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Die große Verleumdung Die Schuldigen für den tausendfachen Tod an Europas Grenzen scheinen festzustehen: Junge Leute, Gutmenschen, die in ihrem Drang zu helfen über das Ziel hinaus geschossen sind, mit kriminellen Schlepper*innen kooperiert haben, einen Pull Faktor bilden, der noch mehr Menschen aufs Meer lockt. Das zumindest suggerieren unter anderem Gerichtsakten, zur Beschlagnah- mung des Rettungsschiffs IUVENTA, die Teil einer gleichermaßen absurden wie gelungenen Inszenierung sind. Die Realität sieht anders aus: Europa lässt Italien im Stich, das versucht den Druck weiterzugeben. Leidtragende sind nicht die zivilen Seenotretter*innen oder irgendwelche Schlepperbanden, sondern die Menschen auf der Flucht, die nun noch gefährlicher wird. Die wahren Verantwortlichen für die Tragödie auf dem Mittelmeer hingegen bleiben unbehelligt. Ein Bericht von Ruben Neugebauer mit Bildern von L. Hoffman.

Hinterland36.qxp Hinterland 01/06 22.11.17 10:05 Seite 22 ... fileAuf der Brücke Die Kommunikation mit den zuständigen Seeleitstellen und die Einhaltung der Grenzen von Hoheitsgewässern

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Die große VerleumdungDie Schuldigen für den tausendfachen Tod an Europas Grenzen scheinen festzustehen: Junge Leute, Gutmenschen, die in ihremDrang zu helfen über das Ziel hinaus geschossen sind, mit kriminellen Schlepper*innen kooperiert haben, einen Pull Faktorbilden, der noch mehr Menschen aufs Meer lockt. Das zumindest suggerieren unter anderem Gerichtsakten, zur Beschlagnah-mung des Rettungsschiffs IUVENTA, die Teil einer gleichermaßen absurden wie gelungenen Inszenierung sind. Die Realität siehtanders aus: Europa lässt Italien im Stich, das versucht den Druck weiterzugeben. Leidtragende sind nicht die zivilenSeenotretter*innen oder irgendwelche Schlepperbanden, sondern die Menschen auf der Flucht, die nun noch gefährlicher wird.Die wahren Verantwortlichen für die Tragödie auf dem Mittelmeer hingegen bleiben unbehelligt.

Ein Bericht von Ruben Neugebauer mit Bildern von L. Hoffman.

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Im EinsatzDie „Sea Watch 3“ wurde am 02.11 in den Dienst der Mittelmeermission gestellt

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Auf der BrückeDie Kommunikation mit den zuständigen Seeleitstellen unddie Einhaltung der Grenzen von Hoheitsgewässern funktionie-ren nur mit der richtigen Technik

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Im MaschinenraumNeben der Rettung von in Not geratenen Menschen,kümmert sich die Crew um die Instandhaltung desSchiffes

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Banges Warten auf die RettungDie Crew rettet die Betroffenen vor dem Ertrinken im Mittelmeer und leistet Erste Hilfe

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In letzter SekundeEine Rettungsaktion vor Sizilien im Sommer diesen Jahres

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Retten statt RedenÜber 30.000 Menschen haben die Helfer*innen von Sea Watch seit Beginn ihrer Mission im Mittelmeer gerettet

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Sie haben es geschafft: Niemand redet über denEinsatz der italienischen Marine vor Libyen, dielibyschen Milizen dabei hilft, das Völkerrecht zu

brechen, oder über Zahlungen an dubiose Milizen, dieFlüchtende bereits an den Stränden stoppen undeinsperren. Das Versagen der Europäischen Union, dasSterben an ihren tödlichen Außengrenzen zu beenden,ist in den Hintergrund geraten. Darüber, dass die EUdie Menschen erst in die Hände krimineller Schlepper-banden und auf unsichere Boote treibt, weil sie alleanderen Wege für Schutzsuchende verschließt unddarüber, dass die NGO (Nichtre -gierungs organisation) Retter*in-nen nur aktiv sind, weil Europaseine Verantwortung nicht wahr -nimmt, schreibt kaum nochjemand. Die zivilen Rettungs -schiffe durchkreuzen daseuropäische Konzept desSterbenlassens. Sie stören,deshalb wird ihnen jetzt derProzess gemacht.

