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1 „Neue Hilfe droht!“ 1 Griechenland im vierten Jahr der Austeritäts-Politik – eine Bilanz der Politik der inneren Abwertung Andreas Poltermann, Heinrich Böll Stiftung Belgrad Gleich nach dem Ausbruch der griechischen Staatsschuldenkrise war die Diagnose zur Hand: Griechenland wurde als eine „rent-seeking society“ eingestuft, als eine Gesellschaft, in der bestimmte Kreise/Klassen erfolgreich um den Zugriff auf gesellschaftlichen Wohlstand konkurrieren, um von diesem in Gestalt von Geld, Status, Privilegien unproduktiven Gebrauch zu machen. Die Diagnose wurde als spezifisch dargestellt, Griechenland sei die große Ausnahme in der Europäischen Währungsunion (EWU). Doch das Erklärungsmodell ist durchaus allgemein und fest in marktliberalen Konzepten verankert. Danach gilt allein der marktvermittelte Einsatz von Ressourcen als produktiv, während alle Sozialleistungen und der gesamte öffentliche Sektor als unproduktive Renten betrachtet werden. 2 An Griechenland wird exekutiert, was allen Mitgliedsländern der Europäischen Währungsunion blüht, die Kapital importieren. Griechenland ist nicht die Ausnahme, sondern der Test-Fall, an dem sich erweisen soll, wie konsequent sich das EURO-Regime durch eine marktliberale Politik der Konsolidierung verteidigen lässt. Nun ist nicht zu leugnen, dass in Griechenland bestimmte Akteure in erheblichem Umfang Privilegien und finanzielle Vorteile genießen. Darunter sind auch Fälle von Rentenzahlungen an längst Verstorbene und Blindenzulagen für Sehende. Aber das sind eher Beispiele für eine vollkommen unterentwickelte öffentliche Verwaltung. Sie belegen nicht, dass es weniger öffentliche Verwaltung geben sollte, sondern eine bessere, die korrekter und effizienter arbeitet. Griechenland ist ein Klientelstaat, kein Wohlfahrtsstaat. Seine sozialstaatlichen Leistungen sind unterentwickelt und partikularistisch. Die aktuelle Krise, die nicht allein eine Staatsschuldenkrise ist, sondern Ausdruck von Ungleichgewichten innerhalb einer wirtschaftlich viel zu heterogenen EURO-Zone, 3 ließe sich für den Umbau vom Klientel- zum Wohlfahrtsstaat nutzen. Das zweifache Problem ist nur: der griechische Staat ist bankrott und die marktliberale Reformstrategie, der Griechenland unter Aufsicht der „Troika“ aus EU, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) unterzogen wird, sieht zwar den Abbau des Klientelstaats 4 vor, zielt jedoch nicht auf den Aufbau eines Wohlfahrtsstaats. Das Ziel ist der minimalistische Konsolidierungsstaat. Insgesamt werden in Presse und internationaler Literatur vier Akteursgruppen aufgeführt, die für die spezifische Gestalt der griechischen „rent-seeking society“ verantwortlich gemacht werden. 1 H Efimerida ton Syntakton (genossenschaftliche Zeitung der Redakteure) am 21. August 2013 zur Ankündigung des deutschen Finanzmininsters Schäuble, dass Griechenland im kommenden Jahr wohl ein neues, mit weiteren Auflagen verbundenes „Hilfspaket“ benötigen werde. (http://www.efsyn.gr/?p=94921) 2 Wertvolle Hinweise entnehme ich der Analyse von Maria Markantonatou: „Diagnosis, Treatment, and Effects of the Crisis in Greece“. Max-Planck-Institute for the Study of Society Discussion Paper 13/3 (http://www.mpifg.de/pu/mpifg_dp/dp13-3.pdf) 3 Martin Feldstein: „The Failure of the EURO“, Foreign Affairs, January/February 2012 (http://www.foreignaffairs.com/articles/136752/martin-feldstein/the-failure-of-the-euro) 4 Der Klientelstaat lebt von systematischer Korruption. Aus Sicht der USA, die seit Jahren am entschiedensten weltweit gegen Korruption vorgehen, ist Korruption nichts anderes als eine unzulässige Beeinträchtigung wirtschaftlichen Wettbewerbs auf transparenten Märkten. Aus dieser Perspektive erscheinen auch wohlfahrtsstaatliche Arrangements als tendenzielle Marktverzerrung.

Hilfe droht

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„Neue Hilfe droht!“ Griechenland im vierten Jahr der Austeritäts-Politik – eine Bilanz der Politik der inneren Abwertung Andreas Poltermann, Heinrich Böll Stiftung Belgrad "An Griechenland wird exekutiert, was allen Mitgliedsländern der Europäischen Währungsunion blüht, die Kapital importieren. Griechenland ist nicht die Ausnahme, sondern der Test-Fall, an dem sich erweisen soll, wie konsequent sich das EURO-Regime durch eine marktliberale Politik der Konsolidierung verteidigen lässt."

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„Neue Hilfe droht!“1

Griechenland im vierten Jahr der Austeritäts-Politik – eine Bilanz der Politik der

inneren Abwertung

Andreas Poltermann, Heinrich Böll Stiftung Belgrad

Gleich nach dem Ausbruch der griechischen Staatsschuldenkrise war die Diagnose zur Hand: Griechenland wurde als eine „rent-seeking society“ eingestuft, als eine Gesellschaft, in der bestimmte Kreise/Klassen erfolgreich um den Zugriff auf gesellschaftlichen Wohlstand konkurrieren, um von diesem in Gestalt von Geld, Status, Privilegien unproduktiven Gebrauch zu machen. Die Diagnose wurde als spezifisch dargestellt, Griechenland sei die große Ausnahme in der Europäischen Währungsunion (EWU). Doch das Erklärungsmodell ist durchaus allgemein und fest in marktliberalen Konzepten verankert. Danach gilt allein der marktvermittelte Einsatz von Ressourcen als produktiv, während alle Sozialleistungen und der gesamte öffentliche Sektor als unproduktive Renten betrachtet werden.2 An Griechenland wird exekutiert, was allen Mitgliedsländern der Europäischen Währungsunion blüht, die Kapital importieren. Griechenland ist nicht die Ausnahme, sondern der Test-Fall, an dem sich erweisen soll, wie konsequent sich das EURO-Regime durch eine marktliberale Politik der Konsolidierung verteidigen lässt.

Nun ist nicht zu leugnen, dass in Griechenland bestimmte Akteure in erheblichem Umfang Privilegien und finanzielle Vorteile genießen. Darunter sind auch Fälle von Rentenzahlungen an längst Verstorbene und Blindenzulagen für Sehende. Aber das sind eher Beispiele für eine vollkommen unterentwickelte öffentliche Verwaltung. Sie belegen nicht, dass es weniger öffentliche Verwaltung geben sollte, sondern eine bessere, die korrekter und effizienter arbeitet. Griechenland ist ein Klientelstaat, kein Wohlfahrtsstaat. Seine sozialstaatlichen Leistungen sind unterentwickelt und partikularistisch. Die aktuelle Krise, die nicht allein eine Staatsschuldenkrise ist, sondern Ausdruck von Ungleichgewichten innerhalb einer wirtschaftlich viel zu heterogenen EURO-Zone,3 ließe sich für den Umbau vom Klientel- zum Wohlfahrtsstaat nutzen. Das zweifache Problem ist nur: der griechische Staat ist bankrott und die marktliberale Reformstrategie, der Griechenland unter Aufsicht der „Troika“ aus EU, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) unterzogen wird, sieht zwar den Abbau des Klientelstaats4 vor, zielt jedoch nicht auf den Aufbau eines Wohlfahrtsstaats. Das Ziel ist der minimalistische Konsolidierungsstaat.

Insgesamt werden in Presse und internationaler Literatur vier Akteursgruppen aufgeführt, die für die spezifische Gestalt der griechischen „rent-seeking society“ verantwortlich gemacht werden.

1 H Efimerida ton Syntakton (genossenschaftliche Zeitung der Redakteure) am 21. August 2013 zur

Ankündigung des deutschen Finanzmininsters Schäuble, dass Griechenland im kommenden Jahr wohl ein

neues, mit weiteren Auflagen verbundenes „Hilfspaket“ benötigen werde. (http://www.efsyn.gr/?p=94921) 2 Wertvolle Hinweise entnehme ich der Analyse von Maria Markantonatou: „Diagnosis, Treatment, and Effects

of the Crisis in Greece“. Max-Planck-Institute for the Study of Society Discussion Paper 13/3

(http://www.mpifg.de/pu/mpifg_dp/dp13-3.pdf) 3 Martin Feldstein: „The Failure of the EURO“, Foreign Affairs, January/February 2012

(http://www.foreignaffairs.com/articles/136752/martin-feldstein/the-failure-of-the-euro) 4 Der Klientelstaat lebt von systematischer Korruption. Aus Sicht der USA, die seit Jahren am entschiedensten

weltweit gegen Korruption vorgehen, ist Korruption nichts anderes als eine unzulässige Beeinträchtigung

wirtschaftlichen Wettbewerbs auf transparenten Märkten. Aus dieser Perspektive erscheinen auch

wohlfahrtsstaatliche Arrangements als tendenzielle Marktverzerrung.

