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Reihe Sprachlandschaft Herausgegeben von Robert Schlãpfer und Rudolf Schwarzenbach Band 1 Rudolf Hotzenkõcherle Die Sprachlandschaften der deutschen Schweiz Herausgegeben von Niklaus Bigler und Robert Schlãpfer unter Mitarbeit von Rolf Borlin Verlag Sauerlãnder Aarau o Frankfurt am Main o Salzburg

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Wallis

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Re ihe

Sprachlandschaft

Herausgegeben von Robert Schlãpfer und Rudolf Schwarzenbach

Band 1

Rudolf Hotzenkõcherle

Die Sprachlandschaften der deutschen Schweiz

Herausgegeben von Niklaus Bigler und Robert Schlãpfer unter Mitarbeit von Rolf Borlin

Verlag Sauerlãnder Aarau o Frankfurt am Main o Salzburg

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9 Walliserdeutsch

9.1 Das Wallis als hochstalemannisches Rückzugsgebiet

9.1.1 Das Wallis als l{erngebiet der Südformen

(Karte 58)

Im Abschnitt <<NordiSüd-Gegensatze>> (Karten 4-12) haben wir immer wieder das W a ! l i s a l s südl ich s t e , innerste K a m m er der j ew ei l igen Südform kennen gelernt; an das Wichtigste sei hier, mit Erganzungen und nach grammatischen Kategorien geordnet, erinnert (Reiheqfolge, soweit miiglich: vom weitesten Geltungsbereich südlicher, <<hiichst­alemannischen> Formen zu engeren Bereichen fortschreitend; in Klammer: Beispiel und Verweis auf betr. KarteiLinie dieses Buches bzw. SDS-Karte):

a) Lautgeographie

Altobd. iu als oü (toüf bzw. entrundet teif, tiiif usw.; Karte 511); mhd. ã unverdumpft (Aabe usw. ; Karte 411); mhd. I, ü, íl im Hiat nicht diphthongiert (schniie, bu�te, rüüe; Karte 412); germ. -nk- extremverschoben zu -(n)ch- (triiche; Karte 512); -m ) -re (giiiire 'gern' ; Karte 513); der Fali 'Zehe' (Zeewe; SDS IV 35).

b) Wortbildungsgeographie (z. T. zugleich Lautgeographie)

Bewahrung der alten Scheidung AdjektiviAdverb (liing l lang, spiiiit l spaat; SDS III 250, 251); mit ahnlichem Hintergrund, aber raumlich anderer Aufteilung: niirdl. über l südl. uber (SDS I 60); 1 Bewahrung des alten ia-Stammes in 'Rücken' (Rügg; SDS IV 41); besondere Diminutivformen: -i, -ji, -si, -schi, -(el)ti, oft verbunden mit Umlautlosig­keit des Stammvokals (SDS III 149 ff.).

e) Sonstige Formengeographie

V er ba l f l ex i o n : Bewahrte Zweisilbigkeit in 'kostet' (Karte 611); ei-Vokalismus in d er 2.13. Sg. von 'gehen' , 'stehen' (geisch(t) , geit; steisch(t) , steit; Karte 57 11); Bewahrung der alten (lautgesetzlichen) Paradigmenspaltung in 'fliegen' , 'lügen': Für <<altobd. im> steht im Sg. -üü- ( entrundet -i i-), im P!. -oü- ( entrundet -iii-, -ei-), so Innertkirchen = BE 86: liige( n) l liigscht l liigt l l liiige( n) l liiigid l liiige; Ferden = WS 6: leign l liigscht l liigt l l leigii l leigiid l leignt; vgl. SDS III 21; 2. P!. von 'wissen' in der Inversion mit Vokalsynkope

1 Vgl. u. 8. 158 Anm. 2.

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(wüsst-er bzw. -i-; SDS III 85); zweisilbiges Part. Perf. von 'haben' (ghabe(n), -et bzw. ghiibe(n) , -et; SDS IU 46); Bewahrung d er 1-Formen in 'du solltest' sowie 'du willst' (SDS III 89, 112).

Sub stantivflexi o n : Plural von 'Stiel'(Stil-a u. a.; SDS IU 164); Plural von 'Lõffel', 'N agel' (Loffl-a, N agl-a; SDS IU 166, 167); P l ura! von 'Bett', 'Fest' (Bett-i bzw. Bett-eni, Fescht-i bzw. -eni; SDS IU 174, 175); Plural von 'Hündchen' u. a. (Hünd-eni bzw -ini; SDS III 180).

Artikel : Bestimmter Artikel 'das': ds (Karte 711) ; Nichtsynkope beim best. Art. 'die' vor Verschlu13laut, z. B. di Poscht, di Zunge, di Burdi, di Gable (SDS IU 132 f.); erhaltenes -n beim unbest. Art. 'eine' (Nom. Akk. Fem.), z. B. en Burdi (SDS IU 144).

Pronomen : Fortleben vou ahd. iro (Gen. P!. des Personalpronomens 'er', 'sie', 'es'; Karte 712) ; Fortleben des unbest. Pronomens ahd. sum (Karte 714); volle Vokalform des unbest. Pronomens 'man' (nnt; SDS IU 229f.) ; konsonantisch anlautende Form des unbetont-enklitischen Personalpronomens 'ilun' j 'ihn' ( -me, -mu l -ne, -nu; SDS IU 205, 206); Bewahrung· des Anlauts und Brechung des Stammvokals in 'wir' (wier; SDS IU 203); Brechung des Stammvokals in 'ihr' (ier; SDS IU 204).

Syn ta x : Flexion des pradikativen Adjektivs (er isch aalte l si isch aalti les isch aalts;

Karte 713); Umschreibung des Inchoativs uud Passivs mit 'kommen' statt mit 'werden' (du

chunsch chranke, das chunt nümme gmachts; SDS U 266) . d) W ortgeographie

Weiterleben vou ahd. nõz 'Vieh' in Bedeutungen wie 'junge weibliche Ziege' , 'junges weibliches Schaf' (HoTZENKÕCHERLE, Raumstruktur: Abb. 13); Fortleben von Haupt 'Kopf' in Zusammensetzungen (Karte 812) und als selbstandiges Wort (Karte 811); Verbreitung von sonstigen (heute) hõchstalemannischen Wortformen und Wõrtern wie chlempe 'klemmen' (SDS IV 91), heiseram(ig) 'heiser' (SDS IV 65), ru�tze 'schnarchen' (Karte 53), ropse 'rülpsen' (Karte 54) , unegle u. a. 'den Nagelfrost haben' (SDS IV 59), Schine 'Holzsplitter im Finger' (Karte 52), zwiirg( g)e, zwengge 'lmeifen' (SDS IV 92) .

Wir schlie13en diesen Rückblick mit einem Beispiel, das noch einmal die allgemeine Situation des W allis im hõchstalemannischen Rahmen un d zugleich sein e Sonderstellung in diesem Rahmen veranschaulichen soi!: d er Fali Schlussel (Karte 58). Aus unserer Karte geht hervor, da13 dem normalschweizerdeutschen Schlüssel ein hõchstalemannisches Schlussel ohne Umlaut gegenübersteht.2 Die Karte hiilt die zur Zeit der Aufnahmen für den SDS

2 Dcr Grun d d er Umlautlosigkeit in dcr hõchstalemannischen Form ist unsicher. S'I'UCKI, Jaun: S. 62 und

HENZEN, Freiburger M da.: S. 52 opericren mit Suffixablaut (-ill -ul); I d. IX 754 schlieBt si eh dieser Deutung nur zõgemd an. Im Wallis selbst ist nach SDS I 59, Leg. I , die Suffixform -il heute hãufigcr als -ul

und ebenso hãufig wie -el, -l zusammen; damit lãBt sich die Erklãrung als Suffixablaut hõchstens bei Annahme selnmdãrcr Suffixveriinderungcn (nach der Periode dcr Umlautwirkungen) vcrcinigen; vgl. RünEL, Viehzucht: S. 7. Ein sicherer Fali von UmlautiNichtumlaut-Divergenz mit dcm Hintergrund eines

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nõrdlichste Linie noch belegter umlautloser Formen fest: Es ist eine Linie, die in ihrem bernischen Abschnitt stark an die Nordgrenze der giiiire-Form erinnert (s. Karte 513). Innerhalb des südlich dieser Linie liegenden Gebiets stellt der W est- un d Südrand (Freiburg mit wenigen Ausnahmen, W allis mit sein en südlichen Au13enorten un d d em Hauptteil d er bündnerischen Südwestwalser) eine Zone grõ13ter Beharrsamkeit dar, wahrend sich das Berner Oberland als ein für nõrdliche Formen bereits sehr anfalliges Einbruchgebiet erweist. Mau stellt si eh lei eh t d en Augenblick vor, w o das W allis (vielleicht eine Zeitlang noch zusammen mit Freiburg) die letzte Rückzugsbastion der alten hõchstalemannischiln Form sein wird - sofern di e beschleunigte moderne Entwicklung im W allis selbst ni eh t al! e derartigen Berechnungen über den Haufen wirft und die bisher progressiveren Gebiete des übrigen Südwestens überholt.

Das durch 'Schlüssel' gebotene B i! d ist für di e Verhiiltnisse in d er ersten Halfte un d um di e Mitte dieses J ahrhunderts einstweilen reprasentativ. Wir haben zum mindesten Ansiitze zu ahnlichen Rückzugsverhiiltnissen in einem früheren Abschnitt dieses Buches kennenge­lernt: bei der Hiatusdiphthongierung; bei der nk-Problematik; bei der Dynamik der giiiirn l giiiire-Grenze; bei d er Auseinandersetzung zwischen Spiegel un d Brille. 3 Au eh d er Fali des pradikativen Adjektivs kõnnte hier wieder angeführt werden: Wie die Original­karte SDS III 256 zeigt, ist di e Rückzugsfront d er flektierten Form resistent an d er W est­und Südflanke: in den Kantonen Freiburg und Wallis (samt südlichen Au13enorten), aber bereits wankend im Berner Oberland.

9.1.2 Auf das Wallis beschrankte Hõchstalemannismen

Die zuletzt besprochenen Falle führten uns bereits in unmittelbare Nahe der heute aus­schlie13lich auf das W allis (un d sein e Au13enorte) beschrankten, für das W allis daher besonders charakteristischen Hõchstalemannismen. Diesem Aspekt wenden wir uns jetzt mit einer Auswahl reprasentativer Beispiele zu; sie sind wieder nach grammatischen Kategorien geordnet; in der Klammer stehen wieder die Hinweise auf bisherige Karten uud SDS­Stellen.

a) Lautgeographie

Schon BoHNENBERGER uud JuTz benutzen die V ertretung vou s durch sch als Walliser Merkmal gegenüber den übrigen hõchstalemannischen Mundarten.4 Entscheidend ist dabei

Suffixablautes ist dagegen w o h! d er o ben S.157 erwiihnte N ordiSüd-Gegensatz iiber l u be r ( ahd. Adv. ubiri l Prãp. ub ar).

3 Vgl. Abschnitt 1.2. DaB das Wallis gelegentlich <<auch anders kanm, sei bereits jetzt mit dcm Hinwcis auf den Fali Haupt (Karte 11) angcdcutet: Haupt als Simplcx scheint nach unsem 1\Iaterialien im Wallis stãrkcr

bedroht als i m Berner Oberland - und ist im Freiburgischen bereits verschwundcn. 4 BoHNENBERGER, Walliser: § 24, 27; Ju'!'z, Alemannisch: S.23. Vereinzclte sch-Vorkommnisse im Berner

Obcrland erwãlmt BoHNENBERGER a. a. O. § 27. - Di e entsprechende, vicl weiter verbreitete Entwicklung rs ) rsch stcht hier nicht zur Diskussion; vgl. hiezu SDS II 145 'Ferse', 146 schwers.

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das Vorkommen dieser Lautung in einer Reihe anderer Wiirter als dem Sonderfall Iisch 'Eis' (Karte 53), der eine viel weitere Verbreitung und wohl andere lautgeschichtliche Hinter­gründe hat: 5 'sie', 'sechs(e)', 'Hãuser' , 'Lãuse', 'Mãuse', loose 'leeren' , ( 'Füchse') 6 = schii,

siiggsch(i) , Hiischer, Liisch, Miisch, leesche, (Figgsch). Die Originalkarte SDS II 144

erweist das W allis als Kerngebiet dieser Lautungen; in d en bündnerischen W alserkolonien erfaBt die Entwicklung nicht ganz so viele Wiirter, gehiirt aber zu den prãgnanten Walser Merkmalen gegenüber dem Churerrheintalischen; einige Südwalserorte (Alagna, Rima, Rimella) gehen dagegen noch weiter als das Wallis, indem sie auch Wiirter ohne i-le-Kontakt wie 'Nase', 'Hose' so behandeln.7 BoHNENBERGER, Walliser: §27, diskutiert ausgiebig die Herkunft dieser <<Palatalisierung>> von altem s: Archaismus o d er Romanismus? Beides ist bei der Lage des W allis un d erst recht sein er südlichen Ableger plausibel un d kann sogar zusammengewirkt haben: Für das germ. s in ãlterer Zeit wird fast allgemein sch-artige Aussprache angenommen; 8 in romanischen Mundarten ist solche Palatalisierung eine bekannte Erscheinung.9 Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch BoHNENBERGERS

Hinweis auf parallele Erscheinungen und Probleme in den südbairischen Mundarten. Er eriiffnet damit einen gesamt-süddeutschen Horizont, d er au eh sonst von Bedeutung ist.10-Au f d er Schwelle zwischen Lautgeschichte un d W ortbildungs- bzw. Flexionsgeschichte steht die Abneigung gegen n i cht- lautgesetz l ichen Umlaut , z . T . gegen Umlaut überhaupt ; beides kommt in Einzelfãllen auch in angrenzenden Gebieten vor, ist im Wallis und seinen (vor a.llem ennetbirgisch-südlichen) AuBenorten aber besonders ausge­priigt un d soll deshalb hier in sein en sichtbarsten (o d er hiirbarsten) Auspriigungen einmal zusammengestellt werden. Es handelt sich um die folgenden Falle: D i minu t iv e : 11 Aaderli

(SDS I 83); Htmd(e)li, Hundji, H·undi, Hundsi, Hundschi (SDS III 149); Haaggli, Haaggji,

Haaggi, Haaggschi, Haaggelti (SDS III 150); Radlin, Radji, Radschi (SDS III 151); Trogli( n) , Ttogji, Ttogi, Trogdschi (SDS III 152); V ogelti, V ogilti, Vogu(l )ti (SDS III 154);

5 Vgl. SDS II 144 u. Leg. 1 a; zu diesem und einigen weiteren Fãllen mit über das Wallis hinausreichender Entwicldung s ) sch (z. B. Miesch 'Moos') s. BoHNENBERGER, Walliser: S. 52, 54.

6 Zu 'Füchse' s. SDS TI 144, Leg. 2. 7 Vgl. die Beispielsammlung SDS II 144, Leg. 1 c.

8 So zuerst BRAUNE, Wilhelm (1874). Tn: PBB 1.530; zustimmend z. B. WILMANNS, W. ("1911). Deutsche

Grammatik I, § 102. Weitere Lit. bei BoHNENBERGER, Walliser.

9 Vgl. LAHTI, J. (1951). Sur la palatalisation spontanée de l's dans les parlers gallo-romans. In: Neuphil. Mitt.

52.1 ff.; NANDRIS, Octavian (1952). Les palatalisations romanes. In: Orbis 1.136 -145; MouLTON, Swiss German Dialect: S. 42 ff.

10 In diesen Zusammenhang gehõrt z. B. die Interdependenz von Vokalqnantitãt und Auslautkonsonanz bei

einsilbigen Wõrtern, wozu vorlãufig SDS II 45,172 ('Glas' , 'Rad') und KRANZMAYER, Eberhard (1960). Di e Sprachaltertümer in den Mundarten der Tiroler Hochtãler. In: ZMF 27.160 -192, bes. § 12. Auf die

Wünsehbarkeit einer südalemanniseh-südbairisehen Zusammenschau im Rahmen einer <•hõchstalemanni­

schem Relikt- un d deutsch-romanisehen Kontakt- un d Symbiosezone sei h i er erneut d er Finger gelegt (V g l. HoTzENKÕCHERI.E, Raumstruktur: S. 210).

11 Die gemeinschwzd. Mõglichkeit stilistischer (affektischer) Umlautlosigkeit von Diminutiven ist hier

ausgeklammert; vgl. hiezu LüssY, Umlautprobleme: bes. S.159ff.

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vgl. auch Mundsi, -schi (SDS V 21, hier Karte 66). - P luralbi ldung von mask . Substan tiv en wie 'Nagel' (Nagel, -al, -ul, -il l Nagla; SDS III 167).12 P lural v o n V er ben wie 'kommen' (chome l -et l -ttnt u . ii . ; SDS III 36, 102).13

In diesen Zusammenhang gehiirt in einem weitesten Sinn auch die Bewahrung (und sogar Ausdehnung) des sog. R ü ckumlau t s , d er im Sonderfall 'gebliihte Nidel (Schlag­rahm )' SDS III 13 al s hal b lexikalisiert-erstarrte For m plaati N idla u. ii. zwar au eh no eh in Freiburg, am W est- un d Ostrand des Berner Oberlandes un d sogar in Teilen d er Innerschweiz (UR, südl. SZ) weiterlebt, seine ganze Beharrsamkeit, Vitalitat und sogar ·

Expansionskraft aber im W allis un d besonders in d en walserischen Südorten entfaltet; vgl. hiezu die reiche Beispielsammlung SDS III 14115.14- An lautlichen Einzelfãllen (die z. T. wieder das Morphologische streifen) seien noch erwahnt: die Form Biismu 'Besen' (Karte 52); di e regressive Assimilation -schs ) -ss: hiisch-s ) hiiss '(du) hast es' , biss '(du) bist es', t·uess '(du) tust es' (SDS III 42); die nichtkontrahierte 2.13. Sg. von 'liegen' (du)

liggosch(t), (ar) liggot (SDS III 81); 15 di e schon berührte nichtkontrahierte Form des Plurals von 'wollen; (Karte 32): welle usw.; daB beim Zahlwort ' fünfundachtzig' (SDS III 246) in d er wests�lnveizerdeutschen Stufung d er W ortfuge 'un d' : füfenachz( i )g l fiifu­(n )achz( i )g (so Freiburg un d Berner Oberland) l fiifundachzig das Wallis di e besterhaltene Form bevorzugt, bestatigt unsere bisherigen Eindrücke und leitet bequem zum folgenden Abschnitt über.

b) Formengeographie

Di e schon im vorangehenden Abschnitt belegte Beharrlichkeit des W allis in d er Bewahrung alter, nicht oder wenig abgeschliffener Formen wirkt sich natürlich dort am stiirksten aus, w o d er Zug z ur Abschleifung sonst am folgenreichsten ist: in d en Endungen - un d das heiBt: in der Flexion. Das mit Recht bekannteste, weil dichteste Beispiel hiefür ist die Konjugation des V er b s. Das W alliser V er b bewahrt ni eh t n ur die alten Klassenunter­schiede, die sonst fast spurlos verschwunden sind; es bewahrt als einzige schweizerdeutsche

12 In 'Ofen' bewahren n ur die walserischen Südorte umlautlosen Plural: Ofna u. ã.; s. SDS III 168.

13 In 'kõnnen', 'mõgen', 'dürfen' sind wieder einzelne Südorte Bewahrer der alten umlautlosen Pluralformen,

z. B. (2. Pl.) chunud, mugud, turfud (SDS III 105, 107, 109ff.).

