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1 IDENTITÄTSKONSTRUKTION Heiner Keupp Vortrag bei der 5. bundesweiten Fachtagung zur Erlebnispädagogik am 22.09.2003 in Magde- burg Bei der Durchsicht erlebnispädagogischer Angebote kann man legi- timerweise danach fragen, wie sehr sie romantischer Lagerfeuer- idylle nachhängen oder sich der modischen Eventkultur zurechnen lassen. Man kann auch – wie die VeranstalterInnen in ihrem Grußwort im Programmheft – der Frage nachgehen, „ob und wie die Erlebnis- pädagogik dazu beitragen kann, zivilgesellschaftliche Strukturen zu befördern, soziale Räume zu gestalten, Partizipationsprozesse an- zustoßen, Bildungsoptionen und Autonomiepotentiale auch für be- nachteiligte soziale Gruppen zu eröffnen“ (S. 4). Da all diese Stich- worte in einer engen Verbindung zur Identitätsarbeit stehen, kann ich sie aufnehmen und in der Frage bündeln: Wie gelingt es Men- schen heute ihre Identitätsarbeit zu bewältigen und welchen förder- lichen Beitrag könnten dazu erlebnispädagogische Angebote leis- ten? Ich werde dabei im wesentlichen das Authentizitätsversprechen erlebnispädagogischer Projekte untersuchen, das sich auf die Einbe- ziehung sinnlich-körperlicher Erfahrungen bezieht. Auf Körper- und Leiberfahrungen komme ich wieder zurück. Zu- nächst ist aber die Frage zu stellen, was heute Identitätskonstruktio- nen zu leisten haben und welche Kompetenzen der Lebensbewälti- gung in einer Welt des globalisierten digitalen Kapitalismus erfor- derlich sind. Im weiteren versuche ich mich an der Beantwortung von vier zusammenhängenden Fragen: 1. In welcher Gesellschaft leben wir? 2. Welche Identitätskonstruktionen entstehen in einer solchen Gesellschaft? 3. Welche Ressourcen brauchen Heranwachsende zur prouktiven Lebensbewältigung in einer solchen Gesellschaft? 4. Welche Hoffnungen richten sich auf den Körper als Identitäts- fundament? 1. IN WELCHER GESELLSCHAFT LEBEN WIR?

IDENTITÄTSKONSTRUKTION - ipp- · PDF file3 Ø als Zivilgesellschaft gestärkt werden soll, mit vielfältigen Formen der Partizipation, Solidarität, sozialen Netzen und Kooperation

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IDENTITÄTSKONSTRUKTION

Heiner Keupp

Vortrag bei der 5. bundesweiten Fachtagung zur Erlebnispädagogik am 22.09.2003 in Magde-burg

Bei der Durchsicht erlebnispädagogischer Angebote kann man legi-timerweise danach fragen, wie sehr sie romantischer Lagerfeuer-idylle nachhängen oder sich der modischen Eventkultur zurechnenlassen. Man kann auch – wie die VeranstalterInnen in ihrem Grußwortim Programmheft – der Frage nachgehen, „ob und wie die Erlebnis-pädagogik dazu beitragen kann, zivilgesellschaftliche Strukturen zubefördern, soziale Räume zu gestalten, Partizipationsprozesse an-zustoßen, Bildungsoptionen und Autonomiepotentiale auch für be-nachteiligte soziale Gruppen zu eröffnen“ (S. 4). Da all diese Stich-worte in einer engen Verbindung zur Identitätsarbeit stehen, kannich sie aufnehmen und in der Frage bündeln: Wie gelingt es Men-schen heute ihre Identitätsarbeit zu bewältigen und welchen förder-lichen Beitrag könnten dazu erlebnispädagogische Angebote leis-ten? Ich werde dabei im wesentlichen das Authentizitätsversprechenerlebnispädagogischer Projekte untersuchen, das sich auf die Einbe-ziehung sinnlich-körperlicher Erfahrungen bezieht.

Auf Körper- und Leiberfahrungen komme ich wieder zurück. Zu-nächst ist aber die Frage zu stellen, was heute Identitätskonstruktio-nen zu leisten haben und welche Kompetenzen der Lebensbewälti-gung in einer Welt des globalisierten digitalen Kapitalismus erfor-derlich sind. Im weiteren versuche ich mich an der Beantwortung vonvier zusammenhängenden Fragen:

1. In welcher Gesellschaft leben wir?2. Welche Identitätskonstruktionen entstehen in einer solchen

Gesellschaft?3. Welche Ressourcen brauchen Heranwachsende zur prouktiven

Lebensbewältigung in einer solchen Gesellschaft?4. Welche Hoffnungen richten sich auf den Körper als Identitäts-

fundament?

