20
dtv

hl Frn - Weltbild

  • Upload
    others

  • View
    3

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: hl Frn - Weltbild

dtv

Page 2: hl Frn - Weltbild

Am William-Morris-Institut für Automationsforschung hatman eine bahnbrechende Idee: Warum nicht Computer dar-auf programmieren, all die lästigen Aufgaben zu erledigen, dieden Menschen wie Mühlsteine um den Hals hängen? Gesagt,getan. Die neuen Maschinen verfassen Romane, schreibenZeitungsmeldungen und texten vollautomatisch Gebete. Auchdie »Ethik-Abteilung« ist kräftig involviert: Kann man eineMaschine bauen, die ein ethisches Verhaltensmuster entwik-kelt? Und natürlich dient alles einem höheren Zweck: DieMenschheit soll endlich in die Lage versetzt werden, sich mitganzer Kraft den wahren Herausforderungen des Lebens zuwidmen ... wie zum Beispiel dem bevorstehenden Besuch derKönigin im Institut.

Michael Frayn, geboren 1933 in London, studierte Philoso-phie in Cambridge und arbeitete für den >Guardian< und den>Observer<. Er hat mehrere Romane geschrieben, ist außer-dem Übersetzer u. a. von Tschechow und auch als Dramatikererfolgreich.

Page 3: hl Frn - Weltbild

Michael Frayn

Blechkumpel

Roman

Deutsch vonHilde Linnert

Deutscher Taschenbuch Verlag

Page 4: hl Frn - Weltbild

Von Michael Fraynsind im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen:

Das verschollene Bild (13047)Celias Geheimnis ( 1 33 0 5)

Wie macht sie's bloß? (13331)Das Spionagespiel (13435)

Ungekürzte AusgabeAugust zoo6

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,München

www.dtv.de© 1965 Michael Frayn

Titel der englischen Originalausgabe:>The Tin Men<

© zoo6 der deutschsprachigen Ausgabe:Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

MünchenDeutsche Erstveröffentlichung 198z (Wilhelm Heyne Verlag, München,

Verlagsgruppe Random House GmbH)Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlagbild: Gabriel NemethSatz: Fotosatz Amann, Aichstetten

Gesetzt aus der Sabon io/Iz .

Druck und Bindung: Druckerei C. H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in GermanyISBN-13: 97 8- 3 -4 2 3 -1 34$ 2-8

ISBN-IO: 3-423-13482-8

Page 5: hl Frn - Weltbild

z. Kapitel

»Weitblick« war eine Eigenschaft, die man bei AmalgamatedTelevision sehr schätzte, und im Amalgatel House konnteman von der Penthouse Suite des Vorsitzenden aus weit in alleRichtungen blicken, so weit, wie es die Dunstglocke zuließ.An den Fenstern der Suite bauschten sich grobe Leinengardi-nen — die Tag und Nacht von eingebauten Scheinwerfern inSonnenlicht getaucht wurden — im warmen Sommerwind, deraus eingebauten Ventilatoren kam, von eingebauten Heizkör-pern erwärmt und von eingebauten Klimaanlagen mit Land-luft gespeist wurde. Entwaffnend schlicht flatterten sie überniedrigen Hydrokulturbehältern mit tropischen Pflanzen, dieein eingebautes Bewässerungssystem mit Nährflüssigkeit ver-sorgte. An den Wänden hingen Bilder von Pollock, Riopelle,de Sta^l, Rothko und dem Neffen des Präsidenten; und imVorzimmer saßen zwei Programmkontrolleure, ein Koordina-tions-Produzent, zwei Bildüberwachungsregisseure und dreiProgramm-Koordinations-Regisseure, die vor zweieinhalbStunden dringend zum Präsidenten gerufen worden waren.Seither warteten sie und verursachten dem Präsidenten undseinen Aktionären Unkosten von insgesamt vierundzwanzigPfund pro Stunde.

Der Präsident befand sich in einer Besprechung. Diese Tat-sache wurde von kleinen Bildschirmen im gesamten Amal-gatel House verbreitet. »R.V. bei Besprechung«, verkündetensie, wo immer Männer aufblicken mochten, um die Neuigkeitzu würdigen, im Foyer, in der Garage und in der Kantine.Einer der Schirme leuchtete im Vorzimmer des Präsidentenzum Nutzen der dort versammelten Einkommensteuerzahler.Die Sekretärin des Präsidenten tauchte aus ihrem Büro auf

5

Page 6: hl Frn - Weltbild

und betrachtete die Anwesenden zum sechsten Mal mit unter-drückter Befriedigung. »Ich gehe noch einmal hinein und er-innere R.V. daran, daß Sie hier sind«, sagte sie freundlich.