14 Die erstaunliche Vital i tãt des Rückumlauts im Wallis und seinen südlichen AuBenorten lüingt

offensichtlich mit. der ebenfalls hier am besten bewahrten Fle ktiertheit de s prãdik ativen Adjektivs zusammen. Bekanntlich hat der Rückumlaut seine beiden Hauptstützen im Formensystem des schwachen Verbums d er I. Klasse: im Priiteritum un d in d en flektierten Formen des Part. Perf., v g l. mhd. hrnren l hõrte l gehrnr(e)tl gehõrter. Von diesen beiden Stützen ist das flektierte Part.Perf. im Wallis und im Walserdeut­

schen noch ungeschwãcht erhalten, das Prãteritum vielleicht - wenn man seine Bewahrung in Saley bis auf

den heutigen Tag bedenkt - weniger lang verschwunden als im übrigen Alemannischen. Vgl. HoTZEN­KOCHERLE, Umlautphãnomene: bes. S. 237, 243ff.; FREI, Saley: S. 362-371,394-405.

15 In diesem Zusammenhang ist au eh wieder der Fali 'kostet' anzuführen: Wie unsere Karte 6 zeigt, liegt h i er

eine nord-südliche Dreistufung choscht l c/wschlet l clwschtut vor, wobei die vollste Form wieder für das Wallis und seine südl. AuBenorte charakteristisch ist.

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Sprachlandschaft au eh einen dreiformigen, d. h. di e drei Personen endungsmaBig unter­scheidenden Pluraltypus - und reprasentiert mit beidem und seinen vollen Endvokalen einen sprachgeschichtlichen Zustand, der naher beim Althochdeutschen des 8.-10. Jahr­hunderts als beim Mittelhochdeutschen der folgenden Jahrhunderte liegt.16 Die B ewah­rung d er al t e n Klas senuntersch iede laBt sich am einfachsten an den Verhaltnissen im Infinitiv veranschaulichen, wie sie im dritten Band des SDS auf der Karte In 1 und der Textseite In 2 dargestellt sind. Wahrend im übrigen Schweizerdeutschen der Infinitiv samtlicher V er ben au f d en einheitlichen Reduktionsvokal -e ausgeht, 17 wird im unteren un d mittleren Deutschwallis sowie in d en südlichen W alserorten no eh nach historischen Klassen unterschieden, am traditionsgetreuesten im Lõtschental mit der die ahd. Unterscheidungen fast genau spiegelnden V erteilung:

ahd. WS6, 7

stk. Vb.

snidan schniidn

schw. Vb. I

heften heftn

n

salbõn salbu

ni

losên losii18

In einer - geschichtlich und geographisch mittleren - Gruppe hat die (lautgesetzliche) Entwicldung des sonantischen -r: der starken Verben und der schwachen Verben I zum Zusammenfall dieser Verben mit denen der schwachen Verben n geführt:

w s stk. Vb.

9-11, 13-17, 21-23, schniidu

25, 27; IT 6

schw. Vb. I

heftu

n In

salbu los e

SchlieBlich gilt võlliger morphologischer Ausgleich zu -u im untersten Deutschwallis, võlliger lautlicher Zusammenfall (wie in der übrigen deutschen Schweiz) zu -e im obersten Deutschwallis (Goms):

16 Wir sprechen auch hier zuniichst vom Walliserdeutsch schlechthin. In einem spiiteren Abschnitt wird zu

zeigen sein, dal3 vor allem das oberste Wallis, das Goms, gerade in den hier zur Sprache kommenden Dingen

oft eine andere Haltung einnimmt, dal3 di e Verhãltnisse aber auch sonst oft komplexer sind, als es auf Anhieb den Anschein hat.

17 Daneben noch reduziertes -ii vor allem in der Urschweiz un d -a im Bündner Rheintal.

18 Hiezu wie zu allem Folgenden s. HENZEN, Fortleben: bes. di e Paradigmen S. 275; Ders., Abschwãchung. -

Die andauernde Funktionalitiit der alten Klassenunterschiede zeigen Oppositionen wie (WS 7) filln 'fül­len' lfullu 'stopfen' l (iir-)follii 'voll werden' (ahd. fullenl follõnl follen); (Brot) zerlwiwn ahd. houwan (st.

Vb. VII) 1 (den Acker) hoiwu 'mit der Haue bearbeiten' ahd. houwõn (schw. Vb. II); uishingrn 'aushungern'

(trans., schw. Vb. I) l hungru(n) (intrans., schw. Vb. II); maaln 'mahlen', 'wiederkãuen' (st. Vb.) lmaalun 'malen' (schw. Vb. II); reikchn 'rãuchern' (schw. Vb. I)lroichun 'rauchen' (schw. Vb. II). Meiu (auch von

andern Orten) s. SDS III 2; hier auch Belege für beginnende oder fortgeschrittene Zerrüttung der alten

Verhãltnisse.

162

T

w s

1-5 19

28-34

stk. Vb.

schniidu schniide

schw. Vb. I

heftu hefte

n

salbu salbe

ni

losu lose 20

Lautlich-morphologische Beharrsamkeit erweist die Walliser Mundart auch im S ingu­larp arad igma des Normalverbs mit endungsschweren und z . T . gleichzeitig ldassendiffe­renzierenden Formen wie z. B.

WS 23 (SDS ni 30)

1 .12.13. Sg.

schw. Vb. n

hirtu l -scht l -t 'V i eh besorgen'

schw. Vb. ni

lose l -scht l -t 'horchen'

Über die Verhaltnisse im P lura lparadigma geben die Karten SDS In 31-39

(Normalverb) und 44-45, 47, 50, 52, 58, 59, 66, 72, 76-77, 80, 87-88, 97, 102 (Kurzverben) Auskunft. Sie b�legen zweierlei: einmal die Tatsache, daB im ganzen unteren un d mittleren Deutschwallis um die Mitte des 20. Jahrhunderts die drei Pluralpersonen endungsmaBig n o ch deut l i ch un tersch i e den werden, z . B. ('schneiden' SDS In 36 bzw. 'gehen' SDS In 58):

w s 1. P l. 2. Pl. 3. P l.

16 schniide schniidet schniidunt 28 schniide schniidet schniidnt 3 gee geet geent

23 giiii giiiit giiiint

dann die Tatsache, daB auch in diesem Rahmen die al t en Klas sen un tersch iede wenigstens z. T . noch durchscheinen, z. B . (SDS In 36):

w s stk. Vb. l schw. Vb. n schw. Vb. In

schw. Vb. I

20 -e l -ed l -en( d) -u l -e d l -un( d) -e l -ed l -en( d) 6,7 -ii( n) l -iid l -nd -iin l -iid l -und -iin l -iid l -iind

Z u d en bemerkenswerten Altertümlichkeiten im W alliser Verbalsystem gehõrt au eh di e bereits in anderem Zusammenhang berührte wenigstens teilweise B ewahrung de s

19 Aul3erdem WS 12, 18, 19, 24, 26.

20 Zu einzelnen andern Entwicklungen und zu den Verhãltnissen in den ennetbirgischen Walserkolonien s.

SDS III 1, 2.

163

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Praf ixes g e - i m P ar t . P er f . : gibrungu 'gebracht', gitreit 'getragen', gigangu 'gegangen' ; vgl. SDS III 3 ff. 21 - Selbstverstandlich wirken si eh Altertümlichkeit un d Eigenwilligkeit der Walliser Mundart auch in der Flexion des Substantivs aus: (z. T. pleonastische) Numerus-Oppositionen wie Ofa l Eftt 'Ofen', Sala l Sale 'Sohle' usw. (SDS III 168, 1821183);

Kasus-Oppositionen wie Nom. Pl. l D at. Pl. Escht l Eschtu 'Áste', Bei l Beinu 'Beine', Hiind l Hiindu 'Han de' (SDS III 172, 179, 190) sind innerhalb des Schweizerdeutschen für das W allis absolut charakteristisch. 22

e) W ortgeographie

Aus d em Bereich d er W ortgeographie sei en vorlaufig kommentarlos folgende Archaismen aufgeführt, di e si eh au f das W allis bzw. das W alserische beschranken o d er do eh konzentrie­ren: Ettru 'Onkel' (SDS IV 131), Muema 'Tante' (IV 133); die geschlossene, in unserem Material ausnahmslose Vertretung von Vetter 'Cousin' un d Ba( a )si 'Cousine' (IV 1391140), fliiiit bzw. (leet ' sauber' (Karte 33); 23 hieher wohl auch W ang n. 'Wange' (IV 17).

Sonstige lexikalische Eigentümlichkeiten des Wallis bzw. des Walserdeutschen (in alphabetischer Reihcnfolge): Boozu 'Kinderschreckgcstalt' (SDS V 9-12; au eh in BE 111, 112); fuesse, tschaaggne 'jemandem einen Ful.ltritt versetzen' (SDS IV 87); Gsigg 'Riickstand beim Einsiedcn von Butter' (s. Karte 54); ggufru '(Steine) werfen' (V 104); Hennuliich 'Giinsehaut' (IV 57); Chinbei(n) 'Kinn' (IV 23); Lulsch(g)er 'Lutschcr' (V 5/6); Mops '1\Iumps' (IV 55); Niiffe 'Schnupfen' (IV 63); Riggupriintsch triiiigu 'Huckepack tragen' (V 77/79); ritschge ' knarren (von neuen Schuhen)' (V 133); Schnulzlurnpe 'Taschentuch' (V 139/140; auch in FR); 'l'ocha 'die (Spiel-)Puppe' (V 73); ubersee 'schielen' (IV 115); 24 (schi) vertwellu ' sich kmzweilen' (V 74); wenn 'als' (Konjunktion; IV 150).

9.1.3 Aullersprachliche Hintergründe der Reliktsituation

Die im Vorangehenden geschilderte sprachgeographische Reduit- oder Reliktsituation des deutschsprachigen Wallis innerhalb des Südalemannisch-Schweizerdeutschen erldart sich lei eh t aus sein er Lage: Im N orden ist es topographisch un d mit no eh zu besprechenden Ausnahmen - verkehrsgeographisch, aber au eh konfessionell von sein em N achbarn Bern

21 Da/3 diese Erscheinung in einem weiteren Rahmen von Prãfixbewahrung steht, zeigt BANGERTER, Plmalendungen: § 31 u. Abb. 2.

22 Z u ebenfalls noch iiberdmchschnittlich, aber doch viel weniger ausgeprãgt exponierenden 1\Iundarten in der

hõchstalemannischen Nachbarschaft des Wallis s. SDS III 188, 191.

23 Der Riickzugscharakter dieser Verbreitungsbilder liil.lt sich aus Urkundenzeugnissen und Wõrterbuchbele­

gen leicht nachweisen. Da/3 z. B. Elter und Mueme noch im spãtmittelalterlichen Baslerischen durchaus vital sind, zeigt anschaulich 1\IüLLER, Basler J\Iundart: S.182ff. Fiir fliiiit, das nhd. relikthaft in 'Unflat',

'unflãtig' weiterlebt und bei uns heute auf das Wallis und seine südlichen Aul.lenorte beschrãnkt ist, gibt

Id. I 1227 als weitere Verbreitungsgebiete noch: Freibmg, Berner Oberland, Uri, Schwyz, Unterwalden,

Luzern und das aargauische Freiamt; diese Angaben werden von den einschliigigen Bãnden der BSG schon nicht mehr bestãtigt.

24 Das besonders im untern Deutschwallis mit ubersee konkurrierende schiile ist auch für Freibmg fast geschlossen belegt.

164

abgeschlossen, gegen Süden und Westen durch die Sprache; die Ostgrenze gegen Uri, wo verkehrsgeographische, sprachliche und konfessionelle Berührung gegeben waren, fiillt bei ihrer geringen Ausdehnung als Gegenkraft nicht ernsthaft ins Gewicht. Diese natürlichen und geschichtlichen Gegebenheiten wurden bis gegen die Mitte unseres Jahrhunderts durch eine entsprechende, ausgepragt konservative wirtschaftliche, religiiise und allgemein­geistige Haltung in ihrer Wirkung verstarkt.

9.2 W alliser Mundart im W andel

Das vorangehende Kapitel veranschaulicht und bestatigt die herkiimmliche Auffassung vom W allis als einer au eh sprachlich konservativen, eigenwilligen Landschaft, einer Art sprachlichen Nationalparks: ein Aspekt, der auch durch lexikalisch-sachkundliche Spezial­untersuchungen wie die von H. U. RüBEL und A. EGLI gestützt werden kann.25 Aber das ist ni eh t di e ganze W ahrheit. Di e Arbeit am SDS fiirdert immer wieder Beispiele zutage, welche stutzig machen: moderne Wiirter oder W ortformen, di e im übrigen Schweizerdeutschen fehlen oder wo 1im übrigen Schweizerdeutschen altere Typen üblich geblieben oder doch no eh gu t vertreten sin d; grammatische Strukturen, die durch den Vergleich mit den übrigen südalemannischen oder den Nachbarmundarten oder vor dem Horizont der allgemeinen deutschen Sprachgeschichte als jung erwiesen werden.

9.2.1 Wortschatz

Am unmittelbarsten laJ3t si eh das am W ortschatz zeigen; dafür ein p aar (v o m Einfachen zu Komplizierterem fortschreitende) Beispiele. Das in diesem Zusammenhang vielleicht drastischste Beispiel bietet die Karte SDS IV 171 'nichts': Die schwzd. Hauptvertretung ist nüüt (mit Varianten), nordostschwzd. Nebentypen sind nünt (SH, TG, SG, AP) und nütz (AP); das Wallis hat fast geschlossen die im übrigen Schweizerdeutschen als fremd und salopp empfundene Form nix.

Die Anmerkung Id. IV 885 <<Das Wort ist fremden Ursprungs und wird vom Volk au eh als fremd empfundem wird in ihrem zweiten Teil dcn Verhiiltnissen im Wallis nicht gerecht: Das Wort ist hier nach unseren

Erfahrungen võllig integriert. W as seine Herkunft angeht, so sei angesichts der erwãlmten starken Verwmzelung

regionale Entwicklung aus d em adverbiellen Genitiv mhd. nihtes (das sonst allerdings nülz ergeben hat, a b er iiber Schwund des unbetonten e, Konsonantenerleichterung -hts ) hs und die hier iibliche dissimilatorische

Entwicklung -hs ) ks auch zu nix geführt haben kõnnte) wenigstens zur Diskussion gestellt. Nãher liegt

allerdings wohl Herkunft aus der Sprache des Briger Kollegiums mit seinem relativ hohen Anteil aul.lerschweize­rischer oder doch stark schriftsprachlich orientierter Lehrer; dafiir gãbe es auffãllige Parallelbeispiele in der

ebenfalls katholischen Innerschweiz: vileicht, weil (statt -i-), priiffe (statt -üe-), vielleicht auch nur (statt nume, nu)."'

25 RünEL, Viehzucht; EGLI, Alfred (1982). Weinbau im Deutschwallis. Sachkultur, Wortschatz, Sprachgeo­graphie (BSM 23). Frauenfeld.

26 Siehe hiezu au eh unten 8. 180 o., 241 o.

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Etwas anders gelagert, aber nicht weniger eindrucksvoll sind die folgenden Falle: Für 'Vater' gilt nach SDS IV 117 vor allem im Berndeutschen, aber auch im Freiburgischen sowie in den i.istlichen un d südlichen Walserkolonien (GR, TI, IT) noch weitherum un d z. T. recht lebendig d er W orttypus Att( u) , Atti; im W allis fehlt davon sowohl im Simplex wie in der Zusammensetzung 'GroBvater' (SDS IV 125) heute jede Spur. Die Verbreitung sowohl im Herkunftsgebiet der Deutschwalliser, im Berner Oberland, als auch besonders in den W alserkolonien zwingt zur Annahme, daB das W ort einst au eh im W allis gelebt haben m uB: Woher sonst hatten es die Süd- und Ostwalser? Áhnliche Überlegungen gelten auch für die folgenden Beispiele, mit denen wir zunachst sogar im gleichen Sachbereich bleiben.

Das Kartenpaar 'Onkel' (SDS IV 131/132) stellt uns vor einen etwas komplizierteren Fali von Beharrlichkeit bei gleichzeitiger Sonderentwicklung. Aus dem alten Zweierfeld Etter

'Vaterbruder' / Oheim 'lVIutterbruder', 27 das in der südwestwalserischen Kolonie Pomat (IT 8) gerade no eh greifbar ist, 28 hat das W allis vereinfachend-fortschrittlich, aber zugleich konservativ Ettru behalten. 29 Dieses wird h ente direkt durch Onkchel [-v k x-J bedrangt un d verdrangt - unter bemerkenswerter Umgehung der sonstigen schweizerdeutschen Zwi­schenstufen V etter un d U nggle [-v le-J.

Umgehung einer schwzd. Zwischenstufc liegt wohl auch vor in 'Hochzeit' (SDS V 22): Wãhrend sich in der Ostschweiz früh aufgenommenes Hochzit beizeiten zu Hochsig u. a. weitcrentwickelte, <<verschweizerte>>, hiclt sich

im Wallis wie in der übrigen Wcstschweiz das altc Brutlouf(t) offenbar bedeutend lãnger; vgl. MüLLER,

Wortgeschichte: S. 63, Karte 2; SDS V 22, IT 6- uud das hicr erst mit Verspiitung eindringende Hochzit behielt hier scinc fremde Form.30

Auffallig un d in diesem Zusammenhang kennzeichnend sin d di e W alliser Verhiiltnisse im Fali 'Frühstück' (SDS V 155): Alteres E(n)tnüechtru wird hier, vielleicht im Zusammen­hang mit Sachverschiebungen, heute weitgehend durch Fruestuclc (seltener durch das dem Normalschweizerdeutschen entsprechende Zmorgund) verdrangt - einem Worttypus, der vom Schweizerdeutschen h er seltsam fremd un d <mnecht>> anmutet. - Au eh di e V orherr-

27 So noch i m 15. Jh. in Base!; s. l\IüLI,EH, Basler Mundart: S.182 ff. 28 V g l. SDS TV 131 Lcg. IV zu IT 8: Attm / Eechi. 29 Der W orttypus ist in unserm Material auBer i m Wallis in hiichst charaktcristischer Reliktlage noch belegt

für J aun (FR 14), Gsteig (BE 94), Obersaxen un d Vals (GR 25, 27) sowie für Issimc, Gressoney, Alagna, Macugnaga und Rima (IT 1-5); zu IT 8 s. An m. 28. - In Graubündcn ist mit Dhi in d er umgekehrten Richtung vereinfacht worden.