1. IN WELCHER GESELLSCHAFT LEBEN WIR?

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Die großen Gesellschaftsdiagnostiker der Gegenwart sind sich inihrem Urteil relativ einig: Die aktuellen gesellschaftlichen Umbrüchegehen ans „Eingemachte“ in der Ökonomie, in der Gesellschaft, inder Kultur, in den privaten Welten und auch an die Identität derSubjekte. In Frage stehen zentrale Grundprämissen der hinter unsliegenden gesellschaftlichen Epoche, die Burkart Lutz schon 1984als den „kurzen Traum immerwährender Prosperität“ bezeichnethatte. Diese Grundannahmen hatten sich zu Selbstverständlichkeitenin unseren Köpfen verdichtet. Ihr zunehmender Verlust an gesell-schaftlicher Tragfähigkeit hat auch erhebliche Konsequenzen fürdas, was eine Gesellschaft als ihr „soziales Erbe“ begreift und das aneine heranwachsende Generation weitergegeben werden soll.

Wenn wir sicher wüssten, was uns die künftigen gesellschaftlichenEntwicklungen in diesem globalisierten, digitalisierten Kapitalismusbringen werden, dann könnten wir entsprechende Lernprozesse imklassischen curricularen Sinne organisieren. Auch wenn wir diesengesellschaftlichen „Heilsplan“ nicht kennen, können wir doch im Sin-ne der „Streitschrift Zukunftsfähigkeit“ des Bundesjugendkuratoriumsvom 17.12.2001 davon ausgehen, „dass die Gesellschaft der Zukunft

Ø eine Wissensgesellschaft sein wird, in der Intelligenz, Neu-gier, lernen wollen und können, Problemlösen und Kreativitäteine wichtige Rolle spielen;

Ø eine Risikogesellschaft sein wird, in der die Biographie flexi-bel gehalten und Identität trotzdem gewahrt werden muss, inder der Umgang mit Ungewissheit ertragen werden muss undin der Menschen ohne kollektive Selbstorganisation und in-dividuelle Verantwortlichkeit scheitern können;

Ø eine Arbeitsgesellschaft bleiben wird, der die Arbeit nichtausgegangen ist, in der aber immer höhere Anforderungenan den Menschen gestellt werden, dabei zu sein;

Ø eine demokratische Gesellschaft bleiben muss, in der dieMenschen an politischen Diskursen teilnehmen und frei ihreMeinung vertreten können, öffentliche Belange zu ihren An-gelegenheiten machen, der Versuchung von Fundamentalis-men und Extremen widerstehen und bei allen Meinungsver-schiedenheiten Mehrheitsentscheidungen respektieren;

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Ø als Zivilgesellschaft gestärkt werden soll, mit vielfältigenFormen der Partizipation, Solidarität, sozialen Netzen undKooperation der Bürger, egal welchen Geschlechts, welcherHerkunft, welchen Berufs und welchen Alters;

Ø eine Einwanderungsgesellschaft bleiben wird, in der Men-schen verschiedener Herkunft, Religion, Kultur und Traditionintegriert werden müssen, vorhandene Konflikte und Vorur-teile überwunden und Formen des Miteinander-Lebens und –Arbeitens entwickelt werden müssen, die es allen erlauben,ihre jeweilige Kultur zu pflegen, aber auch sich wechselseitigzu bereichern“ (Bundesjugendkuratorium 2001, S. 17f.).

Diese Liste lässt sich noch durch sechs weitere zentrale Bezugs-punkte für eine Gegenwartsanalyse vervollständigen:

Ø Was im letzten Vierteljahrhundert begonnen wurde, stehtauch weiterhin auf der Tagesordnung: Die Herstellung einernachhaltig gesicherten Chancengleichheit der Geschlechter,die gegen eine unverändert fortwirkende patriachal geprägteDominanzkultur durchzusetzen ist.

Ø Wir leben in einer Ungleichheitsgesellschaft, in der sich dieVerteilung des ökonomischen, sozialen und symbolischenKapitals immer mehr von dem Prinzip der Verteilungsge-rechtigkeit weg bewegt und damit auch die Verteilung vonLebenschancen.

Ø Die Gesellschaft, in der wir leben ist auch eine Erlebnisge-sellschaft, in immer mehr Menschen ihre Selbstentfaltungs-wünsche im Hier und Heute verwirklichen wollen und auf derSuche nach Lebensfreude und Authentizität sind.

Ø Wir leben in einer Mediengesellschaft, in der die Medien im-mer mehr die Funktionen der Erziehung, der Normvermitt-lung, der Vorbilder, aber auch der Gewöhnung an Gewalt ü-bernommen haben.

