doch nichtwahr sein.«

Der Bürgermeister sackte in sich zusammen. »Ehrlich,Romeiser, nie, nie, bis gerade eben, und ich denk: mich trifft derSchlag! Nein, ich glaub, er hat mich schon getroffen. Wiekonntest du mir das antun? Mir, und der ganzen Stadt!Masselbrunn ein zweites Schilda!«

»Aber Otto, dann hast du das falsch verstanden. Ich meine,nicht richtig gelesen. Der Junge ist doch wirklich glücklich. Derist doch geradezu übermütig vor Glück. Und am Ende selig,einfach wieder nach Hause zu kommen. In die Heimat. UndHeimat - das wollen wir doch auch sein.«

»Nein, Romeiser, Schluß, Ende des Gelabers. Ich habeschließlich Augen im Kopf. Und lesen kann ich so gut wie du.Mir machst du kein x für ein u vor. Hier, deine Festschrift

kannst du dir gleich als Entlassungsurkunde mitnehmen.«-49

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Romeiser war konsterniert, gab aber immer noch nicht auf.»Die Leute sind doch schon alle da. Wie du gesagt hast: dieinternationale Öffentlichkeit. Die Experten. Die Medien. Und

denk doch an Zinckhan. Das viele Geld!«Wie gut, daß in diesem Augenblick die Tür zum Amtszimmer

aufging und mit großem Aplomb die bekannte und beliebteModeratorin Güttler-Fahrenholz hereinstürmte (hinter ihr dieGefolgsleute samt Gerät), diese hübsche junge Frau, die mitstrahlendem Lächeln und umwerfender Herzlichkeit auf denBürgermeister zuging, ihn zur Begrüßung halb umarmte und mitihrer wärmsten Stimme sagte:

»Gratuliere Ihnen zu der fulminanten Idee. Hans im Glück.Diese wunderhübsche Geschichte. Wenn das kein gutes Omenist. Jetzt müssen wir erst einmal ein kleines Interview machenund Sie müssen mir erzählen, wie Sie auf diesen hinreißendenPlan gekommen sind.«

Der Bürgermeister winkte Herrn Romeiser und die Sekretärinhinaus. Und dann sagte er etwas, das ihn selbst überraschte:»Aber gern. Aber sehr gern.« Denn siehe: das Fernsehen kannWunder wirken.

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»Erzählen sie doch keine Märchen!«

Sollte man es glauben? Sollte man glauben, daß es derselbeMensch war, der nun von Visionen sprach? Daß BürgermeisterLorenz sich nicht nur gefaßt hatte, sondern allen Ernstes dieVision einer kleinen Stadt beschwor, die einen märchenhaftenAufschwung vor sich habe, die aber auch bereit sei, für ihreeigenes Gedeihen und Glück etwas Außerge wöhnliches zu

unternehmen, in das Abenteuer einer neuen Zeit einzutreten,einer etwas bescheideneren vielleicht, in der man originelle,möglicherweise seltsam erscheinende Ideen brauche. Er stellteeine Stadt vor (und ein bißchen auch dar), die das Glück, das jeder im Leben brauche, zum Gütesiegel, zurZukunftsperspektive, ja zum Arbeitsbeschaffungsprogrammerklärt habe. Sollte man es für möglich halten?

Das Fernsehinterview (das übrigens nie gesendet wurde) hatteihn von der Fabelhaftigkeit der ganzen Unternehmung dochnoch einmal überzeugt. Diese Reporterin hatte ihn mit ihrenhübschen Augen so animierend angesehen. Hatte immer wieder,wie in zartestem Einverständnis, zu seinen Worten genickt, hattein ihre Fragen soviel Bewunderung gelegt, daß er gar nichtumhin konnte, sich in Begeisterung hineinzureden. Und vondieser Begeisterung strahlte auch etwas auf seine kleine Rede

ab. Der Saal war gut gefüllt, die Stimmung insgesamt animiert,und die schräg einfallende Nachmittagssonne illuminierte dieerwartungs volle Szene.

Die Eröffnung fand nicht schon im Märchenmuseum statt,sondern, wegen des Andrangs, im sogenannten Scheunensaal,einem modernen Anbau an ein mittelalterliches Ensemble, daseinmal die Masselbrunner Walkmühle gewesen war. In einemder schönen alten Gebäude gab es das einzige ständige

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Kulturereignis des Ortes, das Feinschmeckerlokal »Zum altenMühlrad«, und in einem weiteren Nebentrakt, einemklassizistischen Anbau, war die Stadtbibliothek untergebracht,

Herrn Romeisers Reich, sowie, wegen der fo togenenUmgebung, das Standesamt. Dies war die pittoreskeVisitenkarte der Stadt, und der gepflasterte Innenhof mit seinemBrunnen und ein paar von Rosenbüschen überwölbten Bänkenwurden gern für Sommerfeste genutzt. Jetzt sollte er fürentspannende Kaffeepausen zwischen den Vorträgen dienen.Der neue Saal trug den alten Bauten mit Sprossenfenstern undEichenbalken Rechnung, bot zweihundert Rüsterstühle mitrotem Bezug und ein Podium, das gerade groß genug gewesenwar, den Spatzenchor aufzunehmen, der zu Be ginn das Liedvom Hanselück zur allgemeinen Erheiterungheruntergeschmettert hatte. Vor allem die Verse:

Jetzo heißt es den Beryll, Weil ein feistes Schwein er will.(Feistes Schwein wird ihm gestohlen, soll es doch der Teufel

holen!) Dann bricht er den Amethysten: Eine Gans tut ihngelüsten....

sorgten für Gelächter; denn da hatte der Chorleiter, HerrBallestedt, so sämig zwischen Händel und Claydermankomponiert, daß man wirklich nicht wußte, ob man es mit eineralten Hymne oder einer modernen Klangwolke zu tun hatte.

Zum Schluß begrüßte Bürgermeister Lorenz die auswärtigenGäste, die prominenten Wissenschaftler und Künstler, dieHonoratioren, und er rühmte die Initiative »unserer zwarabwesenden, aber durch ihre unschätzbare Hilfe dennoch hoch präsenten Fürstin«. Schließlich gab er seiner Dankbarkeit eineentschiedene Richtung, so daß alle im Saal wie gebannt auf denPlatz in der ersten Reihe starrten, etliche in den hinteren Sitzensich sogar erhoben: Dies alles, fragte der Bürgermeister (und

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traute seinen eigenen Worten nicht), wie hätte es denn möglichsein können ohne die großzügige, hochherzige Spende desPräsidenten Zinckhan. Den er nun herzlich bitte, seiner guten

Tat doch ein paar Worte folgen zu lassen, ehe man das Felddann den Kundigen und Eingeweihten, den Forschern undFachleuten räume.

Von wegen: ein paar Worte, dachte Zinckhan. Irgend etwas inihm hatte sich dagegen gesträubt, das Geld einem bloßenEinfall, einer Verstimmung geopfert zu haben, wie ein kleinerHasardeur. Er hatte zuletzt beschlossen, etwas aus der bizarrenSituation zu machen, er selbst wollte es diesen angereistenHerrschaften zeigen, ja, es stand so etwas wie der Wunschdahinter, die Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie auchdort, wo sie nicht zuständig ist, zu demonstrieren und derversammelten Fachidiotie binnen einer halben Stundevorzuführen, daß sie eine sei. Er wollte, kurz gesagt, mit einemText antreten, der jedes weitere Wort überflüssig und derweiteren Tagung den Garaus machte. Er wollte nichts weniger

als die Versammlung, die er eröffnete, sprengen.Darum hatte er sich präpariert. Genauer: er hatte sich präparieren lassen. So ein Geflecht von Betrieben mitZehntausenden von Mitarbeitern hat ja ungewöhnliche Talente,Hobbyforscher, Freizeitkünstler, spleenige Spezialisten,wissenschaftliche Amateure, Sammler aller Arten, und da hattenseine Assistenten schon vor Wochen Musterung gehalten.Ziemlich rasch war da der Leiter der Lehrlingsausbildung insBlickfeld geraten, ein etwas schlurfender Mann, den seinPersonalchef ihm vor Jahren eher aus karitativen Gründenuntergejubelt hatte. Peinliches hat sich im Gespräch mit demMann herausgestellt, nichts Kriminelles, keine nennenswerteInvalidität, nur daß er seinen Doktor gemacht und sich habilitierthatte, Privatdozent gewesen war mit der FachrichtungEthnologie (was sich bei einem Blick ins Lexikon als

Brauchtumskunde oder Verhaltensforschung herausstellte); eine-53

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Es war wie verhext. Nein, es war verhext. Zum zweiten Malan diesem Nachmittag, in diesem Masselbrunn, bei diesemläppischen Termin, hatte er das Gefühl jäher Bodenlosigkeit. Er

las nicht den ersten griffigen Satz vom Märchen, das nichterzählt werden solle, sondern daß er gebeten werde, sich amDonnerstag, dem 24. des Monats, in der Zeit von 10 bis 13 Uhrfür Fragen eines Untersuchungsausschusses zur Verfügung zuhalten. Die Begleitung eines Anwalts werde anheimgestellt. Erhatte nicht sein Manuskript in der Hand, sondern eine dieserlästigen Vorladungen in der unendlichen Affäre. Ein Griff in dieandere Brusttasche: nichts da, kein Rascheln, kein Papier, keineRede. Noch immer aber hatte Zinckhan, mit unbewegter Miene,die Situation in der Hand. Er ließ die Leute einfach warten. Undwartende Leute war er ja gewöhnt.

Es gibt Spannungszustände, die ziehen Ereignisse magnetischan und führen zu einer wahren Kettenreaktion vonUnvorhergesehenem. So jetzt. Mitten im Wartevakuum gingendie zwei Scheinwerfer an, die die Fernsehleute links und rechts

in den Seitengängen plaziert hatten, der Kameramann stellte sichausgesprochen ungeniert vor die Prominenz in der vorderstenReihe, so daß er dem Redner (wenn wir ihn überhaupt schon sonennen dürfen) bis auf einen Meter nahe rückte. Diegespenstische Fermate wurde durch das grelle Licht einer besonderen Dehnung ausgesetzt. Dafür wurde die Stille abervom leisen Schnurren der Kamera gekitzelt.

Dann ging die Eingangstür zum Saal auf, mit eben demKrach, den einer verursacht, der besonders leise sein will unddem dabei die Klinke aus der Hand rutscht. Herein stolperte imlangen Mantel, mit strähnigem Haar und hochrotem Gesicht, derPenner, der sich unter den strafenden Augen des Auditoriumsund dem mißfälligen Murren der Honoratioren möglichst raschzu verkriechen versuchte und mit fataler Zielstrebigkeit auf denersten besten freien Stuhl zusteuerte, eben den, den Zinckhan für

seinen Auftritt verlassen hatte; dabei aber über eins der-55

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Fernsehkabel stolperte und Halt suchte ausgerechnet amGestänge des mobilen Spotlights, das nun in das Gestühl rollte,umkippte und einen leuchtend roten Kopf nur um Haaresbreite

verfehlte. Frau Löhr schrie auf, doch nur vor Schreck,Entrüstungsrufe wurden rasch von dämpfendem Zischelngebändigt, hilfreiche Hände richteten das Gestänge wieder auf,dessen Licht intakt geblieben war, und der Penner erreichte seinfrevelhaftes Ziel.

Und da machte der Präsident etwas Wunderschönes. Er nahmseine Vorladung in die Hand, faltete sie zusammen, steckte sieausführlich in die Seitentasche seines Jacketts und sagte begütigend: »Meine Damen und Herren, dies ist wohl nicht dieStunde für vorbereitete, für wohlgesetzte Reden. Ich habe dasGefühl, wir alle sind nicht nur auf einer Märchentagung,sondern schon im Märchenland. Es geschieht einfach, was sonstnicht geschieht. Da purzeln die Dinge, da stolpern dieMenschen...«

Erzählen Sie doch keine Märchen - er müsse bekennen, daß

das einer seiner Lieblingssätze sei, eine Wendung, mit der erimmer am weitesten gekommen sei, eine Art verbalerLügendetektor, der schon die verblüffendsten Eingeständnissezur Folge gehabt habe - und nun finde er sich in einerVersammlung, die sich's zur Ehre anrechne, Märchen zuerzählen, Märchenerzählen für eine Tugend, ja eine Kunst zuhalten. Also, ganz wohl fühle er sich da nicht, ganz über denWeg traue er den Damen und Herren nicht, und eine gewisseReserve wolle er nicht leugnen gegenüber einer Tagung, die seinLebensprinzip gewissermaßen umkehre...

Es hätte ja gereicht. Mehr konnte man von ihm nichtverlangen. Er hätte sich sicher unter respektvollem Beifall vomRednerpult zurückziehen können. Daß er es nicht tat, sollteFolgen haben, sollte das gesamte Masselbrunner Treffen in eineandere Richtung lenken, zu einer Art von Turnier machen, ja zu

einem Kampfplatz, zur Etablierung regelrechter Fronten und-56

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feindlicher Lager. Präsident Zinckhan gab einer Laune nach und beschwor das Schicksal aller Beteiligten herauf; er wollte denAnwesenden eine Lektion erteilen, und er setzte, ungewollt, eine

Kontroverse in Gang, die auch ihn in Mitleidenschaft ziehenwürde... Es war wie verhext.»Also, meine verehrten Damen und Herren, liebe

Masselbrunner insbesondere, ob Sie meine Warnung beherzigenoder nicht: Ich jedenfalls werde Ihnen keine Märchen erzählen.Sie wissen, was mir die Ehre verschafft, hier überhaupt zureden, und vielleicht denken Sie von mir, da stehe jetzt so etwaswie ein Dukatenesel vor Ihnen. Nun, ich finde, es gibt da einen besseren Vergleich, der besonders naheliegt, da Sie ja nun denHans im Glück gewissermaßen ins Stadtwappen aufgenommenhaben: Ich fühle mich eher in der Rolle jenes Herrn, der seinemDiener zum Abschied einen Goldklumpen auf den Heimweggibt, eine kopfgroße Kugel, also eine schönes Stück Kapital.Und lassen Sie mich in der Tat ein Wort dazu sagen: Wertvollerals das Gold selbst ist die Lehre, die in ihm steckt, denn der Herr

hätte seinem Knecht ja auch einen Beutel voller Dukaten - oderwas immer Märchenwährung ist - in die Hand drücken können.Der Klumpen aber bedeutet: verplemper', verschleuder' deinKapital nicht, nach der alten Erfahrung: ein angerissenerGeldschein ist ein ausgegebener, und ein erst einmalaufgebundener Beutel bald ein leerer.

Nun werden Sie fragen: Wie kommt ein Kapitalist (denn sowas bin ich ja für viele von Ihnen), ein hartgesottenerUnternehmer dazu, einem toten Kapital das Wort zu reden? Wiekann so einer etwas gutheißen, das doch allem Handel undWandel widerspricht? Keine Zinsen, keine Rendite, kein Geld,das arbeitet? Wo bleiben denn da die Gesetze des Marktes? Nun ja, das ist alles wahr, aber kleine Münze, kleine Weisheit.

Denn der Herr, denke ich, meint es so (und vermutlich kennter ja seinen Pappenheimer ganz gut aus der langen Lehrzeit):

Hans, trag den Klumpen nach Haus, in dein Dorf, zu deiner-57

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Mutter. Von nun an wirst du dort der Größte, Mächtigste,Angesehenste sein, ohne das Gold auch nur einmal anzurühren.Man wird dir leihen, was du willst, man wird dich mit Hilfe

eindecken, man wird dich mit Geschenken und Ämternüberhäufen, du wirst in Saus und Braus leben allein durchsGeraune vom großen Gold. Du wirst reich werden. Dein Nimbusgenügt. Dir wird der Wohlstand winken, daß du am Ende dasGold sogar vergessen kannst. In aller Stille nämlich arbeitet esdennoch für dich, wie ein kleines Fort Knox, das niemandknacken kann.

Und statt dessen, was tut der Bursche? Bitte, ich weiß dieStationen seiner Dummheit nicht genau, aber am Schluß steht erdoch mit nichts da, ein armer Schlucker, ein Übersohrgehauener,ein Geprellter, ein Versager, der sich um sieben Jahre seinesLebens selbst betrügt. Das nun empört mich: So etwas wird denKindern vorgelesen, eingetrichtert, auf Kassetten vorgespielt?Ist das pädagogisch wertvoll? Fühlen Sie sich, meine Damenund Herren Experten, wohl dabei? Ist das ein erstrebenswertes

Glück? Nein, meine lieben Masselbrunner, meine verehrtenFachleute, das ist fahrlässig, und darum noch einmal meinAppell: Erzählen Sie doch keine Märchen! Machen Sie unsereJugend nicht dumm, gaukeln sie ihr keine Feen vor und keineHans im Glücks. Was wir brauchen, ist Leistung, nichtTagträumerei.«

Der Beifall war nicht anfangenwollend, die Stimmung im Saal bleiern. Ein deutliches Murren kam aus den hinteren Reihen.»Romeiser, hab ich's nicht gesagt«, zischelte der Bürgermeister,gab dann aber mit gleichsam amtlichem Klatschen den Auftaktzu höflich-distanziertem Applaus. Die MärchenerzählerinTamara Filera-Stüada, die in der zweiten Reihe saß, rief empört:»Kinder brauchen Märchen!«, die Psychologin von der Mühlenschüttelte nur den Kopf und sagte laut vor sich hin: »Man solltees nicht glauben, man sollte es nicht glauben«, irgendwo weit

hinten wurde sogar der Satz »Nieten in Nadelstreifen« laut, und-58

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Pastor Lichtwitz flüsterte seinem Nachbarn die Frage zu, warumso einer denn dann überhaupt Geld spende für einen Zweck, dener eigentlich mißbillige?

Aber die unglaublichste Reaktion kam erst. Sie kam, nachdemder Bürgermeister seinem Ehrengast doch dankendentgegengegangen war und sich quasi entschuldigt hatte (»Ich bin in der ganzen Angelegenheit überstimmt worden«), undnachdem Frau Löhr mit ihrem Taschentuch ein paar Tränen derEnttäuschung aufgefangen hatte. Denn auf einmal stand derPenner von seinem skandalös besetzten Platz auf, aberkeineswegs, wie man zunächst als selbstverständlich annahm,um dem Redner den Stuhl wieder freizumachen, sondern umdem Podium zuzustreben, das jener gerade verlassen hatte, undsich dort mit frecher Seelenruhe aufzurichten, die wirren Haaremit einem Ruck aus dem Gesicht schleudernd, während er dieHände tief in den Taschen seines Mantels verborgen hielt. Unddann ergriff er doch tatsächlich das Wort, oder vielmehr, esüberfiel ihn ein Lallen, fast könnte man sagen: er sabberte

Widerspruch.»Aber Leute, den Hans müßt ihr doch liebhaben, das ist dochein Bruder, ein ganz zärtlicher Tippelbruder, ein wunderbarerKumpan, das ist ein Mensch, hört ihr Herrn und laßt euch sagen:der Hans ist ein Mensch, ein Kindermensch, ein Glücksmensch,ein Muttermensch. Der will heim, wie wir alle heimwollen, ihrdoch auch, ihr da unten. Und der Herr, der Herr ist docheigentlich der Dumme, der richtige Versager - nein, ich meinenicht Dich, großer Meister Vorredner, du weißt es nur nicht besser, in deinem Imperium geht ja die Sonne des Herzenssowieso nicht auf -, nein, wenn es einen Dummi gibt in diesemMammamia-Märchen, einen Nichtsnutz, einen Einfaltspinsel,dann ist es doch dieser Herr, der nach sieben Jahren Dienst, mandenke doch, sieben Jahren, soll ich Euch mal erzählen, wie langsieben Jahre sind, wenn man Diener ist, soll ich euch mal sagen,

daß das eine Ewigkeit ist, eine Ewigkeit aus lauter einzelnen-59

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Tagen, ein Fegefeuer aus Kränkungen, also der nach siebenJahren Dienst seinen Kuli, seinen Sklaven, unsern lieben liebenHans abfindet mit einer so blöden unnützen goldenen Kugel! So

groß wie sein Kopf? Ich meine, war denn in diesem Kopf nurStroh, nein, das mein ich nicht, Pardon, sondern das mein ich,ob der Hans, mein lieber Freund, nichts hat lernen dürfen in densieben Jahren, nichts hat kapieren können, ob er in all dieserLehrlebensleidenszeit immer und ewig nur ausgenutzt wordenist, das nur wollt ich, wenn überhaupt was, euch Leute fragen,und Dich, mein hochmögender Herr Geldsack, natürlich auch,ob man bei solchen Herren immer nur auf Treu und Glaubenund Gedeih und Verderb und mit Ach und Krach für dummverkauft wird...«

Weiter kam er nicht, und daß er überhaupt so weit gekommenwar, hatte dem Bürgermeister einen Herzkrampf verursacht.»Romeiser!« ächzte er, »Wenzel! So tut doch was!«

Aber die waren schon aufgesprungen, Wenzel hatte dasMikrophon abgestellt, und beide stürzten aufs Podium, packten

den Mann an den Schultern und führten ihn, der nur wenig protestierte und eigentlich einen ganz zufriedenen Eindruckmachte, von der Bühne, redeten leise aber empört auf ihn einund geleiteten ihn mit deutlichen Griffen aus dem Saal.

Doch was nun? Einfach weitermachen? Im Programmfortfahren, als wenn nichts geschehen wäre? Als wenn es nur zueiner Störung, und nicht auch noch zu einer Verstörung

gekommen wäre? Vielleicht, wenn jetzt Beat Loderer mitseinem Vortrag »Der große Tag des Hans im Glück«, der dieEröffnungsfeier abrunden sollte, gleich sich erhoben und dieUnruhe überbrückt hätte... Aber dieser Referent war bisher nichtaufgetaucht und hatte sich auch im Tagungsbüro nicht gemeldet.Was, wenn Herr Romeiser gewußt hätte, daß er diesenheißbegehrten Vortragskünstler soeben eigenhändig aus demSaal befördert hatte?

So herrschte allgemeine Erleichterung, als der Bürgermeister,-60

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der dringend an die Luft mußte, »Kaffeepause!« verkündete.Und seinem Tagungsleiter grimmig zuflüsterte: »Rück' schonmal den Sekt raus!«

»Wenn ich mir einen Vorschlag erlauben dürfte«, sagte FrauLöhr zum Bürgermeister.

Der fuhr sie an: »Sie? Wie sehen Sie überhaupt aus? Diereinste Notbeleuchtung! Ihnen ist wohl alles ein bißchen zuKopf gestiegen, wie? Also was wollten Sie sagen?«

»Wenn wir vielleicht gleich jetzt hinübergehen...?«»Sie meinen, ins Museum«, fragte Herr Romeiser vermittelnd.»Sie kann's gar nicht abwarten, sich da aufzuspielen«,

stichelte der Bürgermeister. »Aber hier ist die Stimmungsowieso hin. Mal sehen, was der Präsident dazu meint.« Und er begab sich auf die Suche nach Zinckhan.

»Dabei sollte doch alles so schön werden«, seufzte Frau Löhr.Aber der Schlag kam erst.Es war der freundliche Inhaber des Blumengeschäfts, Herr

Niederwipper, der ihn versetzte. Er kam aufgeregt auf Romeiserund Frau Löhr zugestürzt und versuchte zu berichten. »Also,man sollt's nicht glauben. Wie in der Großstadt. Wie auf derZeil. Genau ein solches Geschmier. Ich wollt da eben dieBäumchen hinbringen, die Kugelbäumchen, für den Eingang,war doch abgesprochen, und die Girland' oben drüber, und daseh' ich überall das Geschmier, die ganze Fassade mit dem

Sprayzeug.«»Wie denn, wo? Doch nicht an meinem neuen Haus?« fragteFrau Löhr.

»Nein, nicht an Ihrem. Am Museum. Am Märchenhaus. Alles bemalt. Böse Sprüche. Märchenonkels verpißt... also, ichsprech's nicht aus.«

»Ach du Schande«, sagte Herr Romeiser, einfach, um was zu

sagen. »Wir wollten doch gerade los und die Eröffnung-61

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vorverlegen.«»Ich tat's nicht«, sagte Niederwipper. »So wie's da jetzt

aussieht.«»Wer macht denn bloß sowas, hier bei uns«, barmte Frau

Löhr.Der Bürgermeister, als er wenig später dazukam, nahm es

fatalistisch. »Das ist ja noch schöner!« sagte er, und es klang, alsob er es genau so meinte.

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Hand aufs Herz

Sie erkannte ihn nicht. Sie hätte geschworen, daß sie diesen Typmit dem blauen Overall nie zuvor gesehen hatte. Irgendwie saher unbeho lfen aus, fast ein bißchen jämmerlich, künstlich undsteif wie eine Schaufensterpuppe, die man lieblos mit diesemZeug ins Fenster gestellt hat. Aber dann schoß aus dem Gesichtdieser strenge Blick, und der war ihr schon einmal begegnet.

»Was denn, Sie? In so einem Outfit? Wo haben Sie denn bloßdiese Verkleidung her?« Sir wollte ihr bei diesem Anblick nichtmehr einfallen.

»Man kann so was kaufen.«»Klar kann man so was kaufen. Aber Sie doch nicht.«»Stimmt. Ich hab's aus dem Kofferraum. Gehört meinem

Chauffeur.«»Sie machen sich doch lächerlich.«»Ich mache mich nützlich.«»Ehrlich, ich find' das albern.«»Praktisch ist das. So, und jetzt Ende der Debatte. Ich bin

nämlich Widerspruch seit drei Jahrzehnten nicht mehr gewöhnt.Verstanden.« Dies letzte ziemlich scharf.

Er lachte ihr plötzliches Erschrecken weg. »Los, Mädchen, jetzt zeig's ihm. Wo ist das Problem?«

War ja auch egal. Einen Helfer brauchte sie, und wenn derDaddy unbedingt wollte, sollte er doch. »Na schön, Sir.«

Da war es wieder. »Aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nichtgewarnt.«

Und so tauchte der große Zinckhan in ein bizarres Abenteuer.

»Das Problem ist, der Junge will nach Haus, geht immer nur-63

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in eine Richtung. Sogenanntes Einweg-Märchen. Hab aber nurzwei Meter Bühne. Muß da siebenmal Action machen, alsoBegegnung, also über Kreuz spielen. Schwierig was?«

»Eher unmöglich, oder?«»Genau, aber auch reizvoll. Also, der Bursche kommt mit

seinem Goldklumpen von links, klaro?«»Goldklumpen? Schon wieder Hans im Glück? Dem

entkomme ich heute gar nicht mehr.«»Die wollten das hier so haben. Dieser Kulturmensch von

Masselbrunn fragte, ob ich das drauf habe. Wird ganz seltengemacht. Hab natürlich ja gesagt, wollte schließlich den Jobhaben. Gefällt Ihnen das Märchen nicht?«

»Ich will Ihnen nicht den Spaß verderben, also vergessenSie's. Will die Geschichte jetzt mal von hinten kennenlernen.Von dem Knaben, der kein Glück hat.«

»Aber er hat doch Glück. Für ihn kommt doch ein Glücksfallnach dem andern. Happy ist er, geradezu high. Also, nun passen

Sie mal auf: Da kommt der Reiter mit dem Pferd, Pferd hängtmit Klettverschluß am Reiter, Gold muß zum Reiter, Pferd zumHans. Gold leg' ich kurz auf die Kante, Hans geht zum Pferd,gibt ihm einen kurzen Klaps, stellt per Klett Kontakt her undhält nun selbst das Pferd, jetzt kann Reiter sich lösen, am Pferdvorbei aus Gold zu, und es aufnehmen. Hände jetzt gekreuzt,Reiter seitlich ab, wo Hans herkam. Alles klar, Sir?«

»In meiner Firma würde ich sagen: Programm sofort stoppenund stillegen.«

»Aber jetzt wird's doch erst kompliziert. Nämlich jetzt kommtder Bauer mit der Kuh, und die reitet er ja nicht, sondern ziehtsie hinter sich her, also keine direkte Verbindung, außerdem istHans inzwischen vom Pferd gefallen... Die Kuh ist an einerGleitschiene befestigt, kann man auch drehen, wegen derRichtungsänderung, sie soll ja zum Hans kommen. Den Bauern

mit dem Pferd laß ich mehr oder weniger elegant zur Seite hin-64

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einen Alarmknopf berührt und sich selbst einen Schlag versetzt.Eine reißerische Sehnsucht durchzuckte ihn, ein Schauerlustvollsten Erschreckens, der Schock eines wilden

Zärtlichkeitsbedürfnisses. Er fand sich, wie von einemZauberstab berührt, in einem Körper wieder, dem er schon langeentwachsen zu sein glaubte, fand sich in leidenschaftlichsteJugendlichkeit zurückversetzt, in einen Umarmungsrausch, demer nur mit Mühe widerstehen konnte. Er stöhnte sogar auf.

»Ist Ihnen nicht gut, Sir?« fragte sie.»Doch, doch. Aber Sie haben wohl recht, das klappt nicht

ganz mit mir«, sagte er mühsam.»Nee, wieso denn, im Gegenteil. Alles paletti, Sie machen dasecht stark, Sir. Hätt' ich nicht gedacht.«

Er schwamm immer noch in seinem seltsamen Jungbrunnenund hielt mit Mühe den Kopf über Wasser.

»Aber ich stelle mich wirklich zu dumm an«, sagte er und ließeine der Figuren fallen.

»Unsinn, klappt großartig, und wenn Sie noch Zeit haben,müssen Sie mir morgen bei der Vorstellung helfen, ja?«

Morgen! Morgen war er doch längst im Flugzeug, zuerst nachLondon, wo er mit den Leuten von der Konkurrenz zu einerstrategischen Golfparty verabredet war, um sie an denVerhandlungstisch zu lotsen, dann weiter mit der Concorde nach

New York zur Eröffnung einer Design-Ausstellung, die ihm amHerzen lag, dann Seattle mit den Boeing-Leuten; wenn allesglatt ging noch der Abstecher ins Silicon Valley, unddonnerstags der Sprung über den Pazifik, die neue Situation inHongkong erkunden, und schließlich nach Peking, das war harteArbeit am großen Bergwerksprojekt.

Nein, ein Morgen gab es nicht für ihn, nicht in Masselbrunn,morgen ließ er die Puppen eben ganz woanders tanzen, morgen

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und in den nächsten Tagen, da war Härte gefragt, Härte plusVision, Pokerface und Charme, viel Charme, in kantengenauesLächeln verpackte Macht, und die kälteste Ausdauer. Morgen

war wieder die richtige Welt am Zug, diese erdumspannendeInteressensphäre, in der man kein Wort fallen ließ, ohne daß esFieberkurven an den Börsen gäbe. Das, wenn überhaupt etwas,war wirklich Heimat, das war Intimität, globale Klausur, nichtdiese Idylle Masselbrunn und das Spiel, auf das er sich zumeigenen Erstaunen einließ...

Und überhaupt! Wie sah sie denn aus! »Sie« war schon zuvielgesagt. Ein »es«, ein Kind, ein Mädchen, ein niedlichesGeschöpf, ein doch eher unscheinbares Wesen, rührendesEtwas, schau es dir doch an in seiner Spitzmäusigkeit mit denstruppigen Stehhaaren, der zu kurz gekommenen Nase, dem vielzu kleinen Mund und dem vorwitzigen Kinn! Dazu die Augen,grün, nein sieh genau hin, grün mit Sprenkeln von braun,grünbraunes Gefunkel, herbstbunte Strahlen von Übermut - aberirgendwie nicht ganz einleuchtend. Aber der Eindruck dieser

kleinen Brust breitet sich immer weiter aus, dringt tiefer ein,taucht ihn unter in diesem blödsinnigen Jungbrunnen, undmorgen ist schließlich noch weit weg.

