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Mythos und Familientradition Nach antiker biografischer Tradition ist Hippokrates ein direkter Nachkomme des Asklepios in männlicher Linie; zwischen beiden liegen knapp 20 Generationen. In den frühesten Mythenversionen erscheint Asklepios noch nicht als Heilgott, sondern als mächtiger Fürst in Thessa- lien mit beachtlichen heilkundlichen Fähigkeiten. Er ist göttlicher und menschlicher Herkunft, denn sein Vater ist Apollon, seine Mutter die thessalische Königstochter Ko- ronis. Der Zentaur Chiron, ein Fabelwesen, halb Mann, halb Pferd, das in den heilkräuterreichen Bergen und Waldesschluchten haust und den Menschen freundlich gesinnt ist, hat ihn in die Heilkunde eingeweiht. In dem ältesten europäischen Literaturwerk, in Homers Ilias, wird Asklepios »untadliger Arzt« genannt. In den Kämp- fen vor Troja lässt Homer ihn allerdings nicht selbst auf- treten, sondern seine Söhne, Machaon und Podaleirios. Sie haben die thessalischen Streiter nach Troja geführt, sie sind beide, wie ihr Vater, gute Ärzte und nicht nur Kriegsfürsten; es erwartet sie ein unterschiedliches Los. Machaon gehört nach einer Version zu den ausgewählten Helden, die im Inneren des hölzernen Pferdes nach Troja hineingelangen. Die Eroberung der Stadt überlebt er je- doch nicht. Podaleirios übersteht alle Gefahren des Krie- ges, wird aber auf seiner Heimreise auf dem Meer von einem Sturm nach Süden verschlagen und gelangt nach Karien, in die zerklüfteten Küstengebiete Kleinasiens, die den Inseln Kos und Rhodos gegenüberliegen. Dort retten ihn seine ärztlichen Fähigkeiten, er steigt zum könig- lichen Schwiegersohn, Landesherrn und Städtegründer auf. Mit Podaleirios und seinen Nachkommen wird das Geschlecht der Asklepiaden, und damit die Heilkunde aus Thessalien, in der südöstlichen Ägäis heimisch. Die Insel Kos und die Stadt Knidos auf der Halbinsel gegen- über von Kos entwickeln sich zu den zentralen Wir- kungsstätten dieses Arztadels. Nach den mythischen Erzählungen hatte also die ärztliche Kunst der Asklepiaden von Kos, die berühmte koische Medizin, ihren Ursprung in Thessalien. Viele Generationen später, in nicht mehr mythischer, sondern historischer Zeit, zog es den späten Nachfahren Hippo- krates in umgekehrter Richtung von Kos nach Thessa- lien. Als weithin bekannter Arzt und Chef des Arztadels von Kos entschied sich Hippokrates im Zenit seiner Schaffenskraft, seinen Wirkungskreis zu erweitern. Er siedelte sich in Thessalien an und führte dort und in Nordgriechenland das Leben eines Wanderarztes, medi- zinischen Lehrers und Forschers. Seine Söhne Thessalos und Drakon begleiteten ihn, während sein Schwieger- sohn Polybos die Leitung der medizinischen Ausbildung in Kos übernahm. An dieser Stelle müssen wir innehalten. Da sich viele Legenden um das Leben des Hippokrates ranken und die Geschichte von Dichtung und Spekulation überlagert wird, müssen wir die Grundlagen unseres Wissens prü- fen, bevor wir die Lebensstationen des Hippokrates weiterverfolgen können. Dass Hippokrates seinen Wir- kungskreis von Kos nach Thessalien und Nordgriechen- land verlegt hat, zumindest dieses eine biografische Gegenworte, 16. Heft Herbst 2005 Christian Brockmann Hippokrates: Seine Orte, seine Wissenschaft Hippokrates wurde um 460 v. Chr. auf der Insel Kos in der südöstlichen Ägäis geboren. Er ist der berühmteste Sohn des alten adligen Geschlechts der Asklepiaden. Aus dieser Familie, die ihren Stammbaum auf den mythischen Heros und später als Heilgott verehrten Asklepios zurückführte, waren bereits seit Generationen Ärzte hervorgegangen. In einer lebendigen Traditionskette wurde das stetig wachsende medizinische Wissen von Generation zu Generation weitergegeben. Als Hippokrates bei seinem Vater Herakleidas und seinem Großvater, dem älteren Hippokrates, die ärztliche Kunst erlernte, muss der Wissens- und Erfahrungs- schatz, der sich in der Familie der Asklepiaden angesammelt hatte, bereits beträchtlich gewesen sein.