Ø Die Gesellschaft, die sich immer mehr abzeichnet, wird aucheine globalisierte, kapitalistische Netzwerkgesellschaft sein,die sich als Verknüpfung von technologischen und ökonomi-schen Prozessen erweist. Für Castells bedeutet „die Netz-werkgesellschaft einen qualitativen Wandel in der menschli-chen Erfahrung“ (1996, S. 477). Ihre Konsequenzen „breiten

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sich über den gesamten Bereich der menschlichen Aktivitätaus und transformieren die Art, wie wir produzieren, konsu-mieren, managen, organisieren, leben und sterben (Castells1991, S. 138).“

Ø Wir leben einer Welt hegemonialer Ansprüche, in der immerhäufiger Mittel des Terrors, des Krieges und demokratischnicht legitimierter Herrschaft zum Einsatz kommen.

In diesen Bezugspunkten lässt sich die komplexe Mischung risiko-reicher Potentiale der gegenwärtigen gesellschaftlichen Konstellati-on andeuten, auf die bezogen Subjekte heute ihre Identitätskon-struktionen entwerfen müssen.

An den aktuellen Gesellschaftsdiagnosen hätte Heraklit seine Freu-de, der ja alles im Fließen sah. Heute wird uns ein „fluide Gesell-schaft“ oder die „liquid modernity“ (Bauman 2000) zur Kenntnis ge-bracht, in der alles Statische und Stabile zu verabschieden ist.

Reflexive Modernisierung: FLUIDE GESELLSCHAFT

Wertewandel

Pluralisierung

Digitalisierung

Disembedding

Dekonstruktion von Geschlechtsrollen

Individualisierung

Globalisierung

Grenzen geraten in Fluss, Konstanten werden zu Variablen.

Wesentliche Grundmuster der FLUIDEN GESELLSCHAFT:

Wechselnde Konfigurationen• Flexible Arbeitsorganisation

• Patchwork-Familien, befristeteCommunities (z.B. Szenen)

• Modulare Konzepte (z.B. Technik)• Sampling- Kultur (Musik, Mode)

Fusion• Arbeit~Freizeit (mobiles Büro)

• Hochkultur~ Popularkultur (Reich-Ranicki bei Gottschalk)

• Crossover, Hybrid-Formate

• Medientechnologien konvergieren

Durchlässigkeit• Größere Unmittelbarkeit:

Interaktivität, E-Commerce

• Fernwirkungen, Realtime

• Öffentlich/Privat (z.B. WebCams)

• Lebensphasen (z.B. ‚Junge Alte‘)

Entgrenzung• Globaler Horizont

• Grenzenloser Virtueller Raum• Kultur/Natur: z.B. durch

Gentechnik, Schönheitschirurgie

• ‚Echtes‘/‚Konstruiertes‘

Neue Meta- Herausforderung BOUNDARY -MANAGEMENT

überarbeitet nach: Barz, H., Kampik, W., Singer, T. & Teuber, S. (2001). Neue Werte, neue Wünsche. FutureValues.

Wenn wir uns der Frage zuwenden, welche gesellschaftlichen Ent-wicklungstendenzen die alltäglichen Lebensformen der Menschenheute prägen, dann kann man an dem Gedanken des „disembed-

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ding“ oder der Enttraditionalisierung anknüpfen. Dieser Prozess lässtsich einerseits als tiefgreifende Individualisierung und als explosivePluralisierung andererseits beschreiben. Diese Trends hängen natür-lich zusammen. In dem Maße, wie sich Menschen herauslösen ausvorgegebenen Schnittmustern der Lebensgestaltung und eher einStück eigenes Leben gestalten können, aber auch müssen, wächstdie Zahl möglicher Lebensformen und damit die möglichen Vor-stellungen von Normalität und Identität. Klar ist, dass die Grenz-überschreitungen nicht mehr das Devianzproblem darstellen, son-dern sie beginnen zur Normalerfahrung unserer globalisiertenNetzwerkgesellschaft zu werden. Andererseits sind die Freiheitendes einzelnen nicht grenzenlos. Er muss seine Grenzen selbst ein-ziehen, er muss Grenzmanagement betreiben und dabei gibt es dieneuen normativen Eckpunkte der (Hyper-) Flexibilität, der Fitnessund der Mobilität, die nicht straflos vernachlässigt werden dürfen.

In der Fluiden Gesellschaft stellt Beweglichkeit eine zentrale Anforderung,aber auch Chance dar.

MOBILITÄT: Leben in Bewegung

‚Unterwegs sein‘ als Synonym für Flexibilität und ErlebnissucheBesonders in den jungen Segmenten der Gesellschaft wird sich mob il sein, nicht nur in räumlicher sondern auch in biographischer, beruflicher, geistiger und sozialer Hinsicht

als Wert an sich weiter etablieren.