Hürden für die Rettung

Die Beschlagnahmung der IUVENTA ist eine Verzweif -lungstat der Italiener*innen, die von den anderen EUStaaten mit den Auswirkungen der selbst verursachtenhumanitären Krise im Stich gelassen werden. Das istTeil einer über Monate aufgebauten Verleumdungs -kampagne. 2016 waren mehr als 65 Millionen Men-schen auf der Flucht, so viele wie nie zuvor. Dennochhaben Sie es geschafft, Vielen einzureden, dass ein 35Meter langer alter Fischkutter dafür verantwortlich seinsoll, dass sich Tausende in die Boote begeben.Empirisch ist das längst widerlegt, aber es ist eineeinfache Erklärung, die gerne geglaubt wird und jetztsollen die Leute von Jugend Rettet auch noch mitSchlepper*innen kooperiert haben. Die Dramaturgiestimmt und De Maizière reibt sich die Hände, weil er,als einer der wahren Verantwortlichen für die Prob-leme, mit denen Italien zu kämpfen hat, indem er dieDublin Regu lier ungen aufrechterhält, unbehelligtbleibt.

Ein Rettungseinsatz wurde behindert, um ein Schiff zurDurchsuchung in den Hafen zu bekommen, Hauptbe-lastungszeug*innen stehen möglicherweise dersogenannten Identitären Bewegung nahe, die Bilderund Telefonmitschnitte in den Ermittlungsakten sindaus dem Zusammenhang gerissen und zeichnen einBild, das nicht der Realität auf dem Wasser entspricht –die ist deutlich komplexer. Die Vorwürfe lassen sichallesamt einzeln entkräften, gleich dazu ein paar

Beispiele, doch wer wirklich verstehen will, was aufdem Mittelmeer gerade passiert, muss deutlich früheranfangen.

Strategien der Vergangenheit

Es gab schon einmal eine Zeit, in der Deals mit Libyengeschmiedet wurden, um die Flucht übers Mittelmeerzu verhindern. Berlusconi hatte Gaddafi zum TürsteherEuropas gemacht. Auch damals wurden Hilfsschiffebeschlagnahmt und den Retter*innen der Prozess

gemacht. Wie im Fall derIUVENTA ging es um denVorwurf der Beihilfe zurillegalen Einreise. Das Verfahrengegen den Kapitän der CapAnamur zog sich über Jahre undverlief voller Ungereimtheiten:Ein Belastungszeuge, der beimLügen ertappt wurde, Unter-schriften, die von den Ermitt -lungsbehörden gefälscht wurdenund am am Ende doch der

Freispruch. Ganz ähnlich verlief das Verfahren gegenzwei tunesische Fischer, deren Boote ebenfalls nacheiner Rettungsaktion beschlagnahmt wurden, zumZeitpunkt des Freispruchs nach mehr als vier Jahrenund einer Verurteilung in erster Instanz waren siejedoch bereits finanziell ruiniert.

Veränderung zum Positiven deuteten sich an

Mit dem Regierungswechsel zeigte sich Italien danndeutlich Flüchtlingsfreundlicher und nach GaddafisSturz stiegen gleichzeitig die Zahlen der Schutzsuchen-den, die übers Meer nach Italien kamen, deutlich an.Als im Oktober 2013 mehr als 300 Menschen vorLampedusa ertranken, reagierte Italien mit derRettungsmission Mare Nostrum und wurde schondamals von den anderen EU-Mitgliedsstaaten im Stichgelassen. Im Alleingang retten die Italiener*innen über100 000 Menschen. Anstatt zu helfen, wirft Frontexihnen vor, ein Pull Faktor zu sein. Ende 2014 wirdMare Nostrum eingestellt. Offizielle Begründung:Kosten. Die Folge: Die Flüchtlingszahlen sinken nicht,die Zahl der Toten steigt deutlich an.

2015 treten dann zum ersten Mal zivile Rettungsorgani-sationen als Faktor auf den Plan. Auch die EU ist mitder Anti-Schlepper-Mission EUNAVFOR MED vor Ortund dennoch ist es allen voran die italienischeKüstenwache, die viele tausend Menschen rettet. Auchdamals bat Italien die anderen Mitgliedstaaten umHilfe. Als diese ausblieb, erzwang die italienische