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(1) Parteienherrschaft, d.h. Patronage und Klientelismus, die einen überbordenden, ineffizienten und zu teuren öffentlichen Sektor hervorgebracht haben;

(2) Unverantwortliche Gewerkschaften, die ohne Rücksicht auf Marktsignale und Konkurrenzfähigkeit unverhältnismäßige Lohnsteigerungen und soziale Leistungen durchgesetzt haben;

(3) Unverantwortliche Oberschicht (Reeder, Bankiers), die eng mit der politische Elite verwoben ist und deren steuerliche Privilegierung sich verheerend auf die Steuermoral der oberen Mittelschicht der Rechtsanwälte, Ärzte etc. ausgewirkt hat;

(4) Interessenallianz der Oberschicht mit internationalen Akteuren: danach vermittelte die griechische Oberschicht in den letzten Jahrzehnten zwischen dem griechischen klientelistischen Staat und einer Reihe führender internationaler Unternehmen für Investment (Goldman-Sachs Europe unter der Leitung von Mario Draghi, Deutsche Bank, Sociéte Générale, Crédit Agricole, Dexia), Straßen- und Hochbau (Hoch-Tief), Ausrüstung (Siemens), Rüstung und Schiffsbau (Thyssen-Krupp, Krauss-Maffei, Rheinmetall). Nur für wenige dieser Fälle konnte – wie bei Siemens – Bestechung nachgewiesen werden. In den meisten Fällen scheint es sich eher um gut funktionierende Netzwerke zu handeln.

Alle diese Faktoren und Interessengruppen haben ihren Anteil an der Krise Griechenlands. Sie ist das Ergebnis einer konsequenten De-Industrialisierung des Landes in Verbindung mit der Ausrichtung auf kreditfinanzierte Importe. Griechenland hat den Beitritt zur EWU nicht für die Steigerung seiner Wettbewerbsfähigkeit nutzen können. Im Gegenteil: Bei stetigem Wachstum von über 4 Prozent fiel seine Leistungsbilanz von Jahr zu Jahr schlechter aus. Mit ihr stieg der Kreditbedarf. Hierbei dürften die griechische Oberschicht, die obere Mittelschicht und der Ausbau des öffentlichen Sektors die entscheidende Rolle gespielt haben. Die Profit- und Konsumbedürfnisse der Ober- und Mittelschicht wurden am besten durch eine stabile Währung, günstige Kredite für Importe und Steuerprivilegierung befriedigt. Mit den internationalen Konzernen, die ihre Produkte und Dienstleistungen in Griechenland absetzen wollen, machen sie bis heute gute Geschäfte. Der Ausbau des öffentlichen Sektors kam hingegen auch der unteren Mittelschicht zugute.

Die von der internationalen Zunft der Ökonomen empfohlenen und von der „Troika“ durchgesetzten Reformmaßnahmen lassen jedoch die Punkte (3) und (4) weitgehend bis vollständig außer Acht und konzentrieren sich auf die Punkte (1) und (2). Die mit den Memoranden I (2010) und II (2012) sowie der Mid-Term-Fiscal-Strategy 2012 – 2015 (2011) eingeleitete Modernisierung der „rent-seeking society“ zielt deshalb auf die Modernisierung des Staats im Sinne der Reduzierung des öffentlichen Sektors, der Einschränkung öffentlicher Leistungen und der Effizienzsteigerung der Administration auf der einen Seite und auf die Neujustierung des Verhältnisses von Arbeit und Kapital auf der anderen. Politisch war dies trotz großer Proteste auf der Straße umso eher durchsetzbar, als die mit der politischen Elite gut vernetzte Ober- und obere Mittelschicht ohnehin wenig Interesse am Erhalt oder sogar Ausbau des schwach entwickelten partikularistischen griechischen Sozialstaats und seiner geringen öffentlichen Leistungen hat. Diese Schichten haben private Krankenversicherungen, lassen sich in England, den USA oder Deutschland operieren und schicken ihre Kinder in private Schulen in Griechenland und Universitäten im Ausland.

Tatsächlich wurden seit 2010 der öffentliche Sektor verkleinert und öffentliche Leistungen reduziert. Zunächst wurde ein Teil der frei werdenden Stellen nicht wiederbesetzt, die Gehälter gekürzt und Sonderzahlungen wie das 13. und 14. Monatsgehalt seit 2012 ganz gestrichen. Seit 2013 werden zusätzlich Angestellte und Beamte des öffentlichen Sektors entlassen (4000 in 2013, 15.000 bis Ende 2014) - verbunden mit der Ankündigung, dass ein

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Teil ihrer Stellen mit jüngeren qualifizierten Bewerbern/innen besetzt werden soll. Bis 2015 sollen 150.000 Stellen im öffentlichen Sektor wegfallen. Die Einschränkung öffentlicher Leistungen spürten als erste die Rentner und Rentnerinnen, Kranke und Schulkinder sowie alle Beschäftigten des öffentlichen Sektors, deren Arbeit verdichtet und deren Löhne zwischen 15 und 30 Prozent gekürzt wurden – wenn sie denn überhaupt ihren Lohn erhielten. Auf Lohn müssen viele monatelang warten. Ein wichtiger Teil der Reduzierung des öffentlichen Sektors sollte die Privatisierung von Unternehmen in öffentlicher Hand sein. Die hierzu gegründete griechische Treuhand ist damit bis heute kaum vorangekommen. Lediglich hoch-profitable Bereiche wie der Hafen in Piräus oder das staatliche Lotteriemonopol konnten bisher erfolgreich (teil)privatisiert werden. Alles in allem wurde die Ausgaben für den öffentlichen Sektor um mehr als 25 Prozent gekürzt und Steuern um mehr als 20 Prozent angehoben.

Einschneidend sind die Veränderungen im Verhältnis von Arbeit und Kapital. Die von der Troika und der griechischen Regierung vereinbarten Reformen folgen weitgehend einer marktliberalen Agenda und decken sich in vielen Punkten mit den Vorschlägen, die der griechische Industriellenverband 2010 vorgelegt hat: Lohnsenkungen per Gesetz, Senkung des Mindestlohns und des steuerfreien Existenzminimums (um 22 Prozent, für neue Eintritte auf den Arbeitsmarkt um 32 Prozent), Verringerung der Sozialbeiträge der Arbeitgeber, Flexibilisierung des Arbeitsmarkts durch geringeren Kündigungsschutz, Verringerung von Abfindungszahlungen und Ausschalten von Schlichtungsverfahren und Deregulierung der überbetrieblichen Lohnfindung (die wegen einer Vielzahl von Spartengewerkschaften und des Fehlens eines gewerkschaftlichen Dachverbands ohnehin schwach entwickelt war). Bemerkenswert sind ferner Kompetenzbeschränkungen der Wettbewerbskommission, Outsourcing der Gewerbeaufsicht und der Vergabe von Gewerbelizenzen, geringere Steuern für Exportunternehmen und Einschränkungen des Umweltschutzes, die in jüngster Zeit auch die Erlaubnis zum Bauen in touristisch aussichtsreichen Naturschutzgebieten einschließen. Die Interessen des Kapitals werden massiv gegenüber den Ansprüchen der Arbeit gestärkt, der eine Kürzung von über 15 Prozent zugemutet wird.

Im Glauben an den Erfolg der Angebotspolitik und die Segnungen der Finanzialisierung5, den alle Mitglieder zu Beginn der EWU teilten, hat Griechenland seit Einführung des EURO die Steuern gesenkt und die Steuerprivilegien der Oberschicht6 und der griechischen orthodoxen Kirche beibehalten und die Steuervermeidung der oberen Mittelschicht weiter toleriert. Im Ergebnis führte dies bis 2013 zu einem Rückgang der öffentlichen Einnahmen von 43 Prozent auf 37 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und einer entsprechenden Zunahme der öffentlichen Verschuldung. Die seit 2010 eingeleiteten Maßnahmen haben dieses Missverhältnis nicht korrigiert. Im Gegenteil: Steuern auf Gewinne wurden weiter gesenkt, dagegen Einkommens- und Verbrauchssteuern und Abgaben auf Immobilien, über die in Griechenland auf der Grundlage der vorherrschenden Familienökonomie und als Schutz

5 Damit bezeichnet man den Prozess, durch den der Finanzsektor die Oberhand gewinnt über den Sektor der

Realwirtschaft. Er ist verbunden mit der Deregulierung der Finanzmärkte, der wirtschaftspolitischen

Zurückhaltung der Politik (Gerhard Schröder: Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt), Zunahme der

Unternehmens- und Haushaltsverschuldung, steigende Einkommens- und Vermögensungleichheit und globale

Ungleichgewichte. 6 Die griechischen Reeder, die eine der größten Handelsflotten der Welt besitzen, zahlen im Augenblick

pauschal 140 Millionen Steuern. Für das nächste Jahr wurde die Verdoppelung dieser Pauschale verabredet.

Das ist international wegen der glaubwürdigen Drohung des Umflaggens nicht unüblich, hat aber in der

gegenwärtigen Krise, die den kleinen Kioskbesitzer in den Ruin besteuert, absolut nichts mit einer fairen

Besteuerung zu tun.

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gegen Inflation nahezu jeder Haushalt verfügt, zum Teil drastisch angehoben. Die Steuerprivilegien bleiben weitgehend unangetastet.

Ziel all dieser Maßnahmen ist die Reduzierung der als „unproduktiv“ angesehen Kosten des öffentlichen Sektors und die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Wirtschaft durch interne Abwertung. Da Griechenland in der EWU die externe Abwertung einer eigenen Währung versperrt ist und der eingeschlagene Weg der Finanzialisierung fortgesetzt werden soll, bleiben ihm, so die marktliberale Agenda, neben der Steigerung der Produktivität und der Arbeitsmigration nur die Senkung der Lohnkosten. Sie soll den griechischen Export beflügeln und ausländische Direktinvestitionen anlocken, um so das strukturelle Ungleichgewicht zwischen einem Leistungsbilanzdefizitland wie Griechenland und dem Leistungsbilanzüberschuss von Ländern wie Deutschland, den Niederlanden, Österreich oder Finnland nach und nach auszugleichen. Im Fokus der diversen europäischen „Rettungspakete“, die auch von der Opposition im Deutschen Bundestag mitgetragen wurden, steht diese Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit durch die innere Abwertung, d.h. vor allem durch die Kürzung von Löhnen und die Verkleinerung des Kostenfaktors öffentlicher Sektor als Gegenleistung für neue Kredite. 7

Aus der Krise wachsen? Alternativen zum Sparen?