30 DaB für 'Braut' und 'Brautigam' im Wallis die sonstigen direkten schwzd. Entsprechungen Bruut uud Brüütigam fehlen odcr als unbodcnstiindig empfundcn und durch Gclcgcnheits- bzw. Verlegenheitsaus­drücke wic Liebschti, Miini, miini Zuekiinftig(i) bzw. Liebschte, M#ne, müne Zuekünftig(e) ersetzt werden (vgl. SDS V 19/20), hiingt laut vielfachem Hinwcis unscrcr Gewahrsleute offenbar damit zusammen, daB die Verlobung als eigentliche brauchtümlich-rcchtliche Institution im Wallis fehlt: Damit entfiillt auch der Bedarf und sogar der AnlaB zu einer eigenen Bezeichnung der Partu er zwischen Verlobung und Hochzeit. -Sachwandel a l s Grund von Sprachwandel bzw. Sprachverlust belegt für eine abgelcgene Oberwalliser Gemeinde in breiter Darstellung das schõnc Buch von Somrm, Camill (1969). Sach- und Sprachwandel sei t 1900, dargestellt am Gemeinschaftsleben und an der J\!Ida. von Bellwald. Base!.

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schaft des W orttypus Fliiclce für 'Quetschflecken auf d er Raut' (SDS IV 45/46) si eh t in d er sonst mit priignanteren Bezeichnungen wie Bliiü(w )i, Bliiü( w )ele, Maase besetzten schweizerdeutschen W ortlandschaft verdachtig nach - allerdings gu t etablierter -V erlegenheitsli.isung aus.

Wir schliefien unsern Rundgang mit dem kursorischen Hinweis auf vier weitere (wie nix)

zwischen W ortgeographie un d Lautgeographie stehende Fali e. 'Kirche' (SDS V 39) zeigt im W allis hiiufig -r- anstelle des typischen -l- ( altalem. chilihha,

schwzd. Chilche, Chile): Diese Form ist im Gegensatz zur Nordostschweiz wohl nicht -als geographische Kontakterscheinung, sondern als Ergebnis sozialen Drucks (von der kirchlichen Hierarchie her) zu deuten.

'Altar' (SDS V 46) wird bei den ennetbirgischen Walsern z. T. noch mit dem inkorporie­renden gennanischen Erstakzent gesprochen; im Wallis g·ilt durchaus (wieder) die fremde Zweitbetonung.

'gesund' (SDS II 92) erscheint im südlichen Freiburgischen und Bernischen, in drei südlichen Glarner Orten sowie an vier ennetbirgischen W alserorten mit U mlaut: gsünd bzw. ( entrundet) gsink 31 Im W allis, w o si e im Hinblick auf di ese Verbreitung eigentlich ebenfalls erwartet werden müBte, fehlt die Umlautform auch nach den Angaben des Schweizerdeut­schen Wi.irterbuches vi.illig.

Das Zahlwort 'elf' bewahrt nach SDS III 243 in einem ansehnlichen freiburgisch­bernischen Bereich, an einzelnen Orten der Innerschweiz sowie in Gurin (TI 1), Saley und Pomat (IT 7,8) die al te zweisilbige Form en( d)lif bzw. sogar ein( d)lif (ahd.-mhd. einlif). Das Walliser Deutsch ist auch in diesem Fall moderner als seine ni.irdliche Nachbarschaft un d au eh sein e Tochtermundarten: Di e reduzierte einsilbige, d em Nhd. entsprechende Form elf herrscht hier schon nach BoHNENBERGER (W alliser: S. 137) olme Ausnahme.

In diesen Zusammenhang gehiircn auch die Ausführungen von Paul ZINSLI (Walser: S. 139 bzw. 174ff .) über

liitzel und strütsche: liitzel 'klein', 'wenig' ist im Bernbiet sowie bei den Bündner, Vorarlberger uud Piemonteser Walsern noch lebendig, im Wallis selbst aber ausgestorben; strütsche 'das frisch geschnittene Gras zum Trocknen auf der Wicsc ausbrciten' bzw. 'das letzte Hcu zusammenrechen' lebt in der alten Berner OberHinder Heimat der

Walliser sowie in ihren südlichen und iistlichen Tochtersiedlungen noch weiter, ist im Wallis aber grõBtenteils vcrschwunden (wir haben immerhin sichere Belegc aus WS 1-3, 5, 9, 12).

Paul ZINSLI hat solche Wortverluste im Wallis auch im Bestand der Flurnamen festgestellt und damit als recht alt erwiesen: 3 2 Sein e einschlagige Karte zeigt das (z. T. reichliche) Vorkommen von Platz (für den Siedlungskern mit Kirche und Pfarrhaus), Landwasser (für den TalfluB) und Guggernell, -nüll (für eine Anhi.ihe) im Berner Oberland, bei d en ennetbirgischen Südwalsern, d en Bündner un d Vorarlberger W alsern - un d das vi.illige Fehlen aller drei im W allis.

31 Zur Geschichte un d Problematik dieser Form s. Id. VIT 1136. 32 ZrNSLI, Walser: S.184 f!. u. Karte 8. V g l. S. 191 au eh d en H in w eis au f Wõrter wie Balme, di e i m Wallis z w ar

in Flurnamen noch vorkommen, als Appellative aber verschwundcn sind.

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9.2.2 Formengeographie

(Karte 59)

Ein zweites Beispiel aus d em Bereich d er Zahlwõrter laBt erkennen, daB das W allis au eh auf d er Ebene d er Morphologie, d. h. in sein em Formensystem, modern anmutende Verande­rungen durchgemacht hat. Beim Zahlwort 'z w ei' belegt di e Karte SDS III 236 für d en GroBteil der Schweiz in der ersten Halfte dieses Jahrhunderts die Fortdauer des alten geschlechtsdifferenzierenden Systems: zwee Manne l zwoo Fmue l zwei ( zwoi) Chind; di e Innerschweiz bewahrt wenigstens ei n Zweiersystem: zwee Manne l zwee Fmue l zwei ( zwoi)

Chind. Im W allis ist di e <<moderne>> (neuhochdeutsch-schriftsprachliche und stadtische) Reduktion auf das geschlechtsindifferente System zwei l zwei l zwei heute fast ausnahmslos durchgeführt.33 Ob dabei meiU' interne Systementwicklung oder auBerer Druck ausschlag­gebend waren, muB vorlaufig offenbleiben.

Die Annahme interner Systementwicklung kõmlte sich auBer auf die allgemeine Tendenz zur durch­

gehenden Genusindifferenz bei deu Zahlwõrtern darauf berufen, daB im Wallis seit der Durchführung der

Entrundung die alte Reihe driil drii l drüü (mhd. drí ldríl driu) einformig werden 111uBte (vgl. SDS III 240) und

damit die eine Stütze des genusdifferenzierenden Systems wegfiel: Das Vorbild des lautgesetzlich entstandenen

Modells drii l drii l drii hatte di e inhãrente Tendenz zur Genusindifferenz bei111 Zahlwort auch für 'zwei' zu111

Durchbruch gebracht. DaB eine solche Entwicklung zu111 mindesten nicht zwangslaufig war, zeigt das õstliche

Berner Oberland, wo trotz d er lautgesctzlich uniform gewordenen Reihe drii l drii l drii di e alte Dreierreihe zwee l zwoo l zwei bis heute in tak t geblieben ist. So ist man wohl berechtigt, für das Wallis sowohl bei 'elf' (s. o. S. 167) als

bei 'zwei' SchuleinfluB anzunehmen. - Zu den einschlagigen Bündner Problemen s. HoTZENKÕCHERLE, Zahlwortprobleme: S. 3061307.

In di e gleiche Richtung wie d er Fali 'zwei' weisen di e Verhiiltnisse im P l ur al d e s attributiven Adjektivs. Wie die Karte SDS III 253 anschaulich macht,34 besteht hier gesamtschweizerdeutsch gesehen im Schicksal des alten Paradigmas ein deutliches NordiSüd-Gefalle im Sinne der oben in Abschnitt 1.2 besprochenen Dynamik: weitgehende Verdrangung des alten, lautgesetzlichen Paradigmas alt Manne l alt Fmue l alti Hüüser durch das jüngere ( offensichtlich analogische, evtl. zusatzlich durch das nhd.-schrift­sprachliche Modell mit durchgehender Endungshaftigkeit beeinfluBte) Paradigma alti

33 DaB dieser Zustand nicht alt ist, zeigen die Darstellungen von WIPF (Visperterminen: § 210) und

BoHNENBERGER (Walliser: § 145): Nach WIPF gab es damals in Visperterminen (WS 13) neben dem bereits einformigen Reduktionssystem in attributiver Verwendung noch ein zweiformiges System zwee l zwei l zwei, in substantivischem Gebrauch zwee l zweeno / zwei; BoHNENBEHGER notiert für das Wallis neben allerdings -

besonders in adjektivischer Verwendung - schon stark um sich greifendem zwei l zweilzwei immerhin auch

noch zwee l zwoo, zweeno l zwei. Di e vou ihm für das Lõtschental (WS 6, 7) festgehaltene Reihe

zwei l zwoo l zwei schimmert in unserm l\faterial wenigstens noch durch; bei den ennetbirgischen Südwalsern,

für die BoHNENBERGER noch Fortdauer des alten Dreiersystems bezeugt, ist unterdessen Reduktion auf das

Zweiersystem zwee l zwee l zwei wenn ni eh t gar võlliges Chaos oder Durchführung des Einformsystems

erfolgt. Reduktion auf (z. T. verschiedene) Zweiersysteme zeigen auch die bündnerischen Südwestwalser,

wãhrend die Nordostwalser mit den Churer Rheintalern nur noch das Einformsyste111 kennen.

34 Zu den Formen Pl. Neutr. s. SDS III 257, Spalte 213.

168

M.anne 1 alti Fraue l alti Hüüser besonders im Nordwesten und Nordosten (BA, nõrdl. SO, SH, TH); Nebeneinander der beiden Paradigmen (mit z. T. generationsmaBig bestimmter Steuerung) in den anschlieBenden Kantonen un d Kantonsteilen (südl. SO, AG, ZH, SG, AP, nõrdl. BE, LU, UW); starke Prasenz des alten Paradigmas in FR, im südl. BE, in der Innerschweiz (bes. SZ und GL).- Aber nicht meiu im Wallis: Hier schlieBt sich zwar das Lõtschental mit zahem Festhalten am alten Typus d em ebenfalls ausgepragt konservativen Berner Oberland an, und das Verhalten der ennetbirgischen Südorte sowie der bündneri­schen W alserorte zeigt di e einstige Gültigkeit des alten Paradigmas au eh für das W allis; das Rhonetal selbst aber erscheint auf unserer Karte als vollstandig <<moderm>: Von unsern 10 Belegstellen bewahrt im ganzen Rhone- und Vispertal keine einzige das alte Paradigma.35

Ein klares Beispiel für die <<Modernitat» des Deutschwallis im Bereich der substantivi­schen Formenlehre bietet der Plural von 'Bruder' (SDS III 170): Hier besteht bekanntlich eine Dreistufun� des Numerusmodells: Eine alteste (dem Ahd. entsprechende) Sg.IPI.-Opposition la u tet Brueder l Bruedra (so no eh bei den Südwalsern); eine jüngere (d em Mhd. un d Nhd. entsprechende) Brueder l Brüeder (so vor allem im W estschweizerdeutschen und in GR); eihe jüngste, auf internschweizerdeutscher Sonderentwicklung beruhende, Brüeder 1 Brüedere.36 Das Aufkommen des westschwzd.-mhd.-nhd. Oppositionsmodells Brueder 1 Brüeder hiingt flexionsgeschichtlich mit d em sei t dem Mittelhochdeutschen virulenten, lautgesetzlichen Schwund von auslautendem -e hinter unbetontem -el, -er

zusammen: dadurch wurde d er al te Sg.IPL-Gegensatz ahd. bruoder l bruodera, mhd. bruoderlbruodere zu mhd. bruoder lbruoder neutralisiert- und funktionsuntauglich; in dieser Situation hatte der analogisch (nach den sog. i-Stammen gebildete) neue Pluraltypus bruoder 1 brüeder alle Chancen, si eh durchzusetzen. Merkwürdig un d in unserem Zusam­menhang bemerkenswert ist n un wieder das Verhalten des W allis. FaHe wie Acher l Achra,

HammeriHarnrnm, NageliNagla, SchnabeliSchnabla (SDS III 167, 173) zeigen, daB im W allis di e Entwicldung d er Endsilbenvokale ganz anders verlief al s im übrigen Deutschen (und im grõBten Teil des Schweizerdeutschen)- und daB es das Wallis gar nicht nõtig gehabt hatte, den alten Plural von 'Bruder' zu ersetzen: Die alte, nach Ausweis der Südorte un d d er Parallelwõrter zweifellos au eh im W allis einmal übliche Opposition Brueder l Bruedm w ar mindestens so funktionstüchtig wie di e neue Brueder l Brüeder (phonetisch, infolge der Entrundung und Palatalisierung, Brüeder l Brieder). Das Wallis hat sich also auch in diesem Fall ohne Not dem fremden (westschwzd.? lnhd.-schriftsprachlichen?) Vorbild angeschlossen und über das system-interne Bedürfnis hinaus geneuert.

35 Über (deutlich relikthafte) Reste der alten endungslosen For111 i111 Plural des Mask. uud Fe111. s.

BoHNENBEitGER, Walliser: S. 203. In Deutschbünden ist der Unterschied zwischen alte111 Paradigma und

jungem Paradigma deutlich ein Unterschied zwischen Walserisch und Rl�eintalisch. .

36 Hiezu wie zu111 Folgenden s. HoTzENKÔCHERLE, Rudolf (1965). Geograplue und Gescluchte des Numerusmo­

dells von 'Bruder' im Schweizerdeutschen. In: Philologia Deutsch, Festschr. zum 70. Geburtstag von Walter

Henzen. Bern: S. 131-145.

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Der soeben besprochene Fali 'Bruder', Sg.(Pl. gehort, wie schon angedeutet, in den groBeren Rahmen der Auseinandersetzung zwischen u mlautendem Pluraltypu s und nicht u m l au tendem, anders gesagt: zwischen alter i-Deklination und alter a-Deklination: zwischen dem Typus ahd. gast(gesti und dem Typus ahd.

tag(taga. Das neuhochdeutsche Deklinationssystem ist bekanntlich durch cine massive Ausbreitung des umlautenden alten i-Typus üher seine ursprünglichen, lautgesetzlichen Grenzen gekennzeichnet; vgl. ahd.

boum : bouma(nhd. Baum(Bãume, ahd. hof: hova(nhd. Hof: HOfe usw. Das Schweizerdeutsche geht

hierin - in offensichtlichem funktionsgeschichtlichem Zusanunenhang mit der obd. Apokope - noch bedeutend weiter als die nhd. Schriftsprache, vgl. schwzd. Bsüech, Hünd, Pfoschte, Wiige usw. Ich habe bei anderer Gelegenheit gezeigt, daB vor aliem die westlichen Südwalsersiedlungen eine ausgeprãgte Abneigung gegen diese

analogischen Umlautplurale haben: Die Mehrzahl von 'Boek', 'Baum', 'Darm', 'Fuchs', 'Korb', 'Napf', 'Saum', 'Wurm' heiBt z. B. in Gressoney Bocka, Bouma, Doarma, Fuggsa, Olworba, Naffa, Sowntt, Wunna.•'

Die hier bewahrte Endung -a zeigt auch den lautgeschichtlichen Hintergrund dieser Anhãnglichkeit an die alte a-Deklination. Im Waliis wãren die lautgeschichtlichen Voraussetzungen dieselben: Die Mehrzahlendung der alten mask. a-Stãmme ist hier, mit Ausnahme der obersten Talstufe, ebenfalis noch -a,S• so daB - im Gegensatz zum übrigen Schweizerdeutschen - auch in diesem Fali kein eigentliches, funktionclies Bedürfnis nach Anschlul.l an die Umlautldasse bestand. Tatsachlich sind im Wallis denn auch Reste der alten Pluralbildung ohne analogischen Umlaut erhalten: WrPF (Visperterminen: §192) bezeugt noch Bocka nehen Beek 'Bocke', W aalda 'Wiilder'; vgl. au eh SDS III 173. Im aligemeinen zeigen das W aliis und die ostlichen Südorte aber wie das <<Normalsclnveizerdeutsche•) eine starke Neigung zum umlautenden Pluraltypus, vgl. SDS IIT 165 Leg. II: Die jüngere Tendenz setzt sich also auch in diesen Fãlien sogar gegen die lautlich-morphologischen Gegebenheiten durch.

Neuerungen zeigt im Wallis auch das Verbalsystem; bei ihrem Nachweis spielt wieder das Zeugnis d er ennetbirgischen Südorte eine gewichtige Rolle. Zunachst ein paar einfache Falle: Der Ind. Pras. von 'kommen' bewahrt in den Südorten Issime, Gressoney, Alagna, Rima (IT 1-3, 5) di e lautgesetzliche ahd. Numerusspaltung quimu : quimis : quimit 1 que­mem: quemet : quemant als (Alagna) chimmi : chinscht : chint l cheemi : cheemed : cheemind; 39 im Wallis ist dieses alte Paradigma (wohl seit langem) verdrangt durch das jüngere (in diesem Punkt normalschweizerdeutsche) Paradigma chumu : chu( n )scht : chunt lchom(m )e :

chom(m)et : chom(m)unt oder gar chumu : chu(n)scht : cln�nt l chumu : chumet :chwnunt.4o­

Der Ind. P!. der sog. Praterito-Prasentien 'dürfen', 'kiinnen', 'miigen', 'müssen' ist in den Südorten z. T. noch umlautlos wie im Ahd.: z. B. in Bosco Gurin (TI 1) turfu : t·urfut : turfun,

chunu : chun·ut : chunun, mugu : mugut : mugun.41 Im W allis, das als Ausgangsort d er ennet­birgischen Siedlungen diese alten Formen vor der Abwanderung der Südwalser doch auch gehabt haben mu13, fehlt davon auch in BoHNENBERGERS alterem Material jede Spur.42

37 Vgl. HoTZENKOOHERI.E, Umlautphiinomene: S. 22811 .; hier weitere Beispiele aus Gressoney und den übrigen - vor aliem westlichen - Siidorten.

38 Vgl. BonNENBERGER, Waliiser: §125; SDS TTT 164ff .

39 Vgl. SDS III 30, 36L, 100, 103 Spalte 5. 40 Vgl. ebda. Zur Umlautlosigkeit im Plural vgl. das Folgende.

41 Vgl. SDS III 109, 111, dazu di e Karten SDS ITT 87(88, 105, 107. Beachte di e Koinzidenz mit der Abneigung

der Südorte gegen analogischen Umlaut beim Substantiv, o ben auf dieser Seite.

42 Sofern mau nicht den (mit Ausnahme des LOtschentals) im Waliis umlautlosen Plural von 'kommen' als

indirekten Reflex dieser alten Verhãltnisse gelten lassen will. Beachte übrigens die umlautlosen Plural-

170

Mit dem Umlaut hangen auch die beiden folgenden, etwas komplizierteren Falle zusammen.