Ermittlungsakten zeichnen ein Bild,

das nicht der Realität auf dem Wasser

entspricht

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Regierung eine gerechtere Verteilung vonGeflüchteten, in dem sie aufhörte, die Ankommendenzu registrieren, so dass diese einfach weiterreisenkonnten. Zeitgleich kämpften sich in Griechenlandgestrandete Geflüchtete die Balkan Route frei, dieDublin Verordnungen waren de facto außer Kraftgesetzt. Die Zusammenarbeit zwischen der zivilenSeenotrettung und den italienis-chen Behörden lief unterdessensehr gut. Das Verhältnis derzivilen Retter*innen mit derRettungsleitstelle in Rom, könnteman fast als freundschaftlichbeschreiben. Das gilt auch fürJugend Rettet und die Crew derIUVENTA, welche ab Sommer2016 vor Ort retteten und das istdurch zahlreiche Interviews mit beiden Seiten belegt.Von einer feindseligen Stimmung gegenüber denitalienischen Behörden, von der die Ermittlungsaktensprechen, ist nichts zu spüren. Die italienischeKüstenwache selbst ist es, die die NGO Schiffe zuRettungseinsätzen nun immer näher an die libyscheKüste schickt. Das ist auch richtig so, denn wer inSeenot ist, muss gerettet werden, ganz egal warum erdort ist, da gibt es nichts zu diskutieren und so will esauch das Seerecht.

Konfrontationen in der Folge

Ende 2016 ändert sich der Tonfall: Zwar ist dasVerhältnis der zivilen Retter*innen mit der italienischenKüstenwache nach wie vor sehr gut, Angehörige derKüstenwache bringen immer wieder ihre Dankbarkeitgegenüber den zivilen Kolleg*innen zum Ausdruck,doch die Mitte Links Regierung Italiens gerät zu -nehmend innenpolitisch unter Druck von Rechts. Siekann den Druck nun auch nicht mehr einfach nachNorden weitergeben, wie 2015. Österreich droht miteinem Zaun auf dem Brenner. Es bleibt die andereSeite des italienischen Stiefels: der Süden, die HäfenSiziliens, wo die Flüchtenden ankommen.Während die NGOs weiter in enger Abstimmung mitder italienischen Rettungsleitstelle Leben retten, keinEinsatz verlief ohne Absprache mit Rom, beginnt einebeispiellose Verleumdungskampagne: Ein Ping-Pong-Spiel unterschiedlicher Akteur*innen, die zunächstVorwürfe erheben, um etwas später wieder zurück -rudern zu müssen.

Einige Eckpunkte: Im Februar 2017 gibt Frontex-ChefFabrice Leggeri der Welt ein Interview, indem er NGOsindirekt vorwirft, mit Schlepper*innen zusammenzuar-beiten. Der sizilianische Staatsanwalt Zuccaro legt

nach und spricht von verdächtigen kleineren NGOs.Viele Medien greifen die Aussagen auf. Der Tenorlautet: „Retter in der Kritik.“ Unter Druck geraten,nachdem am Osterwochenende die zivile Flotte mitder IUVENTA in einer Hauptrolle eine Katastropheverhindert hat, behauptet Frontex im ZDF, man habedie Hilfsorganisationen nie kritisiert. Quasi zeitgleich

verkündet nun wieder Zuccaro,er habe Beweise für eine direkteZusammenarbeit zwischenNGOs und Schleuser*innen. Erspricht davon, dass NGOs ihreTransponder abschalten würdenund von Lichtsignalen an dielibysche Küste.

Der Fall schlägt hohe Wellen,die NGOs müssen sich vor einem Untersuchungsauss-chuss des italienischen Parlaments rechtfertigen. DasVorgehen Zuccaros wird kontrovers diskutiert, ihmselbst droht ein Verfahren, weil er für seine Vorwürfekeine Beweise vorlegen kann. Diese sind ohnehingrößtenteils völlig unplausibel: Zunächst haben dieNGO-Schiffe keine Scheinwerfer an Bord, die man beiPatrouillen 12 nautische Meilen oder noch weiternördlich der Küste in Libyen noch sehen könnte.Weiterhin gibt es auf Internetseiten wie etwa marine-traffic.com zwar tatsächlich Zeiten, in denen keinePosition einzelner NGO-Schiffe übertragen wurde,jedoch liegt das Ganze einfach daran, dass das Signalder Schiffstransponder ein analoges Signal ist, das ersteinmal jemand ins Internet übertragen muss. Dasheißt: Ist ein Schiff also zu weit von einer übertragen-den Station entfernt, gibt es im Internet kein Signal.Auch die Finanzierung der NGOs hatte Zuccaroöffentlich in den Fokus seiner Ermittlungen gerückt.Nun sind die NGOs gemeinnützige Organisationen,also ohnehin zur Transparenz verpflichtet. Das hätteim Falle von Jugend Rettet eine einfache Anfrage beimFinanzamt in Deutschland ergeben, dennoch entschiedsich der Staatsanwalt dazu, öffentlich in den Raum zustellen, dass NGOs von Schlepper*innen finanziert seinkönnten. Der Abschlussbericht der parlamentarischenUntersuchungskommission entlastet die Retter*innen,doch der Schaden ist da bereits angerichtet.

