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BZ | Donnerstag, 6. September 2018 Magazin | 25 Schmerzen . . .» und ist kürzlich im Lokwort-Verlag erschienen. Auf Schmerzmittel verzichtet sie, falls möglich: «Ich nehme sie nur nach grösseren Operationen. Sie sind für mich eine Art Krücke, denn die Ursachen beheben sie ja nicht.» Michelle Zimmermann fürchtet auch die langfristigen Nebenwirkungen. Zudem kann sie viele Präparate gar nicht schlucken oder reagiert mit Juck- reiz darauf. Neben bekannten natürlichen Schmerzstrategien wie etwa bewusstes Atmen und Massagen beschreibt die Autorin in ihrem Buch auch einige eher ungewöhnliche Massnahmen. So schildert sie, wie sie sich ihr Knie nach einer Operation als Gross- baustelle vorgestellt habe. «Ich malte mir aus, in meinem Knie wohne ein kleiner Zwerg, der sein Haus renovieren und neu auf- bauen müsse.» Wenn es beson- ders stark pochte, dachte sie, dass ihr Zwerg nun mit seinen Freun- den ein Aufrichtefest feiere. «Das mag alles sehr kindlich klingen, aber mir helfen solche Bilder un- gemein», erklärt sie. Die 38-Jährige ist eine Kämp- fernatur, was sich schon früh zeigte. Als sie zur Welt kam, schätzten die Ärzte ihre Lebens- erwartung auf wenige Tage, bes- tenfalls Wochen. Heute ist sie in der Schweiz die älteste Person, die mit der schwersten Form der Epidermolysis bullosa dystrophi- ca lebt, wie ihre Krankheit in der Fachsprache heisst. Dass es ihr relativ gut geht, liegt vor allem an ihrer Disziplin. Bei der auf- wendigen Pflege helfen ihr die Mutter sowie Spitex-Angestellte. Dank ihrem Durchhaltever- mögen und ihrer Beharrlichkeit schaffte es Michelle Zimmer- mann auch, eine KV-Lehre ab- zuschliessen. Später arbeitete sie am Empfang der Kleintierklinik des Tierspitals Bern und ver- wirklichte sich damit einen Kind- heitstraum. Als ihre Krankheits- symptome stark zunahmen, musste sie die Stelle jedoch nach fünf Jahren künden und eine vol- le IV-Rente annehmen. Grosse Träume, kleine Wunder Ihre Fröhlichkeit, das merkt man im Gespräch, ist eine bewusste Entscheidung. Michelle Zimmer- mann konzentriert sich auf das Positive, anstatt darüber nach- zugrübeln, worauf sie alles ver- zichten muss. «Wir sind alle ir- gendwie behindert», betont sie. «Das mag hart tönen. Aber jeder merkt doch in gewissen Lebens- bereichen, dass ihm oder ihr be- stimmte Dinge schwererfallen als anderen. Bei mir sieht man einfach auf den ersten Blick, was mein Problem ist.» Das Unab- änderliche zu akzeptieren, helfe ihr, die Schmerzen auszuhalten. D ie wichtigste Lektion in Berndeutsch habe ich nicht an der Volks- hochschule gelernt, sondern im richtigen Leben. Also in der Berner Altstadt. Ich wollte je- manden nach dem Weg fragen. Weil man in der Ostschweiz gern schnell zum Punkt kommt und auch sein Gegenüber nicht mit unnötig langen Einleitun- gen aufhalten möchte, sagte ich: «Entschuldigung, können Sie mir sagen, wie ich zum Rathaus komme?» Die Antwort war ein Stirn- runzeln, ein demonstrativer Schritt rückwärts, ein Mustern von oben bis unten und dann ein betont langsames «Grües- sech.» Danach starrte mich die Person herausfordernd an. Die Botschaft war klar: «Nume nid gsprängt», alles schön der Reihe nach. Seither weiss ich: Egal, wo- rum es geht, ein «Grüessech» kommt immer zuerst, ansons- ten gilt man als unzivilisierter Barbare. Und diesen Ruf