Hippokrates: Seine Orte, - BBAWliens: »Er starb in Larisa zur selben Zeit, als auch Demo-krit gestorben sein soll. Die einen sagen, er sei 90 Jahre alt geworden, die andern 85, wieder

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Page 1: Hippokrates: Seine Orte, - BBAWliens: »Er starb in Larisa zur selben Zeit, als auch Demo-krit gestorben sein soll. Die einen sagen, er sei 90 Jahre alt geworden, die andern 85, wieder

Mythos und FamilientraditionNach antiker biografischer Tradition ist Hippokrates eindirekter Nachkomme des Asklepios in männlicher Linie;zwischen beiden liegen knapp 20 Generationen. In denfrühesten Mythenversionen erscheint Asklepios nochnicht als Heilgott, sondern als mächtiger Fürst in Thessa-lien mit beachtlichen heilkundlichen Fähigkeiten. Er istgöttlicher und menschlicher Herkunft, denn sein Vater istApollon, seine Mutter die thessalische Königstochter Ko-ronis. Der Zentaur Chiron, ein Fabelwesen, halb Mann,halb Pferd, das in den heilkräuterreichen Bergen undWaldesschluchten haust und den Menschen freundlichgesinnt ist, hat ihn in die Heilkunde eingeweiht. In demältesten europäischen Literaturwerk, in Homers Ilias,wird Asklepios »untadliger Arzt« genannt. In den Kämp-fen vor Troja lässt Homer ihn allerdings nicht selbst auf-treten, sondern seine Söhne, Machaon und Podaleirios.Sie haben die thessalischen Streiter nach Troja geführt,sie sind beide, wie ihr Vater, gute Ärzte und nicht nurKriegsfürsten; es erwartet sie ein unterschiedliches Los.Machaon gehört nach einer Version zu den ausgewähltenHelden, die im Inneren des hölzernen Pferdes nach Trojahineingelangen. Die Eroberung der Stadt überlebt er je-doch nicht. Podaleirios übersteht alle Gefahren des Krie-ges, wird aber auf seiner Heimreise auf dem Meer voneinem Sturm nach Süden verschlagen und gelangt nachKarien, in die zerklüfteten Küstengebiete Kleinasiens, dieden Inseln Kos und Rhodos gegenüberliegen. Dort rettenihn seine ärztlichen Fähigkeiten, er steigt zum könig-lichen Schwiegersohn, Landesherrn und Städtegründer

auf. Mit Podaleirios und seinen Nachkommen wird dasGeschlecht der Asklepiaden, und damit die Heilkundeaus Thessalien, in der südöstlichen Ägäis heimisch. DieInsel Kos und die Stadt Knidos auf der Halbinsel gegen-über von Kos entwickeln sich zu den zentralen Wir-kungsstätten dieses Arztadels.

Nach den mythischen Erzählungen hatte also dieärztliche Kunst der Asklepiaden von Kos, die berühmtekoische Medizin, ihren Ursprung in Thessalien. VieleGenerationen später, in nicht mehr mythischer, sondernhistorischer Zeit, zog es den späten Nachfahren Hippo-krates in umgekehrter Richtung von Kos nach Thessa-lien. Als weithin bekannter Arzt und Chef des Arztadelsvon Kos entschied sich Hippokrates im Zenit seinerSchaffenskraft, seinen Wirkungskreis zu erweitern. Ersiedelte sich in Thessalien an und führte dort und inNordgriechenland das Leben eines Wanderarztes, medi-zinischen Lehrers und Forschers. Seine Söhne Thessalosund Drakon begleiteten ihn, während sein Schwieger-sohn Polybos die Leitung der medizinischen Ausbildungin Kos übernahm.