So einseitig die marktliberale Agenda auch sein mag: Alternativen sind rar. Die Forderung nach Steigerung der öffentlichen Ausgaben würde nicht nur den Schuldenstand über die Maßen steigern. Angesichts der strukturellen Ausgangslage in Griechenland – hohe Importorientierung, großer Bereich der Schwarzarbeit, Steuerhinterziehung und ein mit 15 Prozent am BIP extrem kleiner produzierender Sektor – fehlen die Voraussetzungen für die Steigerung eines sich selbst tragenden Wachstums, das dann auch die Einnahmen der öffentlichen Hand steigern und aus der Krise führen könnte. Konjunkturprogramme, erst recht große, wie sie seit einiger Zeit laut gefordert werden, führen auf dieser Basis vor allem zur Steigerung des Konsums, können also kurzfristig durchaus helfen, überwinden aber nicht die strukturellen Schwächen der griechischen Wirtschaft.

Eingriffe in die Tarifautonomie durch Dezentralisierung des Tarifwesens, Lohnkürzungen durch Steigerung der Konkurrenz insbesondere im unteren Lohnbereich werden dadurch gerechtfertigt, dass in Griechenland die Löhne in den Jahren 2000 bis 2008 im europäischen Vergleich weit überdurchschnittlich gestiegen seien. Hierzu hat maßgeblich die einheitliche Zinspolitik der EZB beigetragen, die sich auf die Preisentwicklung in Ländern mit schwachem Preisauftrieb wie Deutschland dämpfend auswirkte und damit zur Steigerung ihrer Exportüberschüsse beitrug, während sie in Länder wie Griechenland den starken Lohn- und Preisauftrieb und die gesamte Binnenkonjunktur durch zu billige Kredite zusätzlich anheizte. So kam es, dass die Löhne in Griechenland stärker stiegen als in anderen Ländern und sich die griechischen Pro-Kopf-Einkommen dem europäischen Durchschnitt mit

7 Siehe Christian Thimann (Generaldirektor der EZB und Berater ihres Präsidenten Mario Draghi):

„Wettbewerbsfähigkeit als Leitmotiv“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. August 2013. Zentrale Botschaft

an Griechenland: innere Abwertung! Zugleich macht Thiman darauf aufmerksam, dass einem Defizitland wie

Griechenland auch durch eine drastische Steigerung der Löhne in Überschussländern wie Deutschland nicht

geholfen wäre. Was ist gewonnen, wenn die griechische Mittelschicht künftig mehr Toyota als BMW kauft?

Griechenland müsste einen eigenen PKW bauen und erfolgreich verkaufen. Nennenswerte Effekte von

Lohnsteigerungen in Deutschland auf die deutsche Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen aus den

Defizitländern sind insgesamt nicht zu erwarten. Gewinnen würden z.B. die deutsche Konsumgüterindustrie

und Österreich. Siehe die Kalkulationen zu „Rebalancing the Eurozone“:

http://blog.ecipe.org/2013/01/rebalancing-eurozone-role-of-northern.html

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weiterhin großem Abstand von unten annähern konnten. Wichtig aber bleibt die Feststellung, dass dieser Lohnanstieg in den letzten 15 Jahren stets hinter dem Anstieg der Produktivität zurückblieb. Was den öffentlichen Sektor betrifft, so befindet sich der griechische (je nach Berechnungsmethode) mit 21-24 Prozent der Beschäftigen (Stand 2013) etwa im europäischen Mittelfeld, er ist wesentlich größer als der deutsche (14), etwa so groß wie der britische, aber wesentlich kleiner als der französische (30), der dänische und schwedische (32-33). Allerdings sind hier die Kosten wegen überdurchschnittlich hoher Lohnsteigerungen besonders stark angewachsen: in Griechenland in den letzten 10 Jahren um 110 Prozent (zum Vergleich: Deutschland 13%, Frankreich 30%, Italien 40%, Spanien 50%). Eine andere Frage ist freilich, ob der griechische öffentliche Sektor ähnlich effizient arbeitet wie der in Deutschland oder Britannien. Das ist beim griechischen Klientelstaat mit Sicherheit nicht der Fall und dürfte auch zu einem erheblichen Teil mit zu den Wettbewerbsnachteilen der griechischen Wirtschaft beitragen. Das Problem ist nur, dass die marktliberale Therapie der inneren Abwertung, die von der Troika vertreten wird, den öffentlichen Sektor nur als Kostenfaktor und nicht als Produktivitätsfaktor in Rechnung stellt und insofern gegenüber der Reduzierung ein allenfalls nachgeordnetes Interesse an der Modernisierung der öffentlichen Verwaltung hat. Das sieht die sogenannte Task-Force8, eine Gruppe von EU-finanzierten Experten zur technischen Beratung der griechischen Regierung, anders. Sie will den öffentlichen Sektor nicht verkleinern, sondern modernisieren: die Organisation straffen, das Personal dorthin versetzen, wo es gebraucht wird, und bürgerfreundlicher orientieren. Im Zweifelsfall aber überstimmt die Troika die Task-Force.

Neben der Kürzung der Renten wurde auch die Reform des extrem zersplitterten Pensionssystems eingeleitet. An ihr waren frühere Regierungen (Regierung Kostas Simitis 1996-2004) in wirtschaftlich besseren Zeiten gescheitert. Seit langem war klar, dass das griechische Pensionssystem nach Berechnungen der OECD im Jahr 2050 bis zu 12 Prozent des BIP in Anspruch zu nehmen würde (zum Vergleich: der EU-Durchschnitt wird bei weniger als 3 Prozent erwartet). Das ist für eine rapide alternde Gesellschaft wie die griechische nicht verkraftbar. Im Juli beschloss deshalb das griechische Parlament das Renteneintrittsalter für Männer und Frauen von 60 auf 65 Jahre hochzusetzen, Frühpensionierungen mit hohen Strafen zu sanktionieren und Teilrenten für Erwerbstätige vor dem 55. Lebensjahr ganz auszuschließen. Bis 2018 soll die Vielzahl der Pensionsfonds auf drei reduziert werden verbunden mit der Kürzung von Leistungen für Professionen wie Rechtsanwälte, Journalisten und Ärzte. Schließlich fällt auf, dass bei allen Sparanstrengungen der Verteidigungshaushalt bis heute weitgehend verschont bleibt. Mit 4,5 Prozent des BIP gehört er weltweit zu den größten (OECD-Durchschnitt: 1,75-2,00 Prozent). Rüstungslieferungen waren immer schon ein bevorzugtes Geschäft für die griechische Oberschicht und die politische Elite – und die internationalen Konzerne aus den USA, Frankreich und Deutschland. Zugleich gewinnt man den Eindruck, als solle in Zeiten rapide schwindender Staatsloyalität wenigstens die Loyalität des Militärs gesichert werden.

Erfolge, Hoffnung?

Diese Konsolidierungspolitik, die den öffentlichen Haushalt um 20 Prozent (etwa 50 Mrd. EUR) und das BIP um 30 Prozent schrumpfen ließ, hat Griechenland in die schwerste, nunmehr ins vierte Jahr gehende Rezession geschickt und die Staatseinnahmen weiter sinken lassen - mit einer Arbeitslosigkeitsrate von etwa 27 Prozent und weit über 50 Prozent der Arbeit suchenden Jugendlichen. Diejenigen, die noch Arbeit finden, müssen sie zu erheblich verschlechterten Bedingungen erbringen. Neben den abhängig Beschäftigten gehört die untere

8 http://ec.europa.eu/commission_2010-2014/president/taskforce-greece/

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Mittelschicht zu den großen Verlierern dieser Politik. Sie leidet unter der drastisch verringerten Nachfrage auf dem griechischen Markt. Mehr als 60.000 kleine und mittlere Unternehmen (bei ihnen sind außerhalb des Agrarsektors 57 Prozent der griechischen Erwerbstätigen beschäftigt; zum Vergleich: im Industrieland Deutschland sind es 18 Prozent) gingen seit 2010 pro Jahr Pleite. Mit der griechischen Familienökonomie, die immer schon wenig produktiv und wegen fehlender Mengenvorteile auf internationalen Märkten kaum konkurrenzfähig und deshalb auf den heimischen Markt angewiesen war, geht gegenwärtig die Grundlage einer Gesellschaft verloren, deren Zusammenhalt im Wesentlichen auf Familiensolidarität statt auf universalistischen sozialstaatlichen Leistungen beruhte. Diese Menschen wandern zu einem guten Teil in die Schattenwirtschaft ab, deren Umfang heute von der OECD auf 24,6 Prozent des BIP geschätzt wird.9 Griechenland macht gegenwärtig eine Phase durch, die der frühen Industrialisierung in Mittel- und Nordeuropa ähnelt: es soll eine Klasse von Eigentumslosen entstehen, die ihre Arbeit zu minimalen Bedingungen anbieten müssen.10 Der Unterschied liegt nur darin, dass absehbar in Griechenland keine wettbewerbs- und exportfähige „große Industrie“ entsteht und der bisher schwache, partikularistische Sozialstaat weiter demontiert wird. Am deutlichsten wird dies an der Zerstörung des Gesundheitssystems : über 40 Prozent der Menschen besitzen nach offiziellen Angaben keine Krankenversicherung mehr, am Anstieg der Selbstmorde und der Obdachlosen und an der nicht enden wollenden Auswanderung der besser Qualifizierten. Aktuell wird über das Ende des seit 2007 bestehenden der Versteigerungsschutzes für den Hauptwohnsitz insolventer Kreditnehmer gestritten. Troika und IWF sagen, dass dieses Moratorium auch von Kreditnehmern ausgenutzt wird, die de facto ihre Kredite noch bedienen könnten. Das Moratorium schütze sie vor Konsequenzen, die Last werde so auf die Banken und auf die Steuerzahler umverteilt, die die Banken rekapitalisieren müssen. Wie viele der Kreditnehmer wirklich schutzbedürftig sind, ist unklar. Die Regierung möchte es beim Moratorium belassen. Sie fürchtet in dieser Sache um ihre parlamentarische Mehrheit, weil eine Welle von Immobilienversteigerungen zu einem Aufstand führen könnte. Unterdessen steigen in Griechenland in der Rezession die Schulden immer weiter an, trotz eines Schuldenschnitts von 100 Mrd. EUR und trotz Zinsen für die Hilfskredite knapp über der Inflationsrate. Beim Ausbruch der Krise lagen sie bei 130 Prozent BIP, heute liegen sie bei 175 Prozent. Die privaten Sparguthaben wurden um etwa 30 Prozent „entspart“ oder in einem Umfang von über 260 Milliarden EUR ins Ausland verlagert, die private Verschuldung steigt, 25 Prozent der Kredite privater Haushalte und 31 Prozent der Kredite von Unternehmen werden zur Zeit nicht mehr bedient.11 Im Gegenzug flossen laut über 200 Mrd. EUR Schwarzgeld nach Griechenland, die dort wegen der allgemeinen Kapitalknappheit reißenden Absatz finden und vor allem in der Schattenwirtschaft zum Einsatz kommen, „gewaschen“ werden und sich langfristig als ein Hindernis für die Entwicklung eines demokratischen Gemeinwesen erweisen könnten.12