Sie klopfte leise an die Tür des Präsidenten und trat ein.Rothermere Vulgurian umkreiste mit auf dem Rücken ver-schränkten Händen langsam den Raum; sein vornehmes Sil-berhaar schimmerte sanft in dem durch die Fenster fallendenSonnenlicht.

» R.V. «, sagte sie. Ohne sie anzusehen, löste Mr. Vulgurianeine Hand vom Rücken und scheuchte sie mit einer Hand-bewegung aus dem Zimmer. Er befand sich in einer Bespre-chung mit Sir Prestwick Wining, einem Mitglied des Amal-gamated Televisions-Aufsichtsrats, der für Fragen der PublicRelations, der menschlichen und der kulturellen Beziehungenzuständig war. Sir Prestwick, ein kleiner, trauriger, trägerMann, saß in einem weichgepolsterten Drehstuhl in der Mittedes Raums und drehte sich langsam wie eine Sonnenblume imKreis, um dem Präsidenten immer das Gesicht zuzuwenden.

Mr. Vulgurian blieb stehen und zupfte geistesabwesend amIm .pasto eines Pollock.

»Noch etwas«, sagte er. »Wer produziert jetzt >Lachenmacht froh<?

»Corbishley«, antwortete Sir Prestwick.»Aha. Bitte teilen Sie unserem Freund Corbishley mit, daß

Lord Watswater gestern abend mit schief sitzender Krawattevor den Kameras stand.«

»Ich werde es ihm sagen, R.V.«»Erklären Sie ihm, daß ich damit weder die technische noch

die künstlerische Seite der Show kritisiere.«»Weder die technische noch die künstlerische.«»Ich behaupte nicht, daß ich dazu berufen bin, unsere

Show in dieser Hinsicht zu beurteilen. Das habe ich nie getanund werde es vermutlich auch nie tun. Ich kenne meine Gren-zen, Prestwick. Ich beschäftigte Sachverständige, die mich dar-

6

Page 7: hl Frn - Weltbild

über informieren, ob unsere Shows vom technischen, künst-lerischen und moralischen Standpunkt aus konkurrenzfähigsind. Ich habe volles Vertrauen zu ihnen. Erzählen Sie dasCorbishley! «

»Ja, R.V.«»Aber ich sehe es, wenn die Krawatte eines Mannes schief

sitzt oder wenn der Achselträger eines Mädchens über dieSchulter rutscht. Und so etwas dulde ich in unseren Showsnicht.«

»Ich bin ganz Ihrer Meinung, R.V.«»Ich habe einen Blick für Details, Prestwick, einen Blick für

Details.«»Sicherlich, R.V.»Ich behaupte nicht, daß ich ein Sachverständiger für Fern-

sehshows bin. Ich behaupte nicht, daß ich sehr viel vom Ge-schäft oder vom Geld verstehe. Aber ich nehme für mich inAnspruch, einen Blick für Details zu haben.»

»Einen Blick für Details.«»Das ist das Geheimnis einer erfolgreichen Unternehmens-

führung, Prestwick. Kümmere dich um das Nebensächliche,und das Wichtige wird sich von selbst erledigen.»

»Sich von selbst erledigen. Genau.«»Ich hoffe, die Angestellten befolgen diesen Grundsatz

ebenfalls, oder? «»Natürlich tun sie das, R.V.«»Ich hoffe es. Ich hoffe es.«Mr. Vulgurian blieb stehen und strich sich über das vorneh-

me Silberhaar. Das regte sein Denkvermögen an, und er warein Denk-Fanatiker. Einmal hatte er zu Sir Prestwick gesagt:»Wenn man mich aufforderte, meine Ratschläge an einen jun-gen Mann in zwei Worte zusammenzufassen, wissen Sie, wasich dann sagen würde, Prestwick? «

»Nein? « hatte Prestwick geantwortet.»>Denken Sie<, Prestwick, >Denken Sie<.«

7

Page 8: hl Frn - Weltbild

»Ich weiß es nicht, R.V. >Details<?«»Nein, Prestwick, >Denken Sie<.«»Hm. >Mut<?«»Nein. >Denken Sie<.«»Ich gebe auf, R.V. >Kühnheit<?«»Um Himmels willen, Prestwick, was ist mit Ihnen los?

>Denken Sie!<«»>Integrität<? >Loyalität<? >Autorität<?«»»Denken Sie<, Prestwick! >Denken Sie<, >Denken Sie<, Den-

ken Sie<!«Wann war das gewesen? Sir Prestwicks vorletztes Zwölffin-

gerdarmgeschwür?»Wer produziert derzeit >Lachen macht froh<?« fragte Mr.