Der Inf init iv von ' tragen' zeigt nach SDS II 88 (s. Karte 27) gesamtschweizer­deutsch eine Formenverbreitung, di e grosso modo als W estiOst-Gegensatz traage l triiiige (mit starkem Übergewicht der iistlichen Form, insbesondere einem Durchbruch der Aare­Achse entlang) interpretiert werden kann.43 Im vorliegenden Zusammenhang sind nun folgende Feststellungen wichtig: 1. Im Berner Oberland gilt traage in den westlichen Talern (Simmental, Kandertal, Lütschinentaler), triiiige am obern Brienzersee und im Haslital. 2. In Graubünden schlie13t si eh das Churer Rheintal mit triiiige [+j erwartungsgema13 d em os t- (un d zentral-) schweizerischen umlautenden Typus an; di e Walser sin d in der bekannten W eise gespalten: 44 di e Südwestwalser ha ben den Umlauttypus triiiige [ -�-}, di e N ordost­walser den umlautlosen Typus traage. 3. Entsprechende Zweiteilung haben die ennetbirgi­schen Südwalser mit triiiige in d en iistlichen Siedlungen (TI 1, IT 7, 8), traage in d en westlichen (IT 1-6). Nach dem früher Ausgeführten über den spiegelbildlichen Parallelis­mus Bündner Nordostwalser = westl. Südwalser = westl. Berner Oberland = unteres Deutschwallis l Bündner Südwestwalser = iistl. Südwalser = iistl. Berner Oberland =

oberes Deutschwallis ware für das Wallis nun eine Zweiteilung Unteres Deutschwallis traage 1 Oberes Deutschwallis triiiige zu erwarten. Diese Erwartung wird aber nicht erfüllt: Das W allis hat mit einziger Ausnahme von Liitschental un d Zermatt die umgelautete Form. Dürfen wir vermuten, hier sei eine al te Raumstruktur durch Druck vom ( einst politisch un d kulturell führenden) Oberwallis her überschichtet worden? Ein lautgeographisches Detail scheint dafür zu sprechen: Wahrend d er Umlaut von mhd. ã im untern Deutschwallis- von Visp (WS 12) an abwarts- sonst -ee- !au tet (m i t geschlossenem (!),45 geht bei 'tragen' di e überoffene Oberwalliser Lautung � oder wenigstens offenes é bis an die Sprachgrenze hinunter; das si eh t g an z danach aus, als o b di ese Umlautform h i er, im untern Deutschwallis, nicht bodenstandig entwickelt sei.46

Im Hinblick auf die Walliser Problematik nah verwandt ist der P lural von 'gehen' (Karte 59). Au eh in diesem Fali zeigen di e Bündner W alser, di e ennetbirgischen Südwalser und die Berner Oberlander lVIundarten einen durchgehenden Parallelismus, der die bekannte spiegelbildliche Entsprechung im Wallis erwarten lie13e:

formen von 'kommen', 'konnen', 'mogen' in gro13ern oder kleinern Teilen des schweizerischen Nordostens, SDS TII 102, 105, 107,

43 Zur Entstehung d er umgelauteten Form s. HoTZENKOCHERl.E, i\Iutten: S, 80. Zum Aare-Durchbruch vgl.

etwa di e Karten 26, 27. ·

44 Vgl. oben S.131ff . 45 Vgl. SDS I 73 sfriiiile, 74 'Kiise', 80 'schwer', 94 'fragen'. 46 Das Verhalten des Lotschentals (WS 6, 7) kann verschieden interpretiert werden: a) Überleben der hier

postulierten alten Untenvalliser Formen, was zusammen mit den biindnerwalserischcn Nordost- und den

südwalserischen Westformen (sowie Zennatt) unsere Interpretation in willkommener Weise stützen würde;

b) EinfluB vom angTenzenden (westlichen) Berner Oberland her; e) Stützung einer alten Form durch die bernische Nachbarform, Für bei des gibt es Parallelen; s. u. Abschn. 9.4.

171

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G R N ordostwalser gaand : gaad : gaand

gaand : ganged : gaand

gaan : ganged : gaan (GR 24)

Südwalser W estgruppe goa : gangid : goa (IT l) gangiin : -ad : -an (IT 2) gangi : -ed : gond (IT 3)

gaawar : gaanga : gong (IT 6) gaangen : -ad : -end

gangwer : -ed( er) : gaand (IT 6)

BE Oberlãnder W estgruppe gaa : gaat : gaa

gange : -et : -e (BE 97, 104) gaa : ga,nget : gaa (BE 95)

GR Südwestwalser giiant : gaat : giiant

Südwalser Ostgruppe gaaw : gengat : gaan (TI l) gaiin : giiat : giian (IT 7) genga : -iid : -an (IT 8)

BE Oberlãnder Ostgruppe giian : gaad : gaan

Also: Die Bündner Nordostwalser, die Südwalser Westorte und die Berner Oberlãnder Westtãler bilden den Plural von 'gehen' mit dem Stammvokal -aa- bzw. -a- j die Bündner Südwestwalser, die Südwalser Ostorte und die Berner Oberlãnder Ostgebiete mit deren Umlauten

.-iiii- �zw. -e-. Für das Wallis wãre danach -aa- in den unteren Zehnten (von

Salgesch b1s Bng-Morel), -aa- in den oberen Zehnten (von More! an rhoneaufwãrts) zu �rwarten. DaB das in Wirklichkeit nicht der Fali ist, zeigt unsere Karte: Danach gilt heute Im ganzen Deutschwallis die umgelautete Form - mit der einzigen Ausnahme des L�tsc�entals, �vo das Paradigma gangii(n) : gangad : gaand lautet. Wir wagen es im Hmbhck auf d1e Gesamtlage und besonders auf die Verhãltnisse in den walserischen Süd­und Ostsiedlungen, die Lotschentaler Formen auch in diesem Fali als Relikt eines einstigen umlautlosen Unte.�·walliser Paradigmas und die heutigen Unterwalliser Verhãltnisse als (wie alte?) sekundãre Uberschichtung zu deuten.

Grunds�tzlich d.� e gleichen Verhiiltnisse zeigt der P! ura! v o n 'stehen' (SDS III 59): unumgelautete

Formen bm den Bundner Nordostwalsern, der Südwalser Westgruppe und der Berner Oberliinder West­grupp

.� l umgelautete Forme� bei d en Bündner Südwestwalsern, d er Südwalser Ostgruppe un d d er Berner

Oberlander Ostgruppe; Rehkt des umlautlosen Paradigmas stannii(n): stanniid: staand im Lõtschental Vorherrschaft des umlautenden Paradigmas im ganzen übrigen Wallis.

'

Auf �rei ':eitere Neuerungen im Walliser Verbalsystem sei nur noch kurz hingewiesen: Das Pratentum, von dem es im Berner Oberland und im Freiburgischen bis im Ietzten

172

Jahrhundert Relikte gab 47 und das an einzelnen Südorten bis in unsere Zeit hinein erhalten geblieben ist, 48 f eh! t heute im W allis gãnzlich.49 Von d er in Gurin un d Saley no eh lebendigen Allomorphie von Infinit iv und Gerundium sind im Wallis nur kümmerliche Reste erhalten.50 SchlieBlich muB angenommen werden, daB die im Süden noch fast durchwegs belegte Kontra punktik des Verbums 'geben' mit einem z. T. fast gleichlautenden Verbu m in d er Bedeutung 'nehmen' 51 einst au eh i m W allis vorhanden gewesen sei; heute fehlt davon jede Spur.

Wir schlieBen un ser Inventar d er W alliser Verãnderungen im morphologischen Systém mit dem Hinweis auf einen Grenzfall zwischen Formenlehre und Lautlehre. Im Abschnitt über Archaismen im Walliserdeutschen wurde bereits erwãhnt, daB die alte Klassendif­ferenzierung beim Verb im untern Deutschwallis teilweise, im obern Deutschwallis vollig zusammengebrochen bzw. durch die Lautentwicklung überdeckt worden sei.52 Walter HENZEN hat schon vor 36 Jahren Anfãnge dieser Entwicklung in einem Kerngebiet d er W alliser Reduit-Landschaft untersucht; 53 weitere Belege zum gleichen Thema bringt nun für das ganze Deutschwallis die Material-Zusammenstellung SDS III 2 zum Infinitiv.

l SchlieBlich wird der Gegensatz zwischen dem ganz oder teilweise die alten Klassenunter-schiede bewahrenden unteren Deutschwallis un d d em si e vollig ausebnenden Goms eines d er Hauptkriterien in unserem spãteren Abschnitt <<Zweigeteiltes Wallisf> liefern.54

9.2.3 L au tliche V eriinderungen

Wir stellen zum SchluB die Frage nach allfãlligen lautlichen Verãnderungen in der Geschichte des W alliserdeutschen un d beantworten si e mit einigen vorlãufigen Hinweisen.

Di e heute im ganzen deutschsprechenden Wallis übliche En t rund ung55 fehlt in d er südwalserischen Auswanderermundart von Issime sowie im GroBteil der bündnerwalseri-

47 Vgl. Id. VII 1019 (was: wast:wasjwasen:<wasen); E.ScHÜRCH hõrte solche Formen noch im Jahre 1918

vou einer ausgewanderten alten Guggisbergerin in New York, vgl. ScHÜRCII, Ernst (1944). Hiib Sorg zum Schwyzerdütsch. Bern: S. 9.

48 Vgl. Gvsi,ING, Fritz und HoTZENKÕCHERLE, Rudolf (1952). Walser Dialekte in Oberitalien, Begleittexte zu

den Sprechplatten des Phonogramm-Archivs der Universitiit Zürich. Frauenfeld: S. 35--37 (für Agher);

FREI, Saley.

49 Di e au eh im Wallis ausgepriigte Vitalitiit des <<Rückumlauts>) (s. o. S.161) liiBt vermuten, daB das

Priiteritum hier noch recht lange lebendig war: Es war ja die eine Hauptstütze dieser grammatischen

Erscheinung.

50 Vgl. SDS III 2. Zum Nebeneinander vou Infinitivformen mit und ohne -n in den Südwalserorten s. auch

HoTZENKÕCHERLE, Rudolf (1971). Die südwalserisch-ennetbirgischen JVIundarten im Spiegel iin·er Verbal­formen. In: Festschrift für P au! Zinsli. Bern: S. 79 ff., bes. 81-88.

51 V g l. SDS ITI 93 II. Z ur Etymologie des fraglichen Verbums gee 'nehmen' s. W AGNER, Heinrich (1957), in:

Zsch. f. vgl. Sprachf. 75, S. 73. 52 S. o. S.162f. 53 HENZEN, Abschwiichung; Ders., Fortleben: bes. S. 294,307. 54 S. u. S.179, K arte 61 L. 5. 55 ü(ü)) i( i), o(o)) e( e), üe) ie, oü) e1:; vgl. SDS T 47, 52ff., 101ff., 107, 128 ff., 134 ff., 166.

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schen Mundarten.56 Schon BoHNENBERGER hat daraus mit Recht den SchluB gezogen, zur Zeit der Auswanderung aus d em Wallis, d. h. bis zur W ende vom 12. zum 13. Jahrhundert sei en für das W allis no eh die gerundeten Formen vorauszusetzen; di e Entrundung ware also ein spateres Ereignis.57 Das gilt aus den gleichen Gründen vennutlich auch für die mit der Entrundung in einem engeren phonetischen und phonologischen Verhãltnis stehende Palatalisierung.58

Für die Konsonan tengruppe -nle- gilt im Wallis und in weiteren Gebieten des Hochstalemannischen heute di e Form mit Extremverschiebung des le zum reinen Reibelaut eh und mit Schwund des n vor diesem Reibelaut sowie zunachst Nasalierung und dann Dehnung (bzw. Diphthongierung) des vorangehenden V okals: triiche 'trinken' usw. 59 In d en meisten westlichen Südorten ist dagegen das n noch erhalten: trinche usw.; das ist die lautgeschichtliche Zwischenstufe in der Entwicklungsreihe trinle- ) trinch- ) triich-: Diese Zwischenstufe m uB vor der Abwanderung der Südwalser au eh im Wallis gesprochen worden und erst nachher durch die nãchste (letzte) Stufe überdeckt worden sein.

Die Karten SDS II 201 'rauchen' (transitiv), II 202 'würgen', IV 91 'klemmen' belegen für weite (bes. west-) schweizerdeutsche Gebiete Bewahrung der h i storischen Gemi­naten bzw. ihrer lautgesetzlichen Entsprechung: rouleche (( -lele- ( *roukjan), würgge

( ( *wurgjan), chlempe ( ( *klambjan); meiU' oder weniger weit verbreitet sin d im Schweizer­deutschen auch Formen wie erpe 'erben', chlOüpe 'kleben', chtümpe 'krümmen', erloupe 'erlauben', (ver-, ftu·t-) stoüpe 'verscheuchen', (ver-)toüpe 'zornig machen' (( -bb-); blente,

chünte, pfente, gschente 'vergeuden', wente, zünte ( ( -dd-); bOügge 'beugen', 'biegen', soügge, gschweigge; riipfe 'reif werden', 1'Üepfe 'rufen', Soüpfe 'Seife', schleipfe 'schleppen' (( -pp-);

büeze 'ausbessern', flooze 'floBen', grüeze 'grüBen', schleize 'schleiBen' (Id. IX 803), schmeize 'werfen', 'schlagen' ( ( -tt-); bleileche 'bleichen' ( ( -lele-); vgl. I d. un d BSG. N och weiter in d er Erhaltung solcher Fonnen gehen die ennetbirgischen Südorte mit glaupe, choupfe, toupfe (bzw. chOpftt, topfu). Das Deutschwallis muB diese letzteren Formen nach Ausweis eben der Südmundarten ebenfalls gehabt haben, lãBt sie in unserem Material aus der Mitte dieses Jahrhunderts aber ganz vermissen.

Fragwürdig bleibt das Gewicht einiger weiterer Eigentümlichkeiten der Südwalser 1\fundarten in diesem Zusammenhang. Die wenigstens an einzelnen Südorten gu t erhaltene Differenzierung zwischen bilabialem altem

w, labiodentalem stimmhaftem altem (germanischem) f und labiodentalem stimmlosem und geminiertem ff

56 Die Entrundung in der Sprachinselgruppe Obersaxen�Valendas�Tenna, in 1\futten und Sclunitten ist wie

diejenige an den meisten Südorten wohl sekundãr, d. h. erst unter den besonderen Umweltbedingungen dieser neuen Siedlungen entstanden zu denken.

57 BoHNENBERGER (Walliser: § 33) benutzt die verschiedenen Entrundungsverhãltnisse in den Südorten uud in

den Bündner Walserorten zu einer differentiellen Entrundungschronologie im Wallis selbst. Mir scheint, daB

dadurch d er Tatbestand interpretatorisch zu stark gepreBt wird; vgl. das in Anm. 56 zu diesen Orten Gesagte.

58 uu) üü bzw. ui, uo) üe, ou) iiii; vgl. SDS 106, 120ff., 142f. 59 Vgl. SDS II 97 ff. und oben Absclm. 1.2.3. � Die weiteren differentiellen Chronologieschlüsse, die

BoHNENBERGER (Walliser: § 25) aus dem verschiedenen Verhalten der Südorte unter sich sowie der Südorte

zu den Bündner Walsern zieht, scheinen mir leicht überspitzt.

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(W inter 1 Ji'ass 1 schlaaffu) dcutct zwar auf Fortsetzung althochdeutsch-mittelhochdeutscher Verhãltnisse,60 ihr nur teilweises Fortleben im Wallis auf entsprechenden Traditionsverlttst.61

Die selu auffãllige Scheidung zwischen germ. s als § (sch-artiger Laut) uud ahd. z (3) als ss (nã§u 'Nase' l rfsu

'essen') an einigen Südorten crinnert ebensosehr an ahd.-mhd. Verhiiltnisse62 wie an Eigentümlichkeiten gewis­

ser romanischer Nachbarmundarten; ihre weit geringere Vertretung im Wallis lãBt dementsprechend ebenfalls

vcrschiedene Deutungen zu. Das gilt auch für die ausgeprãgte Stimmhaftigkeit der weichen VerschluB-63 uud

Reibelaute in d en meisten Südmundarten, ihre n ur geringe uud gelegentliche Stimmhaftigkeit im Deutschwallis.

Die stãrkere Auspriigung all dieser Eigentiimlichkeiten in den stãrker romanisierten Orten der westlichen Süd­

walser gegenüher den õstlichen Südwalsern spricht allerdings gegen eine zu einseitig archaisierende Interpre­

tation dieser Phãnomene uud relativiert daher ihren Zeugniswert für die iilteren Stufen des Walliserdeutschen

selbst sehr. Auch die im Siidwalserischen so unerhõrt vitale, im Wallis dagegen nur trümmerhafte Prãsenz

des Phiinomens Umlaut beim starken Adjektiv in Formen vor -i < ahd. mhd. -iu (e schwiirzi Ohatze) kanu

ebensogut aus nachtrãglicher Entfaltung im Süden (allerdings in diesem Fali ohne romanische Stiitzung) wie aus

nachtrãglicher Reduktion im Wallis erklãrt werden.64

9.2.4 Ausblick

Wir fühlen uns &edrãngt, am SchluB dieses Abschnitts nach der sprachli chen Zukunft des Deutschwal l i s zu fragen: eine Frage, die sich hier stãrker aufdrangt als irgendwo anders in der alemannischen Schweiz, die aber freilich auch in groBere Zusammenhãnge gestellt werden muB.

Das W allis steht sei t d er Mitte dieses J ahrhunderts in einem tiefgreifenden un d umfassenden UmbruchprozeB. Er ist gekennzeichnet durch den Übergang von einer weitgehend autarken bergbãuer l ichen Landwirtschaft 65 zu einer weitgehend geld­wirtschaftlich orientierten Industr iegesel l schaft. Mit Zahlen: Im Jahre 1950 waren im Wallis 117 Betriebe mit 6300 Arbeitern dem eidgenossischen Fabrikgesetz unterstellt; 1963 waren es 239 Betriebe mit 12 000 Arbeitern, 1980 187 Betriebe mit 15 096 Beschiiftigten. Im Jahre 1950 waren in der Landwirtschaft 41,9 % der Bevolkerung, in der Industrie 34,8 % beschãftigt; für 1960 lanten die entsprechenden Zahlen 25,7 % gegen 46 % .66 Diese Zahlen bedeuten, daB aus unzãhligen Bergbauern Industrie- und Bauarbeiter geworden sind, die (zum Teil als Pendler) ihr Heimwesen nur noch in der Freizeit besorgen und im übrigen den Frauen überlassen; das bedeutet, zum andern, Entvolkerung abgelegener W ei! er un d Dorfer und Bevolkerungsballung in den wachsenden Agglomerationen des Haupttals. In

60 V g!. PAUL, Hermann 1 �IosER, Hugo 1 SouRÕBLER, Ingeborg (201969). 1\Iittelhochdeutsche Grammatik.

Tübingen: §§ 76, 90. 61 N a eh d en (unpublizierten) Materialien des SDS.

62 Vgl. PAuL, Mhd. Gramm. (s. Anm. 60): § 109.

63 Vgl. dazu BoHNENBERGER, Walliser: § 83. 64 Zu dieser Erscheinung vgl. HoTZENKÕOHERLE, Umlautphiinomene: S. 233ff. 65 Richard WEISS spricht von <<inneralpinem l\fehrzweckbauerntum>>; s. WEiss, Hiiuser: S. 222 ff. 66 Ich entnehme diese wie die folgenden Angaben den ausgezeichneten Darstellungen in der NZZ vom 17. 9.

1963, 18. 1. 1966, 1. 3. 1966, 3. 4. 1967, 25. 1. 1968, 20.10. 1968. Die Zahlen vou 1979 un d 1980 sind dem Statistischen J ahrbuch d er Schweiz 1981 entnommen.