Gibt es Hoffnungszeichen? Wurden mit den hohen ökonomischen und sozialen Kosten die „Wettbewerbsfähigkeit“ der griechischen Wirtschaft verbessert, das strukturelle Ungleichgewicht verringert und damit die Grundlagen für selbsttragendes wirtschaftliches

9 Siehe http://de.statista.com/statistik/daten/studie/163720/umfrage/schattenwirtschaft-in-der-oecd-2010/.

10 In diese Richtung gehen die Überlegungen von Aristos Doxiadis: „Griechische Wirtschaft. Kleinunternehmer,

Rentiers, Opportunisten – Institutionen, Mentalitäten“, Lettre Internationale 094, Herbst 2011 (Auszug unter:

http://www.lettre.de/archiv/94-doxiadis), englisch: „The real Greek economy: owners, rentiers, opportunistis“,

Open Democracy 23. September 2010 (http://www.opendemocracy.net/aristos-doxiadis/owners-rentiers-

opportunists) 11

Vgl. Charles Wyplosz, Messing up the Greek debt relief could endanger the Eurozone (23.9.2013)

(http://www.voxeu.org/article/next-greek-package-dangers-ez) 12

Siehe Untersuchung von Global Financial Integrity: http://www.gfintegrity.org/content/view/574/70/.

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Wachstum und die erhoffte Rückkehr an den Kapitalmarkt gelegt? Das griechische Finanzministerium hat für 2013 einen Primärüberschuss ausgewiesen: abzüglich des Schuldendienstes sollen die staatlichen Einnahmen die Ausgaben um mehr als 2,5 Mrd. EUR übersteigen. Zweifel sind angebracht. Es ist eher damit zu rechnen, dass Zahlungen in die Zukunft verschoben werden: die Zahlung von Löhnen im öffentlichen Sektor und von Dienstleistungen, die von Privaten für den öffentlichen Sektor erbracht werden. Die Verwendung der Erlöse aus Privatisierungen für kurzfristige Verbindlichkeiten wird auf mittlere und längere Sicht die Solvenz Griechenlands weiter schwächen. Aber das sind Vermutungen, die sich auf die bisherigen Erfahrungen mit der griechischen Haushalts- und Finanzpolitik stützen.13 Die Importe sind relativ zu den Exporten rückläufig, was aber weniger mit gesteigerter Wettbewerbsfähigkeit, als mit der schwachen Nachfrage zu tun haben dürfte.

Kommt neben dem Abbau auch die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung und der Staatsbetriebe Griechenlands voran? Daran wird gearbeitet – von der Troika vor allem mit der Absicht der Verkleinerung des öffentlichen Sektors, von der Task-Force im Sinne des Aufbaus moderner Staatlichkeit. Erstmals gibt es ein umfassendes EDV-gestütztes Personenstandsregister. Auch die steuerliche Erfassung könnte eines Tages funktionieren. Viel Geld investiert die EU in die erstmalige Erstellung eines nationalen Katasters. Griechenland – seit 33 Jahren Mitglied der EU – ist das einzige Land der EU ohne verbindliche Übersicht über die Besitzverhältnisse an Grund und Boden. In den 400 Grundbuchämtern gibt es ausschließlich personenbezogene Einträge: das Land des Dimitris reicht vom Olivenhain des Nikos bis zur Kirche. Bis heute ist etwas mehr als ein Drittel der Landesfläche erfasst. Die Umsetzung wird erschwert, weil ihr viele Interessen entgegenstehen. Auf Attika wurde im Zuge der Katastererstellung festgestellt, dass dort Immobilien deklariert wurden, deren Gesamtfläche die Attikas um das Doppelte übersteigt. Der Grund: Grundstücke von im Ausland lebenden Griechen wurden gleich von mehreren Nachbarn beansprucht, in der Hoffnung, den eigenen Grund und Boden zu mehren. Ein weiterer Grund sind die Vorgaben für die Größe eines Grundstückes, das bebaut werden darf. Die meisten Grundstücke sind deshalb auf dem Papier größer als in Wirklichkeit. Eine große Rolle spielen auch die Agrarsubventionen der EU, die auf die landwirtschaftlich genutzte Fläche bezogen sind. Je größer das Feld, desto mehr EU-Gelder fließen. Spötter meinen, dass die Fläche des in Brüssel gemeldeten Agrarlands wohl die Gesamtgröße Griechenlands deutliche übertrifft. Geht es beim Kataster um die Durchsetzung moderner nationaler Staatlichkeit gegen lokale und private Interessen, so richten sich andere Bemühungen der Task-Force auf die Modernisierung dieses Zentralstaats. Dass griechische Behörden aus Abteilungen bestehen, die manchmal kaum mehr als den Leiter, einen Stellvertreter und eine Sekretärin haben, ist als Problem erkannt. Ebenso, dass viele Menschen einfach nicht für die ihrer Stelle zugeordnete Aufgabe qualifiziert sind. Der erforderliche Umbau braucht viel Zeit. Faktisch findet er aber unter Bedingungen größter Unsicherheit des Personals und größten Zeitdrucks statt. Die Entscheidungen für den Fortfall einer Stelle oder die Entlassung einer Person folgen überwiegend Opportunitätskriterien: wo geht es am leichtesten? Von den 267.000 Männern und Frauen, die (Stand Juni 2014) seit Beginn der Reformpolitik aus dem öffentlichen Sektor ausgeschieden sind, wurden 100.000 Beamte größtenteils mit

13

Anmerkung vom April 2014: Eurostat hat den von Griechenland gemeldeten Primärüberschuss anerkannt,

allerdings den gemeldeten Überschuss von 3,4 Mrd. auf 1,5 Mrd EUR reduziert. Doch auch dieser Betrag wird in

Zweifel gezogen, z.B. von Yanis Varoufakis: Greek statistics are back: primary deficit presented as surplus, with

Eurostat’s seal of approval. http://yanisvaroufakis.eu/2014/04/24/greek-statistics-are-back-primary-deficit-

presented-as-surplus-with-eurostats-seal-of-approval/ Auch Varoufakis Argumente werden in Zweifel gezogen.

Die Kritik ist auf derselben Website dokumentiert.

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Abfindungen in den Ruhestand versetzt und 167.000 befristet Angestellte entlassen. Die Versetzung auf eine andere Stelle wird von den Betroffenen und den Gewerkschaften so lange wie möglich verzögert. Ein Umbau nach Fach- und Sachgesichtspunkten ist so äußerst schwierig. Während etwa 60 Prozent der griechischen Bevölkerung den Um- und den Abbau einschließlich der Privatisierung oder Abwicklung öffentlicher (defizitärer) Betriebe begrüßen, wird er den Beschäftigten, ihren Gewerkschaften und von der Opposition bekämpft. Aktuell wird das an den Plänen zur Privatisierung des staatlichen Strommonopolitischen DEI sichtbar, der über Jahrzehnte die Modernisierung der Energieproduktion in Griechenland und die Einführung erneuerbarer Energien blockiert hat, während er seine Angestellten mit überdurchschnittlichen Löhnen und einer hoch dotierten Kranken- und Pensionskasse bei Laune hielt. Die Opposition, die jede Privatisierung ablehnt, tut so, als würde die Privatisierung einen blühenden Betrieb zerschlagen, der unendlich viel zum Wohle des Landes beigetragen habe und verlangt – ohne Erfolg - ein Referendum. Auch fast alle Kommunen, denen die Zentralregierungen einen Großteil der Last der Entlassungen auflädt, lehnen den Umbau unter der Bedingung des Personalabbaus ab. Sie sehen ihre Beteiligungsrechte beschnitten, aber wohl auch ihr Patronagesystem gefährdet. Mehr als 40 Bürgermeister drohten eine Zeit lang mit ihrem Rücktritt oder sind tatsächlich zurückgetreten. Die Fronten sind so verhärtet, die Menschen so verbittert, dass sachliche Argumente nur selten eine Chance haben. So auch in den Fällen, wo offensichtlich klientelistische Personalwirtschaft in defizitären öffentlichen Betrieben die Privatisierung nahelegen, die Menschen dies jedoch angesichts des allgemeinen Privatisierungsfurors aus Prinzip ablehnen und hierzu von der Fundamentalopposition im Parlament aufgehetzt werden.