Vulgurian gespannt.»Corbishley, V. R.«»Ach ja, Corbisley. Nun, sagen Sie es ihm, ja, Prestwick?«Sir Prestwick notierte auf seinem Block »Corbisley sagen«,

so daß seine vollständigen Notizen zu dem zur Debatte stehen-den Thema jetzt lauteten: »Corbishley sagen. Corbisley sagen.Corbisley sagen.« Sir Prestwick war so frei, einen leisen, durchseinen Schnurrbart gedämpften Seufzer auszustoßen. Er warkein glücklicher Mensch. Er war für seine Verdienste um diebritischen Public Relations geadelt und daraufhin in den Auf-sichtsrat der Amalgamated Television berufen worden. DieVerdienste hatten darin bestanden, daß die zuständige Behör-de keinen anderen Public-Relations-Mann ausfindig machenkonnte, der sich zu dieser Zeit keiner moralisch anstößigenTätigkeit widmete. Prestwick befand sich damals unter Nar-kose in einer Klinik. Zunächst war er für die Public Relations

zuständig gewesen. Aber die Public Relations hatten ganzselbstverständlich zu den kulturellen Beziehungen geführt, dasheißt, zu der Beziehung zwischen Mr. Vulgunan und der Kul-tur, und die kulturellen Beziehungen waren unmerklich in diemenschlichen Beziehungen übergegangen, die die Beziehung

8

Page 9: hl Frn - Weltbild

zwischen Mr. Vulgurian und allen menschlichen Wesen aufder Welt umfaßten — abgesehen vom Publikum, das unter diePublic Relations fiel. Sir Prestwick verfiel zusehends unter derLast seiner Arbeit. »Noch etwas«, meinte Mr. Vulgurian.»Ich habe heute morgen auf dem Fußboden des Lifts fünf Zi-garettenstummel und vier gebrauchte Streichhölzer gezählt.Was halten Sie davon?«

»Jemand muß ein Feuerzeug benützt haben, R.V.«, stellteSir Prestwick fest.

Mr. Vulgurian blieb abrupt stehen und musterte mit seinemBlick für Details Sir Prestwick.

»Haben Sie heute morgen vielleicht Magenbeschwerden,Prestwick? «

»Ach Gott, Sie wissen ja, R.V.... «»Sagen Sie es nur, wenn Sie keine Lust haben zu arbeiten.

Ich kann es immer noch allein schaffen.«»Ich bin vollkommen in Ordnung, R.V.«»Schenken Sie sich ein Glas Malven Wasser ein. Nehmen

Sie sich einen trockenen Keks. Tun Sie, als wäre ich nicht vor-

handen.«

Sir Prestwick sprang auf und trabte zur Anrichte, neben derMr. Vulgurian stand.

»Schenken Sie mir auch ein Glas ein«, befahl Mr. Vulgurian.»Wo war ich noch? Ach ja — fünf Zigarettenstummmel und vierbenützte Streichhölzer im Lift. Ich möchte, daß Sie allen Abtei-lungen mit einem Memorandum bekanntgeben, was ich ge-funden habe, und alle daran erinnern, daß die Lifts von Besu-chern des Gebäudes benützt werden, die sehr wohl aufgrunddessen, was sie auf dem Fußboden sehen, einen Eindruck vonder Amalgamated Television bekommen könnten.«

»Was sie auf dem Fußboden sehen. Ich habe es notiert,R.V.«, sagte Sir Prestwick, der versuchte, gleichzeitig Malven-Wasser einzuschenken und sich Notizen zu machen.

»Appellieren Sie an das Gute in ihnen! «

9

Page 10: hl Frn - Weltbild

»Ich werde es mir aufschreiben, R.V.«»Wann und wo immer es möglich ist, Prestwick, müssen

wir an das Gute in unseren Angestellten appellieren. Es ist da,wenn wir ihnen nur vertrauen. Das ist eines der grundlegen-den Prinzipien einer guten Geschäftsführung.«

»Das Gute — genau.«»Behandeln Sie einen Mann immer so, wie Sie selbst behan-

delt werden wollen, sei er auch der letzte Portier in der Firma.«»Wenn du nicht willst, das man dir tu ...«»So stelle ich mir gute menschliche Beziehungen vor. So

stelle ich mir eine gute Geschäftsführung vor. So stelle ich mirgute Ethik vor.«

»Sie haben vollkommen recht, R.V.«Mr. Vulgurian unterbrach sich und strich sich über das

Haar — er behandelte es so, wie er behandelt werden wollte.»Weil wir gerade über Ethik sprechen«, sagte er, »bauen wir

nicht irgendwo eine neue Ethik-Abteilung für ein theologi-sches College?«

»Für ein Automations-Forschungsinstitut«, erklärte SirPrestwick, der sofort etwas heiterer aussah.