»Also morgen, ja, gern, abgemacht.« Wen log er an in diesemMoment: sie oder sich? Oder sie beide?

Und dann sagte er noch: »Aber dann müssen Sie mir auchhelfen, heute abend noch.«

Sie sah ihn fragend an, nahm das nicht ernst.»Ich muß aufs Schloß. Und müßte jemanden haben, der michvor einer Zauberin schützt.«

»Sie sehen nicht aus, wie einer, den man beschützen muß. Indiesem Outfit schon gar nicht. Eher umgekehrt.«

»Aber Sie kämen mit?«»Aufs Schloß? Ich weiß nicht. War noch nie in einem

richtigen Schloß. In den Märchen bedeuten sie meist nichts-67

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Gutes, außer ganz am Schluß.«»Und wenn ich Sie bitte?«»Dann müßten Sie erst einmal Du zu mir sagen. Ich bin

nämlich die Tru. Und wie heißen Sie, Sir?«»Zinckhan.«»Und weiter?«»Jean-Marie.«Sie lachte laut heraus. »Das ist zu schön. Mein Helfer heißt

Jean-Marie. Dann komm ich mit, sogar auf ein Schloß. Dann

gibt es gar kein Problem.«»Was sollte es für ein Problem geben?«»Nicht wegen Ihnen, Sir. Mit Max, meinem Partner. Max ist

ein Othello, wahnsinnig eifersüchtig. Dabei hat er's gar nichtnötig. Aber wenn ich ihm sage - wir telefonieren nämlich jedenAbend vor seiner Vorstellung - Du, ich hab ein Date mitMarie...«

»Jean-Marie, bitte.«Und dann vertieften sie sich darein, die Wetzsteine in den

Brunnen fallen zu lassen.

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Ungehaltene Reden

Aber was war nun das? Wer führte denn jetzt das Wort aufunserer Tagung? Wer hatte da das Vortragspult sichtbar zurKanzel gemacht, mit ausladenden Gebärden und heiterer Miene?War es nicht unser fröhlicher Gottesmann, just derjenige, dervom Tagungsleiter so wenig einfühlend behandelt worden warund schon seine Abreise erwogen hatte? Der doch im

Programmheft gar nicht vorkam und nur als Ersatzmanneingeladen worden war? Und er, ausgerechnet er, sollte nun, vor jeglicher Fachwelt und Wissenschaftselite, das Sagen haben,und so wohlgemut das Sagen? Mit begeisterten Hinweisen aufThomas von Aquin? Auf den Menschen, der zur Glückseligkeitstrebe und deshalb ein Mensch auf dem Weg sei, während derMensch am Ziel die Glückseligkeit schon erlangt habe? Und mitder Rede vom Märchenhans, der beides sei, erst der Mensch aufdem Weg, und dann ein glücklicher Mensch am Ziel? Wiekonnte es, vor der wiedervereinigten Versammlung, zu solchenOffenbarungen kommen?

Ja es war Pastor Lichtwitz gewesen, der rettendeingesprungen war, als Romeiser zwischen den verstörtenIdyllikern nach Beat Loderer gefahndet hatte; der sich gar nichtgeziert hatte, als er gefragt wurde, ob er nicht zufällig sein

Manuskript bei sich habe, und mit der geistesgegenwärtigenAuskunft parieren konnte, das lasse er ohnehin nicht aus denHänden; selbstverständliche stehe er gern zu Diensten, und sosei es ja auch ursprünglich vereinbart worden.

Pastor Lichtwitz brachte die Versammlung nicht nur wiederins Lot, sondern darüber hinaus auch in eine sachte Träumerei,in ein wohliges Dahindämmern. »Hans«, sagte der Pfarrer mitschöner Gewißheit, »weiß, daß aller Besitz dem aus seinen

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Händen rinnt, der ihn festhalten will. Er weiß, daß Menschen amEnde stets in die Abhängigkeit von der Macht geraten, die sieausüben oder mit deren Hilfe sie über andere herrschen.«

Und wie hätte er anders als bei Jesus landen können, der jadas Abstreifen alles irdischen Ballastes nicht nur vorgelebt,sondern auch von seinen Jüngern verlangt habe. Denn - nichtwahr? - das seien ja zunächst auch ganz gestandene, arbeitsameMänner gewesen, Handwerker mit Besitz und Familie. Undhätten sie dann nicht doch alles liegengelassen, Acker undAngelzeug, Haus und Hof, Heimatdorf und Beilager, Halt undHabe, Frau und Kinder und Geschwister, nur um ihremgeliebten Rabbi nachzufolgen? Dies eben sei doch das innersteWesen des Christentums, daß man nicht an Geld und Güternhänge, nicht an diesem ganzen gesellschaftlichen Brimboriumund schon gar nicht am schnöden Mammon. Und einechristliche Gesellschaft, wie er sie doch vor sich habe, sollte aufeinmal dieses Märchen nicht mehr verstehen, die Legende voneinem, der heimkehrt, das Loslassen zu lehren, das Weggeben,

fast könne man sagen: die Freiheit eines Christenmenschen?Es war eine sanfte halbe Stunde, die Pastor Lichtwitz mitseiner Interpretation zubrachte, und von irgendeinerAufgeregtheit im Auditorium war nichts mehr zu spüren, bis aufein gelegentliches Ächzen und das Geräusch, das von denvielen, immer wieder anders übereinandergeschlagenen Beinenherrührte. Nur der Bürgermeister zappelte unruhig auf seinemStuhl hin und her und blickte sich immer wieder zum Eingangum. Denn der Platz neben ihm war leergeblieben. Zinckhan warnach der Erfrischungspause nicht wieder in den Saalzurückgekehrt.

»Hans«, sagte der Pastor beinah triumphierend, »ist aufgeheimnisvolle Weise mit den Geschehnissen auf seinem Wegidentifiziert. Alle Zufälle ändern immer nur sein Lebensgepäck,und das heißt, seine Einstellung im Bewußtsein. Gerade so

gelangt er stets näher ans gewünschte Ziel, bis er frei von aller-70

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Last wieder daheim bei seiner Mutter ist. Niemand hat dasschöner und schlüssiger ausgedrückt als ein Poet unserer Tage,der Berliner Günter Bruno Fuchs, und mit seinen Versen will ich

schließen:

›Sieben Jahre haben sich in einen Goldklumpen verwandelt.Wohin mit der wertlosen Last?

Den Stein eines Scherenschleifers könnt ich im Brunnenversenken zu Hause!‹

Beeindruckte Stille. Erleichterter Applaus. Vor allem dasGedicht war ja noch einmal ein toller Schlußakkord gewesen.Dankbarkeit beherrschte die Versammlung: so ging es also auch.

Aber dann eine Stimme: »Na, und warum nicht gleich dasGold? Das plumpst doch genau so!« Das war eine von denHelferinnen, die vorher den Kaffee eingeschenkt und den Sekteingegossen hatten; womöglich war ihr das zu Kopf gestiegen.Es war gar kein Zwischenruf, eher etwas laut Gedachtes, abersie hatte plötzlich so viel Lacher auf ihrer Seite, daß sie aus demVorhang wieder hervorkam, hinter dem sie sich im erstenSchock verkrochen hatte. Pastor Lichtwitz, noch auf demPodium, fand sich zwar um seinen schö nen Schluß betrogen,griff die Frage aber auf:

»Ja, warum nicht das Gold? Finden Sie es denn egal, ob Sieeinen Klumpen Gold oder einen Stein wegwerfen? Sausenlassen?«

Natürlich fand sie es nicht egal. Aber wenn schonwegschmeißen, dann doch von vornherein, ohne die ganzenUmwege und Tauschgeschäfte. Und auf einem spürbaren Bodenvon Sympathie wagte sie sich weiter vor: »Also, ich find dasGedicht blöd. Und das Märchen sowieso. Jedenfalls wie der

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Hans sich verhält. Und der Herr, der am Anfang geredt' hat, denfand ich gut, so kann man nicht umgehn' mit sei'm Geld.«

Ja, der Herr, der am Anfang geredet hatte - wo steckte erdenn? Zinckhans Platz in der ersten Reihe war jedenfalls leergeblieben. War es denn denkbar, daß der große Mann nach demärgerlichen Vorfall einfach davongefahren war und Masselbrunnseinem Schicksal überlassen hatte? Peinlich, diese Sache mitdem Betrunkenen. Aber kleinliche Gekränktheit paßte doch garnicht zu einer so überragenden Persönlichkeit. So etwas mußteder Mann doch wegstecken können, oder?

Übrigens hatte auch der Bürgermeister inzwischen das Weitegesucht. Er bekomme keine Luft mehr, hatte er, vor demAbgang, Herrn Romeiser vorwurfsvoll zugezischt. Und einermüsse sich schließlich um die Sprayparolen am Märchenhauskümmern. So sehr er sich in der ersten Aufwallung darübergefreut hatte, so sehr sah er ein, daß die Sache in Ordnunggebracht werden mußte, damit die Eröffnung wenigstens amSonntag stattfinden konnte. Aber vor allem hatte ihn das

Wegbleiben des Präsidenten irritiert.Die zwei wichtigsten Herren fehlten also im Saal. Aber da

stand schon wieder einer auf dem Podium, ein strenger Herr mit präzisem Scheitel und randloser Brille; und wenn es irgendwiedoch noch mit rechten Dingen zuging, mußte es ProfessorKirchhoff sein, der Volkskundler und Märchenforscher. Er wares in der Tat, aber wer nun hoffte, er werde alles in die Reihe

und in die gehörige Tagesordnung bringen, sah sich getäuscht.Denn statt seine Zuhörer mit dem Thema »Form und Fundus derFantasie« zu ergötzen, hakte sich der als nörgelig bekannteWissenschaftler an einem so frohgemuten Text wie dem desPastors Lichtwitz fest.

»Mein Herr Vorredner hat diesen Hans im Glück soeben inden Himmel gehoben. Ich nehme an, Herr Lichtwitz istTheologe, denn das würde schon alles erklären. UnsereGottesmänner, während sie nach oben schauen, vergessen

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immer den Blick ins Buch. Obwohl Erfinder der Exegese,wissen sie nicht, was dasteht. Ich habe zwar meinen Ohren nichtgetraut, aber doch soviel gehört, daß Hans einen christlichen

Heilsweg geht, auf dem einer sich immer kleiner macht undalles Irdische abwirft.Unser guter Gottesmann hat uns da ein Märchen

weisgemacht, das es so überhaupt nicht gibt. Predigen mag man ja, wenn man die Kanzel als fromme Bütt benutzt, was man will,aber eine Interpretation fordert doch ein bißchen mehrGenauigkeit.«

Die Masselbrunner und ihre Gäste sahen sich konsterniert an: Nahm das denn gar kein Ende? Konnte nicht endlich mal einerder schönen Stunde gerecht werden? Und was Freundlichessagen? Märchenstimmung verbreiten, oder wenigstens Humor?

»Schon wieder Zoff«, reklamierte Frau von der Mühlen.Professor Kirchhoff ließ sich keineswegs beirren; er geriet

jetzt erst recht in Schwung: »Herr Pastor, haben Sie dasMärchen überhaupt gelesen? Wenn ja, dann haben Sie nichteinmal die einfachsten Dinge verstanden. Hans sei ein armerKnecht bei einem reichen Bauern gewesen? Aber er geht dochzurück in sein Dorf, also kommt er aus der Stadt; und einKlumpen Gold ist auch nicht gerade eine bäuerliche Mitgift.Wäre er Knecht gewesen - er hätte doch mit Pferd und Kühenund Schweinen umzugehen gewußt und auch, was eine Ganswert ist. Nein, dieser Hans war eine Art Kommis, eine

Stadtmaus, die den Weg aufs Land erst wieder lernen muß. Abervor allem eins Herr Pastor: Hans gibt doch seinen jeweiligenBesitz nicht aus christlicher Nächstenliebe preis! Das ist dochkein Verzicht, keine Entsagung! Er denkt doch immer, er macheein gutes Geschäft, er ist doch so etwas wie ein Augenblicks-Cleverle, meint, was ihm über den Weg läuft, komme ihm auchzupaß. Fromm und bescheiden? Daß ich nicht lache: er ist doch jedesmal auf einen tollen Tausch aus. Nur daß dieser Tauscheine immer größere Dummheit wird. Aber, verehrter Herr, daß

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seine Dummheit ins Absurde wächst, macht sie doch, hoffe ich,noch nicht christlich!«

»Doch!« wehrte sich der Pfarrer mit verteufelt lautem Zuruf.»Denn Christen sind Narren. Wer nicht begriffen hat, daß dasChristentum Narrheit gegen die Weisheit dieser Welt ist, hat garnichts vom Christentum begriffen, der sollte überhaupt nicht...»

»Aber lieber Pastor, wir sind doch hier nicht im antikenKorinth, wir sind im Zwanzigsten Jahrhundert, wenn auch inMasselbrunn - Pardon! -, und selbst Sie wollen mir doch nichteinreden, daß die furiose Narrenrede des Paulus irgend etwas zu

tun hat mit der Einfaltspinselei dieses Dümmlings. Nein, bitte, jetzt keine Unterbrechung mehr« (als Lichtwitz noch einmaldazwischenfahren wollte).

Vor allem sei doch gegen die ganze Schönfärberei eineKlarstellung nötig: »Hans im Glück« tauge schon deshalb nichtfür irgendeine Märchentheorie, weil es gar kein Märchen sei, bestenfalls eine Beispielerzählung, eine sogenannteKettengeschichte, aber eigentlich nur ein Schwank, Paraphraseauf all die Geschichten, in denen ein Bauer ausziehe und immerdümmere Tauschgeschäfte mache...

»Also doch ein Bauer!« rief der Pastor.... bis die Leute in der Stadt ihn fragten, was denn wohl seine

Frau zu seinem Treiben sagen werde, und er antworte: Ei, diewerde vollkommen einverstanden sein, die heiße immer allesgut, was er tue; und wie sie dann um die Reaktion der Bäuerin

wetteten und der Bauer die Wette gewinne und am Ende dochnoch fein raus sei. Ein Schwank sei das, in unendlichenVariationen.

Dagegen seien alle wahren Märchen Lebensabenteuer,Expeditionen ins Ungewisse, Aufbrüche in die Zukunft dereigenen Existenz, Emanzipationsvorgänge, uralte und weltweitePhantasien über das berühmte Sprichwort: Der größte Schritt istder Schritt aus der Tür. Selbst noch Hänschen klein gehe

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ansatzweise in die weite Welt hinein (oder vielmehr hinaus),aber Hans im sogenannten Glück trete eine tumben Rückweg an,seine Heimkehr sei ein Akt kindischen Muttersöhnchentums, ja

förmlich ein Schrumpfprozess...So nun aber doch nicht! Nicht nur Pfarrer Lichtwitz

signalisierte Protest, indem er erst wild mit dem Kopf schüttelte,dann alle Heiterkeit Heiterkeit sein ließ und laut herausplatzte:»Wenn das nicht Narrheit ist!« Auch die berühmten Damen imAuditorium konspirierten miteinander und erwogen, dieVersammlung zu verlassen. Frau Löhr weinte still vor sich hin.Ein paar junge Leute ringen an, sich richtig zu amüsieren. DieFernsehdame gab ihren Leuten den Auftrag, abzubauen, undverließ, nicht einmal besonders diskret, den Saal. WennZinckhan und der Bürgermeister fehlten, mußte, so sagte siesich, die Musik anderswo spielen.

Aber es ging ja weiter. Und Professor Kirchhoff sollte nochüberboten werden. Denn trotz der allgemeinen Unruhe undProteststimmung beharrte auf einmal Dr. Silvio Anselm, der

renommierte Psychiater, darauf, daß er zu dem Disput etwassagen müsse und zwar in der Richtung des geschätzten KollegenKirchhoff: Er, als Therapeut mit jahrzehntelanger Erfahrung,könne nur warnen, geradezu beschwörend warnen: Hände wegvon dieser Geschichte, ob Märchen oder nicht, Vorsicht vordiesem Regressionstaumel. Man könne es gar nicht besserformulieren als Präsident Zinckhan in seinem Grußwort:Erzählen Sie just dieses Märchen nicht!

»Wann immer ein neuer Patient zu mir kommt«, sagte derExperte, »lege ich ihm die Frage nach seinem Lieblingsmärchenvor. Und wenn dann einer sagt: Hans im Glück - dann weiß ichBescheid. Dann ist der Fall klar: gebranntes Kind, schwieriges Naturell, lebensuntüchtig. Unfähig, die einfachsten alltäglichenProbleme zu lösen, Konflikte zu bestehen. Da kommen sie zumir, die Schussel, die Schlemihls, und was das Fatalste ist: sie

kokettieren auch noch mit ihren Defiziten, fühlen sich wohl-75

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dabei, flechten Zöpfe aus ihren Pechsträhnen und glauben sichtatsächlich im Glück.«

Denn nicht aus Einsic ht preise sich der Märchenhansglücklich, sondern aus Verblendung. Und nicht die schlechtenTauschgeschäfte seien das Symptom, sondern das blödsinnigeWohlbefinden dabei, die katastrophale Fehleinschätzung allerseiner Aktionen und Transaktionen. Der Weg des Hans sei einWeg der Regression, er sei in der Tat ein Muttersöhnchen imtrüben Sinn des Wortes. Absolut infantil.

»Seien wir doch ehrlich, meine Herrschaften, Hans im Glück

darf man doch gerade das nicht tun lassen, was er in diesemMärchen tut, nämlich frei herumlaufen. Der ist doch nichteinmal ein Fall für den Therapeuten, der gehört in stationäreBehandlung. Kinder rufen doch mit Recht bei jeder seinerKapriolen: »Tu's nicht, tu's nicht, Hans!«

»Ja, aber«, rief nun eine etwas heisere Männerstimme vo neinem der Plätze in den hinteren Reihen, »wenn die Kinder rechthaben sollten, wie kann man dann Hans infantil nennen?«

Der Einspruch kam von einem Herrn mit grauer, wilderEinsteinmähne, dicker, schwarzer Brille und einem jenerGesichter, auf denen eine furchterregende Blitzgescheitheitherrscht. Niemand bisher hatte ihn so recht zur Kenntnisgenommen, aber mit seinem Zwischenruf war er auf einmal aufsspannendste, ja aufs gespannteste präsent. Man raunte sich zu,daß es Professor Singer wäre, aus Amerika, Komparatist,

Kabbala-Experte oder sonstwas Komisches. Die Psychoanalyse,sagte er, solle doch erst einmal ihr eigenes Handwerk, ihrVokabular überprüfen. Womöglich sei sie ja selbst infantilgeworden im Laufe ihrer - Heilsgeschichte? Das Jahrhundert derPsychoanalyse entspreche doch genau dem Tageslauf desMärchens: Am Anfang sei da noch der Goldklumpen derFreudschen Trieblehre, voller Möglichkeiten, geballtesAbenteuer, dann komme da ein Herr Jung mit seinemabenteuerlichen Steckenpferd aus Mythologie, Archäologie und

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Literatur, das sei der Pferdetausch, ein Potpourri ohnewirklichen Nutzen, dann trete Alfred Adler auf mit seinerIndividualpsychologie, was ein ausgesprochener ausgekochter

Kuhhandel sei; dann gehe es über so vergeblich bemühte Leutewie Otto Rank mit seinem speckigen Geburtstrauma und überdie Gans Melanie Klein mit ihren Hypothesen zum Seelenlebendes Kleinkindes immer weiter bergab. Jetzt sei diealleinseligmachende Wissenschaft bei den Steinen angelangt, beim schieren Ballast, und das sei die leere Couch.

»Ja, meine Damen und Herren, mein verehrter, wenn auchverirrter Herr Experte, was von all ihrem Jahrhundertwerk übrig bleibt, ist eine gepolsterte Bank, eine elende Chaise. Nein, liebeFreunde, lachen Sie nicht, das heißt: lachen Sie doch endlichmal, das ist keine Übertreibung, die Bücher sind längst auf demMarkt mit Titeln wie: Die Couch, ihre Bedeutung für diePsychotherapie, aber es kann nicht mehr lange dauern, bis auchdieser Restposten nebst allen Therapietrümmern im Brunnenlandet, das heißt auf dem Sperrmüll. Darum meine dringende

Bitte an Dr. Anselm und Konsorten: Stochern Sie nicht längermit ihren kaputten Sprungfedern an diesem Märchen herum!« Na endlich! Na endlich sagte einer was richtig Positives.

»Wenigstens einer!« seufzte Frau Filera-Stüada und gab damitihren Anhängerinnen das Zeichen für eine kleine Ovation.Pastor Lichtwitz bekannte seinem Nachbarn gegenüber einGefühl wie beim Predigtende. Dr. Anselm stand noch immer,etwas unbeträchtlich, am Rednerpult. Die Masselbrunnerschmähten ihn mit Beifall, der nicht ihm galt.

»Nein, meine lieben Zuhörer, ich möchte diesem Hans nichteinen so schnöden Laufpaß geben wie unsere strengenWissenschaftler. Und ich möchte sie doch einmal fragen, ob siewenigstens gelesen haben, was Marcuse über unsern Hansgesagt hat, wohlgemerkt der Philosoph Ludwig Marcuse, nichtHerbert.«

»Aber der war doch kein Philosoph, der war bestenfalls ein-77

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begabter Essayist.« Damit mischte sich Professor Kirchhofferneut ein.

»Wie Sie wollen; aber kennen Sie, was er in einer großenAbhandlung über das Glück zu unserer Märchenfigurgeschrieben hat?«

»Was heißt hier unsere? Meine ist es jedenfalls nicht.«»Der erste Philosoph des Glücks! Hans, schreibt er, sei der

erste Philosoph des Glücks!«»Nun«, sagte Kirchhoff, »dann muß ich mich natürlich

korrigieren. Dann war Marcuse nicht einmal ein begabterEssayist.«

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Sensation

Masselbrunn war in den 18-Uhr-Nachrichten des Radios, um18.30 im Regionalfernsehen, dann sogar ganz kurz in der 19-Uhr-heute-Sendung. Allerdings nicht als Märchenstadt, sondernals Schauplatz eines mysteriösen Verschwindens, einesmutmaßlichen Verbrechens, eines womöglich politischmotivierten Entführungsfalles. In der ersten Meldung einer

Nachrichtenagentur hieß es:»Ein rätselhafter Zwischenfall hat sich heute bei einer

sommerlichen Kulturveranstaltung in der hessischen KleinstadtMasselbrunn ereignet. Der prominente Industrielle Jean-MarieZinckhan, der noch vor wenigen Tagen vor einem BonnerUntersuchungsausschuß in einer lange zurückliegendenSpendenaffäre ausgesagt und alle Vorwürfe zurückgewiesenhatte, weilte als Schirmherr eines Volkskunde-Symposions indem kleinen Ort, als er offenbar bei einem Spaziergang, den erohne alle Begleitung unternommen hatte, spurlos verschwand.Ein Untertauchen des renommierten Großunternehmers wieetwa im Fall Schneider wird von Experten ausgeschlossen. Eherhält man eine Entführung aus politischen oder erpresserischenGründen für möglich. In einer ersten Stellungnahme aus Kreisendes Unternehmens wird lediglich darauf hingewiesen, daß

Zinckhan am Wochenende zu einer Weltreise aufbrechen wollte,die insbesondere Kooperationsplänen im pazifischen undostasiatischen Raum dienen sollte. Eine großangelegteSuchaktion der vom Bürgermeister der Stadt, Otto Lorenz,alarmierten Polizei war zunächst erfolglos.

Inzwischen sollen auch Spezialeinheiten angefordert wordensein.«

Es war dann für alle Beteiligten ein ziemlicher Schock. Am

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wenigsten für die Hundertschaft des Sondereinsatzkommandos,die den hübschen alten Schuppen, in dem das Puppentheaterstattfinden sollte, beim Sturm zu Kleinholz verarbeitete, am

ärgerlichsten für den Bürgermeister, der seinen Augen nichttrauen wollte und sich lange nicht entscheiden konnte, ob erlieber erleichtert oder peinlich berührt sein sollte; amschmerzlichsten für die kleine Puppenspielerin, die aus derMärchenstunde ihres Lebens gerissen wurde, und besondersadrenalinfördernd für die Fernsehdame, die geistesgegenwärtigauf die kleine Minox drückt, um das seltsame Paar im erstenAufschrecken festzuhalten: Aufschrecken aus einem Téte àTête, einer Umarmung, einer tollen Selbstvergessenheit, einemLebenszusammenhang oder einfach nur aus einem Palaver? DasAufschrecken jedenfalls war dem Paar ins Gesicht geschriebenund ließ damit jede Deutung zu. Aufschrecken wie Foto warSekundensache, aber während das erste verflog, sollte dasandere Furore machen.

Zinckhan, wer anders, faßte sich als erster. »Herr

Bürgermeister, was sind Sie für ein Spielverderber!«»Um Gottes willen, Herr Präsident! Ist Ihnen etwaszugestoßen?«

»Ja. Sie.«»Ich? Ich konnte doch nicht... Ich habe mir Sorgen gemacht.«»Um mich macht man sich keine Sorgen. Sie schon gar nicht.

Und wer hat da eben fotografiert?«

Aber Goggi Güttler-Fahrenholz war schon auf dem Weg indie Öffentlichkeit. Über den Vorfall wurde sofort Stillschweigenvereinbart, strengstes Stillschweigen; aber das Foto sollte nochan diesem Abend um die ganze Welt gehen.

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III BL INDEKUH

ODER: WO DIE LIEBE HINFÄLL T

Das Unglück allein ist noch nicht das ganze Unglück; Frage istnoch, wie man es besteht: Erst wenn man es schlecht besteht,wird es ein ganzes Unglück. Das Glück allein ist noch nicht das ganze Glück.

Ludwig Hohl

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Burgfehde

Hübsch war der Blick auf Masselbrunn von hier oben, von derBurgterrasse aus, über die Bäume des Parks hinweg: dieschiefwinkligen Gassen mit ihren roten Ziegel- oder schwarzenSchieferdächern, der schmale Einschnitt durch die leider begradigte, teils sogar überbaute Massel, das mächtige Geviertder Walkmühle, und drüben die neuen Häuser am jenseitigen

Hügel, auf dem auch die evangelische Kirche stand. Noch warenerst wenige Lichter an - dies war ja einer der hellstenSommerabende -, aber das gelegentliche Aufblinken hier unddort machte die Ortschaft schon zu einem rührendenErdenfirmament, während der Abendhimmel noch auf sichwarten ließ. Die Fürstin hatte bitten lassen, zu einem kleinenEmpfang, bei gutem Wetter auf der alten Schanze (andernfallsim Audienzsaal), und das Wetter konnte nicht schöner sein. Noch immer hie lt die Hitze des Tages an, war aber hier in derHöhe durchfächert von einer leichten, leisen Brise, die dieLebensgeister animierte. Hier konnte man sich wahrhaft erhobenfühlen.

Erhoben in der Tat. Denn die Einladung galt nur einemkleinen Kreis. Die Exklusivität war so offenkundig, daßniemand von den also Geehrten darüber zu kommunizieren

gewagt hatte: Man mußte sich überraschen lassen, wen man alsMitprivilegierten antreffen würde, und hoffte, es würden nichtallzuviele sein. Die Fürstin hatte sich keineswegs auf das Urteildes Bürgermeisters verlassen (der ihr nur die gesamteHonoratiorenschaft ins Haus schwemmen wollte), kaum auchauf die offizielle Vortragsliste, sondern eher auf eigene Intuitionund Belesenheit. So kam es, daß Liebhilde von der Mühle n, dieüber die Frau im Märchen unsägliche feministische

Extravaganzen verbreitet hatte, ebensowenig berücksichtigt war-82

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wie Pastor Lichtwitz, der noch nicht zur Nomenklatura derVeranstalter zählte und auch in den Regalen der Fürstin nicht zufinden war. Natürlich hatte sie die renommierte

Märchenerzählerin nicht übergehen können, ebensowenig wiedie Fachgelehrten Kirchhoff und Anselm. Aber obwohl sieversucht gewesen war, die Fernsehdame einzuspannen für einenBericht über die Nöte des Gestüts, hatte sie sich denn doch nichtentschließen können, sie dazuzubitten: Bei diesen Leuten wußteman nie... Professor Singer aus New York hatte von sich ausabgesagt.

Andererseits hatte sie auch etliche Prominenz versammelt, dienoch gar nicht in Erscheinung getreten war, weil sie erst amkommenden Tag sich zu Wort melden würde oder den Nachmittag nicht für wichtig gehalten hatte: So denKabarettisten und Märchenparodisten Hans Hergesell, der dieBrüder Grimm in ein satirisches Säurebad getaucht und mitseinen kleinen Travestiebändchen das Kunststück vollbrachthatte, die Fürstin zum Lachen zu bringen; so den renommierten

Kulturkritiker Roland Althaus, der zuletzt mit seinem Buch»Der Wald als Dickicht der Seele« soviel ratloses Lob geerntethatte; vor allem aber den berühmten Kunstprofessor und»Anstifter« (wie er sich selber nannte) Lucian Brockes, einenentschiedenen Mann von Welt, den sie den Organisatoren alsunbedingtes »must« erst hatte einreden müssen. Und selbst BeatLoderer hätte eine Einladung der Fürstin vorgefunden, wenn erdenn auf die Idee gekommen wäre, im Tagungsbürovorzusprechen und seine Unterlagen in Empfang zu nehmen;denn seine Aphorismen (von der Art: »Ihm waren alle Sterneschnuppe«) gehörten kurioserweise zur Lieblingslektüre derHohen Frau.

Wer auch nur etwas von unserer Geschichte versteht, weiß,daß Zinckhan mit von der Partie war; ihm zu Ehren, ihm zuGefallen fand die kleine Geselligkeit überhaupt statt. Er allein

war Manns genug, weit und breit, die Säldeburg zu beglücken.-83

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Er war nicht nur eingeladen, er war geradezu eingefangen, undnicht erst mit dem Billett (das ihm vor Tagen zugegangen war):Diese ganze Eröffnung, diese großartige

Museumsunternehmung war Teil einer Rettungsstrategie, einesSanierungsplanes, und niemand anders als die Fürstin selbsthatte dafür gesorgt, daß dem großen Mann die kleine AdresseMasselbrunn vor einem halben Jahr auf den Schreibtischgekommen war. Schließlich war man sich, Zinckhan und dieFürstin (als sie es noch nicht war), vor vielen Jahren einmalnähergekommen. Und sie, wir sehen es jetzt im schimmerndenLicht der Laternen, Lampions und Leuchter, ist immer noch eineschöne Frau.

Wird er aber kommen, nach dem, was vorgefallen ist? Muß ernicht suchen, seinen Ruf, sein Renommee, sein Prestige und dasseiner Unternehmen zu retten? Muß er, als Wirtschaftskapitän,nicht sofort auf die Brücke seines Schiffs? Auf der Säldeburgstellt man sich, drei Stunden nach dem Skandal, solche Fragennicht: keiner der vielen Räume ist durch einen Fernsehapparat

verschandelt, vom Stadtklatsch dringt, wegen derVerschiedenheit der Welten, so rasch nichts herauf, und dieersten Gäste haben von der Aktion entweder nichtsmitbekommen oder sie hüten sich, nun auf der Burg davon zureden. Bürgermeister Lorenz jedenfalls wäre der letzte, seineBlamage auch noch auszuposaunen.