Mobilisierung der Alltagswelt: Transportable miniaturisierte Module und Tools verleihen Unabhängigkeit .

i Mobile Online- Dienste per Handy, Telematik im Automobi lbereich

i ‚Wearables‘ im Bekleidungsbereich für die Technomaden des 21. Jahrhunder ts

Auch für ältere Menschen gehört ‚mobil sein‘ immer mehr zu einem modernen Selbstverständnis.

i Steigendes Interesse für Neuwagen, an Reisen, Weiterbildung, Senioren -Universitäten, Internet.

Quelle: Barz, H., Kampik, W., Singer, T. & Teuber, S. (2001). Neue Werte, neue Wünsche. Future Values.

Als ein weiteres Merkmal der „fluiden Gesellschaft“ wird die zuneh-mende Mo-bilität benannt, die sich u.a. in einem häufigeren Orts-und Wohnungswechsel ausdrückt. Die Bereitschaft zu diesen lokalenVeränderungen folgt vor allem aus der Logik der Arbeitsmärkte, dieein flexibles Reagieren auf veränderte Marktbedingungen erfordertund die immer weniger beständige Betriebszugehörigkeiten sichert.Der „flexible Mensch“ (wie ihn Sennett 1998 beschrieben hat) – sojedenfalls die überall verkündete Botschaft – muss sich von der Idee

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der lebenslangen Loyalität gegenüber einer Firma lösen, er musssich in seinem Arbeitsmarktverhalten an die ökonomisch gegebenenNetzwerkstrukturen anpassen. Das ist die Botschaft der vom einzel-nen geforderten geistigen, seelischen und körperlichen „Fitness“: Seibereit, dich auf alles einzulassen! Auch aus diesem Diskurs werdenHeranwachsende von der Botschaft erreicht, dass sie bislang ge-setzte Grenzen überschreiten können, ja müssen, wenn sie erfolg-reich an dem gesellschaftlichen Wettbewerb um Chancen und Machtbeteiligt sein wollen.

Individualisierung, Pluralisierung, Flexibilität und Mobilität gehörenalso immer mehr zu den Normalerfahrungen in unserer Gesellschaft.Sie beschreiben strukturelle gesellschaftliche Dynamiken, die dieobjektiven Lebensformen von Menschen heute prägen.

Unsere Vorstellungen vom „guten Leben“, also unsere zentralennormativen Bezugspunkte für unsere Lebensführung, haben sich imGefolge dieses gesellschaftlichen Strukturwandels in den letzten 50Jahren ebenso grundlegend verändert. Es wird von einer "koperni-kanischen Wende" grundlegender Werthaltungen gesprochen: "Die-ser Wertewandel musste sich in Form der Abwertung des Wertekor-setts einer (von der Entwicklung längst ad akta gelegten) religiösgestützten, traditionellen Gehorsams- und Verzichtsgesellschaftvollziehen: Abgewertet und fast bedeutungslos geworden sind 'Tu-genden' wie 'Gehorsam und Unterordnung', 'Bescheidenheit undZurückhaltung', 'Einfühlung und Anpassung' und 'Fester Glauben anGott'" (Gensicke 1994, S. 47). Dieser Wertewandel in der Nach-kriegszeit lässt sich zu einem Dreischritt-Modell verdichten, dassich auch sehr gut eignet, um aufzuzeigen, wie sich im Gefolgedieser säkularen Werteverschiebung auch die Vorstellungen vonFamilie, von Geschlechterrollen und von Identität verändern:

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AußenorientierungDas Selbst passt sich an.

• Gebote und Verbote• Rangordnungen und

Herrschaftsbeziehungen• Konventionen, Institutionen• Pfl ichterfül lung und

Anpassungsbereitschaft• Tugendhaft igkei t und

Verzicht

AußenorientierungDas Selbst passt sich an.

• Gebote und Verbote• Rangordnungen und

Herrschaftsbeziehungen• Konventionen, Institutionen• Pfl ichterfül lung und

Anpassungsbereitschaft• Tugendhaft igkei t und

Verzicht

InnenorientierungDas Selbst emanzipiert sich.

• Erweiterung der Optionsspielräume

• Enttraditionalisierung und Individualisierung

• Emanzipat ion• Autonomie• Individualismus• Genuss, Erlebnis, Wellness

InnenorientierungDas Selbst emanzipiert sich.