Immer wieder also werden Rettungsorganisationen,die nicht in das Konzept europäischer Abschottungpassen, heftig beschuldigt: Es werden angeblicheBeweise präsentiert und Erklärungen abgegeben, diezunächst schlüssig klingen - später zeigt sich dann,dass die Vorwürfe nicht haltbar sind. So war das beiCap Anamur und so wird es sehr wahrscheinlich auchbei Jugend Rettet geschehen.

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Der Tenor lautet: „Retter in der Kritik“

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Endlich in Sicherheit? Sichtlich erschöpfte Geflüchtete bei der Ankunft ander italienischen Werft

Erste HilfeNachdem Seawatch die oft dehydrierten Menschen an Bord mit Wasser,Lebensmittel und emedizinisch versorgt, werden sie an Land eingehenderuntersucht

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Brüchige Bilder versus reale Probleme

Die Ermittlungsakten suggerieren Fakten: Boote, dievon Jugend Rettet geschleppt und anschließend vonSchleuser*innen wieder verwendet werden, Beibooteder IUVENTA, die mit Schlepper*innen am selben Bootarbeiten, den Leser*innen zeichnet sich ein eindeutigesBild, doch die angeblichen Beweise haben Schönheits-fehler: Das fängt schon bei den Hauptbelastungs -zeug*innen an, Mitarbeiter*innen einer Security Firmamit Verbindungen in die rechte Szene.

In diesem Zusammenhang sind auch die Fotos mitVorsicht zu genießen, welche eine Zusammenarbeitzwischen Jugend Rettet und den Schlepper*innenbeweisen sollen. Auf einem derBilder sieht man ein Einsatzbootder IUVENTA, das Menschenvon einem Schlauchboot ausbirgt, gleichzeitig klauen Libyerauf einem kleinen Fischerbootden Motor. Tatsächlich wirddieser Motor sehr wahrschein-lich wieder von Schleuser*inneneingesetzt werden.

Die NGOs nennen sie EngineFisher*innen, und sie stellen fürsie ein Problem dar, denn wennetwa ein Schlauchboot einzweites Mal verwendet wird,steigt die Gefahr, dass es sinkt, weil die Luftkammernbereits stark belastet wurden und schneller Leckschlagen. Die Boote der Geflüchteten werden deshalbnach der Rettung versenkt, sofern Zeit dazu ist, dieRettung von Menschenleben hat logischerweise immerPriorität. Immer wieder haben auch Crewmitglieder*in-nen der IUVENTA Engine Fisher*innen vertrieben, umzu verhindern, dass Boote noch einmal eingesetztwerden.

Die Engine Fisher*innen, für die durch das Versenkender Boote eine der wenigen Möglichkeiten verlorengeht, im Bürgerkriegsland Libyen ein Geschäftaufzubauen, wurden deshalb immer aggressivergegenüber den NGOs. Da sich die Europäische Unionmit ihren Kriegsschiffen nahezu komplett aus demEinsatzgebiet zurückgezogen hat, ist Deeskalationgegenüber den nicht selten bewaffneten EngineFisher*innen in Hinblick auf die Sicherheit der Crewdurchaus angebracht. Häufig halten sich EngineFisher*innen in der Nähe von in Seenot geratenenSchlauchbooten auf und nähern sich während derRettung. Mit einer angeblichen Zusammenarbeit hat

das dennoch nichts zu tun. Es ist auch nicht Aufgabeeiner Rettungsorganisation, das Klauen von Motorenzu verhindern. Die Feuerwehr ist ja auch nicht dafürzuständig, nach einem Brand Plünderungen zu ver -hindern, dafür gibt es die Polizei und es ist richtig,dass es da eine Trennung gibt.