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der Landwirtschaft selbst hat die Landflucht, der Mangel an Arbeitskraften zu weitgehen­der Abkehr von den hergebrachteu Arbeitsmethoden (uud ihrem Wortschatz!), zu personalsparender Ratioualisierung uud Mechanisieruug gezwungen: ZusammenschluB uud bessere Orgauisation der Alpgenossenschaften, Melkmaschine und Milch-Pipeline, Jaucheverschlauchung; die durch das Steuergesetz vou 1960 attraktiv begünstigte Iudustrie ihrerseits erlebte seither durch Automatiou und Elektronik als Anpassung an modernste Produktious- uud Verwaltungsmethoden so etwas wie eine Revolution. Parallel mit diesen Veranderungen der Berufs- und Wirtschaftsstruktur geht seit ca. 20 Jahren eiue tiefgreifende Reorganisation des Schulweseus: Verlangerung der jahrlichen Schuldauer vou 26 W o eh en auf 37 W o eh en, entsprechende Erhohung d er Lehrerbesoldungen, Schaffuug bzw. Vermehrung vou Sekundar-, lVIittel- uud Berufsschulen; betrug 1955 der Pro-Kopf­Auteil an den Ausgaben für das Bildungswesen Fr. 51.-, so war er bereits 1966 auf Fr. 317.­gestiegen uud betragt 1979 Fr. 1005.-. Diese brüske uud ungestüme Offnung nach vorn hatte freilich auch eine schwere Erschütterung des bis in die Mitte unseres Jahrhunderts ausgesprochen konservativeu W eltbildes, d er W ertvorstellungen un d Zielsetzungen zur Folge. V o n ihr blieb selbst di e Kirche un d di e Religiou ni eh t unberührt: inneres Symptom ist z. B. die tiefe Beunruhigung des Walliser Kircheuvolks durch die Problematik des Zweiten Vatikanischen Konzils (vor allem durch die Reform der Liturgie) sowie durch den Schock der Enzyklika <<Humanae vitae>>; auBeres Kennzeichen ist die z. T. problematische, jede Umweltanpassung uud auch jede funktionelle MaBstablichkeit brüskierende neuere Kir­chenarchitektur (z. B. in Albinen, Ferden, Hohtenn).

Von diesen Vorgangen sind die Sprache un d di e Einste llun g zur Sprache fühlbar mitbetroffen. Die im Gefolge der Industrialisierung auch im Wallis zunehmende Durch­mischung der Bevolkerung, der tãgliche Kontakt auf dem Arbeitsplatz mit Bewolmern anderer Dorfer und sogar anderer Kantone, die saisonmaBige Berührung mit der Ferienbevolkerung aus der <<auBerem> Schweiz fordern Mundartmischung uud lVIundartaus­gleich in steigendem lVIaBe; die vermehrt empfundene Schwierigkeit, sich Angehorigen anderer deutschsprechender Kantone im eigenen Idiom verstandlich zu machen, dazu die entsprechende Klage der franzosischsprechenden Unterwalliser und ihr Vorbild im Ver­haltnis zu lVIundart und Schriftsprache haben sogar den Gedanken wach werden lassen, die überkommene, als schwere Verstandigungsbarriere empfundene Mundart der Schrift­sprache z u opfern. 67 Ein a.llfalliges Wissen um di e historische, heimatlmndliche un d geistige Bedeutung d er traditionellen sprachlichen W erte vermag gegen d en stürmischen Drang nach Offnung, nach Überwindung der jahrhundertealten Barrieren, nach uneingeschrank­ter Teilhabe am modernen Le ben offenbar n ur no eh mit Mühe aufzukommen; di e W alliser

67 << • • • müssen wir uns fragen, o b cs nicht am besten wiire, wenn wir uns fiir das Schriftdeutsche entschliissen;

. . . kiinnte eine groJ3zügige Liisung der Sprachfrage uns un d unsern Kindern das Tor weit in di e Zukunft iiffnen.>> (NZZ vom 3. 4. 1967).

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wehren sich zunehmend gegen die idyllisch-nostalgischen Klischee-Vorstellungen, die wir andern Deutschschweizer v o m W allis hegen: <<Wir wollen ni eh t besta un t werden, wollen ni eh t d en zoologischen Garten spielen, ni eh t wie wandelnde Museen einhergehen.>> 68

So erscheint heute das Wallis au eh in seinem sprachlichen Erbe starker in Frage gestellt als manche scheinbar exponiertere Landschaft sogar des Mittellandes- z. B. des bernischen -, der in jahrhundertelanger Auseinandersetzung mit Andersartigem mehr Zeit und in der Geborgenheit einer groBeren Gemeinschaft melll' innere Sicherheit gegeben war, sich einen eigenen Stil gelassen vermittelnder Anpassung zu schaffen.

9.3 Zweigeteiltes Deutschwallis

9.3.1 Der sprachgeographische Tatbestand

(Karten 6Q-62)

Auf die Zweiteilung als einen sprachgeographischen Grundzug des deutschsprachigen W allis hat schon BoHNENBERGER bei d er Besprechung einiger lautlicher Erscheinungen hingewiesen; 69 in einen grol3eren Zusammenhang gestellt wird das Phanomen in meinen Aufsatzen über die Sprachgeographie Deutschbündens.70 Eine wesentliche Erweiterung und Vertiefung unserer diesbezüglichen Kenntnisse verdanken wir der Darstellung von H. U. RüBEL, dessen einschliigige Karte die Zweiteilung an 44 Einzelfakten aus Lautlehre (6), Formenlehre (6) un d W ortschatz (32) veranschaulicht. 71

Genau betrachtet, ware eigentlich vou einer dreifachen Stufung zu sprechen: Zwischen zwei in sich geschlossenen, in allen oder doch den meisten einschlãgigen Kriterien scharf gegensatzlichen Laudschafteu steht eiue Übergangslandschaft mit wechselnder Teilhabe an den Kriterieu der Extremlaudschaften. Die eiue der beiden Extremlandschaften erstreckt sich vou Lax (SDS: WS 28) rhone-aufwarts bis nach Oberwald (WS 34); sie ist praktisch mit der obersten Talstufe des Wallis, dem Goms, ideutisch; die andere Extrem­landschaft umfa13t im groben das Rhonetal vou Visp (WS 12) abwarts bis zur deutsch­franzosischen Sprachgrenze; die dazwischeuliegenden Ortschaften vou Mund (WS 22) bis Betten (WS 27) verhalten sich von Fali zu Fali verschieden; das gilt auch für die Vispertaler (WS 1�21) uud z. T. für das Lotschental (WS 6, 7). Unsere Karten 6ü-62 veranschaulichen den sprachgeographischen Tatbestand an je vier bis fünf lautlichen, morphologischen und lexikalischen Beispielen aus dem SDS, die hier kurz erlautert uud durch parallele oder ahnliche Falle erganzt werden.

68 Albert CARLEN, Brig, in der deutschschweizerischen Radiosendung vom l. 3. 1959. Vgl. Civitas, Jlfonats-

schrift des Schweiz. Studentenvereins, 1955/56. 69 BoHNENBERGER, Walliser: S. 91. 70 HoTZENKÕOHERLE, Verbalformengeographie; Ders., Sprachgeographie.

71 RünEL, Viehzucht: S.130ff., bes. 8.137-147 u. Karte 2.

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K arte 60 kombiniert zwei vokalische mit zwei konsonantischen Kriterien. Lin i e 1 gibt die unterste Grenze der überoffenen Vertretung von mhd. re Ul gegenüber den geschlosse­neren V ertretungen � bzw. ii in d en angrenzenden un d unteren Gebieten anhand d er Wiirter st1'iiiile 'kammen' und 'Kiise' (SDS I 73, 74); die scharfe Grenze zwischen AuBerberg-Visp einerseits (WS 11, 12) und Mund-Gamsen anderseits (WS 22, 23) sowie das inkonsequente Verhalten von Simplon Dorf (25) wird durch di e weiteren Karten zu diesem Problem (SDS I 75-81, 94) bestatigt.72 - L in i e 2 fixiert die Grenze zwischen diphthongischem chlein- und monophthongischem chliin- ; 73 si e liegt weiter talaufwarts zwischen Betten un d Lax (WS 27128). - Linie 3 trennt westliches naglu 'nageln' vom iistlichen verhiirteten nagglu (bzw. naggle); parallel dazu (mit Schwankungen in WS 23-25) verlaufen die Gegensatze Gablu l Gaplu, haglu l hagglu, hoblu l hoplu (SDS n 4, 17 , 171 ). - Au f L in i e 4 begegnen si eh westliches iisch 'uns' und iistliches insch; im lautgeschichtlich parallelen Fall 'Fenster' (SDS n 128) verlauft die Grenze zwischen westlichem Feischter und iistlichem Fiinschter ganz ahnlich, ebenso in 'finster' (SDS n 126) diejenige zwischen fiischter im Westen und finschter im Osten- beidemal mit vereinzelten Übergriffen der n-Formen in den Westen, noch seltener mit n-losen Formen im Osten.

Eincn nicht ganz ausnahmslosen, aber doch ehenfalls deutlichcn Westlüst-Gegcnsatz im Problembereich des

Vokalismus zeigen dic Kartcn SDS I 95 'Schnce' und I 98 'Lehrcr' mit vorwiegend gcschlossenem ii westlich von

Visp (WS 12) gegenüber vorwiegcnd neutralem bis leicht offenem i!, � õstlich davon. - Auf SDS II 22 ' fahren'

reicht eine westliche Dehnungslandschaft faam bis (inkl.) Visp und in dic Vispertãler (WS 13--21); von lliund (22)

bis Oberwald (34) erstreckt sich die Form mit bewahrter Kürze. Etwas weiter hinauf, bis Lax (28), geht die

Dehnung im Fali 'fãrben' (SDS II 62). SDS II 77 'reiten' belegt eine geschlossene Kürzungs-Landschaft ritu (bzw. rite) õstlich von Visp gegenüber einer vonviegenden Bewahrungslandschaft riitn westlich davon; die

Vispertãler erweisen sich mit dem Vorkommen vou Lãngen, Kürzen und Halblãngen wieder als Übergangsland­

schaft. - SDS IV 27 'Arm': nntcrstes Dcutschwallis (WS 1, 2, 4) und Lõtschental (6, 7) haben die normalschwei­

zerdeutsche Form Aann u. a., ebenso Visp und Brig (24); im übrigen untern Deutschwallis gilt Aaru u. a. bis nach Betten (27) hinauf, vou Lax an Aare.

Karte 61 zeigt, daB auch morphologische (formengeographische) Gegensatze im gleichen Spannungsfeld liegen. Li n i e 1 trennt beim Imperativ Sg. von 'lassen' (SDS In 68) ein unteres (westliches) la- von einem obern (iistlichen) Zach-Gebiet. - Die Linien 2 und 4 belegen Gegensatze im Rahmen der Formengebung von 'kommen': Lin i e 2 (2. Sg.) mit dem Gegenüber von westlichen n-losen Formen (chuscht, chuisch(t), chüüscht u. a.) und iistlichen n-bewahrenden Formen (chuntsch(t)); Linie 4 (Imperativ) mit westlichem chum! gegenüber iistlichem chu! - Mit Linie 3 ist der Gegensatz zwischen westlicher Bewahrung des Part. Perf.-Priifixes gi- und dessen Schwund bzw. Assimilation im Osten festgehalten: gitreit l treit, gitaa l taa; im Fali von 'gebracht' verlauft fast auf der gleichen

72 Fast genau die gleichen Verhãltnisse zcigt der in seinen sprachgeschichtlichen Voraussetzungen und seiner sonstigen sprachgeographischen Struktur verschiedene Fali 'Krebs' (SDS I 30, germ. e): überoffcnes � von

Brig (WS 24) bis ins oberste Goms l neutrales bzw. gcschlosscncs �. � vou Brig abwãrts.

73 Zum sprachgeschichtlichen und sprachgeographischen Problem vgl. S.19 Anm. 21.

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Linie der Gegensatz zwischen starker und schwacher Bildungsweise des Part. Perf.: gibrungulpraacht. - Linie 5 grenzt am Beispiel des Infinitivs das westliche Gebiet erhaltener voller bzw. klassendifferenzierender Endungen (z. B. schniidu l heftu l salbu l lose)

vom iistlichen Gebiet mit im Reduktionsvokal zusammenfallender normalschweizerdeut­scher Einheitsendung (-e-) a b; auf d er gleichen L ini e o d er in unmittelbarer Nahe davon liegt di e Grenze zwischen westlichem V ollvokal un d iistlichem Reduktionsvokal in d er 1. Sg., der 3. Sg. und der 1 .-3. Pl. des Normalverbs 74 sowie zwischen den Sg.IPI.-Oppositio­nen Ofu : Efu u. a. l Ofe : Efe un d H asrt, H as o : H as e l H as e : H as e. 75

Formengeographische Probleme mit ãhnlichcr Raumstruktur wie die eben besprochenen enthalten - mit

verschiedener Strengc des Gegcnsatzes W estlüst - au eh di e nachfolgend genannten SDS-Kartcn: III 149 'Hündchcn' (etwas wcniger ausgcprãgt ITT 150 'Hãklein') zeigt eine merkwürdige Bcschrãnkung des im Wallis

sonst weiter vcrbreitetcn Diminutivsuffixes -j i au! das untcrc Deutschwallis ( ohne Lõtschcntal, mit einzelnen

Orten der Vispertãler). - III 163 'Zcitung', 'Rcchnung' belegt vou Lax (WS 28) an talaufwãrts für beide Wõrter dic abgeschwãchtc Endung -ig, talabwãrts cntwcdcr in beiden Fãllen oder wcnigstens im ersten die Vollform

-ung. - IV 13 'Augcnbrauen' hat di e Gestalt der Wortfuge zum Gegcnstand: Im untern Deutschwallis herrscht di e

Form Aug- vor, im obern (vou Lax an) Auge-, dazwischcn sowie in dcn Vispertalcrn Augu-. - Im Grenzbündel

zwischen Visp und J\11\md (WS 12122), mit wieder uneinheitlichem Verhalten der Vispertãlcr, tritt auch das weiter unten zu bcsprechendc Phãnomen der Bildung des Konj. Prat. von 'haben' (SDS III 48) in Erscheinung.

Karte 62 bestatigt den bisherigen Befund an wortgeographischem Material - mit charakteristischerweise etwas starkeren Grenzdivergenzen von Fall zu Fall. Gleich Lin i e 1 mit d er W ortgeographie von 'heiser' un d d em W estlüst-Gegensatz heiseram l roiw, riiw wirft mit dem auffalligen Verhalten des Liitschentals ein zusatzliches Problem auf, vgl. unten S. 188. - Mit Lin i e 2 'schielen' ist ein komplizierteres wortgeographisches Problem etwas vereinfacht dargestellt: Von Brig (WS 24) an talaufwarts gilt zwar einheitlich der W orttypus ubersee; westlich davon, talabwarts, stehen dagegen, oft am sel ben Ort, ubersee

und schiile (bzw. schiilu) nebeneinander.76- Lin i e 3 'die Madchen' trennt westl. Meitji, -tje von iistl. Meiggji, -je, Meigge; das Liitschental schlieBt sich mit Meitschi eindeutig dem Berner Oberland an.- Bei Lin i e 4 'ausruhen' sind wir mit einer ahnlichen Situation wie bei Linie 2 konfrontiert: wortgeographische Geschlossenheit im obern Deutschwallis (von Betten = WS 27 an) mit durchgehendem ghinne; eine gewisse Uneinheitlichkeit westlich davon, w o bei vorherrschendem (er-) liwrmt, liium, -b- au eh d er Oberwalliser Typus (in d er Variante hinmt, er-) in WS 5-7, 13, 18, 22-26 belegt ist.

Lincar weniger scharf ausgcprãgt, aber als relativcs Vorherrschen des jeweiligen Typus den Gegensatz Westlüst doch deutlich hervortretcn Jassend sind die Fãlle SDS IV 3 'Bcule' mit C/mubell Biile (Erstreckung des

Osttypus im Rhonetal bis hinunter nach Niedergesteln = WS 9, aber ohne die Vispertãler); IV 47 'Klemmflecken am Finger' mit Blüetschalle 1 -blaatra; IV 79 'spucken' mit speiwe l steiwe, sti(u)we; IV 92 'lmeifcn' mit zwenggu l

74 SDS TTI 22-24, 28, 31-34; vgl. auch unsere Karte 6. 75 Fiir genauerc Angaben s. SDS III 168 bzw. 169.

76 Dcr zwcite Typus ist auch freiburgisch (hicr gcdehnt: schiiiile). In den ennetbirgischen Südorten sind

ebenfalls di ese beiden Typen vertreten: schii/e in d en westlichen Orten (IT l, 2) - und allerdings auch in Bosco Gurin, ubersee vor allem in den õstlichcn Ortcn.

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zwiirgge; IV 98 '(bei einem Begrãbnis) weinen' mit griinef (p)fliinne. Auf den Verwandtschafts-Karten IV

117/118 'Vater', 121/122 '1\'lutter' sowie IV 125, 126 'GroEvater', '-mutter' ist geographisch wie chronologisch

zunehmendes Übergewicht der Typen Papa, Mama bzw. Groosspapa, -mama im unteren Deutschwallis unverkennbar. - Auf Karte V 41 'Empore' stehen sich wenigstens im groben westliches Laube und õstliches

Oorgele gegenüber; auf Karte V 162 'di e Rahmschicht au f gekochter Mii eh' westlich Rown un d õstlich Ruu m · au f

Karte V 76/78 'Achselreiten' westliches Riggu-, Vogilpriinlsch und õstliches Hiiross(ji). - Dazu komme� die

über 30 Beispiele aus d em Bereich der Viehzuchtterminologie bei RünEL (s. o. S. 177). - Hieher gehõrt auch der

Fali 'nur' (SDS IV 176) mit überwiegendem nwne im obern Deutschwallis, Nebeneinander von nume und

schulmãBig-schriftsprachlichem nur im untern Teil. - Vgl. ferner die oben im Kapitel <<Deutschbünden•> S.131 ff. bzw. 148 ff. besprochenen Fãlle.

9.3.2 Hintergründe der Zweiteilung

(Karten 63-65)

Die top ograph i s chen u n d d i e gesch icht l i chen H in tergründe der geschilderten sprachgeographischen Zweiteilung des Deutschwallis sind wenigstens oberflachlich recht gut erfa13bar.77 Als das eigentliche Rückgrat der auf unseren Karten immer wieder in Erscheinung tretenden Grenzzone erweist sich der D ei s chb erg, eine ca. 200 m hohe, eine eigentliche Riegelstellung bildende Talstufe zwischen unsem Atlaspunkten More! (WS 26) un d Lax (28): nach d en W orten H. BüTTNERS im Mittelalter e in em s tes V erkehrshemmnis. 78 Hier liegt nach BoHNENBERGER un d RüBEL die geschichtlich relevanteste Grenze zwischen dem Goms, welches politisch oft sein e eigenen W ege ging, un d d em übrigen Deutschwallis. Hier liegt u. a. ein deutlicher Einschnitt in der Geschichte der Besitznahme des Oberwallis durch den Bischof vou Sitten zwischen dem 11. uud dem 13. Jahrhundert; 79 bis hieher erstreckte sich ein Jahrhundert spater die gegenseitige Hilfsverpflichtung, die mit dem Bund verknüpft w ar, d en Zürich 1351 mit d en vier W aldstatten schloB; im Gebiet <<von D&is uf in Wallis>> spielt, wieder ein Jahrhundert spater, das Ewige Burg- uud Landrecht des Zehnten Goms mit Luzern, U ri uud Unterwalden von 1416.80 Es ist unverkennbar, daB an dieser Stelle d er W alliser Landschaft immer wieder Bewegungen auBersprachlicher Art gehemmt worden oder zum Stehen gekommen sind. Die S taulage als solche ist unbestrit­ten. Verstandlich ware auch, daB sich in solcher Lage Sprachgegensatze gestaut, Sprachgrenzen zementiert hatten.