An dieser Stelle müssen wir innehalten. Da sich vieleLegenden um das Leben des Hippokrates ranken und dieGeschichte von Dichtung und Spekulation überlagertwird, müssen wir die Grundlagen unseres Wissens prü-fen, bevor wir die Lebensstationen des Hippokratesweiterverfolgen können. Dass Hippokrates seinen Wir-kungskreis von Kos nach Thessalien und Nordgriechen-land verlegt hat, zumindest dieses eine biografische

Gegenworte

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Heft

Herbst

2005

C h r i s t ianBrockmann

H ippokrates : Seine Or te ,

seine W i ssenschaf t

Hippokrates wurde um 460 v. Chr. auf der Insel Kos in der südöstlichen Ägäis geboren. Er ist der berühmteste Sohn des altenadligen Geschlechts der Asklepiaden. Aus dieser Familie, die ihren Stammbaum auf den mythischen Heros und später als Heilgottverehrten Asklepios zurückführte, waren bereits seit Generationen Ärzte hervorgegangen. In einer lebendigen Traditionskettewurde das stetig wachsende medizinische Wissen von Generation zu Generation weitergegeben. Als Hippokrates bei seinem VaterHerakleidas und seinem Großvater, dem älteren Hippokrates, die ärztliche Kunst erlernte, muss der Wissens- und Erfahrungs-schatz, der sich in der Familie der Asklepiaden angesammelt hatte, bereits beträchtlich gewesen sein.

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Detail kann nicht bezweifelt werden. Diese Lebensent-scheidung hat Hippokrates sicher große neue Möglich-keiten eröffnet. Seine Reise führte ihn zu neuen Ufern,sie ist zugleich, wenn man den alten Familienmythos be-denkt, eine Reise ins Ursprungsland der ärztlichen Kunst,die in seiner Familie kultiviert und tradiert wurde undmit ihm ihren Höhepunkt erreichte.

Ein Autor ohne Werk, ein Name ohne Wirklichkeit?Unter dem Namen des Hippokrates sind etwa 60 Schrif-ten überliefert, die sich in der medizinischen Theorie undder Methode, aber auch in der literarischen Form zumTeil stark unterscheiden. Es finden sich zum Beispielsprachlich-stilistisch ausgefeilte Monografien über medi-zinische Fachgebiete neben Notizen, Sammeltexten undminutiös beobachtende klinische Journale neben rheto-rischen Schaustücken oder Reklametexten, die ein all-gemeines Publikum von der Bedeutung und Leistungs-fähigkeit der Medizin überzeugen sollen. Auch in denmedizinischen Grundannahmen über den Menschen,über die Kräfte, die die physiologischen Lebensvorgängesteuern, und über die Ursachen von Krankheiten sinddie Texte des Corpus Hippocraticum teilweise so un-terschiedlicher Natur, dass es unmöglich ist, anzuneh-men, sie seien alle von ein und demselben Verfassergeschrieben.

Die meisten Schriften der Sammlung stammen aus derklassischen Zeit, aus dem 5. und 4. Jahrhundert v. Chr.Zu diesem Kernbestand des Corpus Hippocraticum sindspäter jüngere Texte hinzugekommen, die ältesten Schrif-ten sind aber zu Hippokrates’ Lebzeiten entstanden. Lei-der ist jedoch die Verfasserschaft des Hippokrates, auchwas die ältesten Texte betrifft, in keinem Fall einwandfreigesichert. Welche dieser Texte tatsächlich von dem gro-ßen Arzt und Vater der wissenschaftlichen Medizin vonder Insel Kos geschrieben worden sind – die Debatte überdiese Frage hat Forschungsgeschichte gemacht; sie wurdedie ›hippokratische Frage‹ schlechthin.

»Hippokrates ist zur Zeit ein berühmter Name ohneden Hintergrund irgend einer Schrift, während die hip-pokratischen Schriften sämmtlich verfasserlos sind« – solautet ein viel zitiertes Diktum Ulrichs von Wilamowitz-Moellendorff (1901 in den Sitzungsberichten der König-lich Preußischen Akademie der Wissenschaften). Mitgroßer Vorsicht müssen auch die antiken Nachrichtenüber das Leben des Hippokrates betrachtet werden. Denndie biografischen Schriften des Corpus Hippocraticum

und die erhaltenen Lebensbeschreibungen stammen ausspäterer Zeit. Die ältesten unter ihnen dürften zwar be-reits in den ersten Generationen nach Hippokrates ge-schrieben worden sein, doch die Legendenbildung hatteschon damals eingesetzt, und es entstand der MythosHippokrates. Mit Blick auf die biografischen Texte derSammlung spricht man heute geradezu vom Hippokra-tes-Roman, und schon Ludwig Edelstein hatte 1935pointiert festgestellt: »Hippokrates scheint nicht nur einName ohne Werk […], sondern überhaupt ein Nameohne jede noch faßbare historische Wirklichkeit zu sein.«Diese fundamentale Skepsis geht eindeutig zu weit.Manche biografische Details lassen sich mit Hilfe um-sichtiger kritischer Analyse aller Zeugnisse als glaubwür-dig oder wahrscheinlich erweisen, und auch die roman-haft ausgeschmückten Episoden aus dem Leben desHippokrates sind vielleicht nicht gänzlich frei erfunden.