Es ist der große Zinckhan selbst, der den Skandal weitertreibt.Es ist Zinckhan, der das Unglaubliche nicht einmal nurvermeldet, sondern vorführt. Der Mann scheint von allen gutenGeistern verlassen, denn er kommt, als er endlich kommt, inBegleitung eines mageren Mädchens, einer abwegigen Gestalt,eines leibhaftigen Fauxpas. Den Gästen verschlägt es den SmallTalk, und alle Blicke richten sich auf die Fürstin. Die hält aberstand; der Kampf, den man ihrem Gesicht ansieht, geht darum,ob sie sagen soll: ›Jeremias, bringen Sie das Aschenputtel in die

Küche und setzen sie ihm etwas zu essen vor.‹ Sie lächelt die-84

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Anfechtung aber weg und rettet sich in Überschwang:»Zinckhan, mon dieux! Wie sehr ich mich freue, Siewiederzusehen. Nach all diesen Ewigkeiten! Und noch immer

der Schwarm der Jugend! Welch ein charmantes Mitbringsel!«(Beim letzten Satz geriet das Lächeln in ein bitteres Zucken.)Doch ehe Zinckhan sich erklären kann, hat die

Puppenspielerin ein »Hallo!« gesagt, ein unangefochtenes,wohlklingendes, lässiges Hallo, das wie eine akustischeSternschnuppe in die hochgespannte Szene fällt. Ein Hallo, dasder Fürstin nun doch fast die Contenance raubt. Und dasdringend nach einem Herrn der Situation verlangt. NachZinckha n.

»Fürstin, meine Verehrung. Als hätten wir uns gestern erstgesehen - welche Märchenlist muß man nicht aufwenden, umendlich wieder einmal in Ihre Nähe zu gelangen. Darf ichvorstellen, mein Mitbringsel, wie Sie so heiter formulierten, istTru, eine junge Künstlerin, meine allererste Bekanntschaft hierim Zauberland und vorzügliche Lehrmeisterin. Und jemand, der

noch nie ein Schloß von innen gesehen hat.«Jetzt gelang der Fürstin ein strahlendes Lächeln. »Aber ja,

meine Liebe, aber ja. Besichtigung haben wir immer Samstagnachmittag, also morgen. Und jetzt haben Sie sicher Hunger.Junge Menschen haben immer Hunger.«

»Wir sind nicht hungrig«, bestimmte Zinckhan. Gleich darauf- galant und gegen den aufkommenden Ärger: »Wir sind

glücklich, in Ihrer Nähe zu sein. Nicht wahr, Tru?«»Tru heißen Sie? Wie hübsch, wie geheimnisvoll. Haben Sie'sirgendwie mit der Wahrheit? Too good to be true? Oder garumgekehrt?«

»Einfach Trude, Gertrud. Mein Vater nannte mich so.«»Köstlich, Trude! Die Banalität des Geheimnisvollen!

Kommen Sie, Trude, wir gehen unter die Leute. Mein Verehrter,

Sie werden verstehen, wenn ich mich jetzt erst einmal um unsere-85

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kleine Freundin kümmere.«Jean-Marie Zinckhan ließ es geschehen. Dies war der Tag, an

dem ihm alles entglitt. Es war der Tag, da ihm nichts gehorchen,nichts gehören wollte. Es war der Tag eines großen Laissezfaire,Laissezaller, einer wohligen Ohnmacht, eines betäubenden Nichtgelingens. Ein Tag, der ihn reinwusch vonZugehörigkeiten und Ansprüchen, von Sicherheiten undSiegerposen. Vor zwei Stunden noch hatte er der jungen Fraugut zureden können, sich für ihren Willkomm verbürgt. Da hattees noch einen Rest seiner gewohnten Machtvollkommenheitgegeben, oder war es schon der Rausch dessen, dem allesgestohlen bleiben kann? Denn zur Macht gehörte ja (wenn mannicht gerade über Leichen gehen mußte) ein gewisses comme ilfaut, während das Wegwischen jedes Prestigedenkens schongefährlich nah an Anarchie grenzte. Oder war beides am Endedasselbe? Die äußerste Macht, die wildeste Anarchie? ZumBeispiel Napoleon...

Nein wirklich, Napoleon fehlte noch. Den wollen wir uns

ersparen. Es geht doch nur um den Augenblick, da die Fürstinunsere Puppenspielerin dem hohen Herrn entführen will, da siedie kleine Rache vollzieht für den gesellschaftlichen Verstoß;um jenen Moment, in dem sie ihn stehenläßt und sich mit demungebetenen Gast davonmacht, versuchsweise den Arm um sielegend: als werde die junge Frau aufs diskreteste abgeführt.

»Jetzt wird sie selbst eine Puppe«, sagte Zinckhan vor sich

hin; er beschloß, mehr gerührt zu sein als gekränkt. Gut aber,daß er den Chauffeur für zehn Uhr bestellt hatte. Er würde ihnnicht lange warten lassen. Er setzte sich, von dem als Jeremiasapostrophierten Butler mit einem Glas Champagner versorgt,auf die Burgmauer, die die Terrasse einfaßte.

Von der Gruppe der Gäste kam erstaunlich lautes Gelächter,darin die helle Stimme der Puppenspielerin. Dann ein sachtesVerstummen, und in die Stille hinein die sonore, etwas spröde,aber kraft der Sprödigkeit sinnliche Stimme der Fürstin: Ein

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Willkommensgruß war zu hören und zwang Zinckhan vonseinem Sitz. Er trat ein paar Schritte hinzu; er wußte, daß dieFürstin sich aufs läppische Ritual einer offiziellen Begrüßung

nur eingelassen hatte, um ihm Beine zu machen. Auch er alsoließ sich bewegen wie eine Puppe.Ob Kleider Leute machen? Gewiß aber, daß das Kleid der

Fürstin ihre kleine Rede machen half, daß die Worte ihm wieeinem Kelch entsprangen oder besser noch: einer smaragdenenFontäne. Da stand diese zierliche, beherrschte Frau und sprachgleichsam nur aus, was die grüne Seide ihr soufflierte, die sicheng um ihren Körper spannte und an den Armen in zwei weitenFlügeln ausfloß. Nur da, wo das rechteckige Décolleté denAnsatz einer kleinen, jugendlich sanften Brust freiließ, gab eseine glänzende Pointe: Da leuchtete ein wahrer Stern von einemDiamanten, der, kaum sichtbar gefaßt, an einer hauchdünnenKette hing und sein Licht im Schein eines vielarmigen Leuchterswie eine Wunderkerze versprühte. Die Fürstin hatte gut reden.

Sie freue sich über ihre Gäste, und sie wolle betonen, daß sie

niemand von den übrigen Teilnehmern des für Masselbrunn so bedeutsamen Ereignisses habe brüskieren wollen, wenn sieheute abend nur einige wenige willkommen heiße; nur daß sieseit dem Tod des Fürsten ein großes Haus zu führen völligentwöhnt sei: Keine Jagdgesellschaft seit fünf Jahren; keineReiterfeste; kein Hauskonzert; nicht einmal zu irgendwelchenBenefiz-Basaren, wie sie früher üblich gewesen seien im altenGesindesaal, habe sie sich aufraffen können. DieUnwohnlichkeit sei in ihre geliebten Räume eingezogen wie einSchloßgespenst, und immer mehr habe die Säldeburg für sie denCharakter einer Eremitage bekommen. Nicht, als ob sie zurEinsiedlerin kein Talent verspüre, aber Geselligkeit sei ja aucheine Form der aktivierenden Disziplin, Aufmöbelung derLebensgeister, und, wie sie heute abend erstmals seit langer Zeitwieder glücklich empfinde, einfach ein Vergnügen.

Erstaunlich, dachte Zinckhan, wie weit Itha sich in die Karten-87

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sehen läßt. Oder war es nur ein Taschenspielertrick, dieseOffenheit nur Tarnung? (Wenn er mit ihr sprach, nannte er siekorrekt »Fürstin«, nur, wenn er an sie dachte oder über sie

nachdachte, war sie immer noch Itha wie vor zwanzig Jahren,als sie beide auf dem Mont Pelerin über dem Genfer See zwei besinnungslose Glückswochen mit einer Verlobungsfeier beschlossen hatten, mit einer Festivität von feudalen Ausmaßenund russischer Dauer, an der alle Gäste des Hotels du Parcturbulenten Anteil nahmen; mit einem feierlich-verzücktenZukunftsversprechen, das dann schon eine Woche späterhinfällig geworden war, als sie ihm aus Wien, wo sie nocheinige Vorstellungen als Helene von Altenwyl in Hofmannsthals»Schwierigem« zu absolvieren hatte, in kapriziöser Knappheitmitteilte, sie werde in Kürze den Fürsten von Säldeburgehelichen, der ihr vor wenigen Tagen nach einer Vorstellungeinen Heiratsantrag gemacht habe. Er, Jean-Marie, möge sieverfluchen, aber Quirin habe sie einfach verzaubert. Und siehatte einen Satz aus ihrer Rolle zitiert: »Die Kraft, mit der ein

Mensch einen hält - die hat ihm wohl Gott gegeben.«Und auch jetzt wieder war dieser Autor im Spiel, als dieFürstin zum Ende ihrer Rede kam: »Wie sagt mein sehrverehrter Dichter Hugo von Hofmannsthal: Eine Soir ée wirdnicht attraktiver, wenn man über sie nachdenkt. Der Bann derBurgmauern scheint jetzt gebrochen, und Sie, meine Damen undHerren sind die Bürgen. Ja mehr, Sie sind für mich so etwas wiedie unerschrockenen, unverwüstlichen Gestalten aus demMärchen, die irgendeins der verwunschenen armen Geschöpfeaus hundertjährigem Schlaf wecken oder aus verschrecklicherVerzauberung erlösen.« Sie schloß mit einem Hoch, aber nicht,wie sie vorgehabt hatte, auf den großen Magier Zinckhan, derdas kleine Masselbrunn so hochherzig beglückt habe, sondern,zum allgemeinen Erstaunen und zum Entsetzen desBürgermeisters, »auf Hans im Glück, diese kurioseste allerMärchengestalten«.

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Der Butler goß den Champagner nach. Es war ein Roederer.Schade nur, daß die Stimmung so gut nicht war wie der Sekt.

Schade, daß die Gesellschaft so friedlich nicht war wie derSommerabend. Schade, daß die milde Luft die erlesene Scharnicht erwärmte, sondern erhitzte. Nicht nur die Spannungzwischen der Fürstin und dem großen Mann, auch diekontroversen Standpunkte des Nachmittags gewitterten über denKöpfen.

Zinckhan trat in den beflissenen Kreis, der sich nach derAnsprache um die Fürstin gebildet hatte (mit dem

Bürgermeister, dem Großaesthetiker Brockes, dem SatirikerHergesell und dem Mythenmischer Althaus) just, als FrauFilera-Stüada der Fürstin für ihr gutes letztes Wort über Hans imGlück dankte und sich dann hinreißen ließ, vom Streit derGelehrten und Unbelehrbaren über dieses wunderschöneMärchen zu berichten.

»Streit!?« Lucian Brockes hatte das Wort so sicheraufgegriffen wie eine Bodenturnerin ihren aus der Luftwiederkehrenden Reifen. »Streit? Dann habe ich ja doch wasversäumt. Ich konnte heute nachmittag noch nicht dabei sein Fototermin bei American Express, mit dem Dinosaurier imSenckenberg-Museum, aber wenn ich auch nur geahnt hätte, daßes in Masselbrunn sogar Streit geben könnte...«

»Sie wären nicht auf Ihre Eitelkeitskosten gekommen«,unterbrach ihn Hergesell. »Es war selbst für Ihre Verhältnisse zu

läppisch. Kirchhoff - drüben steht er, hat wohl schon wieder einOpfer gefunden - führte sich fast so albern auf, als spielte erliterarisches Quartett. Nach dem Motto: Neurose, reinerWiderspruch.«

»Und ich fürchte, ich habe mit dem Streit sogar angefangen«,sagte Zinckhan halb schuldbewußt, halb eitel.

»Aber Märchen und Streit - das paßt doch gar nichtzusammen. Noch dazu bei uns, in der kleinen, heilen

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Märchenwelt von Masselbrunn«, reklamierte die Fürstin.»Pardon, Verehrteste«, fiel Herr Althaus ein, der Verfasser

des Waldbuches, »Märchen sind alles andere als heile Welt, alskonfliktfreie Texte. Märchen sind kodifizierte Alpträume, Kafkafürs Volk, Märchen sind erzählte Bedrängnisse, derMärchenwald ist das...»

»Dickicht der Seele«, ergänzte höhnisch der Satiriker.»Wie leicht sich die Gemüter erhitzen«, wunderte sich die

Fürstin.Da kam es aus der Märchenerzählerin heraus, ein langer

Ausbruch von Bitterkeit, den sie schon den ganzen Nachmittagunterdrückt hatte.

»Gemüter!« rief sie aus, »da erhitzen sich keine Gemüter,denn diese Herren hier und dort« - und sie blickte strafend in derlocker gruppierten Gesellschaft umher - »haben kein Gemüt.Der eine wie der andere, und manch eine wohl auch - keinFunken Gemüt. Denen fehlt alles, was man zum Märchen

braucht: Kinderaugen, Kinderphantasie, Kinderängste.Kinderseligkeit. Wie sollen Blumen sich entfalten, wenn mandie Knospe seziert? Wie sollen Märchen denn ihren Zauber tun,wenn man sie seelenlos hin- und herwendet? Man muß sichihnen doch erst einmal öffnen, man muß sich auf sie...«

»Einlassen, nicht wahr?« sagte der Parodist.»Sie brauchen gar nicht zu spotten«, kapierte Frau Filera-

Stüada. »Jawohl, auf sie einlassen. Auf sie hören. Kein Menschhier hört doch auf ein Märchen. Alle reden doch nur darüber.Sonst wäre Streit über eine so herzige Geschichte wie Hans imGlück gar nicht möglich. Und nicht möglich, daß sicherwachsene Herren darüber den Mund zerreißen. Daß sie sichkindisch aufführen, wie dieser Hans es nimmermehr tut. Daß siefragen, ob er nicht nur ein Dummerjan ist? Ja, haben dennunsere Märchenfiguren nicht auch ein Recht, mitzureden, in

eigener Sache? Und sagt dieser Hans nicht, daß er der-90

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glücklichste Mensch von der Welt ist? Fühlt er sich nicht ineiner Glückshaut, nicht als ein Sonntagskind, ruft er nicht amEnde, als er scheinbar nichts mehr besitzt: So glücklich wie ich

gibt es keinen Menschen unter der Sonne? Warum nehmen ihndenn unsere Herren Besserwisser nicht beim Wort?«»Bravo!« applaudierte der Spötter Hergesell.»Liebe gnädige Frau«, sagte Althaus ein wenig gerührt.»Glückwunsch, meine Liebe«, sagte die Fürstin, und nahm die

Märchenerzählerin andeutungsweise in den Arm. Beschädigteihren Trost allerdings ein wenig, als sie hinzufügte: »Nur, daß es

solche Menschen in Wirklichkeit kaum gibt, so ganz ohne Sinnfür Besitz. Und Habenwollen. Ich könnte das nicht.«»Das fehlte noch!« platzte der Bürgermeister heraus, »das

wäre ja noch schöner. Dann wäre doch die Welt das reinsteChaos. Das ist doch ein Nichtsnutz, dieser Kerl. Jetzt reißt ernoch die ganze Stadt ins Unglück.« Seit dem Nachmittag fühltesich das Stadtoberhaupt von Hans im Glück persönlich gekränkt.

»Außer vielleicht Wittgenstein«, sagte die Fürstin. Der NameWittgenstein, noch dazu aus ihrem Munde, war wie die Miniatureines Ereignisses. Selbst die diskret ferner Stehenden traten jetztheran.

»Wittgenstein? Der Philosoph«, fragte ein irritierterKirchhoff.

Was der Bürgermeister in diesem Augenblick dachte, war so,daß er es lieber für sich behielt, ja, daß er vorsichtshalber ein paar Schritte beiseite trat.

»Und was, bitte, sollte dieser Herr Wittgenstein mit Hans imGlück zu tun haben?« fragte die Märchenerzählerin irritiert.Auch an der Fürstin hatte sie keine rechte Verbündete.

Die gab Auskunft: »Ein Reicher, der sich selbst arm macht. Nicht mit Bankrott oder durch Verschwendung. Der einfachalles wegschenkt. Wie diesen Goldklumpen. Ich meine: Ein

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Ausnahmefall, der die Regel bestätigt: Hans ist ein Unikum.«»Wittgenstein, ein guter Hinweis!« (Das war Althaus). »Sogar

noch idealer, als Sie es uns erklärt haben - Pardon, Fürstin!Denn er hatte ja so viel, daß er sein Vermögen zweimalverschenken konnte. Zum erstenmal, als sein Vater starb und erauf einmal dreihunderttausend Goldkronen in der Hand hatte,ein Jahr vor dem ersten Weltkrieg, da ist das ein unvorstellbaresVermögen. Zunächst gibt er auch bloß ein Drittel davon weg...Aber dann, 1919, schenkt er seine Millionen an die Geschwisterweg. Und schlägt sich sieben Jahre lang als Volksschullehrerdurch. Also in seinem Falle erst das Gold, dann die siebenJahre.«

Wieder war es die Fürstin, die alle in Erstaunen versetzte.Diesmal widersprach sie ihrer eigenen Eingebung: »AberWittgenstein kann doch noch so viel Geld verschenken und wirddennoch kein Hans im Glück.«

»Und warum nicht?« fragte die Puppenspielerin, die das allesnicht recht verstand.

»Weil er notorisch unglücklich war. Weil er überhaupt keinTalent zum Glücklichsein hatte. Ich hab, als kleines WienerMädel, noch seine alte Schwester Hermine erlebt, wunderliche,kranke Frau, aber das ist mir im Gedächtnis geblieben, weil sieimmerfort jammerte. Ach mein armer Bruder, hör ich sie noch,ein unglücklicher Heiliger, ach hätte ich doch nicht einen sounglücklichen Menschen zum Bruder. Sagt das nicht alles? In

einer Glückshaut hat der jedenfalls nicht gesteckt.«»Das muß aber nicht der Weisheit letzter Schluß sein.Schwestern können irren. Alle Frauen irren sich, wenn sie vonMännern urteilen.« Solchen Widerspruch gegen die Fürstinkonnte sich doch keiner leisten, es sei denn... Zinckhan, in derTat.

»Vielleicht wollte er sich ja, dieser rätselhafte Bruder,glücklich machen durch den Verzicht aufs Geld. Weil er seiner

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Verantwortung dafür nicht gewachsen war. Weil er den Wertnur allzugut erkannt hat, aber diesem Wert nicht standhielt. Weiler am Geld nur die Wohltat liebte und nicht das große Handeln,

das vom Geld verlangt wird. Weil das Vermögen seinUnvermögen bloßstellte. Da gibt er es völlig zu recht weg. Ehees ihm zerrinnt. Denn viel Geld zu behalten ist gar nicht soleicht - da hat das Märchen schon seine Wahrheit. Der großeGulbenkian, einst einer der reichsten Männer der Welt, hateinmal gesagt, er habe gar keine Skrupel bei all seinemReichtum, schließlich sei er der einzige, der damit auchumgehen könne. Na, und bei Wittgenstein wird es umgekehrtgewesen sein.«

»Also ein Wittgenstein-Syndrom?« Zum erstenmal meldetesich auch der Psychiater Dr. Anselm zu Wort.

»Ohne Syndrom geht es bei Ihnen wohl nicht?« spotteteAlthaus. »So häßliche Wörter an einem so schönen Abend!«durchtönte nun eine wohlk lingende, wenn auch etwas oboenhafthochnäselnde Stimme den Abend. Lucian Brockes hatte sich

geäußert. Wenngleich er entschlossen war, seine Meinung überHans im Glück bis zu seinem Auftritt am nächsten Vormittagzurückzuhalten und für den Ausweg aus dem Labyrinth zusorgen, hielt er doch einen ersten Einspruch für ratsam: »Na wenn schon Syndrom - dann Trakl.«

»Das ist ja nicht auszuhalten«, ächzte Hergesell.Die Märchenerzählerin hatte sich längst abseits auf eine

Steinbank gesetzt und schüttelte den Kopf.Die Fürstin, die so lange nicht mehr erlebt hatte, wie Männersich um Worte streiten können, war fasziniert. Und mit ihrnatürlich all die, denen es an diesem Abend um ihre Nähe gingund nichts sonst.

»Trakl-Syndrom, was denn sonst?« sagte Brockes.»Wittgenstein, zwar, gibt seinen Goldklumpen hin, aber nichtwie der Hans, sondern als der Herr. Er gibt ihn, über einen

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Stimme der Fürstin sich Gehör verschaffte gegenüber denaufrührerischen Elementen: »Jeremias, ins Jagdzimmer, ersteinmal ins Jagdzimmer.«

Es waren nicht einmal zwei Minuten, ehe man sich dortversammelt hatte, aber alle waren durchnäßt, zerzaust,verwirbelt und fröstelig. »Bringen Sie uns Decken, Jeremias«,sagte die Fürstin, »ich kümmere mich inzwischen um denKamin.«

Der Satiriker hatte sich als erster gefaßt. »Kennen Sie denWitz vorn Untergang der Romania?« Der Aufschrei war fast

allgemein: »Bitte keine Witze jetzt.«Hergesell blieb ungerührt: »Die Romania sinkt, aber dasBergungsschiff ist schon da. Nur die kleine Tochter einerBerliner Familie weigert sich, ins Rettungsboot zu steigen: Aberfür das andere Schiff haben wir doch gar keine Billette!«

»Ihre Einladungen gelten auch hier«, sagte die Fürstinnachsichtig.

Als Jeremias zurückgekehrt war, kam er ohne die Decken, miteiner fast uneleganten Eile. Er trat erschreckend nah undzudringlich an die Fürstin heran und schien ihr irgend etwasUnziemliches ins Ohr zu flüstern, eine Haltung, die auf alleeinen umstürzlerischen Eindruck machte, jedenfalls das Bild desgelassenen Mannes einigermaßen verdarb.

Eine sekundenlange Starre ging über das eben noch soanimierte Gesicht der Hohen Frau, dann ein angestrengtesLächeln. Ein Nicken zum Diener hin nebst einer beruhigendenHandbewegung.

»Wenn Sie mich einen Augenblick entschuldigen wollen«,sagte die Fürstin leutselig, nur im Abgang forderte sie - wenwohl? den Präsidenten auf, sie hinauszubegleiten. Dann war sieschon aus dem dampfig und gedämpft wirkenden Zimmer.

»Wo brennt's denn?« fragte Hergesell in die leicht

konsternierte und immer noch frierende Runde, die sich um den-95

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langsam aufflammenden Kamin drängte. Und von einemFrösteln anderer Art überfallen wurde, als nun Jeremias, deretwas zurückgeblieben war, die Auskunft gab: »In den Ställen.

Das Gestüt. Ein Blitzschlag. Die Fürstin bittet Sie um Nachsicht.Ich bin gleich wieder zu Ihrer Verfügung und bringe dieDecken. Nein, Sie können nichts helfen. Es ist alles veranlaßt.Ich werde gleich neue Gläser bringen.«

Als die Fürstin nach einer halben Stunde wieder unter ihreGäste trat, war sie rauchgeschwärzt, verschwitzt, das blondeHaar in Strähnen aufgelöst. Über dem grünen Kleid trug sie jetzteine Jagdjoppe, und die Beine steckten in Gummistiefeln. Siewar in Aufruhr. Und bildschön. Neben ihr stand ein beinah jugendlich wirkender Zinckhan.

»Glück im Unglück!«, rief sie, »meine Pferde sind allegerettet. Es lebe die Säldeburg. Und die edlen Ritter wie in alterZeit. Und daß mir jetzt keiner nach Hause geht. Denn heutenacht wird richtig gefeiert.«

Zinckhan fand seinen Chauffeur beim Wagen; der hatte sich,als er schon vor der Burg auf seinen Herrn wartete, an derRettung beteiligt, indem er über das Autotelefon dieOrtsfeuerwehr benachrichtigt hatte.

»Gut, daß ich doch gekommen bin«; sagte der Fahrer.»Warum sollten Sie nicht?«»In den Nachrichten hieß es, sie seien entführt worden.«»Aber Sie haben es natürlich nicht geglaubt?«»Ich konnte es mir nicht gut vorstellen. Aber schließlich sind

Sie immer in Gefahr.«»Das kann man wohl sagen«, sagte der große Mann.»Wenn ich mir eine Meinung erlauben darf: Vielleicht sollten

Sie das mit der Entführung dementieren.«»Ich weiß noch nicht.« So einen Satz hatte Zinckhan seit

Jahrzehnten nicht gesagt.-96

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Heimsuchung

Professor Singer, der Mann aus New York, weiß nicht, wie ihmgeschieht. Er, der in Manhattan zuhaus ist und auf demsichersten Quivive, fühlt sich in Masselbrunn bodenlos.Märchenhaft bodenlos. Wie wenn er die Szene eines seltsamenVorlebens betreten hätte: Jeder Schritt, den er in dieser Fremdetut, kommt ihm vertraut vor und deshalb doppelt unheimlich.Jede Gasse, die er durchquert, weckt vage Erinnerungen. EineGedichtzeile fällt ihm ein:

Der Zauber fü hrt in ein versunknes Reich. Wie bettetKindertraum das Leben weich!

Nein, nicht weich. Kindertraum ja, aber Albtraum. Da ist einBodensatz von Grauen in seiner Ahnung, ein Schrecken, dersich nicht zu erkennen geben will. Jede Fassade wird zur Fratzeeiner Vergangenheit, von der er nichts weiß. Nichts wußte bis zudiesem Moment. Traumeswirren einer versunkenen Zeit, dieihm als Alltag gegenübertritt. Was ist nur mit ihm geschehen?

Schon seit er nachmittags auf der nächstgelegenenBahnstation ausgestiegen und mit dem Bus die halbe Stundeweitergefahren war, befindet er sich in diesem merkwürdigen

Taumel, einem Tagwandel, dem er sich nicht zu entziehen weiß,der ihn gefangen, umfangen hält. Es ist die Atmosphäre desOrts, die ihm körperlich nahegeht, unter die Haut geht, auf die Nerven. Ist es eine gleichsam archetypische Situation, die er hiererfährt, ist es das mittelalterliche Seelengebräu dieserFachwerkhäuser, das ihn verhext, die Unerlöstheit der altenGassen, die ihn anfällt? Oder ist es sein eigenes Schicksal, demer hier entgegengeht? Kein Hirngespinst, sondern etwas

gefährlich Reales? Die schiere Unausweichlichkeit?-97

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Was hatte er denn hier überhaupt zu suchen, zwischen denEiferern und den Ahnungslosen? Zwischen den Gutwilligen undden Bluffern? Zwischen den Naiven und den Koryphäen? Er

war doch gewissermaßen nur aus Versehen dazu geraten. Fürsein großes Projekt »Global Village und genius loci« hatte er einSabbatical genommen und war, natürlich, nach Europagegangen, nach Dublin und Triest, nach Deauville und Murnau,nach Lübeck und Bayreuth, nach Wien und St. Petersburg, unddann hatte dieser junge Stengelin, der ihn ein wenig betreute, zuihm sagt: Aber nach Masselbrunn sollten Sie auch, Masselbrunnwerden Sie nicht für möglich halten. Und irgendwie hatte er sichdavon Verlocken lassen, oder besser: Gegen soviel Arroganzhatte er Widerstand geleistet und war hingefahren. Und hattesich ja auch schon eingemischt. Sehr zu seinem Ärger. Sehr zuseiner Befriedigung.

Aber nun, fortwährend, das Gefühl, daß es gar kein Entschlußgewesen war, hierherzukommen, sondern eine Fügung, einSchicksalssog. Die Ahnung, daß er hier seiner Lebensdunkelheit

aus die Spur kommen müßte, dem unerforschten Teil seinereigenen Biographie. Denn sein Leben war ohne Ursprung, ohnegeortete Herkunft, ohne gesicherte Elternschaft, war das einesFindlings, einer einsamen Kreatur in einem polnischen Dorf, woirgendwelche Leute, mit denen er in einer Kolonnedahinwanderte, ihn zurückgelassen hatten, und wo er eineEwigkeit, Monate, vielleicht Jahre, in einem Stall verbrachthatte, bis er eines Tages, eines Tages nach unendlichenDunkelheiten, wieder auf die Straße durfte: Der Krieg, der Spuk,die Angst, das Versteck: vorbei. Und wie seine Beschützer, dievor lauter Vorsicht immer so streng zu ihm gewesen waren, aufeinmal sogar lachen konnten und er mit ihnen im Zimmer sitzenund essen und reden durfte. Aber alles, was sie von ihm wußtenwar, daß er David hieß und vielleicht sechs Jahre war,mittlerweile. Und seine Familie weit weg. Allmählich hatte er begriffen, daß es tot meinte. Keinen Namen, keine Adresse, es

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war, zu seiner Rettung, alles in Sekunden vor sich gegangen, imMoment eines kurzen Stockens beim Transport.

Später dann waren die Singers, seine neue Familie, nachAmerika ausgewandert, hatten ihn mitgenommen als ihren Sohn,mit ihrem Namen, den er zunächst selbstverständlich führte undspäter mit Vorbehalt, ehe er ihn sich selber machte: Erst als brillanter Highschool-Absolvent, dann als College-Stipendiat,schließlich als junger Professor im Harvard Yard. Ja, und vorzehn Jahren war er, nicht ohne Schwierigkeiten, vomkatholischen Glauben, in dem die polnischen Singers ihnerzogen hatten, zum Judentum übergetreten. Es war wie eineHeimkehr gewesen. Und das Sabbatical hatte er angetreten inder kaum eingestandenen Hoffnung, etwas über sich selbst zuerfahren...

Nun jedoch kommt ihm Masselbrunn erschreckend entgegen.Erschreckend in der Tat. In Gestalt von vier, fünf gröhlenden jungen Männern. Wer in New York lebt, ist auf Übergriffe,Überfälle gefaßt; hier, in der Idylle, war er es nicht. In New

York hatten die Scherereien fast immer ein Ziel, Geld, dieBrieftasche, den Autoschlüssel - hier fand er sich von dumpfemHaß umstellt. Von blöden blinden Augen angestarrt. Vonschwitzender Stiernackigkeit eingekeilt. Von aggressivemBierdunst angeweht. Diese Männer wollten nichts von ihm, diewollten nur ihn. Ein Objekt. Ein Opfer. Einen Gegenstand zumKraftakt. Triebabfuhr. Don't let yourself be victimized. DasVokabular war aussichtslos vor der Blindwütigkeit. ProfessorSinger versuchte es doch:

»Darf ich die Herren vielleicht zu einem Drink einladen?«Sein Akzent war nicht zu überhören. Und Drink sagten die bestimmt nicht.

»Der will uns kaufen. Dieser Märchenonkel will deutscheMänner kaufen.«

»Na, dann kaufen wir uns ihn doch mal.«

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Die Leiter zum Erfolg

Da saß sie und weinte. Aber weinen konnte man das gar nichtmehr nennen, das war auch kein Weinkrampf. Das war, wiewenn jemand Tränen erbricht. Sie hatte die Hände vor sich aufden Tisch gelegt, den Kopf darauf, und sie heulte wie ein Kind,Tränen, Rotz und Sabber, eine große Sauce Jammer.Schnaufend, schniefend, schütternd, schaudernd. Einmal sah sie

kurz auf, und wir konnten erkennen, daß es unserePuppenspielerin war, die kleine Tru. Die grünen Augen warenrotgeweint. Die Strubbelhaare verklebt von den nassen Händenund wie angeleimt.