»Ja, so etwas Ähnliches.«»Ich hoffte, daß wir Zeit haben würden, darüber zu spre-

chen, R.V., denn ich habe ein paar gute Neuigkeiten. Sie haben die Königin gekriegt, sie wird es persönlich eröffnen.«

»Wirklich? «»Man hat es mir gesagt, R.V.«»Gut, Prestwick, gut. Sehr gut! Schenken Sie sich noch ein

Glas Wasser ein!« Mr. Vulgurian überlegte mit nachdenk-lichem Weitblick.

»Wie haben sie es geschafft? « fragte er.»Das weiß ich nicht, R.V.«»Ich frage mich, wie sie es geschafft haben. Wenn ich mich

richtig erinnere, haben Sie die Königin nicht einmal für dieEröffnung dieses Gebäudes gekriegt.«

TO

Page 11: hl Frn - Weltbild

»Das stimmt, R.V.«»Und Sie haben auch nicht die Königin-Mutter gekriegt.«»Nein.«»Auch nicht Prinzessin Alexandra.«»Nein.«»Auch nicht den Herzog von Kent.«»Nein.«»Auch nicht den Herzog von Gloucester.«»Ich habe den Herzog von Bedford gekriegt, R.V.«»Sie haben den Herzog von Bedford gekriegt.«Mr. Vulgurian zog sein Taschenmesser heraus und kratzte

geistesabwesend an einem besonders erhabenen rosa Farb-brocken auf dem Riopelle.

»Wie haben sie es geschafft, Prestwick? Ziehen sie an denrichtigen Drähten? Ist das die Erklärung, Prestwick?«

»Es ist das Establishment, R.V. Alle diese Akademien stek-ken mit dem Establishment unter einer Decke.«

»Das Establishment! Es erhebt wieder sein häßliches Haupt,wie? Wie Sie wissen, Prestwick, behaupte ich nicht, daß icheine politische Meinung habe — ich verfüge über Sachverstän-dige, die sich für mich um solche Sachen kümmern. Aber ichhalte es für symptomatisch, daß eine Fernsehgesellschaft, dieder Nation das wichtigste soziologisch-kulturelle Kommuni-kationssystem zur Verfügung stellt, nicht einmal den Herzogvon Gloucester kriegen kann, während irgendein kleines theo-logisches College, das für eine winzige Minderheit zuständigist, die Königin kriegen kann.«

»Sehr richtig, R.V.«Mr. Vulgurian steckte das Taschenmesser ein und begann

wieder, den Raum zu umkreisen.»Andererseits«, meinte er, »ist es unser Flügel, den die

Königin eröffnen wird.«»Auch das ist richtig, R.V.«»Wissen Sie, Prestwick, wenn ich in die Zukunft sehe, bin

II

Page 12: hl Frn - Weltbild

ich davon überzeugt, daß eine Ära beginnt, in der Religionund Massenmedien Mißtrauen und Konkurrenzdenken ver-gessen und lernen werden, zum gegenseitigen Vorteil zusam-menzuarbeiten.«

»Der Gedanke hat sicherlich etwas für sich, R.V.«»Notieren Sie ihn, Prestwick, für meine Rede vor der Ge-

sellschaft zur Förderung des verantwortungsbewußten Fern-sehens! «

»Das habe ich schon getan, R.V. Er ist in dem Text der Redeenthalten, den ich Ihnen gestern gab.«

»Gut, Prestwick, gut. Er bestätigt natürlich meine Ansichtüber den Wert der Ethik. Dieses kleine theologische Col-lege ... Sagten Sie, daß es sich um ein theologisches Collegehandelt, Prestwick? «

»Ein Forschungsinstitut, R.V.«»Dieses kleine Forschungsinstitut bat uns um Hilfe. Wir

fragten nicht, ob es protestantisch, katholisch oder jüdisch ist.Fragten wir, Prestwick? «

»Na ja, wir fragten nicht, R.V., weil es ...«»Weil es nicht unsere Art ist. Ohne Ansehen von Hautfarbe,

Rasse oder Religionszugehörigkeit halfen wir, soweit wirkonnten.«

»Fünfzigtausend Pfund, R.V.«»Fünfzigtausend Pfund.«Mr. Vulgurian umkreiste den Raum dreimal in nachdenk-

lichem Schweigen. Sir Prestwick wurde durch die ständigeDrehbewegung des Stuhls allmählich seekrank.