Wenn hier einige Etappen und Orte hippokratischenWirkens nachgezeichnet werden, so ist nicht immerleicht zu entscheiden, wo Wahrheit oder plausible Kon-struktion aufhören und die Fiktion beginnt.

Thessalien, Thasos und andere OrteGestorben ist Hippokrates in der Hauptstadt Thessa-liens: »Er starb in Larisa zur selben Zeit, als auch Demo-krit gestorben sein soll. Die einen sagen, er sei 90 Jahrealt geworden, die andern 85, wieder andere 104 und man-che 109. Beerdigt liegt er zwischen Gyrton und Larisa,und bis heute wird seine Grabstätte gezeigt, in der fürlange Zeit ein Bienenschwarm lebte und Honig produ-zierte. Wenn Kinder unter Entzündungen in Mund undRachen litten, so heilten ihre Ammen sie, indem sie dieEntzündungen mit dem Honig bei dem Grabmal bestri-chen« (Vita des Hippokrates nach Soran 11).

Ein Detail dieses Berichts muss als historisch glaub-haft anerkannt werden, nämlich die Angabe, dass Hippo-krates in Larisa gestorben und in der Nähe der Stadt be-graben worden ist. Denn in der gesamten Überlieferungerhebt kein anderer Ort rivalisierende Ansprüche undverkündet, die Grabstätte des Hippokrates liege auf sei-nem Territorium. Die Insel Kos hätte sich diesen Ruhmsicher nicht nehmen lassen, und wenn es irgendeinenZweifel an der Kunde aus Larisa gegeben hätte, wäre einealternative Version in Umlauf gebracht worden.

Hippokrates wird sicher nicht erst in seinen allerletz-ten Lebensjahren nach Thessalien gekommen sein, son-dern, wie es in den biografischen Schriften vorausgesetzt

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wird, schon viele Jahre lang dort und in den angrenzen-den Gebieten Nordgriechenlands als Wanderarzt gewirkthaben. Zwischen 420 und 410 v. Chr., bereits etwa 40 bis45 Jahre alt, dürfte er Kos in Richtung Norden verlassenund sich seinen neuen Wirkungskreis erschlossen haben.Für die Richtigkeit dieser Annahme sprechen die Epide-mienbücher I und III, die zu den ältesten und qualitativbesten Schriften des Corpus Hippocraticum gehören undnicht zuletzt deshalb immer wieder als Werk des Hippo-krates selbst angesehen worden sind. Diese beiden Bü-cher sind in den letzten zwei Jahrzehnten des 5. Jahr-hunderts v. Chr. entstanden; in ihnen legt Hippokrates– oder, wenn man es vorsichtig-skeptisch sagen will, einWanderarzt aus der hippokratischen Schule – die Krank-heitsbeobachtungen vor, die er bei seiner praktischenTätigkeit im Laufe von vier Jahren in Nordgriechenlandangestellt hat. Die Insel Thasos in der nördlichen Ägäiswar dabei das Zentrum seiner Arbeit, gleichzeitig mussteHippokrates weite Wege zurücklegen, denn er hat auchPatienten in Abdera an der thrakischen Küste gegenübervon Thasos, in den thessalischen Städten Larisa undMeliboia und sogar in Kyzikos auf der östlichen Seite desMarmara-Meeres behandelt.

Klima – KrankheitIn den Epidemienbüchern I und III sind zwei verschie-denartige, aber inhaltlich eng zusammengehörige Text-arten zu einer Einheit verbunden. Den ersten Bausteinbilden allgemeine Bestandsaufnahmen der klimatischenVerhältnisse, wie sie sich im Ablauf eines Jahres an einembestimmten Ort entwickelt haben, und der Krankheitser-scheinungen, die als Folge dieser Wetterlage aufgetretensind. Buch I beginnt mit Darstellungen für drei aufeinan-der folgende Jahre in Thasos. Hinzu kommen die indivi-duellen Krankengeschichten, also Aufzeichnungen überden Krankheitsverlauf bei einzelnen Patienten. Wie ineinem Dossier werden die Veränderungen von Tag zu Tagfestgehalten, oft nur stichwortartig und in kurzen Noti-zen, die wie hingeworfen wirken, aber dennoch ein kon-kretes, eindringliches Bild zu zeichnen vermögen.