Im Klientelstaat sind öffentliche Güter privat.14

„Es geht um die Athener Straßenbahn, die knapp vor den Olympischen Spielen von 2004 fertig wurde. Das staatliche Unternehmen TRAM AE betreibt eine bescheidenes „Netz“ von 26 Kilometer Länge (es handelt sich eigentlich nur um eine einzige gegabelte Linie, die das Athener Zentrum mit Piräus bzw. dem Küstenvorort Glyfada verbindet). 2004 geriet das Unternehmen, das mit einer Belegschaft von 190 Leuten gestartet war, in die Hände der Regierung von Kostas Karamanlis. In nur fünf Jahren ND-Regiment (Neue Demokratie, heute geführt von Ministerpräsident Antonis Samaras) häufte die TRAM AE bis 2009 ein Defizit in Höhe eines dreistelligen Millionen-Betrags auf. Im selben Zeitraum erhöhte das Unternehmen seinen Personalbestand auf 690 Angestellte. Die Tram- Linie war in diesem Zeitraum um 690 Meter verlängert worden. Mit anderen Worten: Der Expansion des „Streckennetzes“ um 2,5 Prozent stand eine Expansion des Personals um 363 Prozent gegenüber. Die Geschichte hat kürzlich der Journalist Giorgos Papachristos in der Zeitung Ta Nea (vom 9. Juli 2013) rekonstruiert. Er beruft sich dabei auf Zeitzeugen, die im Jahre 2009, als Karamanlis auf vorzeitige Neuwahlen zusteuerte, die Expansion des Betriebs aus der Nähe erlebt haben. Demnach hat die ND ihre Leute in das Unternehmen „durch Fenster und Türen, durch Oberlichter und Lüftungsklappen“ eingeschleust, wie Papachristos ironisch schreibt. Die klientelistische Orgie zwang die Geschäftsführung sogar, zusätzliche provisorische Büroräume anzumieten, um all die überflüssigen „blauen Leute“ (blau ist die Farbe der ND) überhaupt unterbringen zu können.“ (Kadrizke)

14

Niels Kadrizke: „Der Verkauf von öffentlichen Gütern inmitten einer ökonomischen Depression und einer

abgrundtiefen Krise der öffentlichen Finanzen ist eine volkswirtschaftliche Untat“, NachDenkSeiten, 16. Juli

2013 (http://www.nachdenkseiten.de/?p=17985)

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Klientelstaat statt Sozialstaat

Auch wenn die Mehrheit der Griechen über den öffentlichen Sektor schimpft: er ist Teil ihres Konzepts der Daseinsvorsorge. Natürlich erbringt der öffentliche Sektor im griechischen Klientelstaat auch öffentliche (Teil)Leistungen15, in erster Linie aber dient er der Versorgung. Griechenland hat einen sehr fragmentierten Sozialstaat mit einer unübersehbaren Zahl von Kassen, Renten und Versorgungssystemen. Eine universalistische Sozialhilfe gibt es nicht. Derweil wären, nach den Maßstäben entwickelter Wohlfahrtsstaaten wie Deutschland, die Menschen in der aktuellen Krise besonders auf einen starken Wohlfahrtsstaat angewiesen. Schon vor Ausbruch der Krise war Griechenland eines der Länder mit der höchsten Armutsraten bei den über 65-Jährigen, 23 Prozent der Rentner hatten weniger als die Hälfte des mittleren Einkommens. Staatliche Unterstützung gibt es nicht für sie. Aber es gibt den öffentlichen Sektor, der bis zum Beginn der auferlegten Konsolidierungspolitik als Ressource für die Familienökonomie genutzt wurde: jede Familie versucht in Griechenland mindestens ein Mitglied in diesem öffentlichen Sektor in Verwaltung, Ministerien oder staatlichen Betrieben unterzubringen, von dessen materiellen Privilegien kann dann die ganze Familie profitieren. Die Gehälter im öffentlichen Sektor waren – bis zur Krise – überdurchschnittlich und stiegen überdurchschnittlich – in deutlichem Unterschied zum privaten Sektor. Mit 55 Jahren konnten Mitarbeiter des öffentlichen Sektors sich pensionieren lassen – im privaten Sektor nicht. Der durchschnittliche Rentenbeginn lag in Griechenland bei 61 Jahren, so wie in Deutschland auch. Die Renten der ehemaligen Staatsdiener lagen oft über ihrem letzten Gehalt aus aktiver Beschäftigung – im privaten Sektor liegen sie weit darunter. Klientelismus und Patronage, die in Griechenland wie in den meisten Balkanstaaten die Gestalt eines wettbewerblichen Partikularismus annehmen16, verschaffen den Zugang zum öffentlichen Sektor, der wiederum die Ressourcen bereitstellt für die partikularistische Familiensolidarität.17 Dieser Zusammenhang wird aktuell zerstört. Der öffentliche Sektor lässt sich immer weniger als Ressource für die familieninterne Umverteilung nutzen. Doch an die Stelle des partikularistischen Klientelstaates tritt nicht ein moderner universalistischer Wohlfahrtsstaat, sondern der minimalistische „Konsolidierungsstaat“.

Tourismus – Energie - Landwirtschaft

Die zwei wichtigsten Wirtschaftssektoren Griechenlands sind der Tourismus und die Landwirtschaft. Auch die Energiewirtschaft könnte eine bedeutende Rolle spielen. Im Tourismus werden seit zwei Jahren neue Besucherrekorde verzeichnet. Man wird sehen, wie die Bilanz für 2014 aussehen wird. Eins jedoch zeichnet sich bereits heute ab: Griechenland wird einen deutlichen Anstieg des Massen- und Billigtourismus erleben. Internationale 15

Ein Beispiel für öffentliche Teil-Leistungen ist das Bildungssystem. Es gibt ein öffentliches Bildungssystem mit

Schulpflicht und kostenloser Schule. Aber wessen Kinder das Abitur machen sollen, der muss sie nachmittags

für viel Geld in die privaten Nachhilfeschulen schicken, an denen vielfach Lehrer der öffentlichen Schulen ihr

zweites Einkommen erzielen. Ohne diese Nachmittagsschulen schafft praktisch niemand das griechische Abitur! 16

Dazu gehören: Es gibt einen Wettbewerb um die Macht (meist zwischen Parteien); wer die Wahl gewinnt,

nimmt den Staat in Besitz (state capture), verteilt öffentliche Güter nach partikularistischen, jedoch nicht

voraussehbaren Gesichtspunkten (Klientelismus, Patronage); es gibt keine klare Grenze zwischen öffentlich und

privat, informelle Institutionen und personelle Beziehungen verhindern formale Institutionen und die

Herrschaft des Gesetzes; es herrscht eine kollektivistische Mentalität; Regierungen werden nur dann zur

Verantwortung gezogen (z.B. wegen Korruption angeklagt), wenn sie die Macht verloren haben. Siehe den

Report „Contextual Choices in Fighting Corruption: Lessons Learned“. NORAD (Norwegian Agency for

Development Cooperation) Report 4/2011 – Study (http://norad.no/en/tools-and-

publications/publications/publication?key=383808). 17

Siehe Waltraut Schelkle: „Der Fanatismus der Zentralbank“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.02.2012.

Dasselbe Argument auch bei Doxiadis (Anm. 10).

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Tourismuskonzerne haben in den meist kleinen Hotels Kontingente zu Niedrigstpreisen gekauft und schicken nun ihre Kunden in den „all inclusive-Urlaub“. Das mag für diese Konzerne ertragreich sein. Für die kleinen Hotelanlagen und die Tavernen ist es das nicht. Die einen sind zu klein, ihnen fehlen Logistik und Infrastruktur, um aus der Masse auch bei Niedrigstpreisen hinreichend Gewinn ziehen zu können. Die anderen bleiben leer. Der Entwicklung eines eher hochpreisigen ökologischen Tourismus, der an die Kleinteiligkeit der Landschaft und der touristischen Angebote anknüpft, wird durch die beschlossene Freigabe der Bebauung in touristisch aussichtsreichen Gebieten unter Einschluss von Naturschutzgebieten buchstäblich der Boden entzogen.

Der griechische Export könnte kurzfristig von der Senkung der Lohn/Stückkosten profitieren, solange die niedrigen Kosten die Abschläge für schlechtere Qualität und geringe Innovationsfähigkeit überkompensieren. Insgesamt muss in Griechenland nach Jahren der De-Industrialisierung aber erst wieder eine Industrie für den Export und die Substitution von Importen entstehen. Das gilt auch für die griechische Landwirtschaft, die schon seit Jahren mehr Lebensmittel importiert als exportiert. Exportchancen könnte auch eine griechische Energiewirtschaft haben, wenn sie in ein europäisches System der Förderung und Verteilung erneuerbarer Energien integriert würde.18 Der Ausbau der erneuerbaren Energien ist aktuell wegen des Zusammenbruchs des Einspeisesystems zum Erliegen gekommen. Die Einspeisevergütungen waren zu großzügig bemessen. Eine Neujustierung steht aus. Die Energiewende wird zudem durch den Ausbau des griechischen Braunkohle-Kraftwerksparks verhindert. Mit Unterstützung der öffentlichen deutschen Entwicklungsbank KfW und Kreditgarantien der deutschen Regierung sollen für 1,65 Mrd. EUR 5 Blöcke des Braunkohlekraftwerks Ptolemaida in West-Makedonien erneuert bzw. durch aus Deutschland gelieferte Kohlekraftwerke ersetzt werden. Damit wird der Markt für erneuerbare Energie für Jahrzehnte verstopft. Auf erneuerbare Energien setzt außer im Bereich der Thermosolarenergie niemand. Im Vordergrund steht die Ausrichtung auf vermeintlich leicht zu realisierende Gewinne aus der Trans-Adriatischen-Pipeline für Erdgas von Aserbaidschan nach Italien19, die durch Griechenland und Albanien führen soll; durch die Ausbeutung von Gold in Nord-Griechenland20 und von Erdgas und Erdöl im Mittelmeer. Hier werden in der Tat sehr große Vorkommen vermutet, von denen Griechenland sich eine strategische Aufwertung und die Schaffung zahlreicher neuer Arbeitsplätze erhofft.