Zitat nach LARGIADER, Anton (21951). Zürichs ewiger Bund mit d en Waldstãtten vom 1. Mai 1351. Zürich.

S. 104/105: <<So geben wir .. di e vorgeschriben stett vnd Lender enander dirr getrúwen geselleschaft . . vnd ewigen buntnúss . . ein erkantlich gezúgnúst . . mit briefen vnd mit geschrift . . Also das wir enander getrúwlich behulfen

vnd beraten sin súlen [ . . . ] inwendig dien Ziln vnd di en kreissen als hienach geschriben stat [ . . . ] Das ist des ersten . . do dú Ar entspringt . . Das man nemt an Grimslon vnd die Aren ab fúr Hasle fúr Bern Hin .. vnd iemer me

77 Vgl. BoHNENBERGER, Walliser: bes. S. 91; seither bes. RünEL, Viehzucht: S. 140-147.

78 BüTTNER, Heinrich (1961). Geschichtliche Grundlagen zur Ansbildung der alemannisch-romanischen

Sprachgrenze im Gebiet d er heutigen Westschweiz. In: ZMF 28.193-206, bes. 204.

79 BüTTNER a. a. O.

80 RünEL, Viehzucht: S. 140 Anm. 2.

180

ab / der Ar nach vntz an di e statt .. do dú Ar in d en Rin ga t . . vnd den Rin wider vf vntz an die statt do dú Tur in den Rin ga t . . vnd die sel ben Tur iemer mer v f . vntz an die statt . . do dú Tur entspringt . . vnd von dem vrsprung

vnd der selben statt .. die richti durch Kurwalchen vf . . vntz an die Vesti ze Ringgenberg . . vnd von der selben

Ringgenberg .. vber enhalb dem Gothart hin vntz vf den Platifer vnd von dannan Hin vntz vff den . . DÕisel vnd

von dem DÕisel wider vber vntz an den Grimsel do dú ar entspringt.>>

Damit ist für den Sprachgeographen uud Sprachhistoriker die eigentliche Problematik des Falls aber nur gerade bloBgelegt. Er gibt sich nicht zufrieden mit der Feststellung der Sprachgrenzbündelung an sich, sondem mochte wissen, woher die hier uud jetzt aufeinan­derprallenden Laute, Formen, Worter denn eigentlich kommen. BoHNENBERGER hat auf diese Frage im Hinblick auf einige der vou ihm entdeckten lautlichen Gegensatze eine vorlaufige Antwort gegeben: Er glaubte, die Erhaltung der vollen Endsilbenvokale im untern Deutschwallis, ihr Zerfall im obem Deutschwallis hange mit d em mehr schwebenden romanischen Akzent in den sprachgrenznahen Gebieten des untem Deutschwallis uud dem ausgeprãgten dynamischen deutschen Stammsilbenakzent der sprachgrenzfemeren Ge­biete des obern Deutschwallis zusammen; die geschlossenere Qualitat des Umlauts vou ã westwarts vou 'fisp brachte er entsprechend mit einer Neigung der romanischen Sprachen zur SchlieBung der Vokale zusammen.81 Beide Argumente sitzen an sich nicht allzu fest: Weder der vorausgesetzte Akzentunterschied zwischen oberem uud unterem Deutschwallis noch di e behauptete N eigung d er romanischen Sprachen zur VokalschlieBung sin d gesichert genug, um unbesehen übemommen uud in dieser Formulierung weitergegeben werden zu konnen. Noch mehr Bedenken erweckt Folgendes: Sowohl die Gegensatze 2-4 auf unserer Karte 60 wie die Gegensatze 1-4 auf Karte 61 finden vou der <<romanistischem> These her überhaupt keine Erldarungsmoglichkeit; im Bereich des W ortschatzes (Karte 62 un d Text­Erganzungen) ware n ur gerade das Beispiel d er V erwandtschaftsnamen un d d er e ine o d er andere Fali des RüBELschen Viehzuchtinventars in diesem Sinne auswertbar.

Bei zunehmendem Überblick über die gesamtschweizerdeutsche Sprachlandschaft drangt sich eine ganz andere Interpretation wenigstens als erganzende Arbeitshypothese auf: die Wall i s er Zweite i lung als Sp i egelung vou Berner O b er l an der o der gar gesamtschweizerdeutschen V erhaltn i s s en . Was damit gemeint ist, sei wieder an einigen konkreten Beispielen aus Lautlehre, Formenlehre un d W ortschatz veranschaulicht· sie sind unsem Karten 60-62 entnommen.

'

Die K arte 63 verfolgt Gegensatze, die wir im Rahmen der Walliser Zweiteilung kennen gelemt haben, über die Walliser Grenze hinaus nach N orden. L in i e 1 nimmt das Problem der Vertretung vou mhd. re in Wortern wie 'Kase', striiiile auf (Karte 60 Linie 1): Sie findet ihre Fortsetzung, besser gesagt ihren Anfang im Berner Oberland mit dem den Walliser Verhaltnissen genau entsprechenden Gegensatz westl. if l ostl. ff - w o bei si eh natürlich di e Frage des romanischen Einflusses in dieser ganzen ursprünglich romanischen Grenzland­schaft erneut stellt. Mit Lin i e 2 (vgl. Karte 61 Linie 1: 'laB') ist der Gegensatz la 1 lach weit

81 BoiiNENBERGER, Walliser: § 36 bzw. § 60. Vgl. auch RünEL, Viehzucht: S. 1 42.

181

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über das W aliis un d sogar das Berner Oberland hinaus fortgeführt: Di e Fonn lach 82 ist auBer im obern Deutschwallis und im ostlichen Berner Oberland auch im ganzen Kanton Luzern, in einem angrenzenden Sektor des Kantons Aargau (mit dem nordlichsten Beleg fast bei Bruggl), in den Kantonen Unterwalden und Uri und im Südteil der Kantone Zug und Schwyz üblich. L in i e 3 (vgl. Karte 61 Linie 4: 'komm') laBt die Oberwaliiser chu­Landschaft als Teil einer groBeren, auch wieder das ostliche Berner Oberland, den ganzen Kanton Unterwalden sowie das südliche Uri erkennen: Wir wagen es, das Oberwalliser chu vor Vokal und vor 'du' als Endstufe einer Entwicldung zu interpretieren, die im ostlichen Berner Oberland auf der Stufe chun (in den gleichen satzphonetischen Verhaltnissen) stehen geblieben, in Unterwalden und U ri wenigstens vor 'du' realisiert ist (im Gegensatz zu chum vor Vokal). L in i e 4 'ausruhen' (vgl. Karte 62 Linie 4) umreiBt den geschlossenen Geltungsbereich des Worttypus ghirme (nur dieses Wort) gegenüber westlichem lüü(j)e, liiwe, loie u. a. (mit vereinzeltem -hitme), nordlichem ( g)rueje, ( g)tuebe u. a.: oberes Deutschwallis, ostliches Berner Oberland sowie Unterwalden uud U ri. 83

Wir stelien zum SchluB (in bewuBt anderer Darsteliungsmanier) den soeben besproche­nen Fali 'ausruhen' neben den Fali 'Frühling' (Karten 64165): 84 Das Nebeneinander der beiden Verbreitungsskizzen laBt scharfer als bisher die Tei lhabe des Wal l i s an ge samtschweizerdeutsch en Raumprob lemen heraustreten: Teilhabe, im ganzen gesehen, an Rückzugslandschaften wie lüü(j)e u. a. bzw. ghitme im Rückzug vor ( g)rueje u. a. im Fali 'ausruhen' , wie U (u )stag bzw. Lan g si u. a. vor Ftüelig i m andern Fali; spezielie Teilhabe, im einzelnen gesehen, des untern Deutschwallis an den westschweizerdeutschen, des obern an zentralschweizerdeutschen Typen.

Wir ergãnzen das bisher Gesagte durch Hinweise auf mmge etwas weniger stringente, aber doch

offensichtlich in diesen Problemkreis gehiirige Fãlle: Der Walliser Gegensatz griine l fliinne '(bei einem Begrãbnis) weinen' (SDS IV 98) kann insofern hier angefiihrt werden, als wenigstens das westwaliiserdeutsche

griine direkten Anschlul3 im entsprechenden siidwestbernischen Worttypus hat. iisch 'uns' (Karte 60 Linie 4) hat

eine breite Basis im heute fast gesamt-berneroberlãndischen üüs bzw iis, das als sein Ausgangspunkt betrachtet

werden darf, sofem man ni eh t Iieber gleichgerichtete Eigenentwicldung annehmen will; das gleiche gilt au eh fiir di e ebenfalis schon o ben erwãhnten Fali e 'finster' un d 'Fenster' . - K arte SDS III 46 belegt fiir das Part. Perf. von

'haben' einen intemen Walliser Gegensatz gha(n) bzw. ghabet, ghabe(n) (ohne Umlaut)l ghii(n) bzw. ghiibe(n), ghiibet (mit Umlaut); die Grenze Iiegt zwischen Ausserberg (WS 11) und Visp (12). Die umlautlose Forru des

untern Deutschwallis hat heute ihre geographische Entsprechung ghabe(n) im siidwestlichsten Berner Oberland (BE 93-95: Saanen, Gsteig, Lauenen) sowie im mittleren Oberland (Einzugsgebiet der Kander), wãhrend der iibrige Westen (Simmental) sowie der Osten (Liitschinentiiler, Brienzerseegebiet und Haslital) die (ãltere?)

umlautende Form ghiibe(n) bevorzugen. Es sieht g an z danach aus, als o b normalschweizerdeutsches (un d normalbernisches) gha im mittleren Bemer Oberland (und im Gebiet von Saanen) eine einst geschlossene'

Landschaft mit ghiibe wenigstens teilweise (in bezug auf d en Vokal) angesteckt ha be und in di e ser neuen (Misch-)

Form: noch zweisilbig wie ghiibe, aber schon mit -a- wie gha, ins untere Wallis vorgestol3en sei.

82 Wohl analogisch gebildet nach schlach, vgl. SDS Ul 69 (Verbreitung etwas weiter).

83 Nicht beriicksichtigt sind in dieser Darstellung vereinzelte, meist durch andere Typen konkurrenzierte - uud

heute bedrãngte - (g)hirme-Vorkommnisse in westlich angrenzenden Gebieten vou WS und BE sowie die

(g)hirme-Belege in GR, TI, IT; vgl. jedoch Karte 65.

84 Vgl. HoTzENKÕCHERLE, Raumstruktur: Abb. 14, 15 uud Text S. 2161.

182

In einem Fali wie dem auch hier wieder zuerst genannten (Karte 63 Linie 1: Umlaut von ã) konnte man den Entwicklungsparalielismus WestiOst zwischen Wallis und Berner Oberland mit einer Konzession an - wie gesagt nicht restlos überzeugende - BoHNENBER­

GERsche Gedankengange aus der Gemein samkeit der L age zur deutsch - fran z o s i ­s c h e n Sprachgrenze zu deuten versuchen: Nahe der westlichen Berner Oberlander uud W alliser Gebiete z ur Roman i a l groBerer Abstand d er ostlichen Berner Oberlander un d W alliser Gebiete von ihr; di e von BoHNENBERGER beobachtete Tendenz zur V okalschlie­Bung in der Nahe der deutsch-romanischen Sprachgrenze ware als solche durch parallele Beobachtungen zu erganzen uud evtl. zu berichtigen.

Ich denke hier vor allem an den schon oben (S. 178 Anm. 72) beriihrten Fali 'Krebs' (SDS I 30), der in wieder

weitgehender Parallele zum Wallis am ganzen Bemer und Freiburger Westrand vom Bielersee siidwarts

bemerkenswerte Stiirungen der sonstigen sii dalemannischen <<Nor malverh a ltn i sse<< im Sinu einer

Vermeidung ii beroffe ner e -Q ualitate n zeigt; Entsprechendes ist iibrigens an der ganzen Kartengruppe SDS I 19--28, 33, 34 festzustellen; im Fali des Konj. Prat. von 'haben' hat diese Stiirung sogar morphologische Folgen gehabt, s. u. S.185 u., 188 o.

ln diesem Zusammenhang wãre auch di e N eigung z ur De h n un g (vor allem in offener Silbe) zu erwãhnen, wie sie zahlreiche Kdrten der Gruppe SDS II 1-44 einerseits für den bemisch-freiburgischen Westrand, anderseits

(in von Fali zu Fali wechselnder Besetzung) fiir die Aufnahmeorte des westlichen Deutschwallis zeigen,

vgl. z. B. SDS U 12 'Nase'; das Problem steht freilich als Ganzes in einem weiteren Rahmen, s. u. S. 201 u., 204o. ­

Auf einer andern Ebene von miiglicher Eigenentwicklung zur Walliser Zweiteilung Iiegen die Fãlie speibz!, spe(u)wn lsti(u)we 'spucken' (SDS IV 79), zwenggnlzwiirgge 'kneifen' (SDS IV 92), schiilu lubersee 'schielen' (SDS IV 115) und wohl manche d er RüBEJ.schen Beispiele aus d er Viehzuchtterminologie: Sie kiinnen am ehesten au f - einseitige oder doppelseitige - Eigenentwicklung innerhalb des Wallis selbst zuriickgeführt werden.

Damit sind wir praktisch aber auch schon am Ende der Erklarungsmoglichkeiten aus paralleler Eigenentwicklung. In den übrigen o ben besprochenen Fallen: la l lach 'laB', chum l chu 'komm', liiwe l hitme 'ausruhen' , Ustag l Langsi 'Frühling' erscheint Eigenent­wicklung im Wallis, erscheint vor allem Zufalls-Paralielismus der Walliser Raumstruktur mit d er Berner Oberlander (un d Innerschweizer) Raumstruktur so gu t wie ausgeschlossen. 85 Di e Frage stellt si eh also mit erneuter Dringlichkeit: Wie hat mau sich denn ganz konkret di e Entstehung dieses merkwürdigen Parallelismus in der Raumstruktur zu denken? Und erneut drangt sich, wie schon im Fali d er Bündner W alser-Zweiheit in ihrem Verhaltnis zur Waliiser Zweiheit, die Vorstellung von zwe i verschi edenen S i e dlungswegen auf. Ein Blick auf die Walliser Verkehrsgeographie uud Siedlungsgeschichte scheint hier weiterfüh­rende Moglichkeiten zu erõffnen. Die altere Forschung nimmt als engeres Ausgangsgebiet der etwa im 9. Jahrhundert auswandernden künftigen Walliser Siedler das ostliche Berner Oberland, als W anderungsweg di e Grimsel un d als erste Siedlungsetappe im Rhonetal das

85 Vgl. RüBEL, Viehzucht: S. 143. Hier S. 144 ff. sowie Karte 3 auch der Hinweis auf eine frappierende

sachkundliche Parallele: die Verteilung der Rinderrassen: Braunvieh im oberen Deutschwallis -au13erdem im Haslital, in der Innerschweiz, St. Gallen, Appenzell, Graubiinden uud im Tessin l Rotfleckvieh

im unteren Deutschwallis - au13erdem im Gros der West- (uud Nord-) Schweiz, darunter auch dem westl. u.

mittleren Berner Oberland.

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Goms an. 86 Demgegenüber ware von d er im Vorangehenden geschilderten sprachgeographi­schen Situation her zu postulieren, daB als Herkunftsgebiet der Deutschwalliser auch das mittlere un d westliche Berner Oberland, als W anderungsweg au eh di e westlicheren Úbergange Sanetsch, Rawil, Gemmi und LotschenpaB, als erstes Siedlungsziel auch das untere (heutige) Deutschwallis ernsthaft ins Auge gefaBt werden.

Dieses Postulat trifft sich erstaunlich gut mit den Folgerungen, die fast gleichzeitig Heinrich BüTTNER als Historiker aus eigentums- und verwaltungsgeschichtlichen Tatsa­chen gezogen hat: daB namlich die erste alemannisch sprechende Bauernbevolkerung des Oberwallis nicht über das Haslital und den GrimselpaB einwanderte, sondern aus dem Gebiet von Leuk bis N aters hin, so daB als W anderungsweg vor allem der PaB über di e Gemmi und als Herkunftsgebiet das westliche Berner Oberland in Frage kommt.87

Tch wiirde von den oben geschilderten Gegebenheiten der Sprachgeographie her die Grimsel-These nicht so

scharf ausschlieJ3en, wie das BüTTNEH tut, sondern eher fiir ein Sowohl-Als-auch plãdieren. Paul ZINSLI scheint

die Prioritiit des Grimselweges nicht gern preisgeben zu wollen, hãlt westlichere Zuwanderungswege aber doch (zusiitzlich) auch für nüiglich und baut diese Mõglichkeit sogar explizit in einer seiner Siedlungsskizzen ein.88

Fiir die andauernde verkehrsgeschichtliche Bedeutung der Gemmi zeugt auch ihre Rolle als SalzstraJ3e und Viehhandelsweg; vgl. hiezu Dunms, Alain (1965). Die Salzversorgung des Wallis 150()-.1610. Winterthur:

- S. 31, 39, 54, 240 (Anm. 90), 380 (Anm.154), 445; neb en d er Gemmi erscheinen h i er als Triiger des Verkehrs aus

dem westlichen Berner Oberland (un d von weiter h er) immer wieder auch Sanetsch-, Rawil- uud LõtschenpaB. Lange andauernde intensive Beziehungen zwischen Wallis und Berner Oberland gerade aueh iiber diese

westlicheren Pãsse wird auch durch die friih bezeugten, z. T. bis in die Gegenwart dauernden Wall iser

Besitz rechte au f Berner Oberlãnder Alpen veranschaulicht: die Wispillen auf Saaner Gebiet, die schon

vor 1349 im Besitz von Saviese war und iiber den Sanetsch bestoJ3en wurde (Urkunde im Archiv von Saanen); die Spittelmatte jenseits der Genuni auf Kandersteger Gebiet, die im Spiitmittelalter von der Burgergemeinde

Leukerbad kãuflich erworben worden uud bis in die Gegenwart in ihrem Besitz geblieben ist.89

Nicht unterschlagen sei, daB der Westfüst-Parallelismus Wallisf Berner Oberland nicht immer spielt: Es gibt

sogar bemerkenswerte <<verkehrte>> Beispiele. SDS III 100 '(du) kommst' zeigt n-lose Formen (chuscht, chuusch(t), chuisch(t), chiiüscht) unter anderem im westlichen Deutsehwallis (s. Karte 61 L. 2) und im õstlichen

Berner Oberland sowie in Teilen der Innerschweiz, Formen mit n <<iibers Kreuz•> im õstlichen Deutschwallis sowie

im westlichen Berner Oberland; vereinzelte chuuscht-Vorkommnisse im westlichen Berner Oberland un d

besonders die geschlossene chuscht-Landschaft im Freiburgischen (FR 3-12) deuten vielleicht auf sekundãre

Verlagerungen in einer ursprünglich anders strukturierten, der heutigen Verteilung im Wallis besser entspre­

chenden Formenlandschaft h in.- Au eh di e Karte SDS III 219 'euer (H aus)' belegt <<verkehrte>> Verteilung: ewwers

86 V g l. BoiiNENBERGER, Walliser: §§ 21, 22.

87 BüTTNER, Geschichtliche Grundlagen (vgl. Anm. 78), bes. S. 203 ff.

88 ZINSLI, Ortsnamen: Abb. 6 S. 49; vgl. auch S. 52/53 (zur Verbreitung des Flurnamens Loo, mit Karte); Ders., Namenkundliches zum Deutschwerden der sehweizerischen Alpentiiler. In: Alem. Jahrbuch 1962/63,

S. 255-282, be s. 263 f f. u. Abb. 3; Ders. (1965 ). Das Berner Oberland als friihe alemannisehe Siedlungsstaffel

im westlichen schweizerdeutsehen Spraehgrenzraum. In: Namenforschung, Festschrift fiir Adolf BAcH zum 75. Geburtstag. Heidelberg. S. 330 -358, bes. 333; Ders., Hohliebi: S. 268 (Wanderung des Appellativs

Hohliebi iiber die Gemmi, allerdings erst im Hochmittelalter).