Insgesamt sind sieben Epidemienbücher im CorpusHippocraticum überliefert, aber nur die Bücher I und IIIsind in ihrer Struktur und im Detail durchkomponiert.Der Autor hat sie zu einem Abschluss gebracht und pu-bliziert oder jedenfalls als fertig und publikationswürdigangesehen. Einen vollkommen anderen Eindruck vermit-teln die restlichen Epidemienbücher, die aus sprachlich-

inhaltlichen Gründen und wegen ihrer Datierung in zweiGruppen aufgeteilt werden: Die erste Gruppe bilden dieBücher II, IV und VI, aus dem Anfang des 4. Jahrhun-derts v. Chr., die zweite die Bücher V und VII, die auf dieMitte des 4. Jahrhunderts datiert werden. Diese Epide-mienbücher sind ungeordnet, fragmentarisch und nichtdurchgeformt. Es sind unbearbeitete Sammlungen vonNotizen hippokratischer Wanderärzte. Während dieBücher II, IV und VI aller Wahrscheinlichkeit nach aufHippokrates selbst und seine Schüler der ersten Genera-tion zurückgehen, stammen die Bücher V und VII vonspäteren Schülergenerationen. Sie haben Klimabeobach-tungen, generelle medizinisch-therapeutische Bemerkun-gen und individuelle Krankheitsfälle festgehalten. DieÄrzte reisten in Gruppen, vermutlich ein Lehrer mit sei-nen Schülern. Der geografische Raum, den sie durch-maßen, erstreckt sich ebenfalls von Thessalien bis zumMarmara-Meer (Bücher II, IV und VI). Erst in denjüngsten Büchern V und VII werden Krankheitsfälle ausweiter entfernt liegenden Orten notiert, zum Beispiel ausAthen, Salamis oder Delos. Für den hippokratischenWanderarzt gehörten, wie die Epidemienbücher zeigen,therapeutische Tätigkeit und Forschungsarbeit zusam-men. Die einzelnen Beobachtungen und Fälle wurden ge-sammelt, im Licht langfristiger Witterungsbeobachtun-gen und medizinischer Grundannahmen betrachtet undzu weiterem Studium oder weiterer Ausarbeitung archi-viert. Mit Hilfe der gesammelten empirischen Datenkonnte der Arzt, indem er die beobachteten Krankheits-zeichen auswertete und die spezifischen Umwelteinflüsseberücksichtigte, seine Fähigkeiten zur Prognose in einemneuen konkreten Krankheitsfall verbessern.

Von den Patienten, deren Fälle berichtet werden, er-fährt der Leser in der Regel auch Namen und Adresse.Aus Thasos, der gleichnamigen Hauptstadt der Insel,existieren noch Reste von amtlichen Steininschriften, vonListen der höchsten städtischen Beamten. Einige der Pa-tienten aus den Epidemienbüchern können mit Personenidentifiziert werden, die auf diesen Inschriften genanntsind. Daraus lässt sich erkennen, dass zumindest ein Teilder Patienten des Hippokrates zu den reichen und füh-renden Familien von Thasos gehörte.

Im Rom Marc Aurels fordert der große Mediziner Galenvon Pergamon in seiner Schrift Der beste Arzt ist auchPhilosoph, dass ein Arzt, der sich des Hippokrates würdigerweisen möchte, nicht auf Geld und Reichtum sehen

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dürfe, dass er lukrative Anstellungen am Königshof ab-weisen und stattdessen »die Armen in Kranon, Thasosund den anderen Städtchen« behandeln müsse. DieFrage, ob Hippokrates zu Recht als Armenarzt apostro-phiert werden kann, hat sich Galen nicht gestellt. Erspricht nicht als Medizinhistoriker, sondern malt seingroßes ärztliches Idealbild aus, das er in Hippokrates ver-körpert sieht. Gleichzeitig will er seine zeitgenössischenKollegen kritisieren und ihnen ein Gegenbild vorhalten.Denn sie sind natürlich, so Galen, nur daran interessiert,Geld zu verdienen, und vernachlässigen darüber dasernsthafte Studium der ärztlichen Kunst.