haben wir Ostschweizer hier in Bern ohnehin schon. Mirjam Comtesse Berndeutsch-Kolumne: Unsere Autorin Mirjam Comtesse erzählt jede Woche von den Schwierig- keiten, als Ostschweizerin Bern- deutsch zu lernen. Berndeutsch für Fortgeschrittene Grüessech KLASSIK Lucerne Festival sucht Chefdirigent Matthias Pintscher ist nicht mehr länger als Chefdirigent der Lucerne Festival Academy tätig. Er sei aus persönlichen Gründen ausserstande, seinen weiteren Verpflichtungen im Rahmen der Lucerne Festival Academy nachzukommen, teilte Lucerne Festival am Mittwoch mit. sda HOLLYWOOD Kevin Spacey muss nicht vor Gericht Der 59-jährige US-Schauspieler Kevin Spacey wird in Kalifor- nien wegen Vorwürfen sexueller Übergriffe nicht vor Gericht ge- stellt. Der Fall sei verjährt, teilte die Staatsanwaltschaft in Los Angeles am Dienstag (Ortszeit) mit. Die Ermittler hatten Vor- würfe eines Mannes geprüft, der angegeben hatte, 1992 von Spacey belästigt worden zu sein. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft handelte es sich dabei nicht um einen Minderjährigen. sda COUNTRY Ehre für Dolly Parton Die Country-Ikone Dolly Parton wird von den Grammy-Verlei- hern für ihre künstlerischen und karitativen Verdienste geehrt. Die vielfach preisgekrönte Sän- gerin solle die Auszeichnung als «Person des Jahres» vor der Grammy-Gala im Februar 2019 erhalten, teilte die Stiftung Musicares am Dienstag mit. sda In Kürze Ärgert sie sich, wenn andere Menschen über Bagatellen jam- mern? «Ärgern ist das falsche Wort. Aber ich wundere mich manchmal schon», erzählt sie. So habe ihr eine Freundin geklagt, dass ein Fingernagel abgebro- chen sei. «Es fällt mir schwer, zu verstehen, wie das so schlimm sein kann.» Aber sie fasse solche Vorkommnisse auch als Kom- pliment auf: Sie wird von ihren Freunden als gesund genug wahrgenommen, dass sie sich ge- trauen, von eigenen Wehweh- chen zu erzählen. Ein weiterer Trick dazu, ihren Schmerz zu lindern, ist Ablen- kung. Michelle Zimmermann rei- tet leidenschaftlich gern. Von der Angst, sich zu verletzen, lässt sie sich nicht abhalten. Auf dem Rü- cken ihres Pferdes könne sie Mo- mente von Schmerzfreiheit ge- niessen. Ihr nächstes grosse Pro- jekt heisst «Silken Reins», also «Reiten am seidenen Zügel». Michelle Zimmermann will mit einem Dressurpferd mit feinster Hilfegebung tänzerische Lektio- nen reiten. Ihre Träume seien stets gross, sagt sie. «Wenn wir uns zu sehr einschüchtern lassen, können auch keine Wunder passieren.» Mirjam Comtesse Michelle Zimmermann: «Über den Schmerzen . . . Hautnah aus dem Le- ben», Lokwort-Verlag, 155 Seiten. wahl, sondern darum, Brücken zu bauen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. Nach sieben erfolgreichen Jahren gab sie diese Aufgabe allerdings 2016 auf – «weil sie ehrenamtlich nicht mehr zu stemmen war». Sie denkt sich Geschichten aus Ihre Krankheit erfordert nicht nur immer wieder Operationen und viel Pflege, sondern ist auch mit Leiden verbunden. «Ich habe immer Schmerzen», sagt Mi- chelle Zimmermann. Weil sie oft gefragt werde, wie sie damit um- gehe, hat sie nun ein Buch ge- schrieben. Es heisst «Über den «Ich habe immer Schmerzen» Die Wohnung von Michelle Zim- mermann in Seedorf ist hell und freundlich. Details wie ein ro- mantisches Holzbänkli im Gar- derobebereich vermitteln Charme. Die 38-Jährige hat ihr Daheim, in dem