89 Vgl. SEEWER, Arnold (1955). Walliser Besitzungen in der Gemeinde Gsteig. In: Beitr. zur Heimatkunde der Landschaft Saanen, S. 234-252; CooLIDGE, W. (1910). L'Alpe Engstligen dans l'histoire. In: Blãtter fiir

bern. Gesch. 6.233-235; Düm, Heinrich (1936). Die Berner Alpenpãsse und ihre Benutzung im spãteren

Mittelalter. Bern; STETTLER, Oberer Aareraum: S. 46/47.

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gilt im westlichen Deutschwallis uud im õstlichen Berner Oberland, e(u)ws bzw. ii(u)ws im õstlichen Oberwallis und im westlichen Berner Oberland. Ahnliches passiert im Wortschatz: Auf der Karte SDS IV 92 'kneifen' hat der

im õstlichen Oberwallis iiberwiegende Typus zwiirgge seine nãchsten Entsprechungen im westlichen Berner Oberland als zwi1:rgge, zwiiiirge, wãhrend im westlichen Deutschwallis uud im õstlichen Berner Oberland je

andere Typen gelten. 90

9.3.3 Der Bezirk Visp als Sonderfall

Einen grundsatzlich bedeutsamen Sonderfall innerhalb des Themas <<Zweigeteiltes W allis>> bildet der Bezirk Visp. Visp und die Vispertaler (WS 12-21) nehmen, wie schon verschiedentlich angedeutet, im Rahmen dieser Zweiteilung eine charakteristische Mitte l ­bzw. Úbergangsste l lung ein.91 Wir belegen sie anhangsweise mit einigen reprasentati­ven Fallen aus dem bisherigen Material.

Geschlossen mit dem W esten geht der Bezirk Visp z.B. in Folgendem (in Klammer links jeweils di e Westform j rechts di e Ostform): SDS I 31 'Larche' (� U ); n 22 'fahren' (ã / ã); n 124 'uns' ( iisch [au eh WS 22, 23, 25] j insch); In 7 'gebracht' ( gibrung�� [au eh WS 22, 23, z. T. au eh 24, 25) j praacht); In 22-24: 1. Sg. In d. Pras. (-u j -e) .

Geschlossen mit dem Osten geht der Bezirk Visp z.B. in folgenden Fallen: I 33 'Besen' (Besu, Basu j Basmu [auch WS 8-11 ]); In 219 'euer (Haus)' (euwers / euws [Visp selbst hat die westl. Form]); IV 47 'Klemmflecken' (Blüetschallu [ auch WS 22, 27] / Blüetblaat(e)ra) .

In zahlreichen Fãllen erscheint d er Bezirk Visp als eigentliches Úb ergangsge b i e t mit wechselnder Teilhabe an beiden Hauptlandschaften; so: I 73 straale 'kammen' (mhd. re) mit einem charakteristischen Nebeneinander von westlichem � und Úbergangslautung � (aber ohne Beleg für das ostliche ff). 92 Au f Karte SDS n 77 'reiten' erstreckt si eh vom FurkapaB bis nach Visp ein geschlossenes Kürzungsgebiet (rite); unterhalb von Visp wiegt di e Lautung mit bewahrter Lãnge vor (riite); in unserm Zusammenhang charakteristisch sind di e besonders in d en Vispertalern auftretenden Halblãngen. Bei de W alliser Vertretungen zeigt unsere Úbergangslandschaft auch in folgenden Fãllen: SDS In 48 'hat' / 'hãtte' : westliche Lautgleichheit des Stammvokals im In d. Prãs.jKonj . Prat. und ostlicher Vokal­wechsel; III 68 'laB' : westl. la(n) und ostl. lach; III 100 'kommst': westl. chuscht bzw. chüüscht, -u i- un d ostl. chuntsch(t); III 149 'Hündchen' : westl. Hundji un d ostl. Hundschi, Hindschi; IV 3 'Beule': westl. Chnubel (vorwiegend) und ostl. Biile (vor allem in Visp und Umgebung); IV 13 'Augenbrauen' : westl. Aug- und ostl. Augu-; IV 115 ' schielen' : westl.

90 Zur <<Verkehrtem Verteilung zwischen Berner Oberland und Deutschwallis vgl. auch GLA1'THARD, Oberhasli:

S.126 ff. mit den Karten 36 u. 38. 91 Vgl. RüBEL, Viehzucht: S.147-152. 92 Vgl. auch SDS I 74 'Kãse', 89 'spiiter', 94 'fragen' sowie TTI 58, 59, 66, 72 (lnd.PI. von 'gehen', 'stehen',

'lassen', 'schlagen'). Diese ganze im einzelnen recht widerspruchsvolle Gruppe muJ3 als Problemeinheit

genommen werden; im vorliegenden Zusammenhang ist einzig entscheidend, daB die Extremlautung f vom

obersten Goms bis naeh :Mund (WS 22) ausnahmslos gilt, westwfuts aber in eine Landschaft übergeht, wo zunãchst neutrale, daun geschlossene Werte überwiegen.

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schiile (vorwiegend) und iistl. ubersee. - Ein Fall für sich ist 8D8 III 46 'gehabt': Das Nikolaital (W8 16-20) samt Tiirbel (14) hat mit d em ganzen W esten unterhalb von Visp die umlautlosen Formen gha, ghabe, ghabet; das 8aastal (W8 21) samt Visp, Visperterminen und 8taldenried (12, 13, 15) auf der rechten Talseite bevorzugt die umgelauteten Formen ghii, ghiibe, ghiibet. - Hans Ulrich RünEL hat versucht, das sprachgeographische Problem des Bezirks Visp anhand einig·er W ortschatzbeispiele sprachgeschichtlich auszuleuchten; wir schlieBen uns sein en diesbezüglichen Ausführungen im folgenden rekapitulierend an. 93

a) Für den ang eschroteten Teil de s Heustock s gilt in den Vispertiilern und im obern Deutschwallis (von Naters-Miirel an aufwiil'ts) die Bezeichnung Bisse, in Visp selbst und Umgebung und im Bezirk Brig (ohne Naters) wie im untern Deutschwallis Meiss. RünEL nimmt an, daB einst eine groBe, die ganze Visper, Briger und Gomser Landschaft umfassende Oberwalliser Wortzone Bisse bestanden habe, die daun durch einen VorstoB des westlichen Typus Meiss entzweigerissen word(ln sei: Bisse im Bezirk Visp wiire ein abgespaltenes Relikt der einstigen Oberwalliser GroBlandschaft.

b) Entsprechend beurteilt RünEL die Wortgeograph i e de s Viehstr iegels , der heute im Nikolaital wie im obern Deutschwallis (in diesem Fall bis nach Visp hinunter) Striille heiBt, im 8aastal und zu beiden 8eiten der vereinigten Visp Strigel wie im untern Deutschwallis. RüBEL rechnet auch in diesem Fall mit einer einstigen Oberwalliser Einheitslandschaft ( Striille) mit EinschluB beider Vispertiiler, di e durch einen V orstoB des W orttypus Strigel aus dem untern Deutschwallis aufgesplittert WGrden sei. 94

e) Für die 8ach- und Wortgeographie des RückentraggefiiB e s für Mi lch stellt RüBEL im AnschluB an eine iiltere Arbeit 95 un d di ese bestiitigend fest, daB eine ursprünglich wieder das ganze Oberwallis von der Furka bis in die Vispertiiler umfassende Wort- und 8achlandschaft Chübli (Chipji) = RückentraggefiiB aus Holz im Begriff stehe, im Bezirk Visp durch ein vou d er 8prachgrenze heraufwanderndes Briinte = Rückentragge­fiiB aus Metall sachlich und lexikalisch bedriingt und verdriingt zu werden.

Auch im Bezirk Visp gibt es übrigens Fiille, wo die 8onderstellung durch Eigenent ­wicklung begründet ist: Eigenentwicklung des ganzen Bezirks im Gegensatz zum ganzen übrigen Deutschwallis, oder 8onderentwicklung entweder des Nikolai- oder des 8aastals. Als Beispiel kiinnte Karte 8D8 IV 95 'kreischen' gelten mit hoiru und riiiiggu in den Vispertiilern gegenüber dem im übrigen Deutschwallis weit überwiegenden ggiissu, -e.

RüBEL (Viehzucht: 8. 148/149 und Karte 5) bespricht eingehend den Fall des Visper Schlichti 'Nachgeburt der Kuh' gegenüber dem gleichbedeutenden Unterwalliser Reini und dem Gomser Richti und ziihlt (8. 151) weitere Fiille aus der Viehzuchtterminologie auf. Dort findet sich auch ein instruktives Kurzinventar von Beispielen für 8onderentwicklungen, sei es im Nikolai- sei es im 8aastal.

93 RüBEL, Viehzucht: S.147-152 und Karten 4, 5.

94 Für vier Grenzorte kann RüBEL den Úbergang von Striille (veraltet) zu Strigel unmittelbar nachweisen. -

V g!. di e de n Parallelismus d er beiden Fiille suggestiv veranschaulichende Karte 4 bei RüBEL. 95 REIMANN, Rückentraggeriite (mit Karte). S. auch HoTZENKiiOHERLE, Raumstruktur: Abb.16.

186

Problematisch bleibt die Sonderstellung der Vispertãler auf den Karten SDS I 108 'Eier', 109 Geiss, III 237

'zwei', IV 81 'geifern' u. ã.: die Transkriptionsdifferenz Vispertãler (und Simplon = WS 251) ey f sonst çy sieht verdiichtig nach Exploratorendifferenz (R. H. f R. S.) aus; si e wird übrigens schon dadurch abgeschwãcht, daB

hinter d em Geschlossenheitszeichen im Explorationsgebiet von R. S. nicht selten die Transkription flY steht.

9.4 Das Lõtschental

Vor sprachgeographische Probleme eigener Art stellt uns das Liitschental. 96 Di e Karte

8D8 III 152 'Triiglein' setzt uns in die Lage, diese Problematik an einem 8chlüsselbeispiel

zu veranschaulichen. Die Verkleinerungsform von 'Trog' heiBt in Blatten (W8 7) Troglin:

mit Umlautlosigkeit des 8tammvokals wie im ganzen übrigen Wallis (gegen benachbartes ber­

nisches und schweizerdeutsches Trogli, Trügli u. ii.); mit unterbliebener Palatalisierung des

postkonsonantischen l zu j wie im Bernischen un d im übrigen 8chweizerdeutschen (gegen

sonstiges walliserdeutsches Trogji); mit ausschlieBlich im Liitschental erhaltenem -n.

a) DaB, aufs Ganze gesehen, das Liitschentaler Deutsch ein Walliser Deutsch im

strengsten 8inn ist, braucht an sich kaum mehr bewiesen zu werden. Für das Liitschental

gelten alle die hJchstalemannischen Kriterien, an denen das Wallis als Ganzes teilhat (vgl.

oben 9.1 .1) ; sie bilden in ihrer Gesamtheit den natürlichen Rahmen für das Liitschentaler

Deutsch als T ei! des W alliserdeutschen. Aber auch die spezifischen Walliser Kriterien (vgl. oben 9.1.2) sind im Liitschental fast

ausnahmslos vertreten; im Formensystem des Verbums repriisentiert das Liitschentaler Deutsch sogar di e al teste, di e eigentliche Ausgangsstufe d er W alliser Entwicklungen; in einem W ortschatzfall wie Frontag 'Donnerstag' (8D8 VI) bewahrt es iiltestes W alliser W ortgut zusammen mit d em oberen Deutschwallis un d d en Vispertiilern.

Zahlreichc Beispiele lautlicher, morphologischer und lexikalischer Art belegen zusiitzlich die Walliser

Bindungen der Lõtschentaler 1\Iundart gerade auch im Gegensatz - und als Gegengewicht - zu den weiter unten

zu besprechenden Beziehungen des Lõtschentals zum Berner Oberland. Ein paar davon seien hier als Hinweise

auf SDS-Karten zusammengestellt (Berner Oberland in allen Fãllen anders):

Lautliche: SDS II 58,64 'schwarz', '1\Iorgen': Dehnung vor r-Verbindung; ITT 246, 247 '(fünf-)und

( -achtzig)', '(fünf-) un d ( -zwanzig)': Bewahrung des vollen bzw. wenig reduzierten llfittelgliedes u(n)d, u(n). l\forphologische: SDS III 8 'gelaufen': gluffe; III 174 'Betten': Bett-i; III 211 'mein (Bruder)': miine; III 212

'meine (Schwester)' : mini; IV 13 'Augenbrauen': Aug-. Lexikalische: SDS IV 133 'Tante': Mii ema; 135 'Neffe': Nepot; 136 'Nichte': Ne(p)tissi; vgl. au eh die o ben

S.164 genannten Fãlle.

b) In der internen W al l i ser 8p annung zwischen o b er e m u n d u n t er em D eutsch ­wall is geht Liitschen in mehr Fiillen mit dem unteren Deutschwallis als mit dem oberen; das entspricht seiner geographischen 8ituation, bes. im Hinblick auf die in Frage stehenden

96 Vgl. RüBEL, Viehzucht: S.152-155. Das Lõtschental ist im SDS durch die Punkte WS 6 und 7 (Ferden und

Blatten) vertreten; nach dem, was RüBEL S.155 über die Mundartunterschiede zwischen den vier Lõtscher

Gemeinden sagt, dürfen unsere beiden Aufnahmeorte als reprãsentativ gelten.

187

Page 18: Hotz

Einwanderungswege.97 An Übere inst immungen m i t dem unteren D eutschwal l i s sei hier in Erinnerung gerufen: die geschlossene Vokalqualitat in den Einzelfiillen 'Krebs', 'Larche' (SDS I 30, 31) sowie in der Vertretung der Langvokale für mhd. re in Fallen wie striüile, 'Kase', 'saen' , Miiiintig, 'zahe(r)', ' schwer(er)' , 'fragen' (SDS I 73 ff.) und mhd. e in 'Schnee', 'kehren', 'Lehrer' (SDS I 95, 97, 98); die Vokaldehnung in 'fahren' (SDS II 22); die a-Formen von 'haben' 1. Sg. , Inf., Part. Perf. (SDS III 46); die Lautgleichheit Ind. Pras. l Konj . Prat. bei 'haben' (SDS III 48); la( n) als Imp. von 'lassen' (SDS III 68); die Endung -ung in 'Zeitung', 'Rechnung' (SDS III 163); im Bereich des Wortschatzes Fali e wie Chmtbel 'Beule' (SDS IV 3), Blüetschalle 'Klemmflecken am Finger' (SDS IV 47), speiwe 'spucken' (SDS IV 79), griine '(bei einem Begrabnis) weinen' (SDS IV 97, 98).

Übere inst immung mit dem ob ern D e u tschwal l i s zeigt sich dagegen z. B. in Einzelfallen der Diminutivbildung wie Httndschi gegen westliches Hundji (SDS III 149); in einzelnen Pronominalformen wie mier 'wir' (SDS III 203, wie WS 32-34, gegen sonstiges wier), ews (Huus) 'euer (Haus)' (SDS III 219, gegen westliches ewwers); in Wortschatzfallen wie roiw 'heiser' (SDS IV 65), zwiirggn 'kneifen' (SDS IV 92).

e) Beispiele für Al le ingang des L o tschenta l s innerhalb des Wallis waren etwa: die Lautung von 'Besen' (SDS I 33: Biism), von 'hobeln' (SDS I 42: hublun); die Vertretung von mhd. ü als ui (SDS I 106 'Maus', 152 'bauen' ; II 82-84 'Schaufel' , 'schiiumen', 'Pflaume', 99 gilruihn 'getrunken ' ; III lOO chuischt ' [du J kommst'; IV 18 Schmtizn 'Schnurrbart'); 98 di e Vertretung von mhd. ou als ai (SDS I 120 'Frauen' , 121 'Augen' , 124 'Baum', 126 'glauben'); der Schwund von kurzer Endsilbe und die damit sowie mit der Bewahrung von auslauten­dem -n zusammenhangenden assimilatorischen Sonderformen: III l, 2: Inf. der starken Verben und der schwachen jan-Verben: schniidn, heftn, grapm 'graben', bchlempm 'ldemmen', troim 'traumen', binn 'binden' ; III 314: Part. Perf. der starken Verben: gstoorbm,

gfunn; III 22: 1. Sg. Ind. Pras. chum, wohl aus chumn, 24: legn ' (ich) lege (mich)'; entsprechend auch etwa Saam < Saamn (II 192); 99 dann die Pronominalformen -nin 'ihn' (SDS III 206), min (Brieder) 'meine (Brüder)' (SDS III 214); das zweiformige Genuspara­digma zwei l zwoo l zwei (SDS III 236); ganzu '(die) ganze (Nacht)' (SDS III 254).

d) Das auffalligste Phiinomen der Lotschentaler Mundart ist wohl ihre hiiufige Übere inst immung mit d er Berner Ob erlan d er Mundar t - jeweils im Gegensatz zur W alliser Mundart. I eh gruppiere di e Beispiele wieder nach den herkommlichen Kategorien Lautlehre l Formenlehre l W ortschatz, w o bei gerade au eh Überschneidungen deutlich wer­den. Die Karten SDS I 25 'Mehi', II 49 'Grab' j 'Graber', II 172 'Rad' belegen für das

97 RünEL rechnet von seinem Material her mit rund 60 % Übereinstimmungen des Liitschentals mit dem

untern Deutschwallis, 20 % Übereinstimmungen mit d em obern und 20 % Eigenentwicklungen; i eh habe

keinen AnlaB, diese Schatzung in Zweifel zu ziehen.