Da saß sie im trübsten Lokal Masselbrunns, der altenFuhrmannsschänke, die einst eine schöne alte Gaststubegewesen war, aber längst heruntergekommen zur Pinte, zueinem verräucherten Treffpunkt für alle die, denen Masselbrunnam Abend auf den Geist ging, die Sehnsucht hatten nach etwasSpelunke oder dem Anblick des dicken Busens der Wirtin Veraoder auch nur nach einer Partie Billard im Hinterzimmer. Da saßsie und wurde sogar von den fettnackigen Burschen amFlipperautomaten in Ruhe gelassen.

Nur der einzelne Typ auf dem Hocker an der Theke schienirritiert. Er sah die Wirtin fragend an, aber die zuckte mit den

Schultern. »Kenn ich nicht. Hält sich seit 'ner halben Stunde aneinem Spezi fest. Sowas hab' ich gerne.«Dann ging er hinüber, nicht ganz sattelfest, leicht

schwankend, und an seinem Gang erkennen wir nun auch ihn:So war er am Nachmittag ja schon in den Saal gewankt, unserPenner, der seltsame Nichtteilnehmer an der Tagung, der unternormalen Umständen als Beat Loderer hätte begrüßt werdenkönnen.

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Er hielt ihr sein Glas hin (diesmal war es Wein). Sie sah ihnverwirrt an, dann setzte sie es an, wie wenn sie eine Medizinnehmen müsse, trank es gierig und japsend aus. Holte ein

Taschentuch hervor und begann, sich das Gesicht abzuwischen.Starrte fassungslos auf die Verschmiertheit, die sie sich aus demGesicht wischte. Sie lachte. Vielmehr: sie probierte es. Es wurdeein neues Weinen daraus, aber eins, mit dem sie hörbar nichtmehr viel zu tun hatte.

»Ich mag doch keinen Wein!«»Sie Ärmste. Aber manchmal hilft er wie nichts sonst. Fast

wie Beichten.«»Bestellen Sie mir noch einen?«»Na sehen Sie! Und nun erzählen Sie mal, das ist die beste

Medizin.«Dann fing sie von Max an, ihrem Partner, und daß er sich auf

das idiotische Indianerspiel eingelassen habe, das sei ja nichtschlimm, aber diese Eifersucht, dauernd sei sie unter Streß, jede

Telefonzelle eine Mahnung, jeder Briefkasten eineAufforderung. Sie sollte immer Knoblauchgerichte essen, damitsie bei andern Männern abstinke, und heute abend sei er amTelefon ausgenippt, nur weil sie zwei Stunden auf so 'ne ArtParty gegangen sei. Am Telefon ausflippen sei doch dasSchlimmste, weil man nicht dagegen ankönne mit einerUmarmung oder einem Streicheln...

»Und das soll alles gewesen sein? Mädchen, ich bin entwedersehr alt oder Sie erzählen mir die falsche Geschichte. Ich dachteimmer, Tränen in eurer Generation sind passe. Oder out.«

»War alles etwas viel heute. Erst komm ich mit den Puppennicht zurecht, dann der Knatsch mit Max, und nu sitz ich hierdoppelt allein rum.«

»Na, so allein nun auch wieder nicht. Oder zähl ich garnicht?«

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Sie denn hier? Was haben Sie hier verloren? also damals wardas nicht die richt ige Gelegenheit für Witze.

Wäre ich nicht schon pinkeln gewesen - Pardon! - ich hättemir in die Hose gemacht.

Da hat es mich einfach gepackt, vielmehr ich sie, die Leiter,schwer war sie, aber nicht klapprig, und dann los mit ihr, vierHalbtreppen hoch, also mit mühseligen Kehren, vorsichtigeBalance, damit keins der Enden anstieß, Stufe für Stufe hinaufzum Dachgeschoß, zum Korridor mit den langen Regalen, einBravourstück, aber mehr noch ein Kraftakt, bis sie endlich

dastand, als Anhaltspunkt. Jetzt stie g ich an ihr hoch, holte mitfeuchten Fingern das rettende Papier aus der Tasche, meinrettendes Papier, das jetzt seins werden sollte, und legte eszitternd obenauf hinter die Leiter, glitt wieder hinunter,verschnaufte erst einmal eine Minute lang, bis der Angst-Atemvorbei war, öffnete die Tür zum Saal, konzentrierte mich nochauf die paar Schritte zu meinem Platz und fiel schweißgebadetauf meinen Stuhl.«

Der Erzähler selbst schien schweißgebadet, und er schien, wiedamals, erschöpft. Fast zaghaft griff er nicht nach der Tasse,sondern nach dem Weinglas, aber dann leerte er es in einemZug.

»Dann verdankt er also alles Ihnen?«»Hab ich eine Weile gedacht. Hat er sogar selbst geglaubt, ein

paar Monate lang. Er hat mir auch geholfen, als ich noch

glaubte, mir könne auf seine Art geholfen werden. Mit Geld, alsich noch sicher war, ich könnte damit was anfangen.Dreißigtausend, das war Mitte der 50er nicht wenig, das warmindestens eine Abiturleiter, wenn man zu klettern verstand. Ineinem Jahr war's alle, weiß selbst nicht wie: nicht verspielt,nicht verhurt, nicht einmal vertrunken damals, bloß verträumt,verreist, verfeiert, verliebt, verliehen, weg war's. Ich wieder mitmir im reinen, er aber enttäuscht, fast angewidert: Mensch, du

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bist dir doch was schuld ig! Du mit deinen Anlagen! Hat nieverstehen können, daß ich mir nichts daraus mache, aus miretwas zu machen in seinem Sinn. Einen gemachten Mann. Das

Gemachte daran - das war's, was mich ankotzte.«»Aber man kann sich doch nicht einfach gehen lassen!«»Man muß verstehen, die Dummheiten zu begehen, die unser

Charakter von uns verlangt, sagt ein alter Franzose.«»Find ich nicht. Wenn man weiß, daß es Dummheiten sind.

Aber Zinckhan? Wie war es denn für ihn, wenn er doch dauerndauf Ihrer Leiter stand?«

»No problem, würdet ihr sagen. Nicht die geringsteSchwierigkeit. Er hat es schlicht vergessen. Hat dann nochandere gebraucht, um so weit nach oben zu kommen. Zehn Jahrespäter, letztes Nostalgietreffen, da wußte er schon nichts mehrdavon. Die Sache mit der Leiter? Wie war das? Beim Abitur? Nannte es eine hübsche Geschichte, ich hätte ja schon immerPhantasie gehabt. Das war's.«

»Glaub' ich nicht. So charakterlos ist er nicht, das nehm' ichIhnen nicht ab.«»Nicht charakterlos. Er war nur schon weiter. Ich war so tief

unter ihm. Man muß die alten Leitern wegstoßen, wenn manhoch will, wirklich hoch.«

Sie fing wieder an zu weinen.»Was ist denn nun wieder? Hab ich dich gekränkt mit meiner

Geschichte?«Sie schüttelte den Kopf. »Dachte, ich könnte ihn ja malfrage n. Würde gern mal seine Version hören. Aber ich seh' ihn ja gar nicht mehr. Ist ja schon alles vorbei. Und Sie? Sind Sieihm nicht über den Weg gelaufen, in diesem kleinen Nest?«

»Er mir, heut nachmittag. Erkennt mich nicht mal mehr. Ichhab's ihm aber auc h leicht gemacht, heute. So ramponiert, wieich war: meine Schuld, nicht seine. Ist auch zu lange her. Wenn

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wir uns mal begegnet sind, dann nur noch auf dem Papier, inden Zeitungen, wenn er mit irgendwelchen Schlagzeilen großrauskam und ich im selben Blatt ein kleines Gedicht

losgeworden war oder ein paar Aphorismen oder ein Feuilleton.Heute hatte er keine Chance, mich zu erkennen, nicht mal, alsich ihm öffentlich ins Wort fiel, und fiel ist nicht gelogen.«

»Irgendwie war er rührend. Wollte mir helfen beimPuppenspiel. Hat sich extra so einen komischen Kittel besorgt.«

»Was ich glaube: er sucht jetzt nach Leitern abwärts. Runter.Schwindelanfälle. Immer oben ist eisig einsam. Und einsam

sein, aber nicht bei sich, ist absurd. Trostlos. Rasend blöde.Machtrausch - ich kenne mich aus mit Räuschen - mußkatastrophal sein, wenn die Wirkung nachläßt. Sucht will immermehr, aber wenn's mehr Macht nicht gibt? Nämlich, Mädchen,das wollt ich dir sagen, zum Trost oder zum Abgewöhnen, duhast ihn, denk ich mir, auf Entzug gesetzt. Liebe statt Macht.Methadonprogramm. Schafft er nicht. Kann er nicht schaffen. Nicht auf Anhieb. Und du? Ich weiß nicht, ob du es schaffen

solltest. Überhaupt schaffen willst. Und ob er dir überhaupt nochgefiele, wenn er nicht mehr der große Zinckhan ist? Der BigBoss, der die Puppen tanzen läßt?«

Jetzt wurde sie aber wütend. »Als wenn ich ihn kleinmachenwollte! Und überhaupt: Sie sind doch nur neidisch, verdammtneidisch, weil Sie nämlich ein Versager sind. Und das mit derLeiter glaube ich Ihnen sowieso nicht!« Das Schluchzen ging

wieder los.»Ist es so ernst?« fragte der Penner.»Was soll ich bloß tun? Ich habe doch morgen Vorstellung,

und er wollte mir helfen.«»Notfalls komm ich. Auf jeden Fall spielst du die

Vorstellung.«Das gab ihr den Rest. Sie weinte wieder los, ließ sich aber von

ihm zu ihrem Karavan bringen, wo sie kampierte.-108

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»Aber der ist doch gar kein Big Boss, oder?«, sagte sie.

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IV SCHWEIN HA BEN; SCHWEIN SEIN

ODER: LA UFSTEG DER EITELK EITEN

Ideen als solche sind neutral - oder sollten es zumindest sein. Aber der Mensch haucht ihnen seinen Atem ein, entfacht sie mit seiner Glut und seinem Wahn; unrein, in Glaubenssätzeverwandelt, schalten sie sich nun in die Zeit ein, werden Ereignis: der Schritt von der Logik zur Epilepsie ist getan...Esentstehen Ideologien, Doktrinen, blutiges Possenspiel...

E. M. Cioran

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Ein Kerl wie Samt und Seide

Noch immer schwebte eine leichte graue Rauchfahne über denHöhen der Säldeburg, als man sich am Vormittag des zweitenTages zur Fortsetzung des Programms im schönen Geviert derWalkmühle einfand. Es war eher, als hätte man sich um diesesRauchzeichen und um darüber zu reden versammelt, als daßman der Tagesordnung entgegengefiebert hätte. Mit diesem

anrüchigen Dunst wurde deutlich, daß etwas in der Luft lag,auch sonst, auch unsichtbar, auch geruchlos, ein Hauch vonKaterstimmung, ja von Fatalität, eben von Brenzligkeit. Da hielt jemand eine andere Fackel hoch, oder vielmehr vor sich hin, dieSchlagzeile der Boulevardzeitung:

STÜRZT TOPINDUSTRIELLER ÜBER SCHÄFERSTÜNDCHEN?

WIRTSCHAFTSKREISE BESORGT!

Es fehlte nicht viel, und man hätte ihm das lächerliche Blatt ausder Hand gerissen; aber einige genierten sich nicht, ihm über dieSchulter zu sehen, andere machten sich auf zur nahen Lotto-Anna hme, wo man die Sensation kaufen konnte.

Und da kam sie nun groß heraus, die Masselbrunner

Romanze, die Szene hinter dem Vorhang, das vertrackte Idyll,die gestörte Zweisamkeit:DER BOSS UND DAS MÄDCHENstand darunter, aber man mußte schon sehr viel Phantasie haben,um in den zwei schemenhaften Köpfen einen Mann und eineFrau, und nun gar den Präsidenten Zinckhan und diePuppenspielerin auszumachen. Doch an Phantasie fehlt es ja aufeiner Märchentagung nicht. »Was, Sie auch!« fragte derKabarettist Hergesell Frau von der Mühlen, als er neben ihr

Platz nahm. Die legte die Zeitung unter ihren Stuhl, war sich-111

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aber für eine Antwort keineswegs zu schade: »Manchmal kannman über die Männer nur den Kopf schütteln.«

»Ja«, sagte Hergesell, »schon Adam war nicht ganz zuverstehen, als er sich den Apfel andrehen ließ.«

Auch Professor Brockes schien aus der Bahn geworfen. Als ererschien, ein Kerl aus Samt und Seide und mit demausschweifendsten Halstuch, sah er seinen Zuhörern ausführlichin die Gesichter, ließ seinen Blick gleichsam bekümmert überdie Versammlung schweifen, als habe er sie insgesamt aufeinem Sündenfall ertappt, nannte zwar sein Thema: »Die

Wünschbarkeit des Wünschens - zu einer Ästhetik derUnerfüllbarkeit«, wischte es aber sogleich mit einerHandbewegung von seinem Pult und begann dann mit lässigerSchärfe so:

»Meine Damen und Herren, so aufgeräumt wie dieser Saaluns scheint, können wir uns leider heute morgen nichtzusammensetzen; die guten Geister von der Reinigung - vulgoPutzfrau - haben leider das Wichtigste, Unreinlichste übersehen,so daß ich mich nun an die Drecksarbeit machen muß, mit Ihrergütigen Erlaubnis, oder auch ohne. Denn immer noch steht eineFrage im Raum, steht häßlich und störend im Raum,querulatorisch und spielverderbend, und kann nicht andersentsorgt werden als durch eine bündige, morgenfrische, taghelleAntwort, und die will ich Ihnen geben. Die Frage, wie Sie sicherinnern werden - ich habe mir die Tonbänder der gestrigen

Séance zu Gemüte geführt - ist die nach Hans im Glück. Ist erPhilosoph oder bloß doof, christlich oder regressiv, ist erAussteiger oder Muttersöhnchen, hat er Charakter oder bloßkeinen Verstand, ist er ein Genie des Glücks oder ein armerIrrer? So etwa lassen sich ja die - etwas hilflosen - Verwirrungendes gestrigen Tages resümieren.«

Einige Köpfe begannen, sich hinter den Zeitungen zuverschanzen. Etliches Raunen, das Schicksal Zinckhans betreffend, kam in Gang. Professor Kirchoff verließ seinen Platz

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und ging zu einer demonstrativen Begrüßung auf Dr. Anselm,den Psychiater, zu. Lucian Brockes aber war unerschrocken.

»Ich verspreche Ihnen eine kurze Antwort, die mit diesemVerwirrspiel aufräumt. Die Sache ist so simpel, wie dieser Hanssimpel ist. Hans im Glück ist die perfekteste Utopiekritik, dieich kenne. Hans im Glück ist ein einziger Hohn auf jegliche Artder Vergesellschaftung von Eigentum. Hans im Glück ist die beste Parabel auf den Zusammenbruch des sozialistischenSystems.«

Denn Märchen, fuhr er fort, wüßten alles vorher, sagten alles

voraus. Und Hans im Glück sei die nachgerade klassischeWarnung, daß der Sozialismus in genau sieben Jahrzehntenwürde scheitern müssen. Daß nicht nur ein ganzes Lehrgebäudein den Brunnen plumpse, sondern auch selbst das bißchenAnfangs-Wohlstand sich in Luft auflöse. Brockes rief ein paaralte Witze in Erinnerung: Was eine Sardine sei? Ein Walfisch,der durch den Kommunismus gegangen ist. Was passiere, wenndas Politbüro (der KPdSU, der SED oder welcher Partei auch

immer) in die Wüste geschickt werde? Erst einmal nichts, abernach vierzehn Tagen werde der Sand knapp.Ob man nicht erkenne, wie nah das alles unserem Märchen

komme, wie sich das alles schon im alten Text abspiele? Wennman einem Einfaltspinsel einen Klumpen Gold anvertraue,spiele sich just dasselbe ab, wie wenn man dem Volk dassogenannte Volkseigentum überlasse: am Ende bleibe nichts

übrig.Selbst Kirchhoff hörte jetzt amüsiert zu. Die Zeitungen warenwieder beiseitegelegt worden. Pastor Lichtwitz sagte seinem Nachbarn, daß er die Welt nicht mehr verstehe.

»Nur ein Tag - und das Gold hat sich in Stein verwandelt. Nursieben Jahrzehnte, und der Kommunismus hat eine der größtenKornkammern der Welt so heruntergewirtschaftet, daß er beimKlassenfeind Weizen kaufen muß. Sehen Sie nicht die ätzende

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Parallele? Halten wir also fest: Hans im Glück ist nichts als dasLehrstück vom Herunterwirtschaften. Nichts als eine Lektion,wie man durch Weiterwursteln auf der Strecke bleibt. Hans im

Glück ist das längst vorweggenommene Ätsch und Aus für KarlMarx. Und niemand Geringeres als der Weltgeist hat uns daraufaufmerksam gemacht: Am 23. April 1818 steht die ersteFassung der Geschichte, noch nicht von den Grimms, sondernvon August Wernicke, in der Zeitschrift »Wünschelruthe«, undzehn Tage später, am 3. Mai, wird Karl Marx geboren. DieWeltgeschichte war also gewarnt. - Meine Damen und Herren,ich danke Ihnen und wünsche Ihnen noch einen unbeschwertenVormittag.«

Sprach's, verbeugte sich zweimal leicht, raffte seineunbenutzten Papiere zusammen und war aus dem Saal, ehe dieZuhörer sich von ihrer Verblüffung erholt hatten.

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Bedenken, wie aus solcher Entfernung ihre Fragen für ihnverständlich seien, schreien könne sie ja schlecht. Der Professorwinkte beruhigend ab, was wolle sie schon groß fragen, mehr als

ein Stichwort brauche er nicht, und dann werde er sich einekleine Conference über Märchen und Marxismus, über dieUtopie des Glücks und das Unglück der Utopie einfallen lassen,und Zwischenbemerkungen störten da nur.

Aber sie wolle es doch nur etwas auflockern.»Auflockern?« lachte Brockes. »Ja, bin ich Ihnen denn nicht

locker ge nug?«

»Nur wegen der Schnittmöglichkeiten.«»Geschnitten wird sowieso nicht. Ganz - oder gar nicht. Soll

heißen: komplett. Entendue ?«So empfahl er sich auf französisch.Vielmehr: er legte aufs neue los. Es wären sicherlich die

genialsten zehn Fernsehminuten seit Günter Schabowskissubversiver Maueröffnung gewesen, das gescheiteste Extempore

seit Adorno, eine elektronische Epiphanie, ein Jahrhundert-Takevon der Verabschiedung des Wunschdenkens und derHeraufkunft eines märchenhaften, eines wunderbar irrationalenZeitalters. Wie herrlich der Rhapsode mit dem Rad, auf dem ersaß, zu spielen verstand! Wie er es erst interpretierte als ein vomFortschritt stillgelegtes Rad; dann aber auch als Rad derGeschichte selbst; wie er die Geschichte des Rades in Gangsetzte und dann das Rad als Sinnbild der Umdrehung, derRevolution. Wie er der Revolution Koketterie vorwarf mit ihremeigensten, wenn sie in die Speichen sich warf mit Sprüchen wie:»Alle Räder stehen still!« Und wie nun, seit neuestem, dasRevolutionäre sich als der Stillstand selbst erwiesen habe, alsetwas, das die Menschen eben nicht vorwärts bringe, sondernnur noch rädere; als etwas, das ins funktionierendeEigeninteresse einer betriebsamen Gesellschaft blind und blödeingreife und nichts hinterlasse als Schrott. Daß es da eben

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»Wohlunter wäre wohl richtiger«, sagte der Kameramann.Aber Lucian Brockes hatte ganz andere Sorgen. »Habt Ihrs

drauf? Ist alles drin? Hat die Kamera das mitgekriegt? Hat dasMikro noch funktioniert?«

»Nee, ich hatte ja Ihren Kopf ganz dicht drauf, war ganz nahan Ihren goldenen Worten, da konnte ich nicht so schnellhinterher. Bei mir waren sie auf einmal weg. Futschikato.«

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Spiel über dem Abgrund

Eine halbe Stunde später taucht Professor Brockes wieder auf,frisch eingekleidet, erfrischt und energisch duftend, nähert sichwiederum dem Saal, und gerät in einen Hinterhalt. Denneigentlich will er nur seine Pfeifenutensilien, die er vergessenhat, an sich nehmen; aber wieder wird er ein Opfer seinerEitelkeit. Durch die geöffneten Fenster hört er seinen Namen,

hört seinen Namen lobend erwähnt, hört seinen Namen in allerakademischen Würde:»Wir können Professor Brockes gar nicht dankbar genug sein,

daß er die Sache so auf den Punkt gebracht hat«, vernimmt erund hält interessiert inne. Wen hatte er denn da so gnadenlosüberzeugt (wie er es selbst von seinen Meinungen niemals war)?Wer redete ihm so zu Munde? Da bin ich aber gespannt, sagtBrockes zu sich selbst, betritt den Saal und kommt gerade rechtzu den Sätzen: »Wir haben in Professor Brockes Tirade dengenauen Extrakt dessen, was dieses Märchen - nicht besagt.Genau das Gegenteil ist richtig. Herr Brockes, der uns soebensein Ohr zu leihen begonnen hat« (allgemeines Kopfwenden inder Versammlung) »hat wieder einmal einen seiner berühmtenKopfstände gemacht; er wird erlauben, daß wir wenigstens seineInterpretation wieder auf die Füße stellen.«

»Da bin ich aber gespannt«, sagte Brockes jetzt laut. Er hatteder Redner erkannt, einen jungen Mann von höchstensfünfundzwanzig, einen rothaarigen Lockenkopf mitübermütigem Gesicht und Dauergrinsen; eins jener jungenGenies, die ihm deshalb so auf die Nerven gingen, weil er selbsteinmal eins gewesen war und vom Nachwachsen solcher Typenseine Einzigartigkeit bedroht fand; ein Mensch, der zu seinen beflissensten Studenten gehört hatte, bis er auf dem Umweg

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über fast perfekte Mimikry sich emanzipierte, indem er mitseinen wulstigen Lippen alles belächelte, was er, Brockes, sichan Ideen und Improvisationen einfallen ließ. Ein

Widerspruchsgeist, von dem man sich hatte trennen müssen.Und jetzt stand dieser Knabe da und feimte Hohn und kanzelteihn ab!

»Professor Brockes - Sie wissen vielleicht, daß es mit seinemTitel auch nicht weit her ist - erinnert mich immer anKierkegaards Anekdote vom Kaufmann, der nach London reisenwill. Unterwegs fragt er einen Fremden, ob das die richtigeStraße sei. Ja, mein Herr, erwidert der, aber sie müßtenkehrtmachen.

Machen wir also kehrt, mit Mann und Roß und Kuh undSchwein und Gans, mit Gold- und Steinreichtum und fragen wiruns: Hans im Glück - die Parabel für das Aus des Sozialismus?Die goldene Kugel nichts als das geballte, veruntreuteVolkseigentum? Die sieben Jahre des Hans eine Analogie zuden siebzig Jahren kommunistischer Staatsideologie? Wie sagte

doch der Herr Festredner gestern? Erzählen Sie doch keineMärchen! Ja, verehrter Meister Brockes, mir scheint, dieser Satzist auf niemanden so sehr gemünzt wie auf Sie mit IhremTheorie-Schnickschnack.«

Lucian Brockes wehrte sich zunächst mit schallendemGelächter. Es fiel schwer, aber es funktionierte. »Der kleineTitus Feuerfuchs!« jauchzte er mit scheinbar erschüttertem

Zwerchfell. »Nur weiter so, Stengelin!«Und Stengelin, unangefochten, machte weiter: Wenn Hans imGlück für irgend etwas Modell stehe, so doch gerade nicht fürein sozialistisches System, sondern für das Tollhaus desTauschhandels, für den Makaberwitz des Marktes, für denKapitalismus. Dieses Märchen erzähle doch nichts anderes alsden Wahnsinn des Handels, als die Abstraktion des sogenanntenGeschäftemachens, als die Anarchie des allgemeinenÜbersohrhauens.

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»Denn was ist der Kapitalismus?« Stengelin hatte die Stimmegedämpft, die dicken Lippen schmal gemacht, sich tief über dasRednerpult gebeugt, wie wenn er sich schwer von einem

Geheimnis trenne: »Was ist der Kapitalismus? Er ist das Spielüber dem Abgrund. Der Markt macht Unverwechselbaresaustauschbar. Er reduziert am Anfang jedes Ding auf einenWert, und am Ende jeden Wert auf nichts. Denn alles hat nuraneinander seinen Wert und nichts in sich seine Wirklichkeit.Die Kapitalisten erleiden das Schicksal der Alchimisten.Mühelos gelingt es ihnen, Stein in Gold zu verwandeln, oderwie beim Hans, Gold in Stein. An unsern Börsen ist das Alltag.Rauf und runter, hin und her, der reinste Frech-Dax. KeinerleiBoden unter den Füßen. Diese moderne Alchimie wird jedenTag im Fernsehen übertragen, nur beim Hans entsetzen wir unsund sagen: Der Junge kann doch nicht so blöd sein!«

»Er ist aber so blöd. Und nicht nur er!« rief Brockeszweideutig ein.

»Aber er hat das Gold doch nie gegen die Steine eingetauscht.

Nie direkt«, meldete sich jetzt auch Pastor Lichtwitz zu Wort,der um die Einsichten seines Manuskripts zu bangen begann.»Im Endeffekt läuft's jedenfalls darauf hinaus«, beharrte

Stengelin.»Im Endeffekt, im Endeffekt!« höhnte Brockes, »als wenn das

nicht genau die Kapitalistenrechnung ist, die Sie bekämpfen: derEndeffekt, die Schlußrechnung, Ihre kleinkarierte Moral!«

»Danke für das Stichwort Moral«, grinste der junge Eifererungeniert. »Danke für die Kooperation. Denn wenn wir unsdieses Märchen genau anschauen, dann hat es eine sehr klareMoral, und seine Weisheit ist: Wo gehandelt wird, wird auch betrogen. Handel ist Betrug. Geschäftemacherei in sich istkriminell. Wo Dinge ihren Besitzer wechseln, geht es nicht mitrechten Dingen zu. Die Objekte werden eingesponnen in einenKokon aus Lüge. Die eben noch milchpralle Kühe wird unterm

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Gesetz des Handels zu einem ausgetrockneten Gerippe, dasSchwein speckt ab unterm Verdacht des Diebstahls. Es gibt keinehrliches Geschäft, das eins wäre. Am Marktgang des Hans

nehmen nur Schwindler teil. Die Wirtschaftswelt ist eine einzigeMogelpackung, unsere Ökonomie nichts als die Legitimierungvon Mafia-Methoden. Unser Hans hat da einen Tag lang V-Mann gespielt, den Treuherzigkeits-Spitzel, den Undercover-Agenten. Jetzt, am Ende seines Weges, hat er die Nase voll undsteigt aus. Er hat den Kapitalismus als eine gewaltige Loge 2entlarvt, als kriminelle Vereinigung... Klar, daß das niemandwahrhaben will und Leute wie Professor Brockes sich inideologischen Schleiertänzen üben...«

Wir haben der Suada ihren tollen Lauf gelassen und dieZwischenrufe nicht verzeichnet, haben nicht einmalunterbrochen, als die ersten Masselbrunner kopfschüttelnd denSaal verließen. Aber daß jetzt Lucian Brockes ein »Wahnsinnigkomisch!« in die Versammlung ruft und gleich darauf einschärferes »Wahnsinn!« können wir nicht mehr überhören.

Denn in der Tat hatte es einen leichten Anschein von Irresein,wie der junge Gelehrte seine Anschuldigungen vortrug:geradezu beschwingt und um so heiterer, je wilder sie wurden.Er schien sich über seinen Furor zu amüsieren. Er hatte dieStirn, die ungeheuerlichsten Sachen zu sagen; nur das Gesichtdazu hatte er nicht: es war das eines kecken Bürschchens, dassich über die Streiche, die es ausheckt, kindisch freut.

Stengelin adressierte jetzt seine Belustigung direkt ansPublikum, dessen empörte Zurufe ihm wie die Stimmen einesOrchesters schienen, das er dirigierte: Ja, was höre er denn da, erhabe wohl auch lauter Hans im Glücks vor sich, lauter Leute, dienicht wahrhaben wollten, daß auch sie tagtäglich beschissenwürden, denn natürlich unterstelle er niemandem selber zu bescheißen.

»Sie merken es nicht einmal, genau wie Hans es nicht merkt.Sie befinden sich wohl dabei, wie Hans sich wohlbefindet. Sie

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sind glücklich, genau wie Hans. Das klassische Phänomen, dassagten schon die alten Lateiner: mundus vult decipi. Sie will es,Sie wünscht es sich. Klar will die Welt betrogen sein. Aber der

umgekehrte Spruch gilt ebenso: mundus vult decipere. Die Welt,die andere Welt, die Halbwelt, die nicht wir sind, die will unsdauernd verarschen.«

»So wie Sie uns jetzt, Stengelin!« rief Brockes, nun docherregt.

»Aber die Zeitungen! Selbst in Masselbrunn liest man dochZeitungen. Sie haben doch selbst welche mitgebracht. Schauen

Sie doch hinein! Verhaftungen von Managern, Selbstmorde,Betrugsverfahren, wohin man blickt, Korruptionsfälle noch undnoch, Konkursmauschelein, Insider-Intrigen, Schneider-Affären,und wenn ich recht lese, ist sogar der große Herr Zinckhan, demSie gestern noch andächtig gelauscht haben, plötzlich insZwielicht geraten. Und da werden Sie immer noch nicht wach?Da werden Sie immer noch nicht schlau aus diesem Märchen?Da lassen Sie sich diesen Stuß vom Volkseigentum verkaufen?

Jawohl, auch mir fällt Karl Marx dazu ein, denn das Märchen istnichts anderes als eine Kurzfassung seiner großen Polemik mitdem Titel ›Das Kapital‹.«

Aber wie er so dastand, der junge Gelehrte Stengelin, undübers ganze Gesicht grinste, glich er selbst einem Hans imGlück, der eben alle Sympathien verspielt hatte.

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Es kommt noch besser

Zweimal Karl Marx, das wird man verstehen, war für dieMasselbrunner zuviel, noch dazu am Vormittag. Sie wolltenhinaus, ins Freie, ja in die Freiheit. Und machten gleich wiederkehrt oder blieben vorläufig stehen, weil wieder die ernste,etwas heisere Stimme erklang, die schon gestern nachmittag sowunderbar für Hans im Glück gesprochen hatte. Aber nicht

deswegen eigentlich wurde man gebremst, sondern weil es sichherumgesprochen hatte, daß der amerikanische Professor amAbend vorher überfallen worden war, vermutlich von dieserEichbaum-Bande, die der verrückte Borchert losschickte; aberdie Masselbrunner rechneten es dem fremden Gelehrten hochan, daß er es, als man ihn aufgefunden und ins Hotel gebrachthatte, ablehnte, die Polizei zu benachrichtigen. Dem Mann warman irgendwie Respekt und Aufmerksamkeit schuldig. Das blaue Auge hatte er diskret mit einer Sonnenbrille verdeckt.Sehr anständig.

Nein, ans Podium wolle er nicht, er werde sich kurz fassen.Wunderschön sei das doch gewesen, eben, die beidenInterpretationsträume über Marx, den bösen und den guten.Aber am besten habe ihm, Singer, nicht irgendeine These,sondern das Datum gefallen: der 23. April 1818. Verdienstvoll

von Herrn Brockes, das beizusteuern, er selbst ha be es nichtgekannt. Aber falsch sei und ganz irrig, es irgendwie mit Marxin Verbindung zu bringen, nur weil der ein paar Tage spätergeboren sei: Der Weltgeist stelle keine Horoskope und machekeine so abenteuerlichen Voraussagen. Nein, der Schlüssel liegedoch viel näher und zwar so nah, daß beide Variationskünstlerso daran vorbeiparaphrasierten wie der Hase beim Wettlauf mitdem Igel...