sie viel Zeit ver- bringen muss, besonders gemüt- lich eingerichtet. Bis zu sieben Stunden täglich wendet sie für die Pflege ihrer Haut auf. Sie braucht dafür also so fast viel Zeit, wie an- dere jeweils im Büro verbringen. Dies jeden Tag durchzuhalten, ist ein Kraftakt. «Ich benötige Dis- ziplin wie ein Profisportler», sagt Michelle Zimmermann. Zart wie ein Schmetterling Sie ist ein sogenanntes Schmet- terlingskind. Ihrer Haut fehlt wegen eines Gendefekts das Kol- lagen. Deshalb ist diese verletz- lich wie der Flügel eines Schmet- terlings. Sie kann sich bei den geringsten Berührungen oder Belastungen ablösen, manchmal passiert dies sogar aus dem Nichts heraus. Die Folgen sind Verletzungen, die Verbrennun- gen zweiten oder dritten Grades ähneln. Weil die Wunden so tief gehen, bilden sich beim Abheilen Narben. An Händen und Füssen enden sie als Verwachsungen der Finger und Zehen. Michelle Zim- mermanns fest in einen weissen Verband eingebundene Hände erinnern an einen Kokon. Auch ihre Schleimhäute sind betroffen, weshalb sie an man- chen Tagen kaum essen kann. Härtere Speisen wie etwa Brot mit Rinde kann sie prinzipiell nicht schlucken. «Über den Schmerzen» Wenn Michelle Zimmermann ih- re Besucher empfängt, fällt aller- dings vor allem ihre Fröhlichkeit auf. Sie plaudert sofort munter drauflos und nimmt einem jede etwaige Befangenheit. Die Hände streckt sie zur Begrüssung ent- gegen. Ein Augenblick der Un- sicherheit: Wie stark darf, soll man drücken? «Es braucht auf beiden Seiten Mut, sich die Hand zu geben», sagt die 38-Jährige später dazu. Doch in solchen Mo- ment passiere etwas Entschei- dendes: Man taste sich vorsichtig aneinander heran. Solche Annäherungen zwi- schen Menschen mit und ohne Behinderung liegen Michelle Zimmermann am Herzen. Sie betreibt die Agentur Active In- tegration, die sich mit verschie- denen Projekten für mehr Gleich- stellung einsetzt. Lange organi- sierte sie zudem die Miss- und Mister-Handicap-Wahl. Dabei ging es nicht um eine Schönheits- GESUNDHEIT Michelle Zimmermann aus Seedorf ist ein sogenanntes Schmetter- lingskind. Ihre Haut ist extrem verletzlich. Tag und Nacht leidet sie deshalb an Schmer- zen. Die 38-Jährige hat ein Buch darüber geschrieben, wie sie damit umgeht. FORSCHUNG In der Schweiz leben rund 350 Menschen, welche an der Erbkrankheit Epidermolysis bullosa leiden. Aber nur bei zwölf handelt es sich wie bei Michelle Zimmermann um besonders schwere Fälle. Vor nicht ganz einem Jahr gab es eine Sensationsnach- richt: Die medizinische Fach- zeitschrift «Nature» berichtete, wie einem 7-jährigen syrischen Flüchtlingskind mit der glei- chen Krankheit geholfen wur- de. Die Ärzte entnahmen von einer der gesunden Hautstellen Zellen und vermehrten sie im Labor. Dabei gelang es ihnen, das defekte Gen durch ein gesundes zu ersetzen. Nachdem die Ärzte diese neu gebildete Epidermis, die obers- te Hautschicht, transplantiert hatten, ging es dem Buben deutlich besser. Michelle Zimmermann sagt, sie begrüsse es, dass die For- schung vorangetrieben werde, glaube aber nicht, dass sie noch davon profitieren könne. Hinzu komme, dass der Junge im Gegensatz zu ihr an einer mittel- schweren Form der Krankheit gelitten habe. mjc Michelle Zimmer- mann arbeitet auf ihrem Balkon in Seedorf am Lap- top. Sie betreibt die Agentur Active Integration. Foto: Beat Mathys