98 Diese mutmaBliche Zwischenstufe auf dem Wege zur Palatalisierung zu üü haben auch die ebenfalls sehr

abgelegenen Orte Simplon (WS 25) und Saley (IT 7) bewahrt. Dazu paBt phonologisch gnt das Ausbleiben

der Palatalisierung von mhd. uo (Brueder, SDS I 142, 147). 99 Z ur Bewahmng des auslautenden -n s. u. d).

188

Lotschental im Gegensatz zum ganzen übrigen W allis, aber in Übereinstimmung mit d en angrenzenden Talern des Berner Oberlandes durchgehende Dehnung alter Kürze im einsilbigen Wort: Miiiil, Gmab, Raad. Die gleichen Beispiele bezeugen die mit der Vokaldehnung offensichtlich parallel gehende, wohl sogar phonologisch-kausal verbundene Bewahrung der auslautenden Lenis (im Gegensatz zu Miill, Grap, Rat usw. im übrigen Wallis).loo Die gleiche sprachgeographische Situation des Lotschentals erweist sich an dem Einzelfall 'fünf' (SDS II 125): Der Vokal der Lotschentaler Form fiif entspricht berneroberlandisch-schweizerdeutschem fiif, fiiüf, wahrend das sonstige Walliser füüf via Palatalisierung alteres *fuuf voraussetzt.l01 Im Gegensatz zum übrigen W allis, aber in Übereinstimmung mit dem angrenzenden Berner Oberland oder Teilen davon befindet sich das Lotschental auch bei folgenden konsonantischen Problemen: Bewahrung von -nd- in 'hundert' (SDS II 121; übriges Wallis: hunnert); 102 Bewahrung (o d er Wiedereinführung?) von -rm in 'Arm' , 'Darm' (SDS IV 27, II 143; übriges W allis m eis t Aaro, Daaro) u. a. 103 Ei ne ganze Reihe von Karten zeigt Bewahrung von auslautendem -n im Lotschental und im ostlichen Berner Oberland, gegenüber Schwund im übrigen Deutschwallis: in einsilbigen Wortern, also un�er Haupttonbedingung, in 'Span', 'Spane' (SDS I 92, 93), 'Lohn' (I 100), 'Maun': Maan (II 155), 'Sinu': Siin, Sin (II 156), 'Bein' (IV 31), 'schon' (IV 177), im Infinitiv un d in d er 1. Sg. d er Kurzverben 'haben', 'sein' , 'tun', 'gehen' , 'stehen' , '(an)fangen', 'lassen' , 'schlagen' (SDS III 40, 54, 56), 'geben' , 'nehmen' (und Part. Perf.; SDS III 94, 95); unter Schwachtonbedingung in zweisilbigen Formen des Normalverbs: Infinitiv und 1. Sg. sowie l . Pl. (SDS III 112, 22, 24, 31, 34); in substantivischen Formen: N o m. Sg. des Diminutivs -lin, -schin (SDS III 149-152); im N o m. Sg. u. P l. von Fali en wie 'Ofen' (III 168): Ofn l Efn; im Da t. Pl. von Wortern wie 'Ast', 'Baum', 'Bein', 'Hand' (III 172, 179, 190): Eschtn, Beimn, Bein < Bein-n, Hiindn.l04 In der Abneigung gegen analogischen Umlaut scheint das Lotschental weniger rigoros zu sein als das übrige Deutschwallis: SDS III 1021103 belegt für Lotschen in Übereinstimmung mit dem Berner Oberland, aber im Gegensatz zum übrigen Wallis umgelauteten Plural von 'kommen' : chemiin l chemiid l chemd ( < chemnd ).1°5 Übereinstimmung mit d em ostlichen un d Teilen des westlichen Berner Oberlandes im Gegensatz zum W allis zeigt Lotschen au eh beim

100 Zur Lenisbewahrung s. auch SDS II 174 Aug, IV 19 'Zahn'. Tn diesem Zusammenhang sei auch der

satzphonetische Fali '(wie) spat (ist es?)' SDS n 179 erwiihnt: Bewahrung d er Auslautfortis im Liitschental

wie im Berner Oberland, gegen satzphonetische Lenisierung zu d im ganzen übrigen Wallis.

101 Z ur Problematik dieser Formen s. u. 8.190 f. Di e gleiche Form wie Liitschen ha ben in diesem Fali au eh di e untersten Deutschwalliser Orte l, 2, 4.

102 finn, gfunn 'finden', 'gefunden' (SDS n 119) ist ein Sonderfall wegen des Liitschentaler Schwundes des

Endsilbenvokals und der dadurch bewirkten exponierten Stellung des d zwischen zwei n: -ndn- ) -nn-. 103 -rm haben auBer d em Liitschental bei 'Arm' auch WS l, 2, 4, 12; bei 'Darm' auch WS l, 2, 8, 12, 24, 25.

104 Im Rahmen der n-Bewahrung ist die Liitschentaler Sonderentwicklung -n) -i vor Reibelaut (inkl. h) und r zu beachten: SDS-Phonogramme, Heft 2, Texte aus Blatten (WS 7), Vorbem. S. 3.

105 Beachte auch den Umlaut von 'rauchen' (SDS TT 201) in Übereinstimmung mit dem westl. Berner Oberland und dem Deutschfreiburgischen.

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Problem der Verschmelzung von Praposition und bestimmtem Artikel 'an den Boden', 'in den Wai d' (SDS III 138): an Bodn, in W ald, 'an den Bein en', 'in d en Hausern' (III 139): an Bein, in H iischtin (W allis sonst: annu-, inmt- u. a.).

Einen besonders drastischen Fali von Übereinstimmung des Lotschentals mit dem (mittleren uud ostlichen) Berner Oberland enthiilt die Karte SDS III 192 'Ziege' j 'Ziegen' : Numerusopposition Sg.jPI. durch LenisjFortis-Gegensatz Geis j Geiss.106 Ein morpholo­gisch-syntaktischer Fali so! eh er Übereinstimmung wurde o ben 8. 168 f. berührt: Das Lot­schental hat wie das Berner Oberland (un d weite landliche Gebiete d er Schweiz) im No m. P!. des attributiven Adjektivs beim Mask. uud Fem. die erwartet endungslose - endungslos gewordene - Form, wahrend das übrige Deutschwallis di e modern-analogische Form auf -i durchgeführt hat. Aus d em Bereich des W ortschatzes ware au13er d em schon von REIMANN

und RüBEL aufgenommenen Tuitel 'Rückentraggefii13 für Milch' 107 der Fali Meitschi 'Madchen' (SDS IV 146) anzuführen: Wahrend das Lotschentaler Meitschi einen breiten gesamtbemischen Hintergrund hat, entspricht dem Lotschentaler Tuitel ein verhiiltnisma-13ig beschranktes Berner Oberlander Verbreitungsgebiet von Tuutel am Thuner See sowie im Einzugsgebiet der Kander und der beiden Lütschinen.

Gesamtbemischen Hintergrund hat auch das im Wallis nur lõtsehentalisch belegte stierig 'brünstig (von der

Kuh)', einen breiten mittelbernisch-nordbernischen Hintergrund das im Wallis ebenfalls nur im Lõtschental vertretene maln 'wiederkiiuen'. Nur in einem engeren Berner Bereich (westliches Oberland und Südhiilfte des

Mittellandes) und i m Lõtschental (sowie in WS 11) ist Schindbock 'kastrierter Ziegenbock' belegt, wiihrend die Lõtschentaler Zilgeiss 'junge weibliche Ziege, die noch nicht geworfen hat' auf bernischem Boden nur im

westlichen Oberland un d ei n em schmalen Südstreifen des Mittellandes üblich ist. - V g l. hiezu au eh di e v o n

RünEL (Viehzucht: S.153) angeführten Fiille Ohieli, birhinun, spriissen, in denen das Lõtschental mit Kandergrund zusammengeht.

An diesen Fallen la13t sich die eigentliche P r o b l ema t ik der sprachlichen Berührungen des Lotschentals mit dem Berner Oberland bewu13t machen: Wahrend bei Meitschi, stierig

und maln der quantitative Vergleich der Verbreitungsgebiete doch wohl eher eine Nord ) Süd-Wanderung nahelegt, also eine Einwanderung des Wortes aus dem Bernbiet ins Lotschental, drangt sich in den andern Fallen die Frage auf, ob hier nicht die gegenteilige Entwicldung denkbar ware: Übernahme aus dem Lotschental ins Berner Oberland und angrenzende Gebiete des Berner Mittellandes.108 Der verkehrs- uud siedlungsgeschichtliche Hintergrund ware durchaus gegeben: Mau wei13, da13 bis zum Bau der Lotschbergbahn der direkte Verkehr zwischen Lotschental uud Berner Oberland mindestens so bedeutend war wie derjenige durch di e Lonzaschlucht mit dem Rhonetal 109 - un d man wei13 au13erdem, da13

1 06 Allerdings (zufiillig?) n ur für den einen unsrer Lõtschentaler Aufnahmepunkte belegt - uud über das iistl.

Berner Oberland (Haslital) in die Innerschweiz (UW) reichend. Zur Deutung s. SDS IIT 192 Leg. U. 107 REIMANN, Rückentraggeriite: bes. S. 55/56 uud Karte l; RünEL, Viehzucht: S.l53f., h i er weitere

einschliigige Fiille aus der Viehzuchtterminologie.

108 Di ese Miiglichkeit erwiigt au eh RünEJ,, Viehzucht: S. 154. 109 RünEL, Viehzucht: S. 154.

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es im Spatmittelalter eine Art Rückkolonisation aus dem Lotschental ins Bemer Oberland gab: ins Lauterbrunnental, in die Gegend von Brienz, in die Herrschaften Burgistein und Blumenstein bei Thun.U0

9.5 Di e Sonderstellung des obersten W allis

Wir werfen zum Schlu13 einen zusammenfassenden B li ek auf Sonderstellung un d Sonderpro­bleme des obersten Deutschwallis, d. h. d er Talstrecke oberhalb des Deischbergs, von Lax aufwarts bis Oberwald: das eigentliche Goms.

Das ohrenfalligste lautliche, wohl auch das in seinen morphologischen Auswirkungen folgenreichste Ereignis in der Sprachgeschichte des Goms ist die bereits im Rahmen der Zweiteilung besprochene Abschwachung der Ends i lbenvokale : m Sie bringt das Goms um das sprachgeographisch und sprachgeschichtlich hervorstechendste Kennzeichen des W alliserdeutschen: Das V orhandensein o d er F eh! en voller V okal e in d en Endsilben unterscheidet im Ablauf der deutschen Sprachgeschichte ja das Althochdeutsche vom Mittel- und Neulwchdeutschen, und es bedeutet akustisch und damit lautgeographisch einen ganz wesentlichen Einschnitt in der Sprachlandschaft. Die Karten von Band III des SDS zeigen, da13 davon auch die Morphologie sowohl des Verbums wie des Nomens einschneidend betroffen ist.

Die einschlãgigen Karten des SDS zeigen nebenbei, daB der Abbau vou Westen nach Osten fortschreitet. Di e

westlichsten Grenzen verlaufen zwischen den Punkten WS 27/28 (Betten/Lax), andere zwischen 28/29 (Lax/Emen), zwischen 29/31 (ErnenfNiederwald), die õstlichsten zwischen 32/33 (Reckingen/Geschinen): Je

nãher den PaBstraBen Grimsel uud Furka, desto stãrker die Abbriickelung in lautlicher und morphologischer Hinsicht.

Als Phiinomen lautlicher Abbrockelung ist auch die R e dukt ion der D ip h th o nge zu betrachten, wie sie die Karten SDS I 14G-146 ('Stier', 'Bruder', büeze usw.) belegen. Das voll ausgebildete zweite Diphthongelement in ie, ue, üe macht ostlich vou Lax, spatestens ostlich von Niederwald immer melu dem normalschweizerdeutschen Reduktionsvokal a

[ ia, ua, ÜJ j Platz - mit zunehmender Gewichts- un d Quantitatsverlagerung innerhalb des Diphthongs auf sein erstes Element. Akzentuelle Konzentration auf das Kernelement der Gruppe bedeuten auch die schon erwahnte Reduktion des V erb alpraf ixes ' g e - ' im Part. Perf. ,112 deren Grenze gegenüber der W alliser V ollform allerdings etwas weiter rhone­abwarts liegt (unterhalb More!) - und die ganz entsprechende Redukt ion d er Artikel ­form di vor Verschlu13laut (di Bunli, di Poscht ) Punli, Poscht; SDS III 132, 133) mit Grenze oberhalb Lax. In den gleichen Zusammenhang gehort die Verdrangung von

110 Vgl. ZINSJ,J, Walser: S. 24/25 und die ausführliche Bibliographie S. 422 (An m. 24ff.); dazu auch STE'l"I'LER, Oberer Aareraum: S. 47.

111 S. o. S. 179, K arte 61 L. 5; h i er au eh ein paar Beispiele zum Folgenden. 112 S. o. S. 178, Karte 61 L. 3.

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enlditischem -mu 'ihm' durch me [m�, m'Jj und enlditischem -nu 'ihn' durch na, ne [n-a] sowie von pro- un d enklitischem mu 'm an' durch m i-, ma- bzw. -me.113 Au eh mit d em Anlaut m- in mier 'wir' ist normalschweizerdeutsche Lautung im obersten Deutschwallis (WS 32-34) wie im Lotschental eingedrungen (SDS III 203).

Kleine Oberwalliser Lautlandschaften zeichnen sich auch bei folgenden Sonderentwick­lungen ab: Vorkonsonantisches l wird vokalisiert in einem Maximalbereich WS 27-31, in einem Minimal- oder Kernbereich WS 29-31.114 - In WS 32-34 wird ei vor t monophthon­giert in get (geit 'geht' (3. Sg.; SDS III 57; s. z. B. au eh III 82: let ( leit 'legt'). - Von WS 26 bis 33 ( ohne 32) reicht eine Lautform süsch( t) 'sonst', di e si eh (wie di e übrige westliche d t. Schweiz) vom normalwalliserdt. susch(t), sttschter abhebt; s. SDS IV 181. - Oberste Kleinraume reprasentieren úneergge 'den Nagelfrost haben' (SDS IV 59: WS 31-34) und das schon in anderm Zusammenhang berührte zwiirgge 'kneifen' (SDS IV 92: WS 6, 7, 27, 30-34).

Die obersten Orte WS 32-34 haben sich dem benachbarten Berndeutschen auch in der G estaltung des Verbalplurals angeschlossen, indem sie anstelle des dreiformigen Pluralparadigmas (z. T. neben dem dreiformigen) ein zweiformiges verwenden: beim N ormalverbum mach-e f -et j -e bzw. -ent f -et j -ent; 115 bei den Kurzverben hend / he( i )d / hend bzw. hee( n) / heet / hee( n) , giüint / giiiit / giiiint bzw. giiiin / giiiid / giiiin us w .116

W en n wir nach d en auBersprachlichen Aspekten dieser obersten W alliser Sprachland­schaft fragen, drangt sich natürlich die Grimsel als Einfallstor auf: Es ist einer der alten Einwanderungswege d er W alliser Siedler - Haslital-Grimsel-Goms, auf d em au eh heute noch jüngere berndeutsche, z. T. (via Brünig) innerschweizerdeutsche und gemeinschwei­zerdeutsche Laute, Formen und Worter nachstoBen. Tatsachlich haben die meisten der o ben besprochenen, i m Gegensatz zum übrigen W allis stehenden sprachlichen Erscheinun­gen ihre Entsprechung - und ihre Wurzel - jenseits der Grimsel.

113 S. SDS ITT 205 '-ihm', 206 '-ihn', 229 'man-', 230 '-man'. Die Grenze zwischen Volllorm uud Reduktions­

form liegt in al! en diesen Fiillen zwischen Betten uud Lax (WS 27 128).

114 Vgl. SDS I 165 'Milch'; II 66 'Salz', 109 'melken', 110 Ghilche (Kirche), 147 folge (gehorchen); III 243 'elf' ;

IV 21 Bilderne (Zahnfleisch); ebenso in Gemination: n 197 'Kelle', 199 'Wolle'; im Auslaut: n 188

'Himmel'.

115 Vgl. SDS III 34ff.; hier auch die genaueren Angaben. 116 Vgl. SDS III 44f. (P!. der Kurzverben allg.), 47 'haben', 50 'sein', 52 'tun', 58 'gehen', 59 'stehen', 66

'lassen', 72 'schlagen', 76177 '(an-) fangen'.

192

T l

l l l

1 0 Die S prachlandschaft Bern

10.1 Berndeutsch als Einheit?

10.1.1 Sprachgeographisch

(Karten 66, 67)

<<Berndeutsch>> ist eine der hartnackigsten Verbindungen von Mundart- und Kantonsvor­stellung. Das hangt einerseits wohl mit der Profiliertheit und Massierung der mit diesem Begriff popularerweise verknüpften sprachlichen Eigentümlichkeiten (besonders aus ostschweizerischér Sicht) zusammen, anderseits aber auch mit dem betrachtlichen Gel­tungsbereich der damit irgendwie gemeinten Mundartgruppe, der für schweizerische Verhaltnisse ungewohnten GroBraumigkeit dieser Sprachlandschaft und des mit ihr als identisch gesetzten politischen Gebildes.

Indes hat schon Paul ZINSLI auf die auch in diesem Fali eintretende Schwierigkeit aufmerksam gemacht, die ebenso volkstümliche wie unbestimmte Vorstellung <<Bern­deutsch>> an schlüssigen sprachgeographischen Kriterien zu veranschaulichen: Entweder geht die betreffende Erscheinung mehr oder weniger weit über den mitgesetzten geschicht­lich-politischen Rahmen hinaus, oder sie gilt innerhalb dieses Rahmens n ur für bestimmte Teilgebiete.t

Die seither erschienenen bzw. im l'IIanuskript vorliegenden Karten des SDS belegen die Richtigkeit von

ZrNsr.rs Skepsis in bezug auf die erwiihnten Kri teri en: geisch(t) l geit 'gchst' f 'geht', steisch(t) 1 steit 'stehst' l 'steht' kennzeichnen nach SDS III 57 und Karte 57 in diesem Band einen di e Kantone BE, FR und WS

(mit den õstlichen uud siidlichen Walserkolonien) ganz, angrenzende Gebiete von SO uud LU zum Teil

umfasscnden Bereich; dür, dier fiir 'ihr' (2. P!.) ist nach SDS III 204 aul3er im Kanton Bern (aber olme Oberland) in ganz BA und SO sowie im westlichen AG und LU zuhause; giing, geng, ging 'immer' gilt nach SDS VI aul3er in BE und angrenzenden Gebieten von SO (15, 16, 23, 24, 26-31), AG (44) uud LU (30-33; ne ben eisder) au eh in FR

uud WS.

Unsere beiden Karten 66, 67 sind ein weiterer Versuch, das vielberufene <<Berndeutsch>> als sprachgeographische Realitat greifbar zu machen und insofern zu retten; sie belegen zugleich au eh wieder di e Problematik solcher Begriffe - un d das an Fallen, di e als Belege für dieses <<Berndeutsch>> verhaltnismaBig geeignet scheinen.

Es ist immerhin ein betrachtliches und im ganzen recht geschlossenes, vor allem bernisches Gebiet, in dem die auf den beiden Karten dargestellten fünf Kriterien, mit

1 ZINSLJ, Berndt. Mda.: S. 93-95.

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