• Erweiterung der Optionsspielräume

• Enttraditionalisierung und Individualisierung

• Emanzipat ion• Autonomie• Individualismus• Genuss, Erlebnis, Wellness

Innen/Außen-Orientierung

Neue Vermitt lung zwischenSelbst und Umwelt

• Steigende Wertigkeit persönlicher Ressourcen

• Neues Sozialbewusstsein• Leitbilder wie Balance,

Stimmigkeit, Souveränität, Synergie, Third Way

• ‚Vermit t lungs-Schlüssel‘ im Boundary-Management werden zentral

Innen/Außen-Orientierung

Neue Vermitt lung zwischenSelbst und Umwelt

• Steigende Wertigkeit persönlicher Ressourcen

• Neues Sozialbewusstsein• Leitbilder wie Balance,

Stimmigkeit, Souveränität, Synergie, Third Way

• ‚Vermit t lungs- Schlüssel‘ im Boundary-Management werden zentral

Maxime: Selbst - Kontrol le

Maxime: Selbst - Verwirkl ichung

Maxime:Selbst - Management

FUTURE VALUES: Dreischritt im Wertewandel

50er 60er 70er 80er 90er 2000er

Quelle: Barz, H., Kampik, W., Singer, T. & Teuber, S. (2001). Neue Werte, neue Wünsche.Future Values.

Der Wertewandel, in dem sich Menschen im gesellschaftlichenDurchschnitt mit veränderten Vorstellungen von Lebenszielen undLebensführung auf den gesellschaftlichen Umbruch beziehen, wirdnicht selten als subjektiver „Freiheitsgewinn“ beschrieben. Genausowichtig ist aber auch die Feststellung, dass das aus traditionellenBindungen freigesetzte Individuum nicht frei ist, sich selbst zu ent-werfen, sondern in hohem Maße auf Ressourcen angewiesen ist,deren Verfügbarkeit oder Zugänglichkeit über die Zukunftsfähigkeitder eigenen Lebensprojekte entscheidet.

Zusammenfassend können wir feststellen, dass wir in einer Gesell-schaft leben, die gekennzeichnet ist durch

v tiefgreifende kultureller, politischer und ökonomischer Um-brüche, die durch einen global agierenden digitalen Netz-werkkapitalismus bestimmt werden;

v sich ändernde biographische Schnittmuster, die immer weni-ger aus bislang bestimmenden normalbiographischen Vor-stellungen bezogen werden können;

v durch Wertewandel, der einerseits neue Lebenskonzeptestützt, der aber zugleich in seiner pluralisierten Form zu ei-nem Verlust unbefragt als gültig angesehener Werte führtund mehr selbst begründete Wertentscheidungen verlangt;

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v veränderte Geschlechterkonstruktionen, die gleichwohl un-tergründig wirksame patriachale Normen und Familienmus-ter nicht überwunden haben;

v die Pluralisierung und Entstandardisierung familiärer Le-bensmuster, deren Bestand immer weniger gesichert ist undvon den beteiligten Personen hohe Eigenleistungen in derBeziehungsarbeit verlangt;

v die wachsende Ungleichheit im Zugang der Menschen zumateriellen, sozialen und symbolischem Kapital, die gleich-zeitig auch zu einer ungleichen Verteilung von Lebenschan-cen führt;

v zunehmende Migration und daraus folgenden Erfahrungenmit kulturellen Differenzen und einem Patchwork der Ver-knüpfung dieser Differenzen zu neuen Hybriditäten, die abervon spezifischen Bevölkerungsgruppen als Bedrohung erlebtwerden;

v wachsenden Einfluss der Medien, die nicht nur längst denStatus einer zentralen Erziehungs- und Bildungsinstanz ha-ben, sondern auch mit ihrem hohen Maß an Gewaltpräsenta-tion zumindest die Gewöhnung an Gewalt wesentlich fördern;

v hegemonialen Ansprüche, die die Mittel von Krieg und Terroreinsetzen, um ihre jeweiligen ideologischen Vorstellungeneiner Weltordnung jenseits demokratischer Legitimationdurchzusetzen.

2. WELCHE IDENTITÄTSKONSTRUKTIONEN ENTSTEHEN IN EINERSOLCHEN GESELLSCHAFT?

Die Wertewelt ist jeweils auch ein zentraler Rahmen für meine Iden-titätskonstruktion: „Aufgrund meiner Identität weiß ich, worauf esmir mehr oder weniger ankommt, was mich tiefgreifend berührt undwas eher nebensächlich ist“ (Taylor 2002, S. 271). Insofern kann esnicht überraschen, dass auch die Bezugspunkte für die Identitäts-entwicklung vom Wertewandel zentral betroffen sind.

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AußenorientierungDas Selbst passt sich an.

Maxime: Selbst - Kontrolle

InnenorientierungDas Selbst emanzipiert sich.