«Ich habe immer Schmerzen» - Active Integration

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Donnerstag, 6. September 2018 Magazin|25

Schmerzen . . .» und ist kürzlichim Lokwort-Verlag erschienen.

Auf Schmerzmittel verzichtetsie, falls möglich: «Ich nehme sienur nach grösseren Operationen.Sie sind für mich eine Art Krücke,denn die Ursachen beheben sieja nicht.» Michelle Zimmermannfürchtet auch die langfristigenNebenwirkungen. Zudem kannsie viele Präparate gar nichtschlucken oder reagiert mit Juck-reiz darauf. Neben bekanntennatürlichen Schmerzstrategienwie etwa bewusstes Atmen undMassagen beschreibt die Autorinin ihrem Buch auch einige eherungewöhnliche Massnahmen. Soschildert sie, wie sie sich ihr Knienach einer Operation als Gross-baustelle vorgestellt habe. «Ichmalte mir aus, in meinem Kniewohne ein kleiner Zwerg, der seinHaus renovieren und neu auf-bauen müsse.» Wenn es beson-ders stark pochte, dachte sie, dassihr Zwerg nun mit seinen Freun-den ein Aufrichtefest feiere. «Dasmag alles sehr kindlich klingen,aber mir helfen solche Bilder un-gemein», erklärt sie.

Die 38-Jährige ist eine Kämp-fernatur, was sich schon frühzeigte. Als sie zur Welt kam,schätzten die Ärzte ihre Lebens-erwartung auf wenige Tage, bes-tenfalls Wochen. Heute ist sie inder Schweiz die älteste Person,die mit der schwersten Form der

Epidermolysis bullosa dystrophi-ca lebt, wie ihre Krankheit in derFachsprache heisst. Dass es ihrrelativ gut geht, liegt vor alleman ihrer Disziplin. Bei der auf-wendigen Pflege helfen ihr dieMutter sowie Spitex-Angestellte.

Dank ihrem Durchhaltever-mögen und ihrer Beharrlichkeitschaffte es Michelle Zimmer-mann auch, eine KV-Lehre ab-zuschliessen. Später arbeitete sieam Empfang der Kleintierklinikdes Tierspitals Bern und ver-wirklichte sich damit einen Kind-heitstraum. Als ihre Krankheits-symptome stark zunahmen,musste sie die Stelle jedoch nachfünf Jahren künden und eine vol-le IV-Rente annehmen.

Grosse Träume, kleine WunderIhre Fröhlichkeit, das merkt manim Gespräch, ist eine bewussteEntscheidung. Michelle Zimmer-mann konzentriert sich auf dasPositive, anstatt darüber nach-zugrübeln, worauf sie alles ver-zichten muss. «Wir sind alle ir-gendwie behindert», betont sie.«Das mag hart tönen. Aber jedermerkt doch in gewissen Lebens-bereichen, dass ihm oder ihr be-stimmte Dinge schwererfallenals anderen. Bei mir sieht maneinfach auf den ersten Blick, wasmein Problem ist.» Das Unab-änderliche zu akzeptieren, helfeihr, die Schmerzen auszuhalten.

D ie wichtigste Lektion in Berndeutsch habeich nicht an der Volks-

hochschule gelernt, sondern im richtigen Leben. Also in der Berner Altstadt. Ich wollte je-manden nach dem Weg fragen. Weil man in der Ostschweiz gern schnell zum Punkt kommt und auch sein Gegenüber nicht mit unnötig langen Einleitun-gen aufhalten möchte, sagte ich: «Entschuldigung, können Sie mir sagen, wie ich zum Rathaus komme?»

Die Antwort war ein Stirn­runzeln, ein demonstrativer Schritt rückwärts, ein Mustern von oben bis unten und dann ein betont langsames «Grües-sech.» Danach starrte mich die Person herausfordernd an. Die Botschaft war klar: «Nume nid gsprängt», alles schön der Reihe nach.

Seither weiss ich: Egal, wo­rum es geht, ein «Grüessech» kommt immer zuerst, ansons-ten gilt man als unzivilisierter Barbare. Und diesen Ruf haben wir Ostschweizer hier in Bern ohnehin schon.