»Fünfzigtausend Pfund«, sagte Mr. Vulgurian. »Fünfzig-tausend Pfund ... Dieser Betrag wurde vom Aufsichtsrat ge-nehmigt, nicht wahr, Prestwick? Ja? Aber wir haben Arbeit zuleisten. Welche Arbeit, Prestwick? «

»Sie wollten untersuchen, ob man das Motto >Denkt groß-zügig< aus den Büros aller leitenden Angestellten entfernensoll.«

I2

Page 13: hl Frn - Weltbild

»Ach ja. In einer Organisation wie der unseren schien esuns etwas naiv, nicht wahr? «

»Allerdings, R.V.»Einer Ihrer weniger glücklichen Einfälle, Prestwick, ob-

wohl ich mich, wie Sie wissen, nie in die Art und Weise einmi-sche, wie Sie kulturelle Probleme handhaben. Was haben Siesich statt dessen einfallen lassen? «

»Wie würde Ihnen >assoziiert< gefallen? «Mr. Vulgurians Sekretärin schlich auf Zehenspitzen in den

Raum. Er scheuchte sie wieder hinaus, blieb gebannt vor demRothko stehen, leckte einen Finger ab und rieb mit ihm übereinen Fleck auf der Leinwand, um herauszufinden, ob es sichum Farbe oder Schmutz handelte.

»Jetzt weiß ich, was ich Sie fragen wollte«, sagte er. »Werproduziert derzeit >Lachen macht froh<?«

2. Kapitel

Das Klirren und Dröhnen der stählernen Gerüststangen, dieaus großer Höhe hinuntergeworfen wurden, konnte man inallen Räumen des William-Morris-Instituts für Automations-forschung hören. Der neue Ethik-Flügel war beinahe fertig.Gerade rechtzeitig. In den letzten zwei Jahren hatten der Bau-lärm und die übrigen Unannehmlichkeiten das Quantum anAutomation, das das Institut erforschte, beträchtlich vermin-dert. Wie Sachverständige errechnet hatten, hätten die revolu-tionären neuen Computerprogramme, die im Institut ent-wickelt wurden, innerhalb der nächsten zehn Jahre etwa zweiMillionen Fachleute arbeitslos gemacht — falls diese Entwick-lung ohne Unterbrechung angehalten hätte. Nun bestand dieGefahr, daß einige von diesen zwei Millionen noch immer be-schäftigt oder jedenfalls nur teilweise beschäftigungslos wa-

13

Page 14: hl Frn - Weltbild

ren. Aber, meinten die Optimisten, wenn man Fortschritte er-zielen will, muß immer jemand darunter leiden.

Der Leiter der Zeitungsabteilung, Dr. Goldwasser, litt be-reits. Jedesmal, wenn es klirrte oder dröhnte, zuckte er zusam-men, und jedesmal, wenn er zusammenzuckte, wurde er nochgereizter. Er wollte seine Angestellten nicht merken lassen,daß er zusammenzuckte, um nicht den Eindruck zu erwecken,er hätte schwache Nerven. Er wollte sie aber auch nicht mer-ken lassen, daß er innerhalb von drei Stunden zum viertenMal in den relativ ruhigen Waschraum ging, um nicht denEindruck zu erwecken, er hätte eine schwache Blase.

Er blickte nervös aus dem Fenster, um zu sehen, wie die an-deren damit fertig wurden. Der einzige Mensch, den er sehenkonnte, war Rowe, der Leiter der Sportabteilung, der in sei-nem Laboratorium auf der anderen Seite des Hofes saß. Rowewirkte vertieft, was wahrscheinlich bedeutete, daß er nicht ander Automation des Sports arbeitete, sondern an dem Roman,den er angeblich schrieb. Er beugte sich über seinen Schreib-tisch, so daß ihm die Haare in die Augen fielen, dann richteteer sich wieder auf und starrte ausdruckslos zum Fenster hin-aus, wobei er mit dem kleinen Finger im rechten Ohr bohrte.Von Zeit zu Zeit zog er den Finger heraus und betrachtete ihngeistesabwesend, als hoffte er, auf Spuren von Erdöl oderUranerz zu stoßen. Goldwasser war von dem Schauspiel dervor seinen Augen stattfindenden Schöpfung tief beeindruckt,und nach einiger Zeit stellte er fest, daß er selbst gefühlvollmit dem kleinen Finger im rechten Ohr bohrte.