Maxime: Selbst - Verwirklichung

Innen/Außen -OrientierungNeue Vermittlung zwischen

Selbst und Umwelt

Maxime: Selbst - Management

Dreischritt im Wertewandel: Identität

Identität als Selbstbehauptung

• Individuell und nonkonform sein

• Identitätskrisen und Suche nach dem „wahren Kern“

• Konkurrierende Weltbilder

• Kriterien für Anerkennung werden vielfältiger

• Authentizität als Echtheit

• Handlungsorientierung:„Ich will es so.“

Identität als Prozess

• Stilisierung: Identität ist Erzählung und Performance

• Identität wird zum Projekt, ist relativ vieldeutig und offen

• Weltbi ld-Patchwork

• Anerkennung wird mehr ausgehandelt

• Authentizität als Stimmigkeit

• Handlungsorientierung: „Es entspricht mir.“

Identität als Gehäuse• Äußerliche Kriterien

bestimmend: Geschlecht, Beruf, Rollen, Schicht

• Identität ist relativ eindeutig und statisch

• Stabiles Weltbild

• Kriterien für Anerkennung sind klar definiert

• Handlungsorientierung: „Man tut es so.“

50er 60er 70er 80er 90er 2000er

Quelle: Barz, H., Kampik, W., Singer, T. & Teuber, S. (2001). Neue Werte, neue Wünsche. Future Values.

Das Leben in der Wissens-, Risiko-, Ungleichheits-, Zivil-, Einwan-derungs-, Erlebnis- und Netzwerkgesellschaft verdichtet sich zu ei-ner verallgemeinerbaren Grunderfahrung der Subjekte in den fort-geschrittenen Industrieländern: In einer "ontologischen Bodenlosig-keit", einer radikalen Enttraditionalisierung, dem Verlust von unstrit-tig akzeptierten Lebenskonzepten, übernehmbaren Identitätsmus-tern und normativen Koordinaten. Subjekte erleben sich als Dar-steller auf einer gesellschaftlichen Bühne, ohne dass ihnen fertigeDrehbücher geliefert würden. Genau in dieser Grunderfahrung wirddie Ambivalenz der aktuellen Lebensverhältnisse spürbar. Es klingtnatürlich für Subjekte verheißungsvoll, wenn ihnen vermittelt wird,dass sie ihre Drehbücher selbst schreiben dürften, ein Stück eigenesLeben entwerfen, inszenieren und realisieren könnten. Die Voraus-setzungen dafür, dass diese Chance auch realisiert werden können,sind allerdings bedeutend. Die erforderlichen materiellen, sozialenund psychischen Ressourcen sind oft nicht vorhanden und dann wirddie gesellschaftliche Notwendigkeit und Norm der Selbstgestaltungzu einer schwer erträglichen Aufgabe, der man sich gerne entziehenmöchte. Die Aufforderung, sich selbstbewusst zu inszenieren, hatohne Zugang zu der erforderlichen Ressourcen, etwas zynisches.

Wie könnte man die Aufgabenstellung für unsere alltägliche Identi-tätsarbeit formulieren? Hier meine thesenartige Antwort: Im Zentrumder Anforderungen für eine gelingende Lebensbewältigung stehendie Fähigkeiten zur Selbstorganisation, zur Verknüpfung von An-

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sprüchen auf ein gutes und authentisches Leben mit den gegebenenRessourcen und letztlich die innere Selbstschöpfung von Lebenssinn.Das alles findet natürlich in einem mehr oder weniger förderlichensoziokulturellem Rahmen statt, der aber die individuelle Kon-struktion dieser inneren Gestalt nie ganz abnehmen kann. Es gibtgesellschaftliche Phasen, in denen die individuelle Lebensführung ineinen stabilen kulturellen Rahmen "eingebettet" wird, der Sicherheit,Klarheit, aber auch hohe soziale Kontrolle vermittelt und es gibt Pe-rioden der "Entbettung" (Giddens 1997, S. 123), in denen die indivi-duelle Lebensführung wenige kulturelle Korsettstangen nutzen kannbzw. von ihnen eingezwängt wird und eigene Optionen und Lö-sungswege gesucht werden müssen. Gerade in einer Phase gesell-schaftlicher Modernisierung, wie wir sie gegenwärtig erleben, ist ei-ne selbstbestimmte "Politik der Lebensführung" unabdingbar.

Meine These bezieht sich genau darauf:

Identitätsarbeit hat als Bedingung und als Ziel die Schaffung von Le-benskohä-renz. In früheren gesellschaftlichen Epochen war die Be-reitschaft zur Übernahme vorgefertigter Identitätspakete das zent-rale Kriterium für Lebensbewältigung. Heute kommt es auf die indi-viduelle Passungs- und Identitätsarbeit an, also auf die Fähigkeit zurSelbstorganisation, zum "Selbsttätigwerden" oder zur „Selbstein-bettung“. Kinder und Jugendliche brauchen in ihrer Lebenswelt„Freiräume“, um sich selbst zu entwerfen und gestaltend auf ihrenAlltag einwirken zu können. Das Gelingen dieser Identitätsarbeitbemisst sich für das Subjekt von Innen an dem Kriterium der Au-thentizität und von Außen am Kriterium der Anerkennung.