Ähnlich verhält es sich mit einem weiteren angeb -lichen Beweis: Auf dem Foto ist ein Beiboot derIUVENTA zu sehen, welches ein Holzboot zieht, aufdas eine Nummer gesprüht ist. Wenige Tage späterwird das eindeutig identifizierbare Boot von Schlep-per*innen erneut verwendet. Ein klarer Fall könnteman meinen, doch die Realität im Einsatzgebiet vorLibyen ist bedeutend komplizierter: Da die Europäis-

che Union mittlerweile kaumnoch bei der Rettung hilft,musste die Crew der IUVENTAteils allein mit bis zu 1000Menschen in Seenot klarkom-men. Dies übersteigt dieKapazitäten für Schiff und Crew,dementsprechend wird in soeinem Fall versucht, dieSituation mit den zur Verfügungstehenden Mitteln zu stabil-isieren. Für das Versenken vonBooten bleibt dann meist keineZeit. Es kommt jedoch häufigervor, dass leere Flücht lingsbooteim Rahmen der Rettungsmaß-

nahmen ge schleppt werden müssen, sei es umMaterial zu transportieren oder einfach um sie aus demWeg zu räumen. Sehr wahrscheinlich musste dieRettungscrew das kleine Holzboot aufgrund andererAufgaben im Rahmen des Rettungseinsatzes dannwieder treiben lassen und eine Engine Fisher*in hat essich geschnappt. Das Bild ist also keine Fälschung,tatsächlich wurde das betreffende Boot von JugendRettet geschleppt, es ist jedoch grob aus dem Zusam-menhang gerissen, um eine Behauptung aufzustellenund keineswegs ein Beweis für die Zusammenarbeitmit Schlepper*innen.

Eine Situation wie die Genannte könnte im Übrigendurch eine deutliche Präsenz staatlicher Schiffeverhindert werden, da diese meist bewaffnet sind,doch eine stärkere Präsenz europäischer Schiffe würdeauch bedeuten, dass diese retten müssten und Rettenist derzeit nicht das Konzept der EU.

Die EU mit ihren Kriegs-schiffen hat sich kom-

plett aus dem Einsatzge-biet zurückgezogen

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Ruben Neugebauerist Mitbegründer von

Sea-Watch. Dieser

Verein wurde Ende

2014 aus einer

Initiative von Frei -

willigen geschaffen,

die dem Sterben im

Mittelmeer nicht

mehr länger tatenlos

zusehen konnten.

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Was am Ende bleibt

Nun könnte man sich auf diese Weise Schritt für Schrittdurch die 500 Seiten Ermittlungsakten arbeiten undVorwurf für Vorwurf entkräften. Jugend Rettet istgerade gezwungen dies zu tun, anstatt sich auf demWasser um die Rettung von Menschenleben zukümmern. Doch all das lenkt ab von den eigentlichenProblemen: Dass es für viele Tausende keinen Auswegaus den Verhältnissen in Libyen gibt, die selbst derdeutsche diplomatische Dienst als „KZ ähnlich“beschreibt, dass Italien, welches durch die DublinVerordnungen die Hauptlast der humanitären Krise zutragen hat, von Deutschland und anderen EU Mit-gliedsstaaten im Stich gelassen wird und dass dielibysche Küstenwache als Handlanger der EU dasVölkerrecht bricht. Endlich, dass sich die EU anstatt fürdie Wahrung von Menschenrechten, für kompromiss-lose Migrationsabwehr entschieden hat.

Vieles, im Rahmen dieser großen Verleumdung gegendie NGOs bleibt in diesem Text unkommentiert: Dersogenannte Verhaltenskodex der italienischenRegierung, den die NGOs unterzeichnen sollten undder nach Einschätzung des wissenschaftlichen Dienstesdes Bundestages illegal ist; die libysche Küstenwache,die von der EU angestiftet, völkerrechtswidrigeRückführungen durchführt und dabei mit Gewaltgegen Flüchtende und zivile Retter*innen vorgeht, diedubiosen Umstände unter denen die IUVENTAfestgesetzt wurde und für die die Rettungsleitstelle inRom möglicherweise von der Regierung unter Druckgesetzt wurde.

Die Inszenierung ist gelungen, von weiten Teilen derBevölkerung und auch vielen Journalist*innen, diedem eigentlich kritisch auf den Grund gehen sollten,wird sie geglaubt. Perfekt orchestriert und mit allenMitteln, die der moderne Polizeistaat zur Verfügunghat, wurden die NGOs in die Enge getrieben. So ist esnicht unwahrscheinlich, dass der Plan aufgeht und derVorhang für die zivile Seenotrettung zeitnah fällt. DasSterben wird dann weitergehen und die wahrenVerantwortlichen bleiben unbehelligt.<

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