Was sich an den Epidemienbüchern nun tatsächlichablesen lässt, ist das Folgende: Hippokrates und seineSchüler haben wohlhabende Familien behandelt, abersicher nicht ausschließlich. Zu ihren Patienten gehörtenauch Sklaven, und es ist deutlich, dass sie keine Unter-schiede machten, sondern sich allen Patienten mit dergleichen Sorgfalt widmeten. In den begüterten Häusernin Thasos und anderen Städten Thessaliens und Nord-griechenlands fanden die hippokratischen Ärzte offen-sichtlich eine aufgeschlossene und aufgeklärte Klientel,die der wissenschaftlich-rationalen Medizin und Metho-dik aus Kos Vertrauen schenkte. Hippokrates und seinenSchülern boten sich dort gute Arbeitsmöglichkeiten, undsie erhielten sicher guten Lohn.

Von Königen zu Hilfe gerufenEine Reihe biografischer Episoden zeigt Hippokrates alsMann, der von den Mächtigen umworben wird. Geradediese Anekdoten werden heute vielfach als reine Fiktion,als Geschichten aus einem frei erfundenen ›Hippokrates-Roman‹ angesehen.

Artaxerxes I., König der Perser von 464 bis 424 v. Chr.,ist einer der Machthaber, der seine Fühler nach dem er-folgreichen griechischen Arzt ausgestreckt haben soll.Wenn die Aufforderung an Hippokrates, nach Persien zukommen und eine Seuche, die das gesamte Heer ergriffenhatte, zu behandeln, historisch ist, so muss sie ihn ereilthaben, als er noch auf Kos praktizierte. Sie wäre damitein Beleg dafür, dass Hippokrates bereits vor seinem 40.Lebensjahr für seine Fähigkeiten weit über seinen lokalenWirkungskreis hinaus bekannt war. Der König, so heißtes, habe ihm als Gegenleistung Silber, Gold und alles an-dere im Überfluss, was er brauche und wolle, angeboten.Doch Hippokrates lehnte ab. Er habe alles in ausreichen-dem Maße, was er zum Leben brauche – Essen, Klei-

dung, Wohnen –, und sei nicht gewillt, den persischenReichtum zu genießen, und auch nicht bereit, Feinde derGriechen zu heilen.

Der Arzt aus Kos ist, wie diese Begebenheit zeigensoll, über alle Verlockungen des Reichtums erhaben undein hellenischer Patriot. Allerdings ist fraglich, ob dieAnekdote auf wahren Begebenheiten beruht oder erfun-den wurde, um Hippokrates’ Ruhm noch zu steigern.Aber auch wenn die Frage nicht beantwortbar ist, so istdie Legende zumindest nicht aus der Luft gegriffen. Be-reits vor Hippokrates und auch nach ihm haben griechi-sche Ärzte am persischen Königshof gewirkt. UnterKönig Dareios I., etwa 80 Jahre zuvor, hatte erstmals eingriechischer Arzt am Perserhof für Aufsehen gesorgt.Demokedes von Kroton in Süditalien, ein Vertreter derwestgriechischen medizinischen Tradition, war alsKriegsgefangener nach Persien verschleppt worden undhatte dort die ägyptischen Ärzte, die bis dahin den bestenRuf genossen, mit seinen griechischen Heilmethodenübertroffen. Unter Artaxerxes I. praktizierte ein Arzt ausKos mit dem Namen Apollinides am persischen Königs-haus. Er war etwas älter als Hippokrates und hat langeJahre in Persien gelebt, seine Karriere fand allerdingswegen persönlicher Verfehlungen ein schreckliches Ende.

Diese Beispiele machen deutlich, dass es für den Königder Perser keineswegs ungewöhnlich war, im Ausland, inÄgypten und seit dem beginnenden 5. Jahrhundert be-sonders in Griechenland, nach fähigen Ärzten Ausschauzu halten und um sie zu werben. Wenn also die Geschich-te über Artaxerxes und Hippokrates nicht wahr ist, so istsie zumindest gut erfunden.

In einem anderen Fall verweigerte Hippokrates einemHerrscher seine Hilfe nicht. Den Makedonenkönig Per-dikkas II., so hören wir, vermochte er zu heilen, indemer die psychischen Ursachen für sein Siechtum erkannte.Der König verzehrte sich in heimlicher Leidenschaft zuder Mätresse seines verstorbenen Vaters. Durch aufklä-rende Gespräche erreichte Hippokrates eine vollständigeTherapie.