Nationalistische und zivile Gegenbewegungen

In mehreren Absichtserklärungen gegenüber dem IWF haben sich die griechische Regierung und die sie tragenden Parteien zu „einem vom politischen Druck abgeschirmten Prozess verpflichtet.“21 Hierzu greift die griechische Regierung verstärkt auf das Instrument des Präsidialerlasses und der Notverordnung zurück, um langwierige parlamentarische Verhandlungen zu umgehen. Das Regieren in Griechenland nimmt autoritäre Züge an. Das kann auch nicht anders sein, wenn das primäre Ziel darin besteht, das Vertrauen der EU Kommission, der Finanzinstitutionen und der Finanzmärkte zu gewinnen – und nicht das der eigenen Bevölkerung. So beschließt die Regierung, was ihr aufgetragen wird, während große Teile der Bevölkerung eigene Wege gehen. Das erste Opfer ist das Parlament, dessen Debatten nur noch blinde Affirmation des Unvermeidlichen und ebenso blinde Ablehnung, 18

Siehe http://erene.org . ERENE steht für European Community for Renewable Energy. 19

Sie wird der South-Stream-Gazprom-Leitung Konkurrenz machen. 20

Siehe die Reportage die Konflikte um die Goldausbeutung von Alexandros Stefanidis und Ferry Batzoglou:

„Land in Flammen“ (Süddeutsche Zeitung Magazin, Heft 15/2013 (http://sz-

magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/39803/Land-in-Flammen). 21

Belege bei Markantonatou (Anm. 2).

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gepaart mit nationalistischen Angriffen von links und rechts kennen. Jenseits der institutionellen Demokratie und jenseits oder in den größer werdenden Lücken des zerfallenden Sozialstaats entsteht aber eine äußerst aktive Helferszene und Zivilgesellschaft. Nationalistische und rassistische Organisationen, allen voran die – inzwischen mit einem Verbot bedrohte - faschistische Partei „Chryssi Avgi“ (Goldene Morgenröte), drängen seit zwei Jahren mit ihren aus dunklen Quellen finanzierten Hilfeangeboten und Solidaritätsaktionen in die Öffentlichkeit. Sie berufen sich auf die Erfahrung und Ideologie der partikularistischen Familiensolidarität und nehmen für sich das Recht zur Selbstorganisation und zum Selbsthandeln in Anspruch. Doch ihre faschistischen Symbole und ihre Aktionen für „griechische Schulkinder“, ihre Essenstische „nur für Griechen“, ihre Angebote als „Ärzte mit Grenzen“ und ihre Hilfe für Obdach „für Griechen“ wollen den zivilen Umgang zwischen Menschen auf der Grundlage gleicher sozialer Rechte für alle Menschen endgültig hinter sich lassen. Diese Hilfe spricht „Opfer“ an und ist fürsorglich-paternalistisch. Dem stemmt sich die griechische Zivilgesellschaft entgegen, die mit ihrer politisch selbstbewusst selbstorganisierten Hilfe für alle Hilfebedürftigen die hochgradig gefährdete Zivilität erhalten, ja gegen den partikularistischen Klientelstaat ausbauen will: für Obdachlose, Kranke, Flüchtlinge, Asylsuchende und papierlose Einwanderer/innen. Mehr als 300 solcher Projekte sind in der Solidarity4all-Initiative zusammengeschlossen.22

Als in 2013 500 Jobs in der Landwirtschaft ausgeschrieben wurden, meldeten sich vier Griechen. Die griechische Landwirtschaft kommt trotz der hohen Arbeitslosigkeit nicht ohne die Unterstützung von Saisonarbeitern aus dem Balkan aus. Vielleicht waren die gebotenen Löhne zu niedrig. Vielleicht die finanziellen Reserven der Familien noch nicht aufgebraucht, so dass man bis zur Aufnahme solcher Arbeit noch Zeit zu haben glaubt und mit Schwarzarbeit besser fährt. Sicher ist, dass ein Teil der griechischen Bevölkerung dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung steht, weil sie sich in der Schattenökonomie aufhält oder in der sozialen Ökonomie jenseits von Markt und Klientelstaat versucht. Wie viele das sind, ist schwer abzuschätzen. Unterstützung finden sie durch die generell zu beobachtende Haltung, dass die Menschen sich nicht ohne weiteres in die Lohnarbeit zwingen lassen wollen, in der allein die Kapitalseite die Vertragsbedingungen diktiert. Auf der anderen Seite müssen die Menschen „Kooperation“ jenseits des vertrauten familiären Nahbereichs erst lernen und die interpersonalen Vertrauensbeziehungen entwickeln, die für ein selbstbestimmtes wirtschaftliches Handeln entscheidend sind, die aber durch das in Griechenland vorherrschende Handeln nach kurzfristigen opportunistischen Gesichtspunkten oft untergraben werden.23

Landwirtschaftliche Kooperativen haben in Griechenland eine lange Tradition, zu der auch gehört, dass sie sich großenteils durch unlautere Praktiken stark diskreditiert haben. Sie erschlichen im großen Stil EU Agrarsubventionen und schulden dem Staat Millionen EURO Mehrwertsteuer, sind ohne diese „Subvention“ unwirtschaftlich und lösen sich in der Krise vielfach wieder auf. Dennoch scheint der Genossenschaftsgedanke lebendig und attraktiv. Er wird begünstigt durch ein neues Gesetz zur Förderung der Sozialen Ökonomie von 2010. Trotz des Fehlens eines Mikrokreditsystems haben sich in den letzten Jahren bereits mehr als 120 solcher kooperativer Kleinbetriebe registriert; zahlreiche weitere werden gerade gegründet. Zu ihrem Geschäftsfeld gehört die Erbringung sozialer Dienstleistungen in den verschiedensten Bereichen (Weiterbildung, Gesundheit und Pflege, Kultur etc.) oder die Vermarktung von Produkten, der Erhalt traditioneller Berufe und Ressourcen (Pflanzensamen) und der Schutz der Umwelt (z.B. Energiegenossenschaften). Solche soziale

22

Siehe http://www.solidarity4all.gr. 23

Hierzu Doxiadis (Anm. 10).

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Unternehmungen erstrecken sich von kleinen Frauenkooperativen zur Vermarktung selbsthergestellter Regionalprodukte über Kooperativen von Bauern und Konsumenten für den Direktverkauf landwirtschaftlicher Produkte bis hin zum Angebot von Dienstleistungen rund um das Fahrrad, von der genossenschaftlichen Zeitung der Redakteure bis zum viel beachteten Experiment der Beschäftigtengenossenschaft des bankrotten Baustoffherstellers Vio.Me in Thessaloniki, die erstmalig in Griechenland den Versuch unternommen hat, einen Betrieb zu übernehmen und auf genossenschaftlicher Basis selbstverwaltet weiter zu betreiben. Hinzu kommen noch zahlreiche lokale Umsonstmärkte und Tauschringe mit Regionalwährungen, durch die die Menschen in griechischen Provinzen und Städten neue Modelle solidarischen Handels und Wirtschaftens erproben und praktizieren. Vieles ist hier noch im Fluss, es bleibt abzuwarten, welche der zahlreichen Initiativen Bestand haben werden. Meistens spielt bei ihren Unternehmungen die ideologische Entgegensetzung zum Markt, insbesondere zum globalen Finanzmarkt keine Rolle. Es genügt, dass der Finanzmarkt für die Vorhaben der sozialen Ökonomie kein Geld zur Verfügung stellt und deshalb andere Modelle der Finanzierung und Verantwortungsübernahme erforderlich macht, mit denen der Widerstand gegen Arbeitslosigkeit und die soziale und wirtschaftliche Ausgrenzung der Schwachen und Schwächsten geführt werden kann. Im Vordergrund der aktuellen Auseinandersetzungen steht dagegen eher der Konflikt mit dem griechischen Staat, der sich weigert, mit einer Novelle auch die steuerrechtlichen Grundlagen für genossenschaftlich-wirtschaftliches Handeln zu legen, bei dem die Menschen vor dem Profit rangieren.24 In Griechenland, wie in vielen anderen vom Marktliberalismus heimgesuchten Ländern, beginnt sich eine Gemeingüter-Ökonomie zwischen Markt und Staat zu formieren, die nicht zurück will zum Sozialismus: zu Bevormundung, staatlicher Kontrolle und Versorgung, sondern an den Entwicklungsmöglichkeiten anknüpft, die auch den marktliberalen Kapitalismus für breite Mittelschichten attraktiv erscheinen ließ: Eigenvorsorge, Leistung, sinkende Steuern, wachsende individuelle Freiheit und Selbstorganisation.