Identitätsarbeit hat eine innere und äußere Dimension. Eher nachaußen gerichtet ist die Dimension der Passungsarbeit. Unumgänglichist hier die Aufrechterhaltung von Handlungsfähigkeit und von Aner-kennung und Integration. Eher nach ,innen', auf das Subjekt, bezo-gen ist Synthesearbeit zu leisten, hier geht es um die subjektive Ver-knüpfung der verschiedenen Bezüge, um die Konstruktion und Auf-rechterhaltung von Kohärenz und Selbstanerkennung, um das Gefühlvon Authentizität und Sinnhaftigkeit.

In unserem eigenen Modell (Keupp et al. 2002) lässt sich der innereZusammenhang der genannten Prozesse darstellen. Kohärenz undAuthentizität, Anerkennung und Handlungsfähigkeit sind nach un-serer Einsicht unhintergehbare Modi alltäglicher Identitätsarbeit, sie

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sind existenziell. Sie können außerdem als wichtige Indizien für eine,gelungene Identität' bezeichnet werden.

Die Schöpfung der Metapher von der „Patchwork-Identität” hat unseine große Resonanz beschert. Eine richtig platzierte Metapher magin der bestehenden Mediengesellschaft einen schnellen Erfolg be-scheren, aber eine Metapher ist im Prozess wissenschaftlicher Ent-wicklung zunächst nur ein Erkenntnisversprechen. Diese Metapherhat unseren wissenschaftlichen Suchprozess angeleitet und in bezugauf das Ergebnis alltäglicher Identitätsarbeit bleibt sie hilfreich: Inihren Identitätsmustern fertigen Menschen aus den Erfahrungsmate-rialien ihres Alltags patchworkartige Gebilde und diese sind Resultatder schöpferischen Möglichkeiten der Subjekte. Das war schon un-sere Anfangsidee und diese hat sich erhalten. Das ist unser Aus-gangspunkt und nicht unser Ergebnis. Wenn also nach einer Dekadeintensiver Forschung über alltägliche Identitätsarbeit in der Spätmo-derne unser Identitätsmodell in erster Linie so verstanden wird, alswürden wir Identität als „einen bunten Fleckerlteppich” betrachtenund nicht mehr als ein sich schnell einprägendes Bild bieten, dannmüssten wir mit unserer Forschung und der Verbreitung ihrer Ergeb-nisse höchst unzufrieden sein. Wir wollten den öffentlichen Diskursüber die individualisierte Gesellschaft auch nicht mit weiterenSchlagworten wie „Ich-Jagd”, „Ich-Implosion”, „Ich-AG“, „Ego-Taktiker“, „Ich-Aktien“oder „Ich-Entfesselung” befrachten.

Uns hat vor allem das „Wie” interessiert, der Herstellungsprozess:Wie vollzieht sich diese Identitätsarbeit? Oder im Bild gesprochen:Wie fertigen die Subjekte ihre patchworkartigen Identitätsmuster?Wie entsteht der Entwurf für eine kreative Verknüpfung? Wie werdenAlltagserfahrungen zu Identitätsfragmenten, die Subjekte in ihremIdentitätsmuster bewahren und sichtbar unterbringen wollen? Wohernehmen sie Nadel und Faden und wie haben sie das Geschick er-worben, mit ihnen so umgehen zu können, dass sie ihre Gestal-tungswünsche auch umsetzen können? Und schließlich: Woher kom-men die Entwürfe für die jeweiligen Identitätsmuster? Gibt es ge-sellschaftlich vorgefertigte Schnittmuster, nach denen man sein ei-genes Produkt fertigen kann? Gibt es Fertigpackungen mit allemerforderlichen Werkzeug und Material, das einem die Last derSelbstschöpfung ersparen kann?

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BiographischeKernnarrationen

DominierendeTeilidentitäten

IdentitätsgefühlAuthentizitäts- und

Kohärenzgefühl

Geschlecht

Arbeit

Unterhaltung/Freizeit

Politik

Körper

Handeln

(= Viele einzelne situative Selbsterfahrungen)

EbeneMeta-

identität

EbeneTeilidentitäten

z.B.