Mirjam Comtesse

Berndeutsch-Kolumne: Unsere Autorin Mirjam Comtesse erzählt jede Woche von den Schwierig­keiten, als Ostschweizerin Bern­deutsch zu lernen.

Berndeutsch fürFortgeschrittene

Grüessech

KLASSIK

Lucerne Festival sucht ChefdirigentMatthias Pintscher ist nicht mehr länger als Chefdirigent der Lucerne Festival Academy tätig. Er sei aus persönlichen Gründen ausserstande, seinen weiteren Verpflichtungen im Rahmen der Lucerne Festival Academy nachzukommen, teilte Lucerne Festival am Mittwoch mit. sda

HOLLYWOOD

Kevin Spacey muss nicht vor GerichtDer 59-jährige US-Schauspieler Kevin Spacey wird in Kalifor-nien wegen Vorwürfen sexueller Übergriffe nicht vor Gericht ge-stellt. Der Fall sei verjährt, teilte die Staatsanwaltschaft in Los Angeles am Dienstag (Ortszeit) mit. Die Ermittler hatten Vor-würfe eines Mannes geprüft, der angegeben hatte, 1992 von Spacey belästigt worden zu sein. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft handelte es sich dabei nicht um einen Minderjährigen. sda

COUNTRY

Ehre für Dolly PartonDie Country-Ikone Dolly Parton wird von den Grammy-Verlei-hern für ihre künstlerischen und karitativen Verdienste geehrt. Die vielfach preisgekrönte Sän-gerin solle die Auszeichnung als «Person des Jahres» vor der Grammy-Gala im Februar 2019 erhalten, teilte die Stiftung Musicares am Dienstag mit. sda

InKürze

Ärgert sie sich, wenn andereMenschen über Bagatellen jam-mern? «Ärgern ist das falscheWort. Aber ich wundere michmanchmal schon», erzählt sie. Sohabe ihr eine Freundin geklagt,dass ein Fingernagel abgebro-chen sei. «Es fällt mir schwer, zuverstehen, wie das so schlimmsein kann.» Aber sie fasse solcheVorkommnisse auch als Kom-pliment auf: Sie wird von ihrenFreunden als gesund genugwahrgenommen, dass sie sich ge-trauen, von eigenen Wehweh-chen zu erzählen.

Ein weiterer Trick dazu, ihrenSchmerz zu lindern, ist Ablen-kung. Michelle Zimmermann rei-tet leidenschaftlich gern. Von derAngst, sich zu verletzen, lässt siesich nicht abhalten. Auf dem Rü-cken ihres Pferdes könne sie Mo-mente von Schmerzfreiheit ge-niessen. Ihr nächstes grosse Pro-jekt heisst «Silken Reins», also«Reiten am seidenen Zügel».Michelle Zimmermann will miteinem Dressurpferd mit feinsterHilfegebung tänzerische Lektio-nen reiten. Ihre Träume seienstets gross, sagt sie. «Wenn wiruns zu sehr einschüchtern lassen,können auch keine Wunderpassieren.» Mirjam Comtesse

Michelle Zimmermann: «Über den Schmerzen . . . Hautnah aus dem Le­ben», Lokwort­Verlag, 155 Seiten.

wahl, sondern darum, Brückenzu bauen zwischen Menschenmit und ohne Behinderung. Nachsieben erfolgreichen Jahren gabsie diese Aufgabe allerdings 2016auf – «weil sie ehrenamtlichnicht mehr zu stemmen war».

Sie denkt sich Geschichten ausIhre Krankheit erfordert nichtnur immer wieder Operationenund viel Pflege, sondern ist auchmit Leiden verbunden. «Ich habeimmer Schmerzen», sagt Mi-chelle Zimmermann. Weil sie oftgefragt werde, wie sie damit um-gehe, hat sie nun ein Buch ge-schrieben. Es heisst «Über den

«Ich habe immer Schmerzen»

Die Wohnung von Michelle Zim-mermann in Seedorf ist hell undfreundlich. Details wie ein ro-mantisches Holzbänkli im Gar-derobebereich vermittelnCharme. Die 38-Jährige hat ihrDaheim, in dem sie viel Zeit ver-bringen muss, besonders gemüt-lich eingerichtet. Bis zu siebenStunden täglich wendet sie für diePflege ihrer Haut auf. Sie brauchtdafür also so fast viel Zeit, wie an-dere jeweils im Büro verbringen.Dies jeden Tag durchzuhalten, istein Kraftakt. «Ich benötige Dis-ziplin wie ein Profisportler», sagtMichelle Zimmermann.