Konsolidierungsstaat

Die Europäische Währungsunion wurde erfunden, um durch den EURO als weltweite Reservewährung die transnationalen Konzerne Europas von den Instabilitäten des US Dollars unabhängiger zu machen. Innerhalb Europas sollten Wechselkursschwankungen und damit souveräne oder von den Märkten erzwungene Ab- oder Aufwertungen der nationalen Währung ausgeschlossen werden. Hierzu werden die Mitgliedsstaaten dem Konsolidierungsregime der EURO Kriterien unterworfen25, das auf mittlere Sicht sogar Verfassungsrang haben soll. Diese Art der wirtschaftlichen Integration Europas entspricht den Erwartungen der Kapitalhalter an Marktgerechtigkeit26 und soll ein für Finanzinvestoren

24

Ausführlicher zur griechischen Zivilgesellschaft Olga Drossou: „Griechische Zivilgesellschaft – Kampf für

Menschenrechte und Zivilisierung eines überforderten Landes“. Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches

Engagement, BBE Europa-Nachrichten- Newsletter für Engagement und Partizipation Nr. 4 vom 3.6.2013

(http://www.b-b-e.de/fileadmin/inhalte/aktuelles/2013/06/enl04_gastbeitrag_drossou.pdf) 25

Ich folge hier der Argumentation von Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen

Kapitalismus, Frankfurt/Main 2013, Kapitel III: Die Politik des Konsolidierungsstaates: Neoliberalismus in

Europa. 26

Siehe Streeck, S.91/92. Unter Marktgerechtigkeit versteht Streeck die „Verteilung des

Produktionsergebnisses nach der Bewertung der individuellen Leistungen der Beteiligten auf dem Markt.“ Der

Marktgerechtigkeit stellt er die soziale Gerechtigkeit gegenüber. Sie „bemisst sich an kulturellen Normen und

stützt sich auf Status- statt auf Vertragsrecht. Sie folgt kollektiven Vorstellungen von Fairness, Billigkeit und

Reziprozität, konzediert Ansprüche auf ein Mindestniveau der Lebenshaltung unabhängig von wirtschaftlicher

Leistung und Leistungsfähigkeit und kennt Bürger- und Menschenrechte, etwa auf Gesundheit, soziale

Sicherheit, Teilhabe am Leben der Gemeinschaft, Beschäftigungsschutz, gewerkschaftliche Organisierung usw.“

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günstiges „Investitionsklima“ schaffen. Ihre monetaristische Philosophie wird im Maastricht-Vertrag der Europäischen Union festgeschrieben. Kriterien, die zählen, sind Schuldenstand, Neuverschuldung und Inflation, nicht jedoch Produktivitätsentwicklung sowie Sozialleistungs- und Lohnniveaus. Heute ist klar: die unterschiedlichen Produktivitäten und Kosten, und damit die unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit, können zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten und Regionen im europäischen Währungsraum nicht mehr durch Wechselkursanpassungen ausgeglichen werden. Eine Angleichung sozialer Mindeststandards und Leistungsbilanzen sowie eine Art Finanzausgleich zwischen den Ländern, wie er innerhalb von Nationalstaaten meist praktiziert wird, ist jenseits der Verankerung sozialer Grundrechte im Primärrecht und über die Verteilungsfunktion der europäischen Regional- und Konversionsfonds hinaus nicht vorgesehen und ebenso wenig zu erwarten wie eine Monetarisierung der Staatsausgaben durch direkte Staatsfinanzierung durch die Europäische Zentralbank.27 Dieses Konstrukt verteilt die Lasten einseitig zu Ungunsten der schwächeren Länder Südeuropas und bevorzugt die starken Länder, die aufgrund ihres Leistungsbilanzüberschusses Kapital in die Defizitländer exportieren: Während es die Wettbewerbsfähigkeit der Exportindustrien der Leistungsüberschussländer durch einen schwach bewerteten EURO erhöht28, sollen die Leistungsbilanzdefizitländer durch Schrumpfung des öffentlichen Sektors und Senkung der Kosten für den Faktor Arbeit solange „intern abwerten“, bis das Vertrauen der internationalen Kapitalgeber gewonnen wird, d.h. bis die Kapitalgeber sicher sind, dass sie ihr Kapital mit Gewinn zurückerhalten. In diesem Zusammenhang ist Griechenland nicht der spezielle Fall, sondern der Test-Fall: kann die EU das Konsolidierungsregime der Währungsunion erfolgreich durchsetzen und damit das Vertrauen der Finanzmärkte und der Gläubigerländer in den EURO sichern? Kann sie verhindern, dass ein Land wie Griechenland sich in einem Akt der Notwehr für insolvent erklärt und mit dem Schuldendienst die Bedienung seiner vertraglichen Verpflichtungen einstellt?

Durchregieren

Die Hilfsprogramme der EU für Griechenland wie für die anderen hilfebedürftigen Länder folgen aller einer Strategie der vertieften wirtschafts- und finanzpolitischen Integration. Über die im Lissabon-Vertrag vereinbarten Gemeinschaftsaufgaben hinaus sollen die Nationalstaaten Kompetenzen abgeben: einstweilen an die Troika, zu einem späteren Zeitpunkt an das Europäische Parlament und die Europäische Kommission als europäische Regierung. Deshalb werden sie auch von großen Teilen der integrationistisch gesinnten Linken unterstützt, die die Krise Europas vor allen im Fortbestand nationaler Kompetenzen

27

Die Umwandlung der Europäischen Zentralbank in einen der US-amerikanischen oder britischen Notenbank

vergleichbaren „lender of last resort“, der unbegrenzt Geld zur Verfügung stellt und Staatsanleihen aufkauft,

wäre der letzte Tabubruch der EWU. Schon heute zweifelt die Deutsche Bundesbank, ob nicht die Schwelle zur

in der EWU verbotenen Staatsfinanzierung längst überschritten sei. Noch wird von der EZB geleugnet, dass sie

Staatsfinanzierung betreibt. Die von Ökonomen wie Charles Wyplosz (Anm. 11) geforderte Monetarisierung der

Schulden müsste neue Verträge und eine umfassende politische Debatte über den Ausgleich zwischen höchst

unterschiedlichen europäischen Inflationserfahrungen und –ängsten, über Solidarität und Zusammenhalt in

Europa etc. erfordern. 28

Auf der anderen Seite ist ein erfolgreiches Exportland wie Deutschland in höherem Masse von Entwicklungen

der Weltkonjunktur abhängig. Ein Scheitern des chinesischen Wachstumsmodells beispielsweise würde sich auf

Deutschland viel stärker auswirken als auf Griechenland. Weil eine passgenaue Geldpolitik der EZB nicht zur

Verfügung steht, würde man darauf in Deutschland mit verstärkter Lohnzurückhaltung reagieren und die

Ungleichgewichte innerhalb der EURO-Zone eher verstärken.

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(„nationaler Egoismen“) begründet sieht, die sie durch „mehr Europa“ heilen will.29 Dazu gehört für sie eine Vergemeinschaftung der Schulden (durch Eurobonds30 oder einen Schuldentilgungsfonds31) aller EURO-Länder, also die Möglichkeit wie zu Beginn des EURO zinsgünstige Kredite aufzunehmen, allerdings verbunden mit der Verpflichtung zur stetigen Reduktion der Staatsverschuldung. Weil mit der Vergemeinschaftung von Schulden nationales Haushaltsrecht überschritten und europäisiert wird, soll diese Verpflichtung notfalls auch gegen den Willen der nationalen Parlamente und Regierungen durchsetzbar sein. „Durchregieren“32 lautet das neue Schlagwort – zunächst – wie am Beispiel Griechenlands gesehen – als autoritäres Eingreifen in die nationale Demokratie bis hin zur Exekution von Troika-Forderungen durch Präsidentendekrete; auf mittlere Sicht, so die Hoffnung, dann auf demokratisch besser legitimierte Weise durch ein Europäisches Parlament als europäischen Gesetzgeber. Doch: Ob nun autoritär oder demokratisch legitimiert - von der Politik der Konsolidierung soll in jedem Fall nicht abgewichen werden, auch wenn die Erfahrung, wie Streeck darlegt, den damit verbundenen Vorstellungen von der technokratischen Beherrschbarkeit ganzer Gesellschaften gründlich widerspricht.33 Hier wird in Aussicht gestellt oder gar versprochen, was aller Erfahrung nach nicht funktionieren wird. Doch die Alternative zu dieser Politik der Konsolidierung, die Zeit kauft, ohne ein realistisches Ziel zu verfolgen, wäre das Eingeständnis, dass ein großer Teil der Schulden, der sich über die Jahre durch die Leistungsbilanzüberschüsse der Kapitalexportländer und die Leistungsbilanzdefizite der Schuldnerländer aufgetürmt haben, nicht mehr bedient werden kann. Hier geht es um weit mehr als die Staatsschulden. Es geht auch um die Begleichung der Rechnungen aus gelieferten Dienstleistungen und Waren. Exporteure wie BMW, Miele oder Bayer haben ein Auslandsvermögen von über 1 Billion EUR aufgebaut. Das werden sie teilweise abgeschrieben müssen.34 Oder ihre Exporte wurden bezahlt, aber die Beträge liegen heute als Forderungen in Gestalt der sogenannten Target-Salden bei den Notenbanken der Überschussländer. Der größte Teil davon bei der deutschen Bundesbank und damit beim deutschen Steuerzahler. Er müsste im Zweifel diese Verluste tragen und damit die Profite der Exportindustrie des eigenen Landes nachträglich subventionieren.35 Die Frage ist, ob diese

29

So etwa Jürgen Habermas in seiner scharfen Kritik an Streeck (Anm. 24): „Demokratie oder Kapitalismus?

Vom Elend der nationalstaatlichen Fragmentierung in einer kapitalistisch integrierten Weltgesellschaft“, Blätter

für deutsche und internationale Politik 5/2013, S. 59-70. 30

Definition in http://de.wikipedia.org/wiki/Eurobond_%28Euromarkt-Anleihe%29 31

Ein Vorschlag des deutschen Sachverständigenrats (eines Gremiums für die wirtschaftspolitische Beratung

der deutschen Bundesregierung): http://www.sachverstaendigenrat-

wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/download/publikationen/arbeitspapier_01_2012.pdf

32 Siehe Streeck (Anm. 24), S. 213f.

33 Streeck (Anm.24), S. 213f.) weist darauf hin, dass das von den deutschen Grünen unterstützte Programm

eines Schuldentilgungsfonds von einem Land wie Italien über 25 Jahre Primärüberschüsse von 4,2 Prozent

verlangen würde. Das hat es in Europa noch nie gegeben! Im Gegenteil: Selbst im reichen Deutschland hat der

Entschuldungspakt, der in den 90er Jahren mit dem Bundesland Bremen geschlossen wurde, im Ergebnis zu

einer kontinuierlichen Steigerung der Schulden geführt.

34 Vgl. Erik Klär/Fabian Lindner/Kenan Sehovic: „Investitionen in die Zukunft zur Entwicklung des deutschen

Auslandsvermögens“, Wirtschaftsdienst 3/2013, 189-197.