Ebenesituative Selbst -

thematisierungen

IDENTITÄT ALS PATCHWORKING

Projekte

3. WELCHE RESSOURCEN BRAUCHEN HERANWACHSENDE ZUR PRO-UKTIVEN LEBENSBEWÄLTIGUNG IN EINER SOLCHEN GESELLSCHAFT?

Was bedeuten solche grundlegenden gesellschaftlichen Verände-rungen für Kinder und Jugendliche? Eine ergiebige Fundgrube anInformationen zur Lebenssituation von Heranwachsenden inDeutschland liefern u.a. die 13. und 14. Shell Jugendstudie. Dembesorgten kinder- und jugendschützerischen Blick haben sie weni-ger Bestätigung geliefert, als jener Sicht auf Jugend, die in demBuchtitel „Kinder der Freiheit“ zum Ausdruck kommt. Von einigenProblemgruppen abgesehen, scheint hier in der Generation der 15-bis 24-Jährigen eine Generation heranzuwachsen, die in der Weltdes „flexiblen Kapitalismus“ angekommen ist, ihn als Bedingung ih-rer eigenen Lebensexistenz ansehen und sich in ihm mit einer rea-listischen Grundhaltung einrichten. Das gilt vor allem für die – vonder 14. Shell-Studie so benannten - „selbstbewussten Macher“, den„pragmatischen Idealisten“ und den „robusten Materialisten“. Siewissen, dass ihr biographisches Selbstmanagement gefragt ist. Es isteine Generation, für die die „Bastelexistenz“ oder die „Patchworki-

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dentität“ keine Schreckgespenster oder idealisierte Luftfiguren dar-stellen, sondern ihre Normalität.

Hier scheint eine Generation die historische Bühne zu betreten, dieden gesellschaftskritischen Bedenkenträgern zeigt, dass man sich indiesen neuen Flexibilität fordernden Lebensverhältnissen einge-richtet hat und damit - überwiegend - souverän umzugehen weiß.Die 13. Shell-Studie hat aber auch gezeigt, dass immerhin 35% derwestdeutschen und 42% der ostdeutschen Jugendlichen eher düsterin die erwartbare Zukunft blickt. Und bemerkenswert ist auch, dasssich nur 21% gut auf zukünftige Entwicklungen vorbereitet fühlen. Indieser skeptischen Einschätzung wird deutlich, dass sich auch He-ranwachsende zunehmend mit der Frage auseinandersetzen, welcheRessourcen erforderlich sind, um wichtige eigene Lebenspläne rea-lisieren zu können. Also das Bewusstsein für eigene Ressourcen ge-winnt an Bedeutung:

Die fortschreitende Individualisierung der Gesellschaft geht mit neuenHerausforderungen an das Innere einher: Man muss mehr aus sich selber schöpfen.

RESOURCING: Persönliche Ressourcen werden zentral

Mobilisierung persönlicher Ressourcen - in Bauch, Herz und HirnSowohl sozialer Erfolg, als auch persönliche Erfüllung zunehmend an das Aktivieren und

Einsetzen individueller Potenziale gebunden: geistige, körperliche, emotionale und soziale.

iPermanente Humankapitalbildungdurch lebenslanges Lernen

iPräventives GesundheitsmanagementiSelbstachtsamkeit und bewusste

Seelenpflege

iBerater- und Coaching-Boom in vielen Bereichen

Aufwertung intuitiver Kräfte als Lebenskompass

i ‚Soft skills‘ wie Emotionale Intelligenz, Instinkt und Kreativität gewinnen

wesentliche Bedeutung.i ‚Weisheit‘ und Intuition kompensieren

das zunehmende Nichtwissen in der Informationsgesellschaft.

Empowerment : Unterstützung bei der Erschließung und Steigerung eigener

Ressourcen und ‚Energiequellen‘ ist sehr gefragt

Eigenverantwortliche Selbstpflege und Selbstoptimierung in jeder Hinsicht

wird ein vitales Thema.

Quelle: Barz, H., Kampik, W., Singer, T. & Teuber, S. (2001). Neue Werte, neue Wünsche. Future Values.

Aber wenn die Ressourcenperspektive bei dieser Dimension persön-lich zurechenbarer Ressourcen stehen bliebe, dann hätte sie dasdiese wichtige Perspektive ideologisch halbiert und psychologistischverkürzt. Barz et al. (2001) thematisieren neben einer Reihe weite-rer Grundorientierungen auch das „neue Sozialbewusstsein“, einemKonstrukt, in dem das Geflecht sozialer Beziehungen, in das einSubjekt eingebunden ist und das es durch aktive Beziehungsarbeit

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erhält und weiter ausbauen kann, einen zentralen Stellenwert ein-nimmt. Das „soziale Kapital“ benennt diesen an Bedeutung zuneh-menden Bereich des „Lebens im Netz-Werk“:

Umorientierung auf soziale Werte, auch als Gegenpol zu neol iberaler Verunsicherung und Vereinsamungsgefahr.

In der f lu iden Netzwerk- Gesellschaft stellt sich Sozialität zunehmend alsLebensgrundlage heraus, die gestaltet und