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»Hase und Igel, Hase und Hegel«, sagte Singer. »Hans imGlück, liebe Freunde, ist reinster Hegel, so sehr, daß man sagenkann: Hans ist Hegel und Hegel Hans. Hans ist die

personifizierte Phänomenologie des Geistes. Das Märchen ihreQuintessenz.«Singer, ehe er fortfuhr, machte ein paar schnelle Schritte nach

vorn. Er spürte die Ungeduld und wollte die Leute bannen. »Garkein Problem: es ist doch alles überaus plausibel: Da ist derHerr, da ist der Knecht Hans. Dieses Verhältnis müssen wir begreifen, wenn wir alles weitere verstehen wollen. Beide, Herrund Knecht, sind am Anfang noch nicht wirklich sie selbst, sindkeine wahrhaft geschichtlichen Wesen. Dann aber läßt der Herrunsern Hans für sich arbeiten. Und diese Arbeit wird nunentscheidend. Hans verändert durch seine Arbeit - von der wir Näheres nicht wissen die vorhandene Welt, bestellt sie, er richtetwas aus. Er verwandelt die Welt, und er wandelt sich dadurchselbst. Weil er es ist, der die Verwandlung bewirkt, ist er esauch, der selbst seine eigene Verwandlung geleistet hat,

während der Herr sich nur durch seinen Knecht, unsern Hans,wandeln kann.«Man begann wieder nach draußen zu drängen; die

Versammlung begann zu bröckeln. Singer wurde beschwörender.

»Aber jetzt wird es doch gerade spannend. Denn: weil derKnecht sich durch seine Arbeit gewandelt hat, kann er aufhören

Knecht zu sein. Genau da fängt unser Märchen an. Ihr Märchen!Herr, meine Zeit ist herum. Das ist nicht nur die Individualzeit,das ist geschichtliche Zeit! Eine neue Epoche bricht an. Einneuer Akt der Weltgeschichte! Ein neuer Mensch, derfreigewordene. Aber der Herr, unverwandelt wie er ist, begreiftdas neue Verhältnis noch nicht. Er belohnt ihn nachHerrenweise. Er zahlt ihn aus. Das Gold symbolisiert das alteHerrund-Knecht-Verhältnis. Das doch nicht mehr gilt. Das die

Freiheit niederzuziehen droht wie eine Fessel.«-125

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»Aber Hans selbst verlangt doch seine Bezahlung: Herr, gebtmir meinen Lohn!« rief die Märchenerzählerin unwillig.

»Ertappt!« sagte Professor geradezu hochgemut, »da habenSie uns fürs erste ertappt, nicht so sehr mich, als diesenfreigewordenen Hans. Das Verlangen nach dem Lohn ist einletzter Reflex seiner Knechtsexistenz. Und deren Reste schüttelter eben auf dem Heimweg ab. Denn da wiederholt sich derEmanzipationsprozess der sieben Jahre in der Verwandlung desGoldes, im Abstreifen der Fessel, in der Tilgung des Lohnsdurch die Freiheit. Die sieben Jahre sind vor diesem Märchenwie ein Tag, die Freiheitsbewegung läuft im Zeitraffer ab, selbstaber an den Steinen klebt noch etwas von dem Herren-Gold,dem Knechtungs-Gold, und deshalb müssen auch sie in derVersenkung verschwinden. Denn was Hans als sein Glück bejubelt, ist in der Tat stets ein Zugewinn an Freiheit, an persönlicher Entfaltung, an Spielraum, anZusichselbstkommen.«

Mehr davon wollte das Auditorium nun aber selbst mit

Rücksicht auf ein blaues Auge nicht hören: Es drängte selbstnach Freiheit, persönlicher Entfaltung und Spielraum, es drängtehinaus, weg von den Wörtern, ins Wochenende, Basta.

Singer winkte resigniert ab. «Aber es ist doch die Krönung fürIhren Hans. Deshalb hält er sich doch für ein Sonntagskind! Siehaben da einen wirklichen Glücksgriff getan! Sie wissen garnicht, wie nahe sie der Weltgeschichte sind!«

»Gleich wird er Hans im Glück mit Napoleon vergleichen, derhat ja auch für Hegel Modell gestanden«, rief Lucian Brockesdazwischen, »und hatte am Ende gar nichts mehr.«

Da hielt es Hergesell, den Kabarettisten, nicht länger aufseinem Sitz. Er bahnte sich durch die Hinausdrängendenziemlich rücksichtslos einen Weg und stand alsbald lässig vornan der Rampe. Abermals kam der Exodus ins Stocken. DennHergesell kannte man vom Fernsehen, man schätzte ihn nicht

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unbedingt, aber immerhin, wenn einer im Fernsehen ist undgleichzeitig in Masselbrunn, dann ist man doch selber irgendwielive dabei: so einen will man sich nicht entgehen lassen. Auch

wenn er meist über die Regierung herzieht.Hergesell beschrieb mit den Armen einen großen Kreis.

»Lauter Luftballons«, sagte er, »der letzte war der Beste. Bla,Bla, Blasebalg. Jetzt mache ich den Spielverderber und stechesie kaputt. Es gibt nur eine Wahrheit über Hans im Glück, unddas ist sein Name. Sein Schicksal ist nicht das Volkseigentum,nicht der Kapitalismus, nicht der Weltgeist, sein Schicksal ist,daß er Hans heißt. Wer Hans heißt, ist der Dumme. AlleSchußligkeit der Welt wird auf den Hansen abgeladen. DerHans, der kann's - eben nicht.«

Eigentlich konnte man von einem Kabarettisten mehrerwarten. Der machte es ja fast noch schlimmer. Jeder, der nichtgerade selber Hans hieß, mußte an einen denken, der diesen Namen trug.

Und überlegte, ob es nicht sogar stimmte? War da nicht wasWahres dran?

»Höchste Zeit, Sie alle mal bekanntzumachen mit den Namensvettern unseres Hans, mit Hans Arsch, Hans Aff, HansDaps, Hans Hagel, Hans Hasel, Hans Mist, Hans Ochs, Hans Nimmersatt, Hans Pompsack, Hans Supp, Hans tapp ins Mus,Hans um und um, Hans Wurm, Hans Ungelenk, Hans untendurch und Hans obenauf, Hans dahinten und Hans davorn, Hans

Guck in die Luft und Hans Hasenfuß, Hans Unvernunft, HansHänselein und Hans Gänselein, Hans Eselein und Hans armesSchwein, Hans Dampf in allen Gassen, und ich frage Sie,erlauchte Festversammlung, Lokalmatadoren und Weltgeister,wie kann ein Mensch auf die Idee kommen, dem Hans einePhänomenologie anzuhängen, ein Schicksal aufzubürden, eineIdeologie zu stiften; dir, du Musterknabe des Nonsense, duKnetmasse der Idiotie, du hirnrissige Nomenklatura, du Mythosder Albernheit, du Amoklauf des Absurden, du Denkmal des

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Versagens, du, na wer bietet mehr? Natürlich unser großerDichter, unser Wortführer und Verskünstler:

Hans Adam war ein Erdenkloß,Den Gott zum Menschen machte,Doch bracht er aus der Mutter Schoß Noch vieles Ungeschlachte...

Na, und aus dem Ungeschlachten hat man dann die berühmte

Hanswurst gemacht, capito?Bitte keine Standing ovations, la òla genügt, aber wasHänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr, und wenn dasalles nicht wahr ist, will ich Hans heißen, Hans Hergesell, wieich auch heiße. Und kraft meines Namens erkläre ich: Laßt denHans im Glück in Ruh, der ist doch alles zusammen das, was ersich im Märchen eintauscht: ein klappriger Gaul, eine dummeKuh, ein armes Schwein, eine blöde Gans und ein Stein desAnstoßes.«

»Aber das ist ja fabelhaft!« rief eine Frauenstimme in denallgemeinen Aufbruch hinein. Die strafenden Blicke der Leuterichteten sich auf einen Platz in der letzten Reihe.

Dort saß die Fürstin.

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Heim zu den Müttern

Es war nicht gerade ein geheimer Zirkel, aber einKaffeekränzchen war es auch nicht: die Frauen hatten sich zugemeinsamer Aktion verabredet. Nicht, als ob man mit Plakatendurch Masselbrunn gezogen wäre (obwohl Vorschläge wie»Keine Macht den Märchen-Machos« oder »Heim zu denMüttern!« zumindest spaßeshalber diskutiert wurden); aber die

Art, wie am späten Vormittag die einheimischen Damen, allenvoran die Frau des Bürgermeisters und eine Redakteurin desKreisblatts die Picknickkörbe packten, hatte neben derFürsorglichkeit auch etwas Konspiratives.

Mit von der Landpartie waren auch alle namhaftenTeilnehmerinnen an der Tagung, Frau Filera-Stüada, Frau vonder Mühlen, und natürlich hatte sich auch die Moderatorinangeschlossen, als sie merkte, daß da irgend etwas »im Busch«war. In drei Wagen fuhr man einige Kilometer in die Landschafthinein und landete unter den Bäumen des Lindenhofes, woschon der Rauch eines Gartengrills über die kariertenTischtücher zog. Hier rückte man, in Amazonenlaune, ein paarTische zusammen, ehe auch nur der Kellner hätte helfen oderEinspruch erheben können, und packte dann ungeniert dieLeckereien aus: auf die Spezialität des Hauses, geräucherte

Forellen, würde man ohnehin noch etwas warten müssen.Die Standarte aber, um die man sich versammelt hatte, warzunächst nichts als ein rotes Tuch, ein schlimmes Wort, dieÄrgerlichkeit des Begriffs Muttersöhnchen. Zehnmal, so hatteFrau von der Mühlen es abgehakt, war auf der Tagung die Redevon Hans als einem Muttersöhnchen gewesen, zehnmal zuviel,wie sie sagte und wie alle anderen fanden, und nun wollte manes den Herren heimzahlen. Vor allem Frau von der Mühlen, die

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ja über die Frau im Märchen gearbeitet hatte, fand, man müsseeinen ganz neuen Ansatz finden, keinen feministischen, abereinen überzeugend weiblichen, mütterlichen. Der ganze

Interpretationsgestus der Herren sei doch Kinderkram imschlechten Sinne: so hätten sie sich früher im Sandkasten dieFörmchen aus den Händen gerissen. Gerade die von ihnen, dieam bösesten über die Märchenfigur hergefallen seien, wären ihrdoch am nächsten in ihrer besinnungslosen Selbstverliebtheit.Mancher komme ihr vor, als habe er sich von derKinderschaukel direkt zur Hermeneutik aufgeschwungen.

Besinnungslose Selbstverliebtheit wollte der Moderatorinnicht gefallen: das sei doch auch schon wieder so ein schnöderMänner-Terminus. Ob man nicht lieber mal die Frage klärenkönnte: Wenn Hans so unbedingt heimwolle zu seiner Mutter was das denn für eine Frau sei? Wie liebevoll müsse sie sein,daß sein erster Weg nach sieben Jahren zu ihr führe? Oder wiedominant?

Oder aber, wandte die Bürgermeisterin ein, was müsse die für

Nerven haben, daß sie ihren Sohn für sieben Jahre weggeschickthabe, ins Unbekannte, zu fremden Leuten? Was für ein Gemüt,ihren Kleinen einfach so ziehen zu lassen, auf gut Glück?

»Man müßte vielleicht noch einfacher drangehen«, sagte die junge Redakteurin vom Kreisblatt, »so simpel, wie wir Reporterfragen, wenn wir irgend eine Familiengeschichte rauskriegenwollen. Zum Beispiel: ist sie Witwe? War sie es schon, als Hans

vor sieben Jahren loszog? Ist sie arm?«Das war ein greifbares Stichwort für Frau Löhr »Sehr armsogar. Irgendwie stelle ich sie mir als die Ärmste im Dorf vor.Gerad, weil sie ganz allein auf sich gestellt ist.« Frau Löhr hattesich zu dem Ausflug mehr oder minder selbst eingeladen, indemsie resolut zur Frau des Bürgermeisters ins Auto gestiegen war.(»Gell, für mich ist doch auch noch ein Plätzchen?«)

Noch vor den Forellen befand sich die Damenriege im

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lebhaftesten Gedankenaustausch.»Rüstig muß sie gewesen sein, denn sie mußte sich ja selbst

versorgen. Hans konnte ihr nichts zukommen lassen. Er wurdedoch erst am Ende entlohnt.«

»Aber warum hat sie sich überhaupt auf so ein Arrangementeingelassen? Sieben Jahre!«

»Vermutlich, weil sie so feine Vokabeln wie Arrangement garnicht kannte, und überleben mußte, und das ging einfacherallein. «

»Oder sie war auf das Fortkommen des Sohnes eher bedachtals auf ihren eigenen Vorteil. Für sich wollte sie schon garnichts.«

»Aber sieben Jahre, bedenken Sie! Eine kleine Ewigkeit. Dawird ein Junge zum Mann, und eine Frau kann zur Greisinwerden.«

»Oder sich kaputt rackern. Verkümmern. Sterben.«»Aber gestorben ist sie doch nicht, sonst würde Hans sich

nicht so wohlgemut auf den Weg machen.«»Also muß es doch Kontakte gegeben haben, immer wieder,

in all der Zeit?«»Sie meinen: Kommt ein Vogel geflogen, von der Mutter

einen Gruß?«»Pardon, aber das ist doch albern. Natürlich kann die Frau

nicht schreiben. Aber Leute aus dem Dorf gab's, die in die Stadtkamen und dem Hans ein Lebenszeichen brachten. Oder ein paar Nüsse. Oder ein Glas Pflaumenmus. Oder warme Socken.Denn stricken konnte sie ja bestimmt.«

»Also die Mutter lebt. Wird sieben lange Jahre älter, aber sielebt. Ihre Tage sind keineswegs gezählt, aber sie zählt die ihresSohnes. Oder reißt Kalenderblätter ab.«

»Kalenderblätter wäre was für reiche Bauern, feine Leute.

Kann sie sich gar nicht leisten. Macht vielleicht Kerben in die-132

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Truhe.«»Ach was, sie hat es im Gefühl. Was ist das für eine Mutter,

die das nicht im Gefühl hätte.« (Das war, sehr entschieden, dieMärchenerzählerin.)

»Sie meinen vollautomatische Telepathie?« fragte die kleineRedakteurin ein wenig frech. »Nein, das funktioniert anders,dazu steht doch bei uns noch die Kirche im Dorf. Sagen wirErntedankfest. Oder Michaelis. Ein Tag, den man sich merkenkann. Den man ohnehin runterbetet, jedes Jahr.«

»Aber Hans kommt doch grad nicht an einem Festtag. Dazu

ist doch viel zu viel Betrieb auf seinem Heimweg.«»Na, dann der Tag davor, der Tag danach. Samstag vor

Michaelis. Ist doch egal. Jedenfalls: die Mutter weiß mühelosBescheid, nicht, weil sie Mutter ist, sondern weil sie in dieKirche geht.«

»Vielleicht, wenn der Pfarrer zum siebenten Mal dasGleichnis vom Verlorenen Sohn drannimmt?« (Das war,

ironisch, die Moderatorin.)»Dabei denkt die Mutter gewiß nicht an ihn: für sie ist er dasgenaue Gegenteil.«

»Das ist doch überhaupt der Punkt: was erwartet sie von ihm,wie denkt sie sich seine Heimkehr?«

»Sie will nur, daß er heimkommt. Das ist ihr schönstesGeschenk. Wie, ist ihr egal.« (Frau Filera)

»Um Gottes willen, nein, wollen wir sie für so beschränkthalten?« (Frau von der Mühlen)»Was heißt hier beschränkt? Sie ist doch keine geld- und

goldgierige alte Hexe.« (Frau Löhr, eifrig.)»Nein, aber auch keine blöde Kuh. Sie weiß, gerade als arme

Tagelöhnerin, was sieben Jahre wert sind. Vielleicht hat sie dochselbst am Anfang den Preis ausgemacht. Vielleicht war das

sogar ihre schlaue Idee: Geben Sie ihm bloß zwischendurch-133

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nichts, sondern den ganzen Batzen am Schluß; dann will ichschon die Finger draufhaben.« (Frau von der Mühlen)

»In jedem Fall will sie sich doch überraschen lassen. SiebenJahre sind doch nicht für nichts. Da summiert sich nicht nur derLohn, da wachsen auch die Erwartungen. Muttergefühle wollenschließlich auch Kasse machen, nach dem Motto: Das hat meinSohn geleistet, das hat er verdient, das bringt er heim.« Das wardie dezidierte Meinung der Moderatorin.

Frau Filera-Stüada konnte ihr nicht folgen: »Aber daß erkommt, ist doch ihr größtes Geschenk. Daß er zu ihr kommt.«

»Nicht mit leeren Händen«, sagte nun auch dieBürgermeisterin, »leere Hände wären das Schlimmste, was erihr antun könnte. Mütter stellen auch Ansprüche.«

»Sehr richtig«, griff Frau von der Mühlen geradezu prinzipiellein, selbst die bescheidenste Mutter denkt sich doch was aus.Erhofft sich doch was. Wünscht vielleicht, daß ihr Sohn einChef wird, ein Anführer, ein Soldat, ein Schöpfer. Daß er derErde seinen Willen aufzwingt. Daß er ihr alles zu Füßen legt:die Häuser, die sie nicht gebaut hat, die fremden Länder, die sienicht erforscht hat, die Bücher, die sie nicht gelesen hat. Überihn, durch ihn, will sie die Welt besitzen, unter der Bedingung,daß sie ihren Sohn besitzt.«

Alle sahen die Sprecherin an, konsterniert, aber beeindruckt.Wo hatte sie das her?

»Na, das war ja geradezu druckreif«, bemerkte dieFernsehdame nicht ohne Neid.

»Ist auch gedruckt.«»Von Ihnen?« fragte die Redakteurin des Kreisblatts.»Leider nicht. Simone de Beauvoir.«»Ach, gehen Sie mir mit dem Luder«, schnappte die

Märchenerzählerin. »So eine hat doch gar nicht verdient, Frauzu sein.«

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»Wollen Sie uns etwa alle für dumm verkaufen?« erwiderteFrau von der Mühlen. Die Frage war ganz deutlich nicht vonSimone de Beauvoir.

Die leichte Verstimmung wurde aber von der nichtsahnendenFrau Löhr verscheucht. »Sehen Sie mich an«, sagte sie, »ich bindoch auch nur eine einfache Frau, auch wenn ich jetzt dasMuseum habe, aber mein Sohn ist im diplomatischen Dienst,und das ist ein wunderbares Gefühl, einen solchen Sohn zuhaben, diplomatischer Dienst, Auswärtiges Amt, das hätte ichnie gedacht, als er früher in die Hosen machte, daß er mal beimAA landen würde, das ist Balsam für ein Mutterherz, und ichdenke mir, die Mutter von diesem Hans, die wäre doch auchgern stolz, es gibt doch gar keine Mutter, die nicht gern stolz ist,wir Mütter leben doch nur in unsern Kindern, und in unsernSöhnen besonders... ich weiß nicht, ob Sie alle Kinder haben,aber wenn sie Kinder hätten und die wären im diplomatischenDienst...«

»Hans war bestimmt nicht im diplomatischen Dienst, und Ihr

Sohn, Frau Löhr, seien Sie doch mal ehrlich, doch auch nicht,der ist doch Fahrer, Chauffeur, oder so was, der macht dochkeine Politik!«

Diesmal rettete die Märchenforscherin: »Für Hansens Mutterwar sein Dienst auch diplomatisch, auch was ganz großes,weltbewegendes, und deshalb ist unsere Frau... Löhr hier diekompetenteste von uns allen, und ihr Urteil zählt am meisten.«

»Mein Sohn, der nämlich doch im diplomatischen Dienst ist, bringt immer was mit. Natürlich kein Gold, oder sowas. Aberschöne Sachen. Er kommt ja viel rum, in seiner Mission.Wolldecken und Kristall, oder Kaviar, oder auch mal einenguten Tropfen, je nachdem, wo er ist, jetzt ist er ja im Norden,aber wie er in Indien war, das hätten sie sehen sollen, was er daangeschleppt hat, tolle Ledersachen, hat nur so furchtbargestunken, ich mußt's weggeben.«

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»Also ich«, unterbrach Frau Güttler-Fahrenholz etwasgenervt, »ich habe zwar keine Kinder, aber das kann ich Ihnenmit Bestimmtheit sagen: den Kerl würde ich rausschmeißen; ob

er mein Sohn ist oder nicht, Mutterherz hin oder her, der kämemir nicht ins Haus nach sieben Jahren, hoppla, da bin ich, abermitgebracht habe ich dir nichts, weißt du, ich hatte keine Lustmich abzuschleppen. Raus! würde ich schreien, ich habe dochkeine n Nichtsnutz großgezogen, ein Klumpen Gold warabgemacht nach sieben Jahren - hast du den etwa verschusselt?Wenn er dann mit seiner Geschichte rauskäme, na ich scheuchteihn mit dem Reiserbesen aus der Tür, so haben wir nichtgewettet, ich bin doch die Mutter eines Dummerjans nicht,sieben Jahre für nichts, all die Sorgen für nichts, all dieWünsche für nichts, all die Entbehrungen für nichts, all dasBücken und Buckeln für nichts. Ich darf mir das gar nichtvorstellen« (aber sie stellte es sich immer deutlicher vor), »ichwäre toll vor Wut, schriee ihm sein Versagen nach, trommeltedas Dorf zusammen, kommt her, kommt her, Leute, Nachbarn,

seht, wie meine Brut die Mutter höhnt, den undankbarenBastard, der Hab und Gut verplempert wie sein Vater - denn vondiesem Vater schweigt ja das Märchen aus gutem Grund - helftmir, Leute, ihn zu verjagen, hinauszutreiben, abzutreiben...« Jähhielt sie inne nach dem Anfall.

»Ach daher weht der Wind«, sagte Frau Filera-Stüada miteinem kritischen Blick auf die Fernsehdame. »Sie hätten gernein Kind gehabt, und Sie hätten es beinah auch gehabt. Aberwenn Sie es wirklich hätten, könnten Sie nicht so fatales Zeugreden. Muttergefühle - die kann man nicht zusammenfabulieren,sich im Geist vorstellen, die sind Natur, die sind Wildnis, diesitzen auch nicht im Kopf, nicht mal im Herzen, die sitzen imSchoß, da wo wir sie empfangen haben, und wir spüren, daß siedorthin zurückwollen, ihr Leben lang...

»Der Mutterschoß istdoch eine Einbahnstraße«, zitierte Frau

von der Mühlen aus einem ihrer Bücher, aber sie hatte keine-136

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natürlich freue, daß er heimkomme, müsse sie sich doch auchsagen, daß er bei ihr keine rechte Zukunft habe, daß ein jungerMann eine Frau brauche, eine andere Frau als die eigene Mutter,

nicht wahr?»Wissen Sie, was ich glaube? Daß der Hans seine ganze

Geschichte nur flunkert, daß er sich etwas ausgedacht hat fürseine Mutter, etwas möglichst Ungeschicktes, damit sie's ihmabnimmt. Damit sie es glaubt.« Es war die Redakteurin vomKreisblatt.

»Aber er erzählt sie doch gar nicht selbst«, rügte Frau von der

Mühlen, und zum erstenmal nickte Frau Filera beifällig.Die junge Journalistin war nicht eingeschüchtert. »Aber wirspielen die Sache doch durch, als wäre sie irgendwo passiert.Dann könnte doch der, der sie erzählt, das nur von Hans selberwissen.«

»Aber ein bißchen was Gescheiteres hätte er sich docheinfallen lassen können. Wo er nicht so dumm dasteht.« Dasmeinte die Bürgermeisterin.

»Nein, solche Übertölpelungen kennt die Mutter am bestenaus den vielen anderen Märchen, wo einer übers Ohr gehauenwird. So was glaubt sie am ehesten.«

»Und warum sollte er sich überhaupt etwas ausdenken?«fragte die Märchenerzählerin ungnädig.

»Weil er vielleicht nie einen Goldklumpen besessen hat. Weiler die Mutter und uns alle auf die falsche Spur locken will.«

»Das ist doch hanebüchen!«»Ich meine: wo sitzt man denn zum Beispiel sieben Jahre fest,

und bekommt am Ende so gut wie nichts?«»Sie sprechen in Rätseln«, sagte Frau von der Mühlen.»Na, wann sagt man denn, daß einer sitzt?« fragte die kleine

Journalistin frech.

Frau Güttler-Fahrenholz hatte als erste begriffen: »Sie-138

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meinen: Hans ist ein Knasti?«»Im Gefängnis die sieben Jahre?« fragte die Bürgermeisterin

ungläubig nach.»Also, von Märchen verstehen Sie wirklich nichts«, sagte

Frau von der Mühlen. Frau Filera schüttelte nur den Kopf.»Was sollte er denn verbrochen haben?« fragte Frau Löhr

ganz praktisch und rührte mit einem Kartoffelschnitz in derroten Soße herum. »Das ist doch ein so guter Junge!«

»Vielleicht gerade deshalb«, sagte die Redakteurin mit ihrerländlichen Erfahrung. »Viehdiebstahl. Oder Wilderei. Einfachaus Not. Damit sie was zu essen haben. Das würde auch seineAngst erklären, als er hört, das Schwein sei womöglichgestohlen. Heute klaut man zwar nicht mehr Schweine bei unsauf dem Land, aber sonst alles von der Box übers Moped biszum Gabelstapler. Aber wehe, einer wird mit solchem Zeugserwischt. Bloß nicht in Teufels Küche kommen.«

»Aber sieben Jahre! Das müßte doch was Schlimmeres

gewesen sein. Nicht gerade ein Mord, aber Totschlag oder soetwas.« Die Bürgermeisterin stieg also mit ein.Frau Filera-Stüada reagierte heftig: »Das ist doch Unsinn. Das

ist frevelhaft. Der liebe Hans. Das verbitte ich mir!«»Nur als phantastische Hypothek, verehrte Künstlerin«,

beeilte sich Frau von der Mühlen zu vermitteln.Aber jetzt sah die Fernsehdame ihre boshafte Chance; zu sehr

war sie vorhin von der alten Dame gekränkt worden. »Vielleichthat er ja seinen Vater umgebracht. Vielleicht war das einTrunkenbold, der seine Frau geprügelt hat und das Kind auch,und als das Kind groß und stark war, hat es die Mutter zu rächen beschlossen. Und da kommt eines Abends der Mann wiedereinmal im Rausch heim und schlägt die Mutter zu Boden oderwas weiß ich, und da kommt der neue starke Hans ihr zu Hilfe,reißt den Vater weg, will ihn gar nicht umbringen, nur

dazwischen gehen, und da kippt der Alte aus den Latschen,-139

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schlägt unglücklich auf, und weg ist er!«»Sie vom Fernsehen haben aber wirklich eine ramponierte

Phantasie«, sagte Frau von der Mühlen, »irgendwie muß Ihnender Reinecker auf den Geist gegangen sein oder wie dieLeichenbitter sonst heißen. So kann man natürlich weder miteinem Märchen noch mit der Realität umspringen. Das isteinfach kalter Kaffee.«

»Ich würde das meinem Sohn zutrauen«, sagte Frau Löhrstolz.

»Sie sind ja alle verrückt geworden. Ich sitze ja unter lauter

Furien!« rief die Märchenerzählerin, sprang von ihremGartenstuhl auf, warf die Serviette hin und blickte wild voneiner zu andern. Sie war ganz bleich geworden, und die Frau desBürgermeisters, die neben ihr saß, rückte erschreckt ein wenig beiseite. Es sah so aus, als könne man der alten Dame alleszutrauen.

Aber dann geschah etwas Rührendes, das nicht mindererschreckend war. Sie griff haltsuc hend nach dem Tisch,krümmte sich wie in innerem Schmerz, sackte in sich zusammenund fiel wieder in ihren Stuhl. Nicht ohnmächtig, beileibe nicht.Sondern irgendwie besänftigt, gebrochen, weich. Und weinend.

»Woher wissen Sie denn? Es ist doch schon so lange her, ichhabe es selbst fast vergessen. Mein eigener Sohn. Ein bißchen sofing es an, wie Sie vermuten, aber dann kam es anders. Es war Notwehr, ich schwör es. Aber das Gericht hat uns nicht

geglaubt. Er hat wirklich sieben Jahre sitzen müssen, und als erwiederkam - ja, er kam heim zu seiner Mutter - da wollte er nurnoch sterben. Er mußte sterben. Die sieben Jahre waren garnicht das Schlimmste, aber diese schreckliche Krankheit. Diehat er sich da geholt. Mein Bastian, Gott hab ihn selig.«

»Aber ich hatte doch keine Ahnung«, stammelte dieModeratorin, »ich hab doch nur ein bißchen gesponnen, dasmüssen Sie mir glauben, Sie alle.«

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»Sie sind eine wunderbare Frau«, sagte Frau von der Mühlenzur Märchenerzählerin, »keiner von uns wollte Ihnen zu nahetreten.«

»Mein Sohn würde das auch für seine Mutter tun«, bekräftigteFrau Löhr, und auf einmal brach die ganze Runde in diesolidarischsten Tränen aus.

Bei der Fernsehdame sollten sie sich gleich darauf in Tränender Wut verwandeln. In ihrer hellbraunen Etuitasche piepste es,und sie brachte, zur Verblüffung der anderen, ein Handy zumVorschein und führte, nein: sie erlitt, ein kurzes Telefonat mit

lauter »Wie bitte!«, »Sagen Sie das noch mal!«, »Das darf dochnicht wahr sein!« und anderen Ausdrücken eines zornigen, aberhilflosen Protestes. Dann rief sie noch ein »Ihr Schweine!« indie schon tote Leitung, als Ersatz dafür, daß man bei einemHandy den Hörer nicht hinknallen kann.

Als die Frauen sie fragend und teilnahmsvoll anstarrten, sagtesie, wütend, weinend: »Männer! Männer! Männer! Sieht so aus,als wäre ich meinen Job los.«

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Kindervorstellung

Wir halten uns besser die Ohren zu: Nichts gibt so sehr denEindruck babylonischer Sprachverwirrung wie die Minuten voreinem Kindertheater. Urschreie und Schrillschrullen, Zeter undMordio, Johlen, Jauchzen, Jubeljuchzer, Flickenteppich ausSatzfetzen: Mein Platz, Mama, verschwinde hier, hau ab, weg damit deinem Pferdeschwanz, Aua, er ziept mich, Blödmann,

selber blöd, na und spricht der Hund, kann nichts sehen, bistsowieso blind, verschwinde, oder ich mach dich kalt, ich dichauch, kriegst gleich einen auf Rübe, Fresse, Nase, - und wehe,wenn die Kinderzappeligkeit sich fortsetzt in Eingriffen derMütter, in Schutzmaßnahmen oder Vorwärtsverteidigungen fürdie lieben Kleinen, die weder so lieb noch so klein sind! Sodramatisch kann es im Spiel gar nicht zugehen wie in denMomenten davor, und kein kasperlendes Durcheinander gleichtdem Gewusel der Zwerge in den Sitzreihen, auf denen keinersitzenbleibt.