Goldwasser fragte sich, ob er auf einen Sprung zu Rowe

hinübergehen sollte. Das konnte sich sehr positiv auswirken.Rowe war sicherlich nicht so klug wie er selbst, und Goldwas-ser mußte sich eingestehen, daß er an einem Punkt angelangtwar, an dem es seinem Selbstbewußtsein gut tat, wenn er mitLeuten sprach, die bestimmt nicht so klug waren wie er selbst.Nicht mit dummen Leuten, bei denen ihm nichts einfiel, son-

14

Page 15: hl Frn - Weltbild

dern mit klugen Leuten, die aber nicht klug genug waren, umeine Bedrohung darzustellen. Dadurch ergab sich ein großerKreis von potentiellen Tröstern — beinahe jeder im Institutgehörte dazu, ausgenommen Macintosh, der Leiter der Ethik-abteilung.

O Gott! Macintosh! Er war Goldwassers bester Freund,und der Gedanke an ihn erfüllte Goldwasser mit herzlicher,vertrauter Gereiztheit. Macintosh reizte Goldwasser in zweier-lei Beziehung: Manchmal wirkte er so dumm, daß man nichtmit ihm sprechen konnte, und manchmal wirkte er beinaheklüger als Goldwasser. Das unentschlossene Schwanken zwi-schen diesen beiden Möglichkeiten war noch irritierender alsjede von ihnen für sich allein.

War Macintosh klüger als Goldwasser oder nicht? Es muß-te eine objektive Methode geben, das herauszufinden. Früher,davon war Goldwasser überzeugt, war er zweifellos klügergewesen als Macintosh. Aber er ließ nach. Er hatte jedenfallsAngst, daß er nachließ. Er war ziemlich sicher, daß sein Ge-hirn zu der Gattung Cerebrum Dialectici gehörte — das Gehirneines Logikers oder eines Wunderkinds, eine früh blühendePflanze, die im Alter von dreißig Jahren ihren Höhepunkt be-reits überschritten hat. Seine diesbezügliche Besorgnis hattesich zu einer Art Zerebral-Hypochondrie gesteigert. Er unter-suchte pausenlos seine geistige Leistung auf Anzeichen vonVerfall. Er lieh sich von seinen Kollegen IQ Tests, stoppteseine Zeit und hielt die Ergebnisse graphisch fest. Wenn diegraphische Darstellung eine absinkende Kurve ergab, redeteer sich ein, daß die Methode irreführend war; und wenn dieKurve anstieg, sagte er sich skeptisch, daß es sich wahrschein-lich um einen Trugschluß handelte.

Manchmal dachte er, daß das Abhandenkommen seinerMeinungen ein Zeichen für seinen Verfall war. Manche Men-schen verfügen über den Glauben, andere über Meinungen.Goldwasser hatte zu allem, wovon er jemals gehört hatte, eine

I 5

Page 16: hl Frn - Weltbild

Meinung, und seit seinem vierzehnten Lebensjahr hatte er vonbeinahe allem, was es im Universum gab, gehört. Während desLeistungsgipfels seines Gehirns hatte er die gesamte Schöp-fung in zwei Kategorien eingeteilt: Dinge, für die, und Dinge,gegen die er war. Jetzt verlor er seine Meinungen wie schlech-te Zähne. Der unmittelbare Umkreis seiner Interessen hattesich vom Schicksal des Pi-Meson und der Theokratie der Göt-ter F und M zu der intensiven Überlegung verengt, ob er klü-ger war als Macintosh oder nicht.

Wenn Goldwasser aus dem Fenster blickte, konnte er Mac-intosh nicht sehen, da dieser sich in der gotischen Festung deralten Ethikabteilung versteckt hielt, aber der Lärm, den dasAbreißen des Gerüsts an Macintoshs neuem Flügel verur-sachte, erinnerte Goldwasser ständig an ihn. War Macintoshder Klügere? War Macintoshs Gehirn, wie das Goldwassers,Cerebrum Dialectici? Wenn dem so war, dann befand es sichjetzt auf dem Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit undwürde anschließend genauso schnell verfallen wie das Gold-wassers — vorausgesetzt, daß letzteres tatsächlich verfiel. Oderwar es Cerebrum Senatoris — das Gehirn eines weisen altenMannes, das im Lauf der Jahre langsam reift? Wenn dem sowar, dann hatte es vielleicht jetzt Goldwassers Gehirn einge-holt, ohne daß Goldwassers Leistungen nachgelassen hatten.Falls es jedoch mehr zum Cerebrum Senatoris neigte als zumCerebrum Dialectici, würde es im Lauf der Zeit GoldwassersGehirn überflügeln — eine nicht sehr erfreuliche Aussicht.Goldwasser bewegte schwermütig den Finger in seinem rech-ten Ohr. Das Ohr hatte jetzt begonnen zu jucken, und zwarauf ganz besondere Art.