Zart wie ein SchmetterlingSie ist ein sogenanntes Schmet-terlingskind. Ihrer Haut fehltwegen eines Gendefekts das Kol-lagen. Deshalb ist diese verletz-lich wie der Flügel eines Schmet-terlings. Sie kann sich bei dengeringsten Berührungen oderBelastungen ablösen, manchmalpassiert dies sogar aus demNichts heraus. Die Folgen sindVerletzungen, die Verbrennun-gen zweiten oder dritten Gradesähneln. Weil die Wunden so tiefgehen, bilden sich beim AbheilenNarben. An Händen und Füssenenden sie als Verwachsungen derFinger und Zehen. Michelle Zim-mermanns fest in einen weissenVerband eingebundene Händeerinnern an einen Kokon.

Auch ihre Schleimhäute sindbetroffen, weshalb sie an man-chen Tagen kaum essen kann.Härtere Speisen wie etwa Brotmit Rinde kann sie prinzipiellnicht schlucken.

«Über den Schmerzen»Wenn Michelle Zimmermann ih-re Besucher empfängt, fällt aller-dings vor allem ihre Fröhlichkeitauf. Sie plaudert sofort munterdrauflos und nimmt einem jedeetwaige Befangenheit. Die Händestreckt sie zur Begrüssung ent-gegen. Ein Augenblick der Un-sicherheit: Wie stark darf, sollman drücken? «Es braucht aufbeiden Seiten Mut, sich die Handzu geben», sagt die 38-Jährigespäter dazu. Doch in solchen Mo-ment passiere etwas Entschei-dendes: Man taste sich vorsichtiganeinander heran.

Solche Annäherungen zwi-schen Menschen mit und ohneBehinderung liegen MichelleZimmermann am Herzen. Siebetreibt die Agentur Active In-tegration, die sich mit verschie-denen Projekten für mehr Gleich-stellung einsetzt. Lange organi-sierte sie zudem die Miss- undMister-Handicap-Wahl. Dabeiging es nicht um eine Schönheits-

GESUNDHEIT Michelle Zimmermann aus Seedorf ist ein sogenanntes Schmetter-lingskind. Ihre Haut ist extrem verletzlich. Tag und Nacht leidet sie deshalb an Schmer-zen. Die 38-Jährige hat ein Buch darüber geschrieben, wie sie damit umgeht.

FORSCHUNG

In der Schweiz leben rund 350 Menschen, welche an der Erbkrankheit Epidermolysis bullosa leiden. Aber nur bei zwölf handelt es sich wie bei Michelle Zimmermann um besonders schwere Fälle.

Vor nicht ganz einem Jahr gab es eine Sensationsnach-richt: Die medizinische Fach-zeitschrift «Nature» berichtete, wie einem 7-jährigen syrischen Flüchtlingskind mit der glei-chen Krankheit geholfen wur-de. Die Ärzte entnahmen von einer der gesunden Hautstellen Zellen und vermehrten sie

im Labor. Dabei gelang es ihnen, das defekte Gen durch ein gesundes zu ersetzen. Nachdem die Ärzte diese neu gebildete Epidermis, die obers-te Hautschicht, transplantiert hatten, ging es dem Buben deutlich besser.

Michelle Zimmermann sagt, sie begrüsse es, dass die For-schung vorangetrieben werde, glaube aber nicht, dass sie noch davon profitieren könne. Hinzu komme, dass der Junge im Gegensatz zu ihr an einer mittel-schweren Form der Krankheit gelitten habe. mjc

Michelle Zimmer­mann arbeitet auf ihrem Balkon in Seedorf am Lap-top. Sie betreibt die Agentur Active Integration. Foto: Beat Mathys