Aber schon geht es los und der Vorhang auf, und dahinterwird ein zweiter sichtbar, auf dem in geschwungenerSchreibschrift steht:

Das tolle Stück von Hans im Glück

Die Puppenspielerin hatte es in letzter Minute, mit letzterFassung hingeschrieben, nachdem feststand, daß sie doch nichtverbannt war. Daß sie spielen dürfte, spielen mußte. Ohne zuwissen, ob sie überhaupt noch konnte. Nach all dem Hin undHer. Nach dem wildgewordenen Bürgermeister. Nach demPacken ihrer Sachen und dem Wiederauspacken. Nach der Wut

und den Tränen. Nach dem Hohn der Leute, denen sie begegnet-142

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war. Nach der Leere, die aus ihrem Inneren aufstieg. Nein, diehielt immer noch an. Im Schloßhof zu spielen war doch wie eineweitere Demütigung. Und wie sollte es denn klappen, wenn

keiner da war, ihr zu helfen? Wenn »er« nicht da war?Wenn sie gar nicht mehr spielen wollte? Wenn das Spiel

keinen Sinn mehr machte, weil das Leben auch keinen mehrhatte? Es war, als hätte sich gestern ein Vorhang aufgetan, eingrößerer, als sie ihn zu öffnen gewohnt war, ein Vorhang, hinterdem es kein Puppenspiel gab und kein Theater, sondern so etwaswie eine Naturkatastrophe, Erdrutsch oder Vulkan oder so, nein,eine ungeheuer schöne Landschaft, eine Traumwelt mitten imAlltag - aber als hätte sich der Vorhang, während sie durchgehenwollte, geschlossen und sie eingewickelt und erstickt. Jetzt saßsie da, durfte spielen. Fand es aber nicht mehr wichtig.

Und dann stand auf einmal ihr Beichtvater der vergangenen Nacht neben ihr, klar, der hatte das ja so versprochen. Wollte ihrhelfen. Konnte aber nicht. Hatte zitternde, flatternde Hände.Schwitzte Blut und Wasser. War zappelig wie ein aus dem Bach

gezogener Fisch. Suchte nach Halt.Ob er denn schon wieder so viel getrunken habe? fragte sie

ihn. Nein, eben nicht, das sei ja das Problem. Würde ihr gernhelfen, aber es ginge beim besten Willen nicht. Jedenfalls nichtmit den Puppen. Gut zureden könne er ihr. Gegen Zinker. Dersei das doch gar nicht wert.

Da kam sie aber in Fahrt. Vor allem soll er Herrn Zinckhan

nicht immer Zinker nennen. Außerdem spiele der dochüberhaupt keine Rolle mehr. Null Bock, nix Problemo.Und er setzte ein seltsames »Ach Nixe!« dagegen. Da begriff

sie, daß er auch litt. Sie wischte ihm mit einem Kleenex denSchweiß von der Stirn. »Es geht schon«, ächzte er, und wardrauf und dran, wegzugehen. Sie gab ihm ein paarAnweisungen, ohne sie ernst zu nehmen. »Ihr Zinker übrigens,hat sich geschickter angestellt. Der hat nicht getappert.«

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»Nein«, sagte er, »das tun die nie. Außerdem ist es jetzt unserZinker.« Er tapperte weiter, schweißüberströmt, aber er hieltdurch.

Und seht, wie alles gut geht, wie der Herr sich dicke tut, wieder Goldklumpen glänzt, wie der Hans strahlt und sich denBatzen auflädt; seht, wie ihm der Weg erst leicht und dann langwird und ihm immer mehr an den Beinen hängen bleibt (hier brauchte die Puppenspielerin ihre ganze Kunst); wie Hans schoneine erste, frühe Rast macht, das Gold absetzt und es zu polierenversucht, wie er sich ängstlich umsieht, in sein Publikum hineinfragt, ob auch keine Räuber in der Nähe seien? und wie ihm einaufgeregter Chor »Nein, Hans! geh weiter!« antwortet; und wieer dann mühsam die Kugel sich wieder auf die Schultern stemmtund weiterschlurft und sehnsüchtig vorausschaut; und wie danun der Reiter angeprescht kommt (das heißt: viel preschenkann er nicht, die Bühne ist ja nur zwei Meter breit und weiterals zur Mitte darf er nicht kommen; aber den Eindruck vonLeichtigkeit und Schnelligkeit, und bequemer Sitzgelegenheit

bringt er doch mit) und die Kinder nicht einmal Protest schreien,als der Tausch sich vollzieht - zu sehr nämlich haben sie denKlumpen als Last schon mitempfunden, zu schön und stolz siehtdas Pferd aus; nur ein paar rufen doch, er solle das Goldweitertragen, und möchten ihm am liebsten helfen.

Schon ist der Reitersmann mit Hansens Gold verschwundenund Hans mit seinem Pferd allein, als der schönste Jux beginnt:schaut doch, wie er hochgewirbelt wird, wie er Purzelbäumedreht auf dem bockenden Tier, wie er schräg im Sattel hängt undunter dem Pferdebauch durchdreht (wie macht sie das bloß?),wie er Hilfe! Hilfe! schreit, sich an den Hals klammert undendlich koppheister zu Boden stürzt und seine Glieder befühltund das Pferd zitternd am Rand steht (soll das so sein, odertappert der Helfer noch immer?) und die Kinder in hellerAufregung sind: Hans, steh auf! Mama, ist er tot? Wie sie

aufspringen, und ihm auf die Beine helfen wollen und das Pferd-144

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festhalten und Hans sich beeilen muß und die vielen rettendenHände abwehren und humpelnd sich hochhieven. Wie dalangsam die Kuh hereinschlurft, mit einem langen Seil (denn der

Bauer ist aus technischen Gründen noch nicht sichtbar), und wieHans bei diesem Anblick sich belebt, dehnt, ermuntert, daß alleKinder merken: die Kuh, die müßte er jetzt haben, die wäre dasRichtige für ihn, - und wie der Handel dann über die kleineBühne geht, das Pferd mit dem Bauern davon, und Hans sich amdicken prallen Euter zu schaffen macht und das Wasser denKindern entgegenspritzt, daß das Gejohle kein Erbarmen kennt.

Was aber hat es zu bedeuten, daß nun nicht der Tritt der Kuhkommt und als nächster Tauschpartner der Mann mit demSchwein, sondern daß plötzlich und polternd Hans und Kuhabstürzen, hast du nicht gesehen in der Versenkungverschwinden und einen Lärm machen wie in einem Catcherzelt,während die Geschichte aber immer noch weiter erzählt wird(denn die kommt vom Band)? Und daß erst nach ein paarratlosen Sekunden eine eilige Hand sichtbar wird, die den

Vorhang mehr zureißt als zuzieht, und eine Stimme hörbar, dieunserer Puppenspielerin, die ein forciertes »Kleine Pause!« ruft;was die Kinder nicht weiter krumm nehmen, da sie damit beschäftigt sind, die Spritzer zu trocknen und sich gegenseitigvorzuzeigen, die sie von der lustigen Kuh bekommen haben.Was aber geschieht bloß hinter dem Vorhang? Hört man nicht,über alle Kinderjuchzer hinweg, laute Erwachsenenstimmen, böse Worte, ja Flüche? Hat Beat Loderer also doch schlappgemacht? Alles hingeschmissen? Total versagt?

Wir wagen einen Blick hinter die Kulissen: Da sitzt er, in derTat oder Untat, und hält sich den Rücken, hat dabei, wielächerlich, die Kuh immer noch auf der linken Hand wie einengrotesken Fingerhandschuh. Und da hockt, in sichzusammengesunken, im Schneidersitz, die junge Künstlerin undatmet schwer und sagt Wörter, die zu ihrem hübschen Mund und

unserer bisherigen Beschreibung nicht passen wollen, sagt:-145

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Rambo! Idiot! Berserker! Scheißkerl! und sagt dann, erschöpftgar nichts mehr. Aber starrt dabei finster den Dritten im engenKabuff an, der für uns Unperson ist, denn einem mit

Rastalocken, Bartstoppeln, Ring im rechten Ohr und großerRatlosigkeit im Gesicht sind wir noch nicht begegnet. Aber»Max, du Blödmann!« sagt sie jetzt, und wir reimen uns denRest zusammen.

Daß nämlich Max, der Partner unserer Puppenspielerin,gestern abend nach dem Eifersuchtstelefonat einen Rappel bekam, sich sofort auf die Bahn gesetzt hat, per Othello-Expressgewissermaßen frühmorgens nach Masselbrunn weitergetramptist und in der altbekannten Mischung aus lechzender Sehnsuchtund rasender Eifersucht, aus verletzten Gefühlen undPaschastolz, aus verkorkster Zärtlichkeit und innigstemVorwärtsdrall ins Allerheiligste des kleinen Theaters gestürmtwar, mitten hinein in die laufenden Ereignisse, und erlebenmußte, wie sein Mädchen, seins!, sich mit einem Fremden aufdas Spiel einließ, das allein ihm zustand, und auf eine Nähe, von

der er wußte, wie nahe man sich dabei kam. Und statt sich aufden von allen Künstlern so gern beschworenen Grundsatz: »Theshow must go on« zu besinnen, hatte er blindlingsdazwischengefuhrwerkt, die Vorstellung unterbrochen, denvermeintlichen Widersacher außer Gefecht gesetzt. Aber Max!

Dafür aber wurde er jetzt zum Kasper gemacht, mußte sichdie Narrenmütze über die Hand stülpen und ein Intermezzoimprovisieren, das die außer Rand und Band und Sitzreihengeratenen Kinder allmählich wieder einspann - während diePuppenspielerin sich um den gottlob weder so noch so verletztenLoderer kümmerte, ihm zuflüsterte, wie leid ihr das tue, ihn vonder Kuh befreite, ehe er sich mit ihr den Schweiß von der Stirnwischen konnte, und ihm von seinem Notlager aufhalf. Derschüttelte sich und sagte:

»Zinker hätte es wenigstens verdient - da siehst du, wie er

immer heil davon kommt, während ich für ihn büßen muß.«-146

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»Was, der duzt dich!« rief auf einmal der Kasper nach hinten;natürlich war es Max, der schon wieder nicht an sich haltenkonnte.

Aber da ereilte endlich seinen Hintern der Tritt, der schon seitfünf Minuten im rechten Bein der Puppenspielerin gelauerthatte.

Beat Loderer machte sich sicherheitshalber davon. Zumerstenmal an diesem Tage verspürte er einen nicht mehrquälenden, sondern heiteren Durst. Den mußte er stillen.

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Spurensuche

Was aber ist aus unserer Tagung geworden? Tagt sie noch, oderdämmert sie schon dahin? Ist denn alles gesagt, haben sich dieHänseleien totgelaufen? Hat sich die Fachwelt wiederzurückbegeben an die heimischen Computer, zu den geliebtenFußnoten, zum Regal mit den eigenen Publikationen undSonderdrucken? Denn was kann man für die Karriere mehr tun,

als zur Sache und zu den Widersachern zu reden und dann zumnächsten Auftritt zu eilen, das Weltanschauungsgeplänkel umdie Brüder Grimm zu vergessen und Masselbrunn dazu?

Aber siehe: Das Areal der Walkmühle, seit zwei Tagen vonsoviel Konflikt durchweht, ist auch um diese Stunde, am spätenSamstagnachmittag, noch belebt, das idyllische Quartier duftetnach frischem Kaffee (ein Hoch auf alle Helferinnen!), sogarnach Hefekuchen (der wenig Zuspruch findet), duftet nach Grasvon den nahen Wiesen, nach Moder aus dem Becken desMühlrades, duftet sogar nach dem Rauch einer einsamenZigarre, die der Satiriker Hergesell gegen den Trend in Brandgesetzt hat. Es riecht auch noch ein bißchen nach dem Feuer derletzten Nacht.

Doch eher ist es das Aroma der Sensation, das dieGesellschaft noch beisammen hält, das latent Anrüchige einer

skandalschwangeren Ungewißheit, der Hautgout eines Dramas,das sich irgendwo in der großen Welt zutragen mochte, aberdoch hier, in der kleinen Stadt, sein Zentrum oder immerhinseinen Anfang hatte. Dieses Aroma war natürlich höchstunangemessen bezeichnet worden, als der Bürgermeister früheram Tag die Worte herausstieß: »Es stinkt mir!« und daraufhin inseinem Dienstwagen verschwand, - aber allen andern sticht esauch in die Nase. Sie alle, wie sie da beisammen stehen oder

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Fürstin gefunden hatte, gar mit einer Albernheit, das verstörteden großen Durchblicker doch mehr als sein Sturz in denSchlamm oder das kleinliche Gemecker seines Zöglings

Stengelin.Was machen die vom Fernsehen? Diese attraktive junge Frau?

Die saß doch an der Quelle, brauchte doch nur in der Redaktionanzurufen, abfragen, was über den Ticker der Nachrichtenagenturen käme. Sie war, als sie im Hof derWalkmühle zu den übrigen dazustieß, so feenhaft schön, wie nurganz empörte Frauen aussehen können. Sie war außer sich vonkalter Rage. Sie konnte keineswegs schon Rede und Antwortstehen, denn sie mußte rauchen, in tiefen Zügen, als ob sie alle Nichtraucherkampagnen der letzten Jahre Lügen strafen - oder bestätigen wollte. Sie atmete, wie wenn Atmen eine Folterübungwäre.

»Zinckhan gestürzt?« eiferte sie dann. »Zu schön, um wahr zusein. Nein, da muß ich sie enttäuschen. So einer ist nicht soschnell kleinzukriegen. Wissen Sie, wer gestürzt ist, abberufen,

kleingestutzt? Eben, per Handy, eine Nachricht meinerChefredaktion. Ich, ich, ich! Von einem Tag auf den andern binich meinen Job los. Pressefreiheit, sagen Sie? Daß ich nichtlache. In solche Fallen tappen doch die hohen Herren nicht.Überschreitung meiner Kompetenzen. Unerlaubte Nebentätigkeit. Sofortige Beurlaubung. Nur, weil ich dengroßen Zampano geknipst habe. Kleines Foto, große Politik.Glück im Winkel, globales Entsetzen. Geschäftsschädigung.Was mit ihm ist, interessiert mich einen Scheiß. Ich bin erledigt.Scheißkerl, der!«

»Pardon: das klingt fast, als liebten Sie ihn?« fragte Brockes.»So wie Steilwand-Training in einem riesigen Strindberg.«

»Lieben? So einen?«Sie sah aufs erfreulichste aggressiv aus.»Männer, Männer, Männer! Ich hasse ihn. Ich würde ihn

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sogar heiraten, um mich an ihm zu rächen.«»Das ist doch endlich mal ein Grund«, sagte Hergesell.»Ja, aber wo ist er denn nun wirklich?« fragte ein zunehmend

irritierter Pastor Lichtwitz. Jesus konnte man allezeitherbeizitieren, einen unsichtbaren Realhelden nicht. Das warverstörend. Er war schließlich Bultmann-Schüler. Keineweiteren Mythen.

»Es liegt an diesem verdammten Märchen«, sagte Dr.Anselm. »Es verdirbt einfach den Charakter. Die Menschengeben sich auf. Sie machen schlapp. Ich hab's ja gesagt.«

»Sieht geradezu aus«, sekundierte Brockes, »als wenn es denLeuten ihren Lebenslauf aus der Hand schlüge. Oder um dieOhren.«

»Ja, ist es denn nicht wunderbar, wie dieses Märchen unsaufmischt? Anything goes. Nicht immer nur Karriere. Nichtimmer nur Karacho. Einfach locker lassen. Ich arbeite übrigensgerade an einer Studie über Absteiger, falls es Sie interessiert,

verehrter Herr Mentor.« Das war Stengelin.»Ich müßte lügen«, beschied ihn Brockes.»Aber Zinckhan stolpert - wenn überhaupt - doch nicht über

das Märchen, sondern über das Mädchen, über diese lachhafteAffäre.« Das war die Moderatorin.

»Vielleicht weiß ja diese Tussi etwas«, sagte Stengelin.»Wen, bitte, meinen Sie?« fragte Lichtwitz empört. Solche

Ausdrücke machten ihn aggressiv.»Diese unmögliche Person, mit der er gestern abend

aufgetaucht ist«, ergänzte Dr. Anselm ungerührt.»Aber wo haben Sie denn Ihre Augen, Herr Psychiater«,

fragte Brockes, »das war eine junge Frau von beträchtlicherAnsehnlichkeit. Ein wunderhübsches Kind.«

»Aber eben: ein Kind«, sagte Dr. Anselm.

»Sie scheinen wirklich in einer Märchenwelt zu leben«, setzte-151

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Brockes nach. »Es sind schließlich unsere Kinder, die denOrgasmus entdeckt haben.«

»Wir könnten sie ja mal interviewen, rein wissenschaftlich«,schlug Stengelin grinsend vor.

»Aber die ist doch längst abgereist, heulend und häßlich«,wußte die Moderatorin. »Der Bürgermeister hat ihr doch heutemorgen die Abreise nahegelegt. Außerdem ist die Kunstscheunegestern zu Schrott verarbeitet worden. Kein Kasperletheaterheute, fürchte ich.«

Wie gut, daß Herr Romeiser dazukam. Wenigstens diese

Nachricht konnte er richtigstellen. Ja, der Bürgermeister habedie Kindervorstellung abgesagt und die Puppenspielerinheimgeschickt, die Scheune sei sowieso nicht bespielbar, aberdann habe die Fürstin eingegriffen und ziemlich energischgesagt, sie bestehe auf dem Puppenspiel, und man könne es ja, bei diesem Wetter, als Freilichtaufführung im Schloßhofmachen, sie stelle ihn gern zur Verfügung. Kenne sich einer mitden hohen Herrschaften aus. Übrigens müsse die Vorstellung jetzt gleich zu Ende sein.

Und so kam es, daß die Fachwelt, die erlauchteProminentenriege, sich eine neue Forschungsrichtung gab, zwarnicht einmütig und miteinander im reinen, aber durchgemeinsame Neugier auf denselben Weg gelenkt, zum Schloß,zum Kindertheater.

Nur die Moderatorin schloß sich dieser »Kinderei«, wie sie

sagte, nicht an.

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Bankgeheimnis

Sieh einer an: Die Bank unter der großen Zeder auf demFriedhof ist besetzt. Als Beat Loderer seinen Lieblingsplatz inMasselbrunn ansteuert, der auch sein Schlafplatz gewesen ist inder vergangenen Nacht (keine Sorge: er hatte dann imWaldschwimmbad geduscht!), findet er sich um seinAllerweltlichstes betrogen, das kleine Areal des Glücks, die

Klausur dessen, der keine Klausur verträgt. (In einer Plastiktütehat er seinen Vorrat für die Stillung des heiteren Durstes beisich; die drei von der Tankstelle: ein kaltes Bier für die heißesteKehle, einen Sekt, sogar ein Wasser.) Aber nun: die Entweihungseines Quartiers und die Peinlichkeit eines Doppelgängers. Dennzumindest das unterscheidet ihn von anderen Pennern, daß ersich nicht zu ihnen hingezogen fühlt. Er ist eher ein Dilettantunter denen, die Platte machen, freischaffender Lebenskünstler.So reagiert er enttäuscht, kleinkrämerisch und mit einem Durst,dessen Heiterkeit nachläßt. Er will sich eine andere Lagerstattsuchen.

Aber da ist er schon ertappt. Nicht mit einem Hallo, Kumpel,sondern einem schrägen Blick und mit dem Satz: »Hätten Siemal einen Schreiber für mich?« Und vage kommt ihm dieserSatz bekannt vor, und die Szene vertraut, nur irgendwie

vertauscht. Der da herumlümmelt, in schäbigem Overall,unrasiert, nicht gerade appetitlich, aber auch nicht sabbernd, unddie Haut viel zu straff, weckt eine bizarre Assoziation. Wäre ernicht Beat Loderer und auf manche Lebenspointe ge faßt, würdeer es nicht für möglich halten. Würde er jetzt nicht sagen:

»Zinker, du?«»Ja, Loddel. Ich.«

»Spielst du neuerdings auch Kasperletheater?«-153

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»Dachte mir, hier treffe ich dich am ehesten.«»Wußte gar nicht, daß du mich erkannt hast. Und schon gar

nicht, daß du mich sehen willst.«»Hab dich auch nicht erkannt, zuerst. Nicht mal bei deinem

blödsinnigen Auftritt. Kam mir erst später: das ist ja Loddel.«»Blödsinnig war das nicht. Bißchen wirr bloß. Sonst säßest du

doch nicht hier rum. Auf meiner Bank. Dir gehören so viele,also warum muß du unbedingt noch meine besetzen. Besitzen.Was fällt dir ein!«

»Einfach mal eine neue Lebenslage. Paradigmenwechsel, wieihr philosophischen Burschen wohl sagt.«

»Quatsch. Du spielst doch nur wieder auf deine Weisevabanque. Erzähl mir nicht so'n Scheiß von Paradigmenwechsel.Eher denk ich, du lotest hier den Markt aus für Pennerbedarf.Was also willst du?«

»Einfach das, was ich hier mache. Was du mir vorgemachthast. Hiersein. Dasein. Wegsein.«

»Wenn du jetzt noch sagst: Loslassen, tret' ich dir in denArsch. Du und wegsein. Du und dasein. Weißt du, was sichabspielt, während du hier rumsitzt. Der ganze Ort hier spieltverrückt. Diese Märchenonkels verhalten sich wieBildzeitungsreporter. Der Bürgermeister hat die Fluc ht ergriffen.Die Börse taumelt, oder wie das heißt. Dein Imperium, heißt es,wackelt, und Zehntausende zittern darum, ob sie Montag nocheinen Arbeitsplatz haben. Du spielst doch nur auf neue Weiseden King. Auf die schäbigste bisher.«

»Aber wenn ich doch wirklich genug habe von all dem?«»Du und genug? Du hast doch nie genug gekriegt. Und jetzt

hast du vom Nie genug genug. Aber das klappt nicht. Meinlieber Zinker, das schaffst du nicht. Du wirst deinen KlumpenGold nicht mehr los. Bei dir sind sogar die Schwerkraftgesetzeaufgehoben, selbst die Steine würden wieder aus dem Brunnen

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hochsteigen, wegen einer Ölquelle.«»Anfangen muß jeder.«»Aber klar. Liegst hier auf meiner Bank Probe. Vom

Megaboss zum Gutmenschen, in Nullkommanichts. Sagen Sie,Herr Zinckhan, schämen Sie sich nicht? Kommen Sie sich nichtlachhaft vor?«

»Lachhaft, wieso? Schämen? Nicht im geringsten. Ich liegehier, weil ich nicht weiterweiß. Ich weiß mein Leben nur noch bis zu dieser Bank. Gerade, weil es deine ist. Jedenfalls gestern.Weil sie mich erschreckt hat gestern, als ich da einen liegen sah,

und noch mehr, als ich mir später sagen mußte, daß es derLoddel war, den ich da hatte liegen sehen. Ausgerechnet der.Unser Dichter. Unser Ästhet. Unser aller Künstler. Und dannsagte ich mir: vielleicht weiß der mehr, auch jetzt, auch heute.Vielleicht ist was dran an so einer Bank. An so einem Zustand.Wie sagtest du immer: Wir sind Könige, wenn wir träumen...»

»Laß den Hölderlin aus dem Spiel. Den zerstörst du nichtauch noch!«

»Zerstören, wieso? Ich habe immer nur aufgebaut. Immer nurgeschaffen. Zerstören laß ich mir nicht nachsagen.«

»Menschen hast du zerstört, während du dein sogenanntesLebenswerk geschaffen hast. Wo du auftrittst, trittst duMenschen nieder, noch jetzt, noch hier.«

»Das ist nicht dein Ernst, oder? Also hätte ich dich auch aufdem Gewissen?«

»Du weißt sehr gut, von wem ich rede.«»Ich habe, seit ich hier bin, nur einen zerstörten Menschen

getroffen, und das bist du. Und dich hast du leider selbst zuverantworten.«

»Ich bin, wie ich bin. Nicht zerstört. Ich meine die junge Frau.Der du den Kopf verdreht hast, oder die Seele.«

»Erzähl doch keinen Roman, Loddel. Ich habe doch nie... ich-155

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hab mich doch sofort zurückgezogen, als ich merkte, was loswar. Nicht mit ihr, sondern mit mir. Als ich spürte, daß es nichtmit rechten Dingen zugeht. Wenn hier einer zerstört ist, seit

gestern nachmittag, bin ich es, niemand sonst. Warum sitze ichdenn hier, auf deiner verdammten Bank, und nicht beiGeschäftsfreunden in London oder schon im Flieger nachFernost? Was weißt denn du? Was weißt denn du überhaupt vonmir?«

Beat Loderer machte eine heftige Bewegung, und dieFlaschen klirrten in seiner Tüte. »Komm, laß uns einen trinken.Ist bestimmt nicht deine Marke.« Er nahm den Sekt heraus und begann, ihn mit Sorgfalt zu öffnen.

»Aber doch nicht ohne Glas?«Der andere holte einen sauberen Plastikbecher aus seiner

Tüte, und dazu ein nicht so sauberes Glas. Den Becher gab erZinckhan, und schenkte ihm ein. Sie stießen sogar miteinanderan.

»Was gla ubst du, warum ich hier bin? Dir zuhöre? Mir vondir auch noch Vorwürfe machen lasse? Ein versoffenes Subjekt,das mir Predigten hält! Ein Penner, den ich um Rat frage! Mitdem ich so scheußliches Zeug runterkippe? Sagt dir das nichtwas?«

»Ja, daß dein Leben völlig leer ist. Leer gearbeitet. Du hastalles aus dir selbst geschaffen, und jetzt ist nichts mehr in dirdrin.«

»Du redest wie ein Buch, das hilft mir nicht. Was soll ich tun.Wenn alles, was einer tut, falsch ist, was kann er dann tun?«

»Nichts.«»Und eben deshalb sitze ich hier.«»Aber du tust ja nicht Nichts, während du hier sitzt. Du

leistest Ungeheures. Du richtest unermeßlichen Schaden an.Jeder Moment hier zerstört Existenzen.«

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»Ja, habe ich denn kein Recht...?«»Ich auf dieser Bank - das tut keinem weh. Höchstens mir,

manchmal, und allzuoft kommt es ja auch nicht vor. Du aufdieser Bank - das ist eine Katastrophe. Nicht für dich. Für dichist gesorgt, nehme ich an. Aber für die vielen Leute in deinemReich. Oder Imperium. Oder Konzern. Oder Trust. Oder wie das bei dir heißt. Da hängen sie alle an deinem Gold oder Sold, undauf einmal läßt du sie fallen. Ins Bodenlose.«

»Ich? Ich sollte mir keine eigenen Entschlüsse mir leistenkönnen? Ich sollte nicht mehr mein eigener Herr sein? Nicht

einmal mehr verzichten dürfen?«»Aber großer Zinckhan, alter Freund: du verzichtest dochgerade nicht, wenn du jetzt verzichtest. Du willst doch nur eineweitere Eroberung machen. Noch eine zweite Art Leben. Einefür dich fremde Art Rausch. Nach lauter Kalkül jetztBesinnungslosigkeit. Aber das funktioniert nicht. Du mußt dirtreu bleiben. «

»Aber ich bliebe mir doch treu, das hast du doch eben selbstgesagt. Ich mache nur eine weitere Eroberung.«

»Aber Liebe ist etwas anderes als Eroberung. Liebe ist imGegenteil: Wegschenken.«

»Ja, Mensch, Loddel, hörst du mir denn nicht zu. Wovon redeich denn die ganze Zeit? Wenn nicht vom Wegschenken?«

»Du redest vom Weglaufen. Ich will dir was sagen: DieseBank hier führt zu nichts. Die ist kein Fluchtpunkt. Nicht malfür mich.«

»Ich habe nicht die Bank gesucht, sondern dich. Du hast mirraufgeholfen, jetzt hilf mir runter.«

»Ich dir? Wie kommst du darauf?«»Die Leiter, weißt du noch?«»Die Leiter? Das weißtdu noch!«

»Eben fällt sie mir ein. Ich weiß nicht mal mehr genau, wann-157

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Die Fronten klären sich

Am Abend des zweiten Tages war es soweit: Die Welt hatte sichgespalten, mitten in Masselbrunn. Nicht allein die angereisteWissenschaft war nun endgültig in zwei Lager zerfallen; auchdie kleine Heimat hatte sich auseinanderdividiert. Kaum jemand,den die Sache noch kalt ließ, selbst wenn er von denZwistigkeiten nur durch Hörensagen wußte. Hans im Glück

hatte sich, nach soviel Debatte, so vielen Ereignissen, als einideologischer Keil erwiesen. Nicht, als ob man im strengen Sinnvon zwei Denkschulen hätte sprechen können; es war mehr eineFrage der Sympathien, ja, eine Neigung des Naturells.

Ein richtiger Standpunkt ist nichts ohne einenVersammlungsort. Die einen tagten im »Weißen Roß«, das jetztitalienisch bewirtschaftet wurde und »Cavallo bianco« hieß. Eswurde zur Zuflucht all derer, die mit unserem Hans hielten, mitihm fühlten, ihn ernst nahmen, seinen Tauschrausch»irgendwie« guthießen, ihn mit oder ohne Marcuse, für einenPhilosophen des Glücks hielten. In der traditionsreichen»Goldenen Sonne« fanden sich dagegen alle zusammen, denenHans als Dummkopf, das Märchen als unsinnig und jeder alsleicht (oder stark) bescheuert erschien, der das nicht kapierenwollten.

Es ließ sich nicht übersehen, daß nahezu die gesamteProminenz in der »Sonne« vertreten war, also bei den Hans-Hassern. Der Bürgermeister, der von seiner Tagestourzurückgekehrt war, hielt allein schon deshalb hier hof, weil seinStammtisch hier stand. Aber auch so entschiedene Referentenwie Professor Kirchhoff, Dr. Anselm, ja selbst der RadschlägerLucian Brockes hatten sich hier eingefunden. Dazu kamen fastalle Honoratioren des Ortes, die es selbstverständlich mit der

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Tüchtigkeit hielten und über den ganzen Märchenkram ohnehin,und nicht erst seit gestern, den Kopf geschüttelt hatten. Daß eseine reine Männergesellschaft war, verstand sich in der »Sonne«

fast von selbst. Nur die eine oder andere Ehefrau hatte sichdiesmal aus Neugier, und weil sie schon im Auditoriumgesessen hatte, dazugesellt. Auch die Moderatorin Güttler-Fahrenholz suchte noch hier Anschluß, weil sie sich von dieserGruppe mehr Kontakte und vielleicht doch ein paar Aufschlüsseüber Zinckhan versprach.

Zu den Sympathisanten gehörten fast alle andern Frauen unterden Tagungsteilnehmern: sie bildeten ja, seit ihrem Picknick, soetwas wie eine verschworene Gemeinschaft. Sogar die Frau desBürgermeisters war ihrem Herzen gefolgt und hatte sich denDamen angeschlossen. Mit den Herren im »Cavallo« warnatürlich nicht allzuviel Staat zu machen: Da saß der PastorLichtwitz neben Herrn Romeiser (der seinem Chef nunendgültig nicht mehr unter die Augen kommen durfte), derfreche Stengelin fand sich eingekeilt zwischen ortsansässiger

Schönheit, der es an nichts fehlte außer dem Organ für seinenWitz, und allenfalls der Satiriker Hergesell konnte die Rundeetwas aufwerten. Dazu kamen noch etliche Amateure, dieeinfach nur das italienische Essen lieber mochten als dieSchweinshaxen in der »Sonne«.

Wer aber glaubt, es wäre bei Tisch - in den jeweiligenTafelrunden - nun pausenlos weiter vom Märchen die Redegewesen, es hätte sich die Debatte über Hans im Glück nocheinmal vertieft, der irrte sich. Es ging nicht mehr umInterpretation, sondern um Solidarität. Jegliche Kompliziertheitwar der Komplizenschaft gewichen. Was die eine wie die andereGruppe einte, umgab, umhüllte war eine Stimmung von lichterZufriedenheit.