Goldwasser wurde plötzlich klar, daß man ihn beobach-tete, er entdeckte hinter einem nahen Korridorfenster Augen,die ihn eingehend musterten. Sie gehörten Nunn, dem stell-vertretenden Direktor des Instituts. Der fröhlich lächelndeNunn winkte Goldwasser lässig zu. Goldwasser trat nervös

16

Page 17: hl Frn - Weltbild

ins Zimmer zurück, zog den Finger hastig aus dem Ohr,steckte ihn dann wieder hinein, als hätte er vorgehabt, ihn auswichtigen wissenschaftlichen Gründen längere Zeit dort zubelassen, und begann, sich mit den Papieren auf seinemSchreibtisch zu beschäftigen.

Vielleicht sollte er doch noch einmal pinkeln.Im Waschraum der Abteilungsleiter befand sich nur Jelli-

coe, der Chefportier. Jellicoe beugte sich über eine Waschmu-schel, hatte sein Gesicht sehr nahe an den Spiegel gebrachtund stutzte sich mit einer winzigen, zusammenklappbarenSchere den Schnurrbart. Er blickte kurz zu Goldwasser auf.

»Hallo, Mr. Goldwasser«, sagte er und beschäftigte sichdann wieder mit seinem Schnurrbart.

»Hallo«, antwortete Goldwasser, der nie wußte, ob er denPortier Jellicoe oder Mr. Jellicoe nennen sollte. Er pinkelte,ließ verschwenderisch warmes Wasser in ein Waschbeckenlaufen und wusch sich die Hände. Im Waschraum war es sehrruhig, das sanfte Rauschen der Wasserbehälter und das leiseKlick-klick von Jellicoes Schnurrbartschere verstärkten dietiefe Stille.

»Dr. Riddle hat also wieder eine Arbeit über randomisierteVerteilung veröffentlicht«, meinte Jellicoe. Sein Mund warleicht verzerrt, weil er während des Sprechens seine Oberlippeweiter bearbeitete.

»Ach«, sagte Goldwasser, der sich im Spiegel betrachtete.Im Grunde genommen konnte er nicht daran zweifeln, daß erklug war; sogar zu klug — halb, vielleicht sogar dreiviertel zuklug.

»Haben Sie sie gelesen, Sir?« fragte Jellicoe.»Nein«, antwortete Goldwasser. Die einzige Art, wie er eine

Zeitung, geschweige denn einen Fachartikel, lesen konnte,war von hinten nach vorn, vom unteren zum oberen Rand derSeite, vom Schlußsatz zur Überschrift, was sein Verständnisbei jedem Abschnitt vor unerhörte Probleme stellte, die er na-

17

Page 18: hl Frn - Weltbild

türlich löste. An besonders düsteren Tagen vergrößerte er be-wußt das masochistische Vergnügen dieser Perversion, indemer auch jeden Satz von hinten nach vorn las.

»Eine glänzende Abhandlung«, stellte Jellicoe fest. »Findeich jedenfalls.«

Goldwasser betrachtete auch Comic strips von hinten nachvorn und erriet mit deprimierender Regelmäßigkeit, nochbevor er das erste Kästchen erreichte, was ihn dort erwartete;allerdings langweilte er sich dabei infolge der logischen Un-möglichkeit, jede einzelne Zeichnung rückwärts zu betrach-ten.

»Ich habe aus zuverlässiger Quelle erfahren, daß die Köni-gin hierherkommt «, verkündete Jellicoe.

»Oh?« sagte Goldwasser. Er las auch Romane von hintennach vorne. Wenn er nach einem Buch griff, konnte er es nichtertragen, daß der Autor in den ersten Kapiteln weitschweifigannahm, Goldwasser wisse nichts über die Personen derHandlung und müsse sie erst kennenlernen.

»Um dem Institut einen offiziellen Besuch abzustatten undden neuen Flügel zu eröffnen. Was halten Sie davon, Sir?«

»Hm«, sagte Goldwasser. Möglicherweise hätte er es ertra-gen, die Gestalten eines Romanautors kennenzulernen, sobalder wußte, ob sie am Ende tot oder verheiratet waren oder sichin ihr Schicksal ergeben hatten. Allerdings war es nicht sehrinteressant zu erfahren, daß jemend, den man nicht kannte,tot, verheiratet oder in sein Schicksal ergeben war.