In der Tat scheinen Hippokrates und die Asklepiadenvon Kos beste Beziehungen zum Königshaus von Ma-kedonien unterhalten zu haben. Dennoch enthält dieEpisode deutliche Anzeichen von Fiktion. Denn auchanderen bedeutenden Ärzten der Antike werden gleich-artige Kuren zugeschrieben. Was von Perdikkas und Hip-pokrates berichtet wird, ist vielleicht nichts anderes als

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die fantasievolle Variation eines beliebten Motivs, eineromantische Novelle, die in einem anderen Kontext ihrenUrsprung hat und erst nachträglich in die Hippokrates-Biografie eingedrungen ist.

In einer Zeit, die weder Approbation noch Doktortitelkannte, war es für die Reputation eines Arztes von ent-scheidender Wichtigkeit, sein Können unmittelbar vordem Patienten, seinen Angehörigen, den Freunden undinteressierten Beobachtern zu demonstrieren. Die ein-wandfreie Diagnose einer Krankheit als Liebeskummermit verzehrenden somatischen Folgeerscheinungen warzur Demonstration großer ärztlicher Fähigkeiten offen-bar besonders geeignet. Dies zeigt noch Galen, wenn erin einer autobiografischen Werbeschrift ausführlich be-schreibt, wie ihm selbst eine solche Diagnose bei einerDame aus der römischen Oberschicht gelungen sei.

Retter GriechenlandsVon Athen, der kulturellen Hauptstadt und imperialenVormacht Griechenlands, war zwar bisher kaum dieRede, aber auch hier war Hippokrates, glaubt man denBiografen, bestens bekannt und als Retter Griechenlandshoch geehrt, weil er verhinderte, dass eine Seuche, die inbenachbarten Ländern im Norden wütete, sich nachGriechenland ausbreitete. Ein Motiv, mit dem diese Ge-schichte gewürzt ist, kennen wir schon: Wieder sind esHerrscher fremder Völkerschaften, die sich an Hippokra-tes wenden, und wieder entzieht sich der griechischeArzt. Er weist aber die Gesandten, die ihn in Thessalienaufsuchen, keineswegs so brüsk ab wie den Perserkönig.Er fragt sie zunächst aus, lässt sich Mitteilung über unge-wöhnliche klimatische Entwicklungen, über Hitze, Windund Feuchtigkeit machen. Erst als er über die notwendi-gen Informationen für eine medizinische Analyse verfügt,erklärt er den Gesandten, dass er nicht in der Lage sei, inihr Land zu reisen. Er trifft stattdessen Vorkehrungen,Griechenland zu schützen, schickt seine Söhne in ver-schiedene Richtungen, bereist auch selbst die einzelnenLandschaften und legt überall – so auch in Athen – mitgroßem persönlichen Engagement dar, was man vorbeu-gend tun müsse. Gerade Athen hat ihn, so heißt es, fürdiese Leistung besonders ausgezeichnet.

So spannend der Bericht, so ernüchternd die unver-meidliche Frage nach seiner Historizität. Als Einwandgilt, dass es kein anderes Zeugnis für diese Seuche gibt.Die ›Pest‹ von 430 v. Chr., die Thukydides beschriebenhat, kann mit dieser Epidemie nicht gemeint sein. Denn

die Seuche ist, wenn es sie gab, etwa zehn Jahre späterausgebrochen und kam aus dem Norden, nicht aus demSüden.

Ob historisch oder nicht – klar ist, dass sich auchdiese Geschichte über Hippokrates im Laufe der Zeitweiterentwickelt hat. So stellt uns eine pseudogalenischeSchrift aus der römischen Kaiserzeit Hippokrates alsdenjenigen vor, der gegen die verheerende Seuche von430 erfolgreich vorgegangen sei, indem er riesige Feuerin der ganzen Stadt angezündet und so die Luft vonkrankheitserregenden Veränderungen gereinigt habe.Diese therapeutische Methode hat eine große Wirkungs-geschichte bis in die Neuzeit hinein entfaltet.

Unterwegs nach Alexandria und weiterHippokrates wurde bereits zu Lebzeiten als Arzt vonaußerordentlichen Fähigkeiten anerkannt. Bei Platon er-scheint er als führender Vertreter seines Faches in einerReihe mit den Bildhauern Polyklet und Pheidias. SeineBedeutung war so groß, dass er später selbst zum Mythoswurde. Sein Leben und sein medizinisches Wirken lie-fern den Stoff für die weitere Mythisierung der Asklepia-den-Familie von Kos.