Und es bedurfte keines subtilen Zusehens, wollte man die eineAura von der anderen unterscheiden. Die Atmosphäre in den

beiden Lokalen war grundverschieden. Die Sympathisanten-162

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waren laut, lustig, etwas zu locker, eine Laune von »Was kostetdie Welt?« durchpulste ihre ausgedehnte Runde (sechs Tischewaren aneinandergestellt). Man aß und trank nicht nur gesellig,

sondern ließ große Karaffen kreisen (»Auf wen geht denn jetztdas?«, fragte die verwirrte Kellnerin immer wieder, bis siedurchgesetzt hatte, daß jede Bestellung gleich zu bezahlenwäre.) Man schob sich kleine Appetithäppchen zu undgelegentlich leuchtete auch ein verliebter Blick auf. Und alsdann Frascati und Orvieto, Verdicchio und Soave erst abgelöstwurden vom spritzigen Prosecco, war man nicht mehr weitentfernt von einem Gelage.

Auch in der »Sonne« ließ man sich nicht lumpen, nur bestelltehier jeder für sich. Man war nicht übermütig wie die anderen,aber man war sich einig im Wohlbehagen des gesundenMenschenverstandes. In der Einsicht, daß Verlustgeschäfte nichtnur teuer zu stehen kommen, sondern töricht sind und dasSelbstwertgefühl beschädigen. »Wer immerzu verliert, ist baldselbst verloren. Wer dauernd klein beigibt, wird selbst ganz

klein«, dozierte Professor Kirchhoff und suchte sich denteuersten Tropfen aus.Im übrigen waren die Bestellungen, die man aufgab, eher

wohldosiert, entfernt von aller Prasserei oder Gelagehaftigkeit. Nicht, daß man hätte knausern wollen, aber schließlich gehörteauch eine gewisse Mäßigkeit zum Erstrebenswerten: Nichtzuviel essen, cholesterinarm, vitaminreich, am besten ein wenigungesättigt wie die gleichnamigen Fettsäuren, mit gutemAppetit, aber nicht darüber hinaus : Auch das Wohlbefinden war ja ein Erfolgserlebnis, und eine gute Figur schon das halbeGlück. War es nicht bemerkenswert gewesen zu sehen, wiegesund, wie straff, wie geradezu stählern Zinckhan ausgesehenhatte, der doch um die Fünfzig sein mußte und tausend Dingeum die Ohren hatte: Die ganz großen Bosse waren nicht nurVorbilder, was die Karriere betraf, sondern auch in der

Lebensführung und Körperhaltung. Ein deutliches-163

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»Na, dann doch lieber gleich Hanswürste«, raunzte derBürgermeister von seinem Stammtisch aus dazwischen.

»Aber Otto, dann bist du doch selber einer«, erlaubte sicheiner von den Honoratioren einzuhaken. »Du hast uns die Chosedoch mit eingebrockt.«

»Sie glauben ans Glück so blind wie die Maulwürfe. Siefolgen Fortuna bis ins absolute Nichts. Wir wollen sie - nein,nicht Maulwürfe -, wir wollen sie die Lemminge nennen!« Daswar noch einmal Professor Kirchhoff.

»Nein, Lemminge ist ekelhaft, Pardon, Herr Professor, aber

das haben sie nicht verdient. Warum nicht einfach die Verlierer,oder die loser?«»Dann könnte man ja auch gleich ›die Nieten‹ sagen«, meinte

Brockes amüsiert. Und fand, ohne es eigentlich gewollt zuhaben, plötzliche, allgemeine Zustimmung. Die ›Nieten‹ ja, daswar es.

Anders ging es bei den ›Nieten‹ zu (die selbstverständlich von

ihrem Namen nichts ahnten), die inzwischen in richtigerProsecco-Laune waren: übermütig, abgehoben, lockerleicht.Hier wurden nicht Vorschläge gemacht, der Reihe nach, im Fürund Wider erwogen, hier purzelten die Assoziationendurcheinander, kullerten Namen wie Oliven über die Tische,von »Realos« über »Blindschleichen«, »Philister« und»Karrieristen«, bis endlich Hergesell Ruhe herbeiprostete undsagte: »Eigentlich gibt es nur ein Wort für diese Herrschaften:

Krämerseelen. Das sind typische Krämerseelen. Nennen wir siedie ›Krämer‹.« Darauf wurde angestoßen.Hier also die ›Nieten‹, dort die ›Krämer‹ - so hatte man sich in

verschiedenen Bezirken der kleinen Welt von Masselbrunn nunauch nomenklatorisch, ideologiespitz auseinandergesetzt undabqualifiziert. Aber es muß geheime Kommunikationswege,Querverbindungen, Unterströmungen, Nachrichtenschleifengegeben haben, denn es dauerte nicht einmal zehn Minuten, bis

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jeweils die Gegenseite wußte, wie sie von der anderen getauftwar, und das rief geradezu freudiges Gejohle bei den Nieten undziemliche Empörung bei den Krämern hervor. »Wir sollten sie

doch die Hanswürste nennen«, sagte Kirchhoff, »sie haben esnicht besser verdient.«»Aber so ein Nachkarten«, wehrte Brockes den Vorschlag ab,

»das wäre ja wirklich Kleinkrämerei.«Übrigens war es nicht in der »Goldenen Sonne«, sondern im

»Cavallo bianco«, wo man sich ungeniert immer neue Loser-Geschichten erzählte, deren Pointe aber immer auf die

Ehrenrettung des Verlierens hinauslief. Fast hätte man zu demSchluß kommen können, als sei die gute Miene zum bösen Spieldie einzig mögliche Ehre. Hergesell gab die Anekdote von demenglischen Vater zum besten, der seinen Sohn nach dem erstenSemester Eton heimgeholt hat und nun betrübt in seinem Clubsitzt. Ob denn der Filius so schlechte Noten heimgebracht habe? Nein, nein, wehrt der Vater ab, alles bestens, Zensuren,Betragen, Kameradschaft.

Ja, was denn dann noch an Ärger übrig bleibe? »Well - hecan't lose. Er kann nicht verlieren.«

»Nur, daß Hans doch gerade nicht verliert«, mahnte PastorLichtwitz an. »Er gewinnt doch immer dazu. Die Freiheit einesChristenmenschen.« Aber das wollte selbst im »Cavallo«niemand mehr kommentieren.

Romeiser wußte auch eine Geschichte. Vom reichen

Amerikaner, der durch Italien reist, an einer Landstraße inSizilien einen Mann sieht, der unter einer Pinie sitzt und döst.Der Nabob stoppt seinen Cadillac, spricht den Nichtsnutz vomFahrersitz aus an - und Matthias Romeiser wußte den Dialoghübsch zu zelebrieren:

»Hey, Sie, was machen Sie denn hier?Sehn Sie doch, ic h sitz hier und lasse es mir gutgehen.

Aber Sie müssen sich aufraffen, was arbeiten.-166

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Arbeiten, wieso? Damit Sie was sparen können. Warum sparen? Damit sich Ihr Geld vermehren kann.Warum sollte es sich vermehren? Damit Sie ein reicher Mann werden. Und warum das? Damit Sie sich's gut gehen lassen können.

Aber sehen Sie denn nicht, Mister: Ich lasse es mir doch

schon gutgehen.«»Ach«, warf Hergesell nörgelig ein, »das hat doch schon der

Böll vor fünfzig Jahren zu einer Kurzgeschichte verbraten.Wollte aus dem dolce far niente eine kleine Goldgrubemachen.«

»Wir haben da im Tessin ein Märchen«, mischte sich FrauFilera-Stüada ein; aber sie mußte sich gedulden, weil in diesem

Augenblick alles auf den Knall der ersten Magnum-Flascheitalienischen Sekts wartete und darauf, daß frische Gläseraufgetischt wurden. Und dann auf ein gemeinsames Prost. Undden Toast aufs dolce far niente und die edle Spenderin. Frau vonder Mühlen hatte das ausgegeben. Die Geschichte von Romeiserhatte ihr gefallen. Vielleicht auch Romeiser selbst.

»Wir haben da ein wunderschönes Märchen«, hob Frau Fileramit ihrer brüchigen, aber desto bezaubernderen Stimme an,»auch mit einem Hans: Wie Giovann ein reicher Herr gewordenist.« Eigentlich sei es ja nur das berühmte Muster mit den dreigruseligen Nächten, die einer überstehen müsse; und Giovannüberstehe sie zum Beispiel, indem er die drei Räuber, die ihngefangenhielten, in der letzten Nacht zum Kartenspielenverführe. Dann aber brächten sie ihn zu einer Schutztruhe, dienun ihm gehören solle, ihm aber von einem betrügerischen

Herrn streitig gemacht werde. Doch die Räuber griffen noch-167

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einmal ein und sorgten dafür, daß der brave Junge sein Gelderhalte. »Aber nun kommt die Schlußmoral, die uns zeigt, daßdieser Giovann ein Bruder des Hans im Glück ist. Sie steht da,

ohne weitere Handlung, einfach als gereimter Schlußsatz, basta,finito:

Ma' püssee bell'e che' GiovannDa chi danee li al seva mia cosa fann.

Was ich mir erlaube, für Sie so zu reimen:

Das Schönste am Märchen von unserm Giovann Ist:daß er mit Geld gar nichts anfangen kann.«

»Aber ein bißchen dämlich ist das schon«, sagte der Satiriker.

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Kostümfest

Die Fürstin, natürlich, war weder im »Cavallo bianco« noch inder »Goldenen Sonne« anzutreffen. In der »Sonne« hatte sie vorfünf Jahren, nach dem Tod des Fürsten, das Begräbnisessen fürdie wichtigsten Leute der Stadt gegeben, aber gewiß nicht, weiles sie dort hingezogen hätte. Eher wäre sie gern gelegentlichunter die Pergola des italienischen Lokals eingekehrt, aber das

hätte ihr Verhältnis zur kleinen Stadt unnötig kompliziert.An diesem Abend hatte sich die Fürstin in ihre

Vergangenheitskemenate zurückgezogen. Sie hatte, bald nachihrer Hochzeit, einen langen Kampf, ihren ersten, mit demFürsten ausfechten müssen, als sie darauf bestand, das großerunde Turmzimmer, hoch über der Burg, in dem er viele seinerJagdtrophäen untergebracht hatte, als ihr Refugium, ihrenDurchschlupf ins frühere Leben, das beim Theater auszustatten.»Aber das ist doch Boheme!« hatte der Fürst gewettert, dann nurnoch geseufzt, aber selbst als Seufzer war Boheme für ihn dasäußerste an extravagantem Benehmen. Itha hatte sich in drei dersieben metertiefen Fensternischen Garderobenschränkeeinbauen lassen und darin ihre Bühnenkostüme untergebracht,die sie, entgegen allem Brauch, sich zu verschaffen wußte, wenndas Stück abgespielt war: Entweder, indem sie sie den Theatern

abkaufte, oder aber, indem sie sie rechtzeitig nachschneidernließ. Meine alten Häute, pflegte sie dazu zu sagen, zu sich selbst.Aus diesem Fundus bediente sie sich übrigens gelegentlich beiihren Morgenritten im Damensattel...

In. diesem weiten Turmzimmer, das die Fürstin selbstinstandhielt, säuberte, lüftete und gelegentlich bespielte, hattesie an diesem Abend einen Gast: die Puppenspielerin. War aberGast das richtige Wort? Nicht, wenn man die Miene der jungen

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Frau sah und die anfängliche Befangenheit aller ihrer Gesten. Nicht, wenn man das unruhige Irisieren ihrer grünen Augenwahrnahm. Nicht, wenn man das nervöse Wippen ihrer Füße

bemerkte, das den Eindruck machte, sie befinde sich dauerndauf dem Sprung.Ich muß Ihnen etwas zeigen, hatte die Fürstin bald nach der

Kindervorstellung gesagt, nachdem Max sich zerknirscht wiederauf die Rückreise begeben hatte. Und Tru war zuerst ganzwohlgemut mitgegangen: Nur als es dann von einem pompösenZimmer ins nächste, von einer Unwohnlichkeit in eine andere,und dann über lange ungemütliche und stockig riechende Gängeund eine seltsam brüchige Brücke in den Turm und dort übereine enge, steile Wendeltreppe immer höher gegangen war,waren ihre Neugier und ihre Abenteuerlust erloschen und alleMärchenängste erwacht. War das nicht die Art Turm, woDornröschen sich an der Spindel gestochen hatte? Aus dem nurRapunzelzöpfe herunterhalfen? In dem Blaubart seine Frauenverbarg?

Aber die Fürstin (die sie nicht anzureden wußte, denn»Fürstin« hätte sie nie und nimmer über die Lippen gebracht)war ganz locker und freundschaftlich gewesen, ganz unfürstlich,und als die Puppenspielerin ein paarmal herumgedruckst hatte,lachte sie nur und sagte: »Warum nennen Sie mich nicht einfachItha? Itha nennt er mich ja auch.« Das erleichterte zwar dieSeele, nicht aber die Anrede. Itha war doch noch fremder alsFürstin.

Es war immerhin freundlich gemeint und minderte dieBeklemmung.

Aber als sie dann oben, in diesem überraschend elegantenRundzimmer waren, hatte sie ziemlich streng gefragt: »Warummachen Sie das?« Sie hatte, mit dem ersten Gedanken, der ihr bei solcher Strenge einfiel, erschrocken geantwortet: »Ich habegar nichts gemacht. Fast nichts. Er wollte das.« Aber die Fürstinhatte die Auskunft mit einer geradezu ärgerlichen

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Handbewegung beiseitegewischt und hinzugesetzt:»Das mit dem Puppentheater, meine ich!«»Weil's mir Spaß macht. Uns. Max und mir. Bis jetzt

jedenfalls. Bis vor kurzem.«»Sie können das nicht ewig weitermachen.«»Warum nicht? Und ewig muß es ja auch nicht sein.«»Die Puppen, das ist doch nur was für den Anfang. Sie

müssen selber spielen. Sie können selber spielen.«»Aber ich bin doch ganz glücklich so.«

»Glücklich! Sie sollten sich was schämen. Sie sind doch begabt, ich kenne mich aus. Sie haben eine Gabe, und das isteine Verpflichtung. Eine Schuld.«

»Schuld? Bei wem?«»In eigener Sache. Sie schulden sich selbst was.«»Ich seh' das ganz lässig.«»Es gibt eine Lässigkeit, die ist Nachlässigkeit gegen sich

selbst.«»Ich bin nicht unglücklich. Jedenfalls nicht deswegen.«Selbst jetzt noch war die Puppenspielerin nicht sicher, daß sie

nicht im nächsten Augenblick in diesem großen Turmrund mitden meterdicken Mauern eingesperrt werden, daß die dicke,eichene Tür nicht ins schwere Schloß fallen und sie hier auf Nimmerwiedersehen verschwinden würde. Aber dann lachte die

Fürstin so übermütig und kameradschaftlich, daß sie sichentschloß, solche dummen Gedanken zu verwerfen. Und wiederkam so ein merkwürdiger Satz ihrer Gastgeberin: »Ich werdeuns jetzt verwandeln.«

Dann öffnete die Fürstin die lautlos gleitenden Türen dereingebauten Schränke, aus denen es nach Lavendel und anderenKräutern duftete, ja roch, und in denen es von Seide und Taftund Chiffon knisterte und rauschte und wallte. Und schon nahm

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die hohe Frau ein Kleid heraus, hielt es ihr hin und geriet in eineseltsame Ekstase, von der sich die Puppenspielerin fastanstecken ließ.

»Hier!« sagte die Fürstin, und warf ein grauweißesBrokatkleid mit großem Ausschnitt über das kreisrunde Sofa,das in der Mitte des Raums stand. »Wer, glauben Sie, hat dieseknisternde Kostbarkeit getragen?

»Sie?«»Natürlich ich. Aber in welcher Rolle? Wer mußte darin

sterben?«

Tru schüttelte den Kopf. »Gretchen?«»Nicht schlecht. Aber die habe ich nie gespielt. Nein, die

Julia.« Und jetzt nahm sie ein purpurrotes schweres Moirekleid,ebenfalls bodenlang, heraus. »Hier, das können Sie nichterraten: Yvonne, Prinzessin von Burgund. Gombrowicz.Wunderschöne, ganz böse Rolle.«

Und wieder verkroch sich die Fürstin in einem der Schränke.

Diesmal hielt sie ein herbstbuntes, heiteres Gewand in denHänden: »Mein Lieblingskostüm, die reinste Natur. Rosalind.Aus Shakespeares ›Wie es euch gefällt‹. Das sollten Sie mal probieren.« Sie hielt es der Puppenspielerin hin.

»Jetzt? Hier?« fragte Tru erschreckt.»Es gibt hier sogar eine kleine Ankleide.« Die Fürstin zog

einen Vorhang beiseite, der eine weitere Fensternische freiließ

mit einem leichten Stuhl. Tru ließ es sich gefallen. Und danngefiel es ihr. Bis sie im großen Spiegel neben der Tür sah, wieweit der Brustausschnitt reichte.

»Ja, das war eine freche Inszenierung«, sagte die Gastgeberintrocken und reichte der jungen Frau ein Chiffontuch, um ihreBlöße zu bedecken.

Dann, nachdem sie aufs neue in einen der Schränkeeingetaucht war wie in einen Zauberbrunnen, zog sich die

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Fürstin selbst ins Ankleideseparee zurück, aus dem sie nachwenigen Minuten völlig verwandelt hervortrat, angetan miteinem goldenen, fast metallisch schimmernden Gewand, einer

Art Ornat, strotzend von Unnahbarkeit, mit einer turmhohenPerücke, eine Hohepriesterin der Macht.Die Puppenspielerin schreckte zurück, fast bis an die

gegenüberliegende Wand. Diesmal kam aus der Miene derGestalt, die vor ihr stand, kein Lächeln, keinVersöhnungszwinkern, kein Friedensangebot. Es gab auch keineBedrohung, nur die Härte dieser hoheitsvollen Distanz. Die nochwuchs, als nun dieses neue Geschöpf, in dem die Fürstinaufgegangen war, zu sprechen begann, hochherrschaftlich undfurchterregend fremd:

»Was habt Ihr mir zu sagen, Lady Stuart? Ihr habt michsprechen wollen. Ich vergesse Die Königin, die schwer beleidigte... Dem Trieb der Großmut folg ich, setze michGerechtem Tadel aus, daß ich so weit Heruntersteige...«

»Bitte, hören Sie auf!« rief die Puppenspielerin. »Das machtmir ja Angst, Bitte!«

Aber diese goldene Priesterin fuhr unbarmherzig fort:

»Bekennt Ihr endlich Euch für überwunden? Ist's aus mit

Euren Ränken? Ist kein Mörder mehr unterwegs? Will keinAbenteurer Für Euch die traurige Ritterschaft mehr wagen? Ja,es ist aus, Lady Maria. Ihr verführt mir keinen mehr. - «

Die beängstigende Gestalt kam langsam, mit unheimlich präzisen, kleinen Schritten, die wie das Ausmessen einerGalgenfrist schienen, auf die Puppenspielerin zu, die sich nurnoch in eine der Nischen hätte flüchten, durchs Fenster und in

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Hereinspaziert!

Nach zwei lebhaften Stunden traf der erste Überläufer im»Cavallo bianco« ein - kein Geringerer als Lucian Brockes, derdas Lokal betrat wie eine Bühne, sein gewinnendstes Lächelnlächelte, mit ausgebreiteten Armen auf die Gesellschaft zuging,dann zur Begrüßung auf die Ecke eines Tisches klopfte (wiewenn er auf seine Zugehörigkeit pochen wollte), von der Theke,

da er keinen freien Stuhl mehr erspähte, einen Barhocker holte,sich hinaufschwang und mit einem »Na, Herrschaften, wiesteht's?« von oben herab einführte. Und in die fragenden undabwehrenden Blicke hinein mit erstaunlicher Unbefangenheitsagte: »Das da drüben« - er machte eine vage Handbewegungzum Fenster hin -»ist wohl doch nicht ganz mein Bier. Natürlichhabe ich auch zum Wanderer zwischen den Welten Lust - aberes sieht so hübsch nach Orgie bei Ihnen aus. Wenn Sie mir alsoSolidaritätsbekundungen ersparen, wäre ich gern mit von derPartie.« Immerhin gab er eine neue Magnum in Auftrag.

»Man sollte es nicht glauben«, begann Brockes alsbald zudozieren, brach aber erst einmal ab, damit die Neugier wachsenkonnte auf das, was man nicht glauben sollte. »Man sollte esnicht glauben«, setzte er neu an, »wie die Lesarten dieLebensarten prägen, oder umgekehrt: die Lebensart die Lesart.«

Damit kam er nicht besonders gut an. Wäre nicht der hitzigeStengelin gewesen, hätte der Tiefsinn kein Echo gefunden. »Na,was denn nun? Hegel oder doch Marx? Oder kümmert Sie IhrGeschwätz von heute morgen nicht mehr? Vielleicht sollten SieIhren Opportunismus nicht allzusehr strapazieren.«

Die Kellnerin brachte die neue Flasche, und Brockes bestanddarauf, sie selber zu öffnen. Es fand sich aber niemand, der ihmsein Glas hingehalten hätte.

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»Was, mein junger Freund, haben Sie denn gegenOpportunismus? Gerade Sie? Wo wären denn Sie, wo wären wiralle ohne unsern Opportunismus? Was die Menschheit ohne ihre

Wendigkeit?«»Sie meinen wohl: Windigkeit?«»Nein, dann schon eher Findigkeit. Man muß den Dreh

raushaben. Opportunismus ist doch nichts anderes als derHedonismus des Moments. Was ist denn dieser leidige Hansanderes? Ein Genießer, ein Auskoster des jeweiligenAugenblicks. Nimmt's, wie es kommt. Ohne Rücksicht auf

Verluste. Gibt immer das eine um des ändern willen preis. Nur,daß er ein ganz unbegabter Opportunist ist: Er kapiert nicht, waswirklich opportun ist. Er ist gewissermaßen ein Chaot seinerGelüste. Ein Anarchist der Wünsche.«

»Wir sind aber schon beim Dessert«, rief Frau von derMühlen rätselhaft und übermütig dazwischen.

Brockes stutzte. »Ja, gnädige Frau, wieso? Warum sollten Sienicht beim Dessert sein?«

»Weil Sie immer noch Ihren Senf dazugeben.«»Man muß es ihm nachsehen«, kicherte Stengelin, »er ist im

eigenen Redefluß getauft.«Die Witzeleien führten aber zu nichts, denn aufs neue ging die

Tür auf. Bürgermeister Lorenz trat herein, und schon empfingihn das freudigste Hallo, ein Chor aus Zurufen zwischen»Mensch Otto!« und »Noch ein Renegat!« Gleich fand aucheifriges Zusammenrücken statt, um dem Herrn der Stadt Platz zumachen. Aber der heitere Willkomm verstummt alsbald vor demrotgedunsene n Kopf und dem wütenden Blick, der in derTischgesellschaft suchend hin- und herflackerte - dann sein Zielerreicht hatte und den Mann vorwärts stürmen ließ auf die blasse, spitze Frau neben Herrn Romeiser zu.

Es war die Bürgermeisterin.

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»Steh auf!« kommandierte der Mann. »Was hast du hier zusuchen! Noch gehst du nicht deiner eigenen Wege. Los jetzt!«

»Aber Otto!« sagte Herr Romeiser ungläubig, doch ererinnerte sich sogleich, daß er dieselbe Beschwörung schoneinen Tag vorher getan hatte, und vergeblich.

»Halt's Maul!« wurde er zurechtgewiesen. »Du hast hiersowieso nichts mehr zu bestellen. Los, Elfriede, nun malschnell!«

»Aber so laß mich doch. Ich sitz' doch hier bloß. Mit denandern Damen. Komm, setz dich doch zu mir.«

»Auf geht's, und zwar sofort!«»Aber warum kann ich denn nicht...?«»Du kommst mit, ich sag's nicht noch mal!«Es sah aus, als werde er in der nächsten Sekunde

handgreiflich werden.»Das ist ja Mittelalter!« sagte der junge Stengelin, blass und

fassungslos.»Das ist der deutsche Mann«, spottete Hergesell.»Und was sind bitte Sie?« fragte Frau von der Mühlen.Pfarrer Lichtwitz behielt die Nerven. »Herr Bürgermeister,

Sie sind doch schließlich Gastgeber für uns alle. Kommen Sieein Weilchen zu uns. Wir haben Ihnen doch für zweiinteressant e Tage zu danken. Oder lassen Sie uns dochwenigstens Ihre liebe Frau hier.«

Bürgermeister Lorenz sprang ihn fast an. »Sie, Siesalbadernder Oberpriester, Sie können mich mal. Schöne Tage,schöne Tage, eine einzige Katastrophe ist das. Elfriede, ich sag'snicht noch mal: Wir gehen jetzt! Oder es passiert was!«

Nun passierte wirklich etwas. Während die Frau desBürgermeisters sich noch immer ratlos in der Runde umsah, alssei sie zwar bereit, aber viel zu gelähmt, um sich zu erheben,stand, mit flammendem Haar und ebensolchem Blick, auf

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einmal Frau Löhr vor dem tobenden Mann, ganz dicht, ganz böse, ganz hart, und keuchte, atemlos vor Aufgewühltheit: »Jetzt bist du dran, Bürgermeister. Jetzt packe ich aus!«

Der kapierte die Gefahr nicht, brüllte die Frau an: »Seit wannduzen wir uns denn, Alte? Zisch ab. Geh zu deinenDreckslappen!«

»Selber Dreckslappen, Herr Bürgermeister. Seht ihn euch an,den feinen Herrn, den Heuchler, den Pascha. Dauernd aufDienstreisen, aber seine Frau schikanieren wie ein Sultan persönlich.«

»Was geht das dich an, du Putzteufel, wenn ich mich aufreib'für meine Gemeinde. Elfriede, meine Geduld ist zu Ende.«Frau Löhr war nicht im mindestens eingeschüchtert:

»Unterwegs für die Gemeinde? Aufopfern im Dienst? Daß ichnicht lache.«

»Bitte«, rief die Bürgermeistersfrau dazwischen, »lassen Sieihn, ich gehe ja schon.«

»Diese Person kann mir doch gar nichts!« zischte derBürgermeister, halb seine Frau, halb Frau Löhr an.Und jetzt sang Frau Löhr ihren Zorn wie eine Arie: Von den

Spielbankbesuchen, von den Chips, die überall herumlagenzwischen den Akten, sogar unter dem Teppich im Amtszimmer,von den Banderolen aus der Amtskasse, von den Quittungen ausseltsamen Etablissements, die sie zerrissen im Papierkorb fand,immer wieder, von dem Nacktfoto zwischen demTerminkalender.

»Die Dame hat eine blühende Phantasie!« versuchte derBürgermeister dagegenzuhalten, aber die Stimme preßte sichihm zusammen.

»Was ist mit dem Scheck?« fragte Frau Löhr ganz ruhig.»Welchen Scheck meint sie?« fragte die Bürge rmeistersfrau.

»Frag sie doch selbst«, raunzte er.-178

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»Den Scheck fürs Museum. Den Scheck vom Zinckhan. Dendoch nie jemand zu sehen bekommen hat. Den er gar nichteingezahlt hat in die Gemeindekasse. Auch nicht auf sein

Amtskonto. Sondern irgendwo in Frankfurt.«»Aber es war doch Geld da fürs Märchenhaus«, sagte einer

der Einheimischen.»Na ja, ganz so dumm ist er ja nicht, wie er geldgierig ist. Ein

bißchen was hat er zurücküberwiesen. Oder vielleicht sogar dasmeiste. Aber erst einmal hat er's kassiert. Stimmt's?«

Bürgermeister Lorenz hatte die letzte Tirade mit

krampfhaftem Lächeln über sich ergehen lassen, aber das»Stimmt's?« brachte ihn aus dem Konzept. Einen Augenblickschien es, als wolle er Frau Löhr an den Hals gehen, aber dannließ er, wie von sich selbst erschreckt, seine flatternden Händefallen, drehte sich um und stürmte aus dem Lokal.

»Sie werden ihm doch nicht etwa nachlaufen?«, sagte FrauFilera-Stüada, als die Bürgermeisterin sich hastig erhob.

»Was soll ich denn machen?«, fragte sie kläglich.»Sich emanzipieren, hier und jetzt«, erklärte Frau von derMühlen.

»Aber wie denn? Er ist doch verzweifelt.«»Einmal nicht nachgerannt, und es ist schon fast geschafft.«»Aber er ist doch mein Mann!«»Das spricht aber eher gegen sie, als für ihn.« Hergesell war

nicht gerade hilfreich.»Aber das stimmt doch alles gar nicht«, wandte sich die

Bürgermeistersfrau mit jähem Groll gegen Frau Löhr. »Wiekönnen Sie so was behaupten? Da kann doch gar nicht wahrsein!«

»Ja, würd' ich's sonst sagen?« empörte sich ihrerseits FrauLöhr. »Ich habe viel zu lang meinen Mund gehalten.«

»Aber ausgerechnet hier, vor aller Öffentlichkeit!« ließ die-179

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Bürgermeisterin nicht nach.»Nehmen Sie's doch nicht so ernst, gute Frau«, spendete der

ungenierte Stengelin der entgeisterten Frau Trost, »Sie müssen'seinfach gesamtgesellschaftlich sehen. Wer heutzutage nicht betrügt, ist halt nicht von dieser Welt. Schade, daß Sie meinenVortrag heute nicht gehört haben. Sie würden es viel gelassenernehmen. Ihr Mann ist einfach auf der Höhe der Zeit.«

»Nein, ich kann es nicht glauben. So was tut mein Otto nicht.Ich muß jetzt zu ihm.«

»Ich komme mit«, sagte Pastor Lichtwitz. »Sie mögen sich ja

mit Ihren Zynismen von Emanzipation undGesamtgesellschaftlichkeit trösten. Mein Platz ist jetzt bei denSchwachen.«

»Wie war's, wenn wir ihm alle nachgehen«, sagte Frau Filera-Stüada. »Ein bißchen frische Luft kann uns nichts schaden.«

»Wie wär's mit Fackelzug?« fragte Hergesell animiert. »Wirmachen eine friedliche Demo. Und besuchen unsere

Widersacher. Kellnerin, wir brauchen Kerzen! Auf zum letztenGefecht!«»Ach was, Kerzen!« wehrte Frau von der Mühlen ab. »Die

Nacht ist hell genug. Vielleicht lassen die Herren zurAbwechslung mal ihr Licht leuchten.«

»Gnädige Frau, Sie sind zum Küssen«, applaudierte Brockes.»Unterstehen Sie sich! Sie sehen ja, wohin sowas führt«,

konterte die resolute Dame mit einem Blick auf dieBürgermeisterin, die schon in der Tür stand.

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VII A LLES ODER NICHTS

Freedom is just another word for nothing left to loose.

Janis Joplin

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als Ausländerquartier oder Asylantenheim zu nutzen gewagthatte. Eine Zeitlang war es noch Treff von ein paar Lokaljunkiesgewesen, die sich aber unter der öffentlichen Ächtung verzogen

hatten oder nunmehr in irgendwelchen Hinterzimmern stolzdarauf waren, Deutsche zu sein.Die Ecke, obwohl also nicht belebt, war dennoch ein

Schandfleck für Masselbrunn gewesen und erst recht einSkandal für die protestantischen Kirchgänger, denn das Haus lagunterhalb ihres Gotteshauses, und nur die wenigsten Altenwußten noch (und selbst die konnten es angesichts derVerwahrlosung nicht mehr ganz glauben), daß es einst einschöner, repräsentativer Bau gewesen war, damals, als er nochdem Druckereibesitzer Frischauer gehörte, der bis 1933 auch die»Masselbrunner Marktglocke« herausgegeben, das Blatt dannaber, nicht freiwillig, eingestellt hatte. Auch mit denDruckaufträgen war es in den Jahren danach rapidezurückgegangen.