»Ich glaube«, äußerte sich Jellicoe wieder, »daß es in gewis-sem Sinn die Volljährigkeitserklärung der Automationsfor-schung bedeutet. Wir werden in den Kreis der Universitätenaufgenommen.«

Im großen und ganzen, dachte Goldwasser, zog er ja dasFernsehen vor, wo der Zuschauer infolge einer forte majeurealles in der richtigen Reihenfolge zu sehen bekommt und eskeine Konzessionen an den ausgefallenen Geschmack von

I8

Page 19: hl Frn - Weltbild

Leuten wie seinesgleichen gibt, die zu klug sind, um zu wis-sen, was für sie gut ist. Er trocknete sich nachdenklich dieHände.

Vor dem Waschraum stand der stellvertretende DirektorNunn; er hatte ein Squash-Racket unter den Arm geklemmtund legte das Ohr an das Schlüsselloch. Er war dagegen, daßAbteilungsleiter Untergebene in ihren Waschraum baten. Esuntergrub die Disziplin und wies auf die Möglichkeit vielschwererer Vergehen hin. Natürlich wieder Goldwasser. Nunnwarf einen Blick in sein Rugby-Merkbuch. Es war an diesemVormittag das vierte Mal, daß Goldwasser in den Waschraumging. Jellicoe war zwar zum erstenmal dort, hielt sich aber seitbeinahe zwanzig Minuten darin auf.

Nunn war mit den Ergebnissen der kurzen Einlage amSchlüsselloch des Waschraums sehr zufrieden. Sie bekräftig-ten seine Behauptung, daß routinemäßige Spionagetätigkeitoft unerwartete Erfolge bringt. Hätte er nicht gelauscht, umherauszufinden, warum sich Goldwasser an untergeordneteAngestellte anbiederte, so hätte er nicht erfahren, daß die Kö-nigin das Institut besuchen würde. Diese Information war fürdie Leitung des Instituts sehr wertvoll. Er nahm im Merkbuchim Abschnitt »Handschuhgröße« eine Eintragung vor. »Köni-gin« schrieb er und schlug dann wieder den Abschnitt »Letz-ter Zug« auf, in dem er über Goldwassers Aktivitäten Buchführte. »Goldwasser« schrieb er. Goldwasser verließ denWaschraum. Nunn richtete sich schnell auf.

»Fein, fein«, sagte er, kicherte und drückte GoldwassersArm. Dann ging er in seinen gummibesohlten Badminton-schuhen geräuschlos den Korridor entlang.

1 9

Page 20: hl Frn - Weltbild

3. Kapitel

»Hugh Rowe«, schrieb Hugh Rowe, »ist ein glänzender neuerStern auf dem literarischen Himmel. R ist sein erster Roman,und Kritiker, die ihn vor dem Erscheinen gelesen haben, habenden Autor als >die erregendste neue Stimme seit dem Krieg< undals >blendende Neuentdeckung< begrüßt, >die die erstaunlicheLeistung vollbracht hat, die sachliche Dichte von Robbe-Gril-let mit dem weitverspannten, traditionsverbundenen Humorvon P. G. Wodehouse zu vereinen< (weitere Kritiken siehe zweiteUmschlagseite).«

Rowe unterbrach sich und bohrte mit dem Finger im Ohr.Einen Roman schreiben war eine erstaunlich anstrengendeArbeit. Er hatte diesen Punkt schon ein dutzendmal erreicht —Schreibtisch und Fußboden waren mit verworfenen Entwürfenübersät — und mußte feststellen, daß es sehr schwierig war,über ihn hinauszugelangen. Er versuchte es noch einmal.

»R ist die Geschichte eines Schnaps-Priesters, den das Be-wußtsein quält, daß er jede Sünde von der Gotteslästerung biszum Mord begangen hat, und der darüber entsetzt ist, wieleicht er immer wieder — wie er aus tiefer innerer Überzeu-gung weiß — in den Zustand der Gnade zurückkehrt.«

Rowe verzog gequält das Gesicht und riß das Blatt aus derSchreibmaschine. Er begann von neuem.

»R ist die Geschichte von vier Männern — einem geflüchte-ten Diktator, einem Reklametexter, einem dem Alkohol ver-fallenen Kriegshelden und einem klassebewußten Gewerk-schaftler — die in der feuchten Hitze der Torres-Meerenge aufeiner winzigen Insel von der Umwelt abgeschnitten sind. Beiihnen befindet sich eine schöne, junge Dame der High Society,die im Begriff war, in ein Kloster einzutreten ...«

Rowe wechselte das Papier.»R ist die Odyssee eines enttäuschten Schriftstellers, der

eine Reihe von phantastischen Abenteuern erlebt — jedes von

ZO