35 Dieses Szenario wird inzwischen von zahlreichen Ökonomen für wahrscheinlich gehalten. Siehe hierzu den

Überblick bei David Marsh, Europe’s Deadlock: How the EURO crisis could be solved - and why it won’t

happpen, Yale 2013. Anders die Argumentation von Francois Heisbourg (Präsident des Londoner Institute for

International Strategic Studies und über viele Jahre hochrangiger Beamter des französichen

Außenministeriums). In seinem Buch La fin de rêve europeen, Paris 2013, spricht er sich für die Auflösung des

EURO aus – aber nicht als Zusammenbruch der Währung, sondern als seine bewusste strategische

Entscheidung von Deutschland und Frankreich, die um des Erhalts der Europäischen Gemeinschaft willen, die

Fehlkonstruktion des EURO rückgängig machen. Siehe auch: http://www.france24.com/en/20130918-

interview-francois-heisbourg-chairman-of-the-international-institute-for-strategic-studies-in-london.

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gigantische Umwandlung privater Gewinne auf den Steuerzahler innerhalb des EURO erfolgen wird oder zwischen EURO-Ländern und solchen, die aus ihm ausscheiden.

Schuldenschnitt

Zur Frage nach Verbleib oder Ausscheiden aus dem EURO gibt es in Griechenland derzeit eine klare Meinung. Zwei Drittel der Menschen wollen, dass ihr Land im EURO bleibt. Einmal aus Angst vor dem Chaos, den ein ungeordneter Staatsbankrott auslösen könnte, für den es in der EU noch kein Regelwerk gibt und nach Lage der Interessen der hoch verschuldeten Länder auch nicht geben wird. Aber auch, weil sie sich vom Durchregieren von Troika, Brüssel, Berlin etc. tatsächlich Vorteile versprechen. Diese Mehrheit lehnt, zusammen mit allen Oppositionsparteien, die als ungerecht und desaströs empfundene Sparpolitik der Memoranden ab. Der Konsolidierungsstaat bietet ihnen keine sozialen Sicherheiten und wird abgelehnt. Das ist auch das Signal der Europawahlen vom Mai 2014: Protest gegen die Sparpolitik durch verweigerte Stimmen für die Regierungskoalition, die starke Verluste hinnehmen musste. Aber von einem Austritt aus dem EURO erwarten sie eher größere Probleme, weil der sie von den weiterhin benötigten Krediten ausschlösse und vor allem, weil Europa sie dann wieder mit ihrer politischen Elite und ihrer Oberschicht alleine ließe. Auch das ist die Botschaft der Europawahlen,: aus ihnen ging zwar die linkspopulistische SYRIZA als stärkste Partei hervor; die Wahlen bracht ihr aber gegenüber den nationalen Wahlen von 2012 praktisch keine Stimmzuwächse ein; bis heute bleibt SYRIZA ohne Aussicht auf ein regierungsfähiges Linksbündnis So setzen in Griechenland viele ihre Hoffnung auf eine Entschuldung durch Verzicht der Gläubiger, sie hoffen auf einen Schuldenschnitt und den Verbleib im ERUO – und befürworten die Fortsetzung des Durchregierens.

Ein Schuldenschnitt – ob nun mit oder ohne Austritt aus dem EURO - würde in erster Linie von den anderen EURO-Ländern zu schultern sein, bei denen rund 90 Prozent der derzeit 315 Mrd. EUR Schuldverschreibungen liegen. Länder wie Frankreich und Deutschland hätten Milliardenverluste zu realisieren; aber auch kleinere Mitglieder der EURO-Zone wie Slowenien, deren Pro-Kopf-Einkommen weit unter dem Griechenlands liegt, müssten sich an den Verlusten beteiligen. Wahrscheinlich würden in diesen Ländern Stimmen laut, dass Griechenland nach dem Schuldenschnitt in einer Art geordnetem Staatsbankrott aus dem EURO ausscheiden müsse. Die Sprengkraft der Proteste in den zur Zahlung verpflichteten Ländern würde wahrscheinlich noch gesteigert durch mögliche Folgewirkungen: Irland und Portugal könnten sich auf den Standpunkt stellen, dass auch ihnen ein Schuldenschnitt gewährt werden müsse. Solange die Diskussion über einen Schuldenschnitt in Verbindung mit einem Austritt aus der EWU nicht verbindlich beendet wird, werden ausländische Investoren vom Investment in griechische Unternehmen absehen, weil sie fürchten müssen, dass ihr Engagement später in weniger werthaltige Drachmen konvertiert wird. Kein Wunder also, dass die EU nach anderen Wegen sucht. Doch neue Kredite würden die Gesamtschuld so stark steigen lassen, dass eine Tilgung nicht mehr glaubhaft versprochen werden kann: die Schuldentragfähigkeit, also die Fähigkeit, durch Wachstum und innere Abwertung Schulden aus eigener Kraft tilgen zu können, die vom IWF bei unter 110 Prozent des BIP angesetzt wird36, würde mit über 175 Prozent Verschuldungsrate gegenüber dem BIP weit verfehlt. Selbst bei einem aktuell kaum realistischen Wirtschaftswachstum von 4 Prozent pro Jahr müsste Griechenland jedes Jahr einen wirklichen Primärüberschuss von über 10 Prozent erwirtschaften, den es ausschließlich für die Tilgung der Schulden einsetzt. Das wäre ohne

36

Diese Zahl ist in der internationalen Literatur natürlich umstritten. Der maßgebende Aufsatz von Reinhart

und Rogoff setzt die Schwelle sogar bei 90 Prozent des BIP an. Siehe Carmen M.Reinhart/ Kenneth S. Rogoff,

“Growth in a Time of Debt”, The American Economic Review 100(2), 2010, S. 573–78.

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Beispiel.37 Deshalb wird seit den Wahlen zum Deutschen Bundestag laut darüber nachgedacht, die Schuldentragfähigkeit anders, d.h. sehr viel großzügiger zu berechnen.38 Das läuft auf die bekannte Strategie hinaus, durch weitere Kredite Zeit zu kaufen und die Probleme in die Zukunft zu verschieben. Auch Direkthilfen aus dem Etat der Europäischen Kommission scheinen kein geeigneter Ausweg, da sie nach geltendem Recht nur für die Finanzierung von Projekten zur Verfügung stehen. Griechenland hat es in den letzten Jahren nicht vermocht, solche Hilfen umfassend abzurufen. Es ließ sich mehr als 13 Mrd. EUR entgehen, weiß aber auch nicht, wie diese Mittel produktiv und wachstumsfördernd eingesetzt werden könnten.

Rückkehr zur Drachme – Staatsbankrott?

Schuldenschnitt und Verbleib im EURO – das ist aus griechischer Sicht die attraktivste Lösung - auch wenn sie europapolitische Sprengkraft entfalten wird. Seit 2013 melden sich in Griechenland aber auch Stimmen, die den Ausstieg aus dem EURO fordern. Mit dieser Programmatik haben sich zwei neue Parteien gebildet39: die Partei „Plan B“ von Alekos Alavanos, politischer Ziehvater und Vorgänger von SYRIZA40-Chef Alexis Tsipras, und die Partei „Drachme. 5 Sterne-Bewegung“ des ehemaligen PASOK-Prominenten Theodoros Katsanevas. „Plan B“ ist eine Abspaltung von SYRIZA. Die Partei fordert eine Art geordneten Staatsbankrott mit Aussetzung aller Zahlungen. Dennoch erhofft sie die Unterstützung der EU und der EZB für einen nationalen „New Deal“ nach Vorbild der US-amerikanischen F.D. Roosevelt-Ära. Die Partei „Drachme“ geht weiter. Sie will im wollte im Herbst 2013 ein Referendum über den Ausstieg aus dem EURO einleiten41 und unter der Führung Italiens mit den anderen Südeuropäern aus einem EURO ausscheiden, der ihre Währungssouveränität zu sehr einschränkt und die Völker gegeneinander in Stellung bringt. Mit diesem Vorhaben ist sie klar gescheitert. Kurzfristig spielen diese Parteien nur eine Rolle: sie schwächen SYRIZA und stärken damit die Partei von Ministerpräsident Samaras. Sollten sie indessen Zulauf erhalten, weil der Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung – nach dem Motto: „souverän ist, wer eine eigene Währung ab- und aufwerten und in der Not auch den Staatsbankrott erklären kann“ – die Furcht vor Chaos und vor der eigenen politischen Elite überwiegt, entstehen völlig neue europapolitische Sprengsätze: das Ausscheiden Griechenlands könnte unbeherrschbare Folgen haben, den Austritt weiterer Länder oder sogar das Ende des EURO. Auch daran lässt sich ermessen: Griechenland ist nicht die Ausnahme in der Europäischen Währungsunion, sondern der Testfall.

37

Siehe das „Schuldenbarometer“ des Institut für Weltwirtschaft Kiel (Deutschland) (http://www.ifw-

kiel.de/wirtschaftspolitik/politikberatung/ifw-schuldenbarometer/das-ifw-schuldenbarometer/). Das Kieler

Institut zieht daraus den Schluss, dass Griechenland einen Schuldenschnitt benötigt. 38

„Regeling will Schuldenschnitt für Athen umgehen“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. September

2013. Klaus Regeling ist der Chef des Krisenfonds ESM, der in einem Interview dem „Wall Street Journal“ zu

erkennen gibt, dass aus europäischer Sicht (also anders als aus Sicht des IWF) die Schuldentragfähigkeit auch

bei einer sehr viel höheren Verschuldung gegeben sei. Auch hier also: Kauf von Zeit, Verschieben in eine

Zukunft von über 30 Jahren, wenn die europäischen Kredite von Griechenland zurückgezahlt werden sollen. 39

Hierzu Michael Martens: „Alternativen für Griechenland“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Juli 2013. 40

SYRIZA – die mit knapp 30 Prozent größte linke Oppositionspartei im griechischen Parlament. 41

Stand November 2013: dieses Referendum hat bis heute nicht stattgefunden.