1938, November, hatte der Ruin des Hauses begonnen, da

hatte man die Scheiben eingeworfen und die Druckereidemoliert, die Setzkästen ausgekippt, die Linotype zu Schrottgehauen und die Papiervorräte geplündert. Aber Frischauer mitseiner Familie hatte den Masselbrunnern noch immer nicht diePeinlichkeit seiner beharrlichen Ortsansässigkeit erspart undwollte nicht begreifen, daß es gar nicht darum ging, wie gernman früher bei ihm Geburtsanzeigen oder Hochzeitskarten,Bütten oder Leinen, Fraktur oder Antiqua ausgesucht und bestellt hatte, sondern daß er als Jude jetzt einfach eineBelastung geworden war für den ganzen Ort und vor allem fürdas Gewissen jedes Einzelnen. Warum hatte er sich so trotzigeingekastelt in seinem ramponierten Haus, das er doch nurnotdürftig selbst hatte reparieren können? Denn als deutscherHandwerker konnte und mochte man da nun nicht mehrzupacken.

Es waren nicht die schlechtesten unter den Masselbrunnern,-183

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die ihm geraten hatten, wegzuziehen und wenigstens Frau undKinder zu schonen, es werde alles noch schlimmer kommen. Erhatte es einem nicht gedankt, im Gegenteil: Ach, schämt euch

doch, Ihr Feiglinge, ihr wollt mich ja nur los sein und eure Ruhehaben. Manchmal sah man ihn noch über Land radeln (dasLieferauto hatten sie ihm längst weggenommen) zuirgendwelchen Glaubensbrüdern, die heiligten wohl denSabbath, da mußten es immer zehn sein. Itzig fährt beten,höhnten die Masselbrunner. Er hieß aber David, DavidFrischauer. Die Kinder warfen mit Steinen nach ihm; die Elternhatten es erlaubt.

Der kleine Sohn Jakob, der das Haus gar nicht mehr verlassendurfte, hatte eines Tages wohl doch die Tür aufbekommen oderwar durch den Zaun geschlichen und nach draußen gegangen.Und dann war er vom alten Jochil Kiefe, dem Scherenschleifer,ganz zerschlagen aufgefunden und heimgebracht worden: sonstwäre er wohl verblutet. Es war eine schlimme Geschichte, aberFrischauer zog immer noch nicht weg.

Bis es eines Tages zu spät war, Anfang oder Mitte 42 muß esgewesen sein, keiner hat es richtig mitgekriegt, wie sie ihn undseine Familie abholten, in aller Herrgottsfrühe, wenn man das bei einem solchen Vorgang sagen darf, also jedenfalls noch vordem Hellwerden, den Mann und die Frau, die zwei Töchter undden kleinen Jungen (der kann höchstens vier gewesen sein). Unddann nichts mehr. Nie wieder was von den Frischauers gehörtoder gesehen, nicht einmal eine Nachricht auf Umwegen. Auchnach dem Krieg nicht. Die mußte es schlimm erwischt haben. Essollen ja auch welche überlebt haben, überall meldeten sichdoch Leute zurück. Doch auch in späteren Jahren nie einLebens- oder Todeszeichen von den Frischauers. Es ging janicht so sehr um sie selbst, aber wegen des Hauses machte mansich Gedanken. Besitzverhältnisse und so. Sage keiner, daß mansich nicht bemüht hätte. Drei Ordner Korrespondenz, bitte sehr.

Über einen Anwalt sogar Nachforschungen in Amerika.-184

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Die nehmen das alles gar nicht ernst, denkt sie, und isterleichtert darüber, daß sie nicht gleich an ihr vorbei ins Hauswollen, sondern noch ein bißchen draußen herumstehen und

frische Luft schöpfen wollen, Pustekuchen, sich eine Zigaretteanstecken.»Drinnen wird aber nicht geraucht, gelle!« sagte sie

energisch.Dann kommen sie doch alle - die Namen kann sie sich immer

noch nicht merken: die klugen Damen, die hohen Herrn, dieschlimmen Meckerer, die Störenfriede, und weil nun schon

draußen, wo doch gar kein Platz ist, eine Stehparty im Gang ist,will keiner hinein, als wenn alle auf ein Startzeichen, dasZerschneiden eines Bandes, auf ein besonderes Signal warten.

Aber den, der da jetzt zusammen mit Herrn Romeiser und derPuppenspielerin ankommt, kennt sie noch nicht, auch wenn erihr irgendwie bekannt vorkommt: der scheint auch zu denProminenten zu gehören, jedenfalls nach der Art zu urteilen, wieder Archivar eifrig und ehrerbietig auf ihn einredet. DenMatthias Romeiser bei sich hat und bestürmt, bei der Weihe desHauses das Wort zu ergreifen, das er doch eigentlich schon zurEröffnung der Tagung hätte haben sollen, ist ein freundlicherälterer Herr in einem grauen Flanellanzug vo n etwaszerknitterter Eleganz, mit einer bunt geblümten, aber unbeholfengeknüpften Krawatte und einem großen Schlapphut; ein Typ,dessen leichtes Lächeln erkennen läßt, daß er den Wunsch

Romeisers erfüllen wird. In der Tat, Beat Loderer ist an diesemVormittag von einer flanellzarten Gefügigkeit und weit von demHinweis entfernt, daß er sein Wort doch eigentlich schongesprochen habe und genau zum vereinbarten Zeitpunkt, wennauch nicht gerade in aller Form.

Und der Bürgermeister? Konnte man denn ohne denBürgermeister beginnen, trotz allem, was gestern abendvorgefallen war? Aber konnte er sich, nach dem Vorfall gesternabend, überhaupt noch unter die Leute wagen? Mußte er denn

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Ein Königreich für ein Pferd!

Zum Beispiel das Pferd!« rief Loderer aus, »das Pferd ist dochscho n die halbe Lösung! Gibt es nicht Situationen, da einersogar ein Königreich für ein Pferd gegeben hätte? A horse! Ahorse! My kingdom for a horse!« sagte er, mit ziemlicherSchmierenbetonung, »der verzweifelte Ausruf des drittenRichard, dieses berühmten Shakespeare-Schurken, am Ende

seiner mörderischen monarchischen Kurzkarriere. Ein Pferd willer, weil es mehr ist als alle Reiche und Reichtümer dieser Welt,als alle Macht und Pracht, weil es die einzige Rettungverspricht, das Davonkommen, das Entkommen, Mobilität alsgeschenktes Leben, Flucht als der allergrößte Triumph. Ist dasso schwer nachzuvollziehen?«

Beat Loderer nahm das Wasserglas in die Hand, sah es so an,als handelte es sich dabei um eine Art Pferd, stellte es aber, ohnezu trinken, wieder ab. »Gut, nur die wenigsten von uns bringenes zum König oder zum Präsidenten, aber eine vergleichbareSituation kennt doch jeder, und im Prinzip hat jeder von uns denSeufzer Richards schon einmal geseufzt, und wenn er so trivialgelautet hätte wie: Und jetzt ein Taxi! Oder: nur endlich raus ausdieser verfahrenen Situation. Also, das mit dem Pferd ist leichterklärlich, absolut menschlich, und, in der Sprache unserer

Jugend, hundertprozent logo.« Jetzt trank er doch.»Aber, werden Sie sagen: Dann bleib' ich doch dabei, dannhalt' ich mich im Sattel. Wenn das Pferd so begehrenswert ist, soentscheidend, dann laß ich es nicht sausen. Aber im Sattel haltenkönnt er sich nicht, und das Pferd war ja auch nur der Aufgaloppseiner Heimkehr. Denn je näher er seinem Ziel kommt, um somehr kann er sich das bäuerliche Leben vorstellen, und als dasPferd ihn abwirft, kommt die Kuh doch wie gerufen. Das

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rustikale Sprichwort ist zwar nicht so berühmt wie derShakespeare-Satz, aber genau so erhellend, denn auch damitwird alles erklärt und alle Rede von einem schlechten Tausch

zum Gerede. Denn wie sagen sie im Waldecker Land? Ennegudde Kouh deckt alle Armut tou. Eine gute Kuh deckt alleArmut zu. Keine Not, wenn eine Kuh im Stall steht. Abervielleicht hat der Junge gar nicht so weit gedacht, sondern nurDurst gehabt. Durst, den die Kuh zu stillen verspricht. So großenDurst, daß er sogar erst einmal ins Wirtshaus muß. Durst, dendie Kuh weckt, aber nur das Bier stillt.« Diesmal widerstand derRedner dem Griff zum Glas.

»Na, und dann, als Hans sein Bier intus hat und die Kuh amSeil, und als der Durst sich erneuert, weil die Nieren angeregtsind, und er sich sein eigenes Getränk zapfen will, stellt sichheraus, daß Hans nach sieben Jahren in der Stadt nicht mehrweiß, wie man mit so einem Tier umgeht. Sicher hatte dieMutter nie eine, allenfalls eine Ziege, und Melken ist eine kleineKunst, erfordert ein peristaltisches Glissando, einen fast

zärtlichen Fingersatz, sowas verlernt man in sieben Jahren, undwenn man sich dumm dabei anstellt, wird jede Kuh, auch diesanfteste und prallste, ja gerade die, rabiat und schlägt aus.Heute geht das ja alles maschinell, aber wer mal auf Dörfernunterwegs war, kennt die Fußkranken, die von ihren eigenenKühen einen Tritt abbekommen haben. Stand nicht kürzlich erstin der Zeitung, daß der Kuhstall der gefährlichste Arbeitsplatzüberhaupt sei? Und so ein Biest sollte Hans nicht loswerdenwollen? Na bitte.«

Sie ließen es sich gefallen.»Und da kommt ja auch schon das Schwein. Ein Schwein

muß man nicht melken, das muß man nicht reiten, das muß mannicht schleppen, das ist das grunzende Glück. Das Schwein istder lebendig gewordene Goldklumpen, ein quiekendes,fettwanstiges Stück Behagen. Am Schwein kann man sich schon

beinahe satt sehen. Es vereint alle Vorzüge der vorigen-191

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Besitztümer: Das Kugelige des Klumpens, die Mobilität desPferdes und die Nützlichkeit der Kuh, das Schwein paßt auchviel besser in die Haus- und Hofhaltung der Mutter. Für Hans

geht es um die Wurst und um die Schätze für den langenWinter.«Diesmal nahm Beat Loderer einen langen Schluck aus seinem

Wasserglas, und gleich darauf fiel er sich ins eigene Wort: »Derlange Winter? Die Würste? Der geräucherte Speck? Dieköstlichen Rippchen?« Aber wann er denn heimkomme? Imlangen Winter? In den Wochen der Räucherkammer? So einSchwein zu schlachten und auszuweiden und zu zerteilen unddie Därme zu reinigen und die Würste zu kochen sei doch eine Riesenschweinerei, ein wahres Gemetzel. Und er komme dochheute heim, heute abend solle doch das Fest sein und der Duftund der Braten, heute abend wolle er sein Fett weg haben undsein Gelage, heute abend wolle er sich's wohl sein lassen mit derMutter.

»Darum: die Gans muß es sein, die Gans macht die Völlerei,

die das Schwein verhieß, viel konkreter, greifbarer. Die Gansmuß es sein, und das Schwein - ob nun geklaut oder nicht - kannihm gestohlen bleiben. Die Gans, das ist prima und praktischgedacht, fürs kurze Fest und die lange Ruhe, und die Federnlassen den Schlaf des Gerechten schon ahnen, den er danach zuschlafen gedenkt. Gänseleber hat er in all den sieben Jahrenimmer nur zu riechen bekommen, wenn sie serviert wurde,womöglich von ihm selbst. Und was Lebendiges, Warmes,Atmendes im Arm ist auch nicht zu verachten nach den kaltenMamsells im Stadthaus...

Aber wie das so geht, während er da geht und demGeschnatter geradezu liebevoll zuhört: Das gute flaumige Dingetut ihm leid, je länger er es trägt, weil es eben kein Ding ist,sondern eine dralle Kreatur. Der Leckerbissen verströmtZärtlichkeit, die Wohligkeit des Gefieders überträgt sich auf sein

Gemüt, und er spürt nicht nur das Herz des Tieres, sondern bald-192

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auch sein eigenes heftig pochen. Diesen schönen langen weißenHals soll er in wenigen Stunden durchschneiden? Dieser pulsierenden Glätte den Garaus machen? Und die Mutter wird

sicher eine Blutsuppe haben wollen, ein Gänsesauer, und es wirdeine halbstündige Würgerei geben, ehe dieses freundlicheFedervieh, dieser handsame Wonneproppen, den letzten Tropfenverströmt hat... ja, wenn er doch jemanden fände, dem er dieschöne Gans zu treuen Händen anvertrauen könnte...«

Ja, so locker schlenderte Beat Loderer mit seinem Hans imGlück dahin, und die Besucher des Märchenhauses, obwohl sieihm doch im Stehen zuhören mußten, hatten keine Mühe, ihm zufolgen. Denn jetzt ließ er den Scherenschleifer kommen mitseiner - natürlich auch geschwindelten - Erfolgsstory. »OhneBerufsethos, meine Damen und Herren, kommen ja gerade diemiesen Jobs nicht aus, und die Millionäre sind ja nur erfundenworden, um den Tellerwäschern ihr Spülwasser erträglich zumachen. Der Alte kann unserm Hans also viel erzählen, vomGeld, das man schon morgens in der Tasche springen hört, und

daß er da gerad' einen Wetzstein übrig habe, nicht teuer, schonfür die Gans zu haben. Irgendwie ist es das Märchen selbst, dasden Hans übervorteilen, ihn für dumm verkaufen will an dieserStelle: Warum muß dieser Stein auch noch schadhaft sein,warum muß ihm, nach eigentlich schon vollzogenem Handel,gar noch Ballast aufgebürdet werden mit dem Feldstein, der amWege liegt? Und warum soll Hans partout nach dieser Zugabeausrufen, er müsse in einer Glückshaut geboren sein, jederWunsch erfülle sich ihm wie einem Sonntagskind?«

Auch Beat Loderer kostete sein Glück aus und trank das Glasleer, wie zur Demonstration. »Ich gebe zu, daß hier auch derGutwilligste versucht ist zu rufen: Mensch, Junge, stell dichnicht so blöd an. Daß du dir das schwere Gepäck vom Anfangwieder auflädst und mit dem unnützen Stein so glücklich bist,wie du es mit dem Gold gerade nicht warst - das ist doch

dämlich! Also wie nun? Sind wir mit unserer-193

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Plausibilitätstheorie am Ende? Haben wir uns vergaloppiert mitunserer These, daß alles in diesem Märchen mit rechten Dingenzugeht?«

»Jawohl«, rief nun doch Lucian Brockes dazwischen, »inlauter Ideologie! Geradeso machen Weltanschauungen undSekten den Leuten ihre Verrücktheiten plausibel. Was Sie betreiben, ist doch nichts als Schönrednerei.«

»Aber ja doch, nichts anderes will ich Ihnen doch bieten. Siehaben das wunderbare Märchen zwei Tage lang, wie ich mirhabe sagen lassen, schlecht geredet, kaputt analysiert. Nun

möchte ich's wieder schön reden. Den Hans, wie er's verdient,rehabilitieren. Wie könnte er sonst, bei allem was er tut oder wasihm widerfährt, immer noch als eine so leuchtende Figurdastehen? Ist es denn eine Beleidigung, wenn man von einemMenschen sagt, er sei ein wahrer Hans im Glück? DerVolksmund hat diesen Burschen doch längst freigesprochen,oder?«

Beifall, allseits, und keine weiteren Zwischenrufe. AberLoderer selbst schien nun gedämpft und eher kleinlaut. »Nurnoch eine ganz kleine Geschichte«, sagte er, drehte unschlüssigan seinem leeren Glas, als könne er es dadurch wieder füllen.Fuhr dann ernst und ausgedörrt, fort: »Nämlich - denScherenschleifer kennt er. Der gehört zum Kindertraum, zumJungenabenteuer. Den alten, grauen Kerl, der einmal im Jahr,oder zweimal, durchs Dorf zog, bei den reichen Bauern

anklopfte um Schleifarbeit, aber auch das Haus der Mutter nichtausließ, wo sonst alle vorbeigingen, die irgendeinen Handeltrieben. Der Scherenschleifer vergaß auch die Ärmsten nicht,und wenn er kam, war fast ein Festtag, jedenfalls holte dieMutter nicht nur die stumpfen Messer und Sicheln hervor,sondern kramt auch das schärfste Zeug aus dem Arzneischrankheraus und setzte es dem Besucher aus der großen Welt vor.Und der holte dann wirklich aus seinen Taschen Geld heraus,

ließ es über den Tisch rollen und hüpfen, und erzählte von seiner-194

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Arbeit. Wie er demnächst zum König müsse und dem diegoldenen Messer schleifen (wie aber das Gold viel zu weich seiund gleich wieder stumpf werde) und das Beil des Henkers

schärfen (das aber vor Blut viel zu klebrig sei) und demdummen Prinzen den Verstand (der sich aber vor lauterSchmeichelei für den klügsten Menschen auf der Welt halte)und so Sachen mehr. Der Scherenschleifer war für den kleinenHans die große Welt, und für den großen Hans, der da nunheimkehrt, wird er zur märchenhaften Begegnung. DieWundergestalt von einst ist nun nicht mehr als ein armer Wicht,dem er aber um der Einstigkeit willen, um des alten Zaubers,den Nimbus nicht raubt und das Renommieren abnimmt - samtden dazugehörigen Steinen. Und daß da bald ein Brunnenkommt, in den er den Ballast plumpsen lassen kann, das weiß ernur zu gut: denn immer besser kennt er jetzt den Weg. Je mehrer heimkommt, um so genauer weiß er, daß er für die ewigeWanderschaft eines Schleifers nicht taugt.«

»Und was, bitte, bleibt ihm übrig?« fragte Stengelin.

»Nun, das ganze Leben. Der Acker der Mutter. Wir müssenunsern Garten bebauen!«»Nicht auch noch Voltaire!« rief Brockes.»Warum eigentlich nicht?« hielt der junge Stengelin in jäher

Begeisterung dagegen. »Hans im Glück als eine Art zweiterCandide...«

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Sensation II

Aber es geschieht etwas, in eben diesem Augenblick. Es beginntals eine Art Raunen, Rumoren im allgemeinen Gedränge, läßtsich alsbald lokalisieren in einer Gruppe, die im Saal mit dengrößeren Exponaten beieinandersteht, aber schon nicht mehrsteht, sondern in Bewegung kommt, ja fast in ein Gedrängel, einHin- und Hergewoge, das einem Handgemenge nicht unähnlich

sieht. Schon werden Rufe laut wie »Was soll denn das!« und»Was machen Sie denn da?«Da ist doch tatsächlich Professor Singer aus New York, der

übrigens immer noch durch eine leichte Schramme neben demAuge gezeichnet ist, über eines der Absperrseile gestiegen undmacht sich nun an einem der kostbarsten Stücke zu schaffen,schieb es hin und her, kippt es auf die Seite, stellt es garhochkant. Aber schon ist auch Frau Löhr zur Stelle, die in ihraufgeregtestes Hessisch verfällt: »Ei, des derfe Se net, Herr, Sie!Des is e ganz kostbar Stiksche, gelle!«

Das Stück ist eine Truhe, nicht sehr groß, eine Kindertruhe,kaum größer als eine biedermeierliche Schachtel und ähnlich bunt bemalt. Aber wie! An der Vorderfront sieht man auf denersten Blick nichts als ein Netz von Craqueluren, von feinstenFirnisrissen, ein Gewirr, das sich bei näherem Hinsehen aber als

Dornenhecke, mit Haarpinsel aufgetragen, zu erkennen gibt. Beinoch genauerer Betrachtung sitzt Dornröschen dahinter und istaufs anmutigste in sich zusammengesunken, vielleicht im 99.Jahr ihres Tiefschlafs, kurz vor der Ankunft des rettendenPrinzen. Die Seitenflächen können sich mit solchemRaffinement nicht messen, da gibt es einerseits ein ziemlich pausbäckiges Rotkäppchen samt zotteligem Wolf undandererseits ein drastisches Knusperhaus mit einem naiv

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gemalten Geschwisterpaar und einer eher lachhaften Hexe.Aber der Deckel! Da sieht man kleine Miniaturen mit Szenen

aus Schneewittchen, da reiht sich, in den schönsten Farben desBiedermeier, eine Episode an die andere, eineZwergenpuppigkeit an die Stiefmutterauftritte, da zeigt sich einBilderbogen, wie ihn Ludwig Richter nicht schöner hätteausmalen können. Doch das wahrhaft Hintergründige dieserBemalung ist, daß sich alle diese einzelnen Flächen zu einemTableau summieren, aus dem, wie in der Technik einesVexierbildes, die weiße Gestalt Schneewittchens im gläsernenSarg magisch hervorleuchtet. Ja, die Sache ist so kunstvollarrangiert, daß der Betrachter den Eindruck hat, das armeMärchenkind liege wirklich in dieser Truhe, die der gläserneSarg sei, in dem sie ihrer Wiederauferstehung harre, oder sagenwir prosaischer: ihres lebensrettenden Schluckaufs. Dies ist,wenn nicht ein Kunstwerk, so doch ein Wunderwerk. Und andiesem Wunder vergreift sich immer noch Professor Singer!Dieses filigrane Behältnis traktiert er mit robusten Händen!

Verstehe das, wer will!Was aber seltsamer ist: Der Gelehrte nimmt das Aufsehen,das er erregt, gar nicht wahr. Er reagiert nicht auf dieVerstörtheit der anderen. Er sieht angestrengt aus, beinahegequält, und wirkt ungeheuer entrückt, auf befremdend leise Artaußer sich. Die Begegnung mit der Truhe scheint ihn aus Raumund Zeit katapultiert zu haben. Endlich kommt er zu sich wie einPatient, der aus der Narkose erwacht. Noch immer aber faßt seinBlick kein Gegenüber, als er fragt:

»Wo kommt das her? Wo haben Sie das gefunden?«Der Bürgermeister kann es nicht lassen. »Das wird unsere

gute Museumsfrau sicher gleich aufklären«, sagt er mitgrimmigem Blick auf Frau Löhr. Die zuckt mit den Schultern.Um die Herkunft der Sachen hat sie sich nicht gekümmert. Daswar schließlich alles vor ihrem Durchbruch da.

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ihm doch bei, als er, der löwenmähnige Gelehrte mit demlädierten Gesicht und den dunklen Traumaugen, jetzt denDeckel mit dem liegenden Schneewittchen aufklappt und an

dessen Innenseite ein paar tastende Handbewegungen vollführt,wie wenn er eins dieser hölzernen Puzzlespiele befingerte, dieauf vertrackte Weise ineinander verhakt sind. So ist sie ganznahe Zeugin, als er ein Stück kaum vorspringende Leiste zufassen bekommt, die sich bewegen läßt und plötzlich mit einemZug herauszunehmen ist, worauf an einer anderen Kante zweiweitere Hölzer nachgeben, die jetzt ebenfalls leicht zu entfernensind. Und so ist Frau Löhr schon halbwegs begeisterteKomplizin, als jetzt die Innentäfelung des Deckels insgesamtsich soweit gelockert hat, daß man den doppelten Bodendahinter zwar noch nicht sehen, aber deutlich vermuten kann. Soempfindet sie sich bereits als stolze Assistentin, als nun, nacheinem weiteren Handgriff, Singer dieses flache innereDeckelholz behutsam abhebt und ihr zu treuen, wenn auch etwaszitternden Händen übergibt.

Die Eröffnungsgäste haben stumm und irritiert zugesehen.Jetzt aber geht ein Unisono der Überraschung durch dieGesellschaft. Die Verwirrung ist gewichen, das seltsameSpektakel findet sich aufgehoben in einem Geheimfach.

Bürgermeister Lorenz sieht sich zornig nach Herrn Romeiserum. Was hatte der ihm denn da schon wieder eingebrockt? Washatte das ganze Theater zu bedeuten? Denn wenn deramerikanische Professor dem Geheimnis der Truhe auf die Spurkam... Nicht auszudenken. Was hatten auch alle diese Leute inMasselbrunn zu suchen. Sollten doch bleiben, wo der Pfefferwächst. Und da kommt es auch schon.

»Kinderkram«, sagt Professor Singer träumerisch. »Nur einKinderkram. Sie werden es nicht glauben, und ich kann es selbernicht fassen: Mit diesem Kasten habe ich als kleines Kindgespielt. Manchmal, wenn ein großer Mann, der wohl mein

Vater war, ihn mir zeigte und das Zauberfach öffnete. Und dazu-199

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etwas sagte, das ich mir jetzt zurechtreime: In dieser Truhe dasGeheimnis ruhe.«

»Wolle Se uns die etwa wegnemme? Die Truhe ist aber demMuseum!« Es ist die energische, einheimische Stimme von FrauLöhr.

Aber der amerikanische Professor scheint sie gar nicht gehörtzu haben. Er hält auf einmal ein dunkelbraunes, leichtverschimmeltes Kuvert in der Hand, das mit einer rotgelbenKordel verschnürt ist. Mit fliegenden, zitternden, zuckendenHänden reißt Singer - ja, heißt er denn überhaupt noch so? - den

Umschlag auf, behält den Inhalt keineswegs für sich, sondern präsentiert ihn der fassungslosen Versammlung: fünf Pässe sindes. Und dann noch ein handgeschriebener Zettel, in den sich derunheimliche Mann vertieft, den er wieder und wieder zu lesenscheint, um endlich, beinah aggressiv, auszurufen:

»Was ist meine Kraft, daß ich ausharren könnte; und welchesEnde wartet auf mich, daß ich geduldig sein sollte? Ist dochmeine Kraft nicht aus Stein und mein Fleisch nicht aus Erz. Habich denn keine Hilfe mehr, und gibt es keinen Rat mehr fürmich?«

Es ist fast eine Erlösung, als jemand in die allgemeineBetretenheit hinein sagt: »Buch Hiob. Da hat uns einer eineHiobsklage hinterlassen.«

Solche Zuordnungen haben immer ihren Trost, und es ist, wir bemerken es gern, der fröhliche Gottesmann Lichtwitz, der ihn

zu spenden weiß.»Und was ist jetzt mit der Truhe?« fragt Frau Löhr.»Das wird sich finden«, sagt Singer erschöpft, aber sanft.

»Erst einmal möchte ich Sie alle willkommen heißen in meinesVaters Haus.«

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Zu guter Letzt

Noch nie hatte er sich so beeilt. Diesmal ging es um alles. Nichtum die Karriere. Nicht um den Konzern. Nicht um die Macht.Es ging um sein Leben. Um die zehn, zwanzig Jahre Leben, dievielleicht noch vor ihm lagen. Und um das Leben, das in diesenJahren, wenn alles gut ging, neben ihm lag. Das Leben inGestalt dieser jungen Frau, dieser sanften Haut, dieses

hellgrünen Blicks, dieses Zauberwesens.Er hatte die längste Nacht hinter sich, zwischen altem und

neuem Leben. Keine zärtliche Nacht, aber eine im Namen derZärtlichkeit. Eine Nacht voller Taten und Daten. DerEntschlüsse und Schlüsse. Immer hatte er an den Satz seinesalten Gegenspielers Loderer denken müssen: Du wirst deinenGoldklumpen nicht mehr los. Bei dir sind sogar dieSchwerkraftgesetze aufgehoben, selbst die Steine würden wiederaus dem Brunnen hochsteigen. Er hatte gemerkt: Es stimmtesogar. Die Steine stiegen hoch. Die Aktien der Zinckhan-Unternehmen waren nach dem ersten Kursschock auf einRekordhoch geklettert, noch am späten Sonnabend. Er wärereicher, mächtiger, beherrschender denn je. Und nie hatte er esweniger gewünscht. Das einzige, das er jetzt noch beherrschenwollte, war die eigene Zukunft. Der seltsame Dichter, der sein

Freund war und doch ein Widerling, sollte nicht recht behalten:Er mußte das Gold loswerden, ohne daß er die Achtung vor sichselbst verlor. Ehe er dieser anderen, einzigen gehörte, mußte ersich selbst gehören.

Sechs Stunden hatten genügt, an der neuen Konzernstrukturzu arbeiten - es würde eine Gesamtstiftung geben, die seinen Namen trug, in der er aber nur noch wenig Einfluß hätte. DieAnwälte waren rasch zur Stelle gewesen, warnend und abratend,

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Selbst der Chauffeur verbot sich bei dieser Fahrt. Er beschloß,den alten eigenen Wagen zu nehmen. Jetzt. Morgens halbsieben. Übernächtigt. Überwach. Zukunftsgierig. Sehnsüchtig

nach einer Entscheidung, die nicht mehr seine war.Einmal in seinem Leben hatte er schon eine solche Fahrt

gemacht, in ähnlicher Erregung, vergleichbarerhalluzinatorischer Konzentration. Damals aber war es nicht umeine Frau gegangen, sondern um eine Firma. Um seine ersteeigene Firma. Eine Frau, zwar, war im Spiel gewesen, aber nurim Spiel. Angela Pietragrua, er entsann sich noch immer deskuriosen Namens, hatte nach einem Abend in der Scala - war esnicht sogar die Callas gewesen? - etwas von irgendwelchenAktiengeschäften ihres Mannes gesprochen, der mit einemBörsentrick einen Münchner Betrieb quasi ruiniert hatte, um ihndesto billiger aufkaufen zu können, morgen früh solle der Dealim Quattro Stagione über die Bühne gehen, und ob er, Jean-Marie, nicht die Nacht mit ihr verbringen wolle. Statt dessenwar er mit seinem Porsche losgejagt, um Mitternacht,

abenteuerliche Alpenfahrt, die schon bei Maloja zu Ende schien:In der Nacht wurden die Grenzen damals geschlossen. Aberetwas in seinem angespannten Gesicht, an seinem frenetischenBlick, an seiner Vibration muß die Grenzer selbst elektrisierthaben: sie ließen ihn, die Italiener wie die Schweizer, passieren.Er mußte nicht einmal die Geschichte von der schwangeren Frauim Krankenhaus erzählen, die er für alle Fälle parat hatte. Erfuhr wie ein Wilder damals, aber bei aller Raserei so, daßAnkommen das Wichtigste blieb. Kam auch an, schnappte demSignor Pietragrua das krumme Geschäft vor der Nase weg,drehte bald darauf die Machtverhältnisse um und hatte ihn dreiJahre später geschluckt. Die Fahrt war unvergeßlich, alsDrahtseilakt, Lebensraserei an Abgründen, als die große Kippe,auf der sein Leben damals gestanden hatte.

Es war keine Nacht jetzt, es gab keine Serpentinen, keine

Alpenschluchten und Innkurven, es war Tag und heller-203

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inmitten dieser bewegten und bewegenden Szene sah er siesitzen. Nicht nur allein auf einer Bank, sondern entrückt,entfernt selbst von dem Drama, das sich abspielte, tief

versunken, wie abgekapselt unter einer der Vitrinen.Emotionslos, den Kopf tief gesenkt.Der große Zinckhan nahm seinen letzten Mut zusammen und

ging auf sie zu.»Da bin ich«, sagte er.Sie hob den Kopf, und er sah, daß ihre Augen nicht mehr grün

waren, sondern von Tränen schwarz. Sie wollte etwas sagen,

hatte aber keine Stimme Als end lich aus dem Schluchzen Worte