Im neu gegründeten Alexandria, das schnell zu einerintellektuellen Metropole heranwuchs und Gelehrte undBüchersammlungen aus aller Welt an sich zog, begannim Kreis des avantgardistischen Arztes Herophilos undseiner Schüler die systematische wissenschaftliche Aus-einandersetzung mit den hippokratischen Schriften. Bak-cheios von Tanagra, ein Schüler des Herophilos und einerder ersten bedeutenden Hippokratesforscher, hat nach-weislich mindestens 18 Schriften, die auch heute noch zuder Sammlung gehören, als hippokratisch betrachtet.Nicht überzeugend ist die Forschungsmeinung, dass erstdie Alexandriner das Corpus Hippocraticum geschaffenhätten, indem sie eine bis dahin anonyme Sammlung me-dizinischer Texte zum Œuvre des Hippokrates erhoben.Wie sollte denn eine solche anonyme Sammlung entstan-den sein? Viel wahrscheinlicher ist es, dass die autorita-tive Sammlung des großen koischen Arztes tatsächlichexistierte und bekannt geworden war und dass man ihr imLaufe der Zeit weitere medizinische Texte zuwies, derenVerfasser nicht ermittelt werden konnten. Wir dürfenspekulieren, dass eine hippokratische Textsammlung,vielleicht der Nachlass des Hippokrates oder Teile davon,nach Alexandria geholt worden sind. Schließlich war He-rophilos ein Schüler des Arztes Praxagoras, des vielleicht

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bedeutendsten Vertreters der koischen Schule nach Hip-pokrates. Alexandria schickte sich gerade an, das neuemedizinische Zentrum zu werden und damit das wissen-schaftliche Erbe der Hippokratiker anzutreten. Schriften,die schon zu Hippokrates’ Lebzeiten separat publiziertworden waren, werden natürlich auch auf unabhängigenWegen nach Alexandria gelangt sein.

Bereits in ihren alexandrinischen Anfängen steht dieHippokrates-Forschung im Spannungsfeld medizinischerund philologischer Fragestellungen, und so ist es bisheute geblieben. Die Medizingeschichte eröffnet der Al-tertumswissenschaft einen ganz anderen Blick auf dieLebensumstände, das Denken und das Menschenbild derAntike als etwa Tragödie oder Philosophie. Die Texte ge-hören zur Geschichte und sind gleichzeitig aktuell: Diekonservative Methode in der orthopädischen Chirurgieverfährt beim Einrenken von Gelenken im Wesentlichennoch so, wie es Hippokrates beschrieben hat. In Teilender Alternativmedizin wird die Säftelehre immer nochgenutzt, und die ganzheitliche antike Diätetik, die die ge-samte Lebensweise eines Menschen in den Blick nimmt,ist weiterhin vorbildhaft. Für die Berufsethik der Medi-ziner ist das hippokratische Erbe von großer Bedeutung;auch wenn niemand mehr den ›Eid des Hippokrates‹ leistet, beruft man sich noch heute gerne auf die hohenmoralischen Ansprüche der antiken Medizin.

LiteraturL. Edelstein: Hippokrates von Kos (Nachträge), in: Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Supplement VI.Stuttgart 1935, Sp. 1290–1345Hippokrates. Ausgewählte Schriften, übersetzt und hg. von H. Diller.Stuttgart 1994J. Jouanna: Hippocrate. Paris 1992J. Kollesch: Rezension von W. D. Smith: The Hippocratic Tradition.Ithaca/London 1979, in: Anzeiger für die Altertumswissenschaft 37,1984, Sp. 12–14C. W. Müller: Medizin, Effizienz und Ökonomie im griechischenDenken der klassischen Zeit, in: ders.: Kleine Schriften zur antikenLiteratur und Geistesgeschichte. Beiträge zur Altertumskunde 132.Stuttgart/Leipzig 1999, S. 289–326J. R. Pinault: Hippocratic Lives and Legends. Leiden/New York/Köln1992W. D. Smith: Hippocrates. Pseudepigraphic Writings. Leiden/NewYork/Kopenhagen/Köln 1990U. von Wilamowitz-Moellendorff: Die hippokratische Schrift per\iÜr≈j no›sou, in: Sitzungsberichte der Königlich PreußischenAkademie der Wissenschaften zu Berlin 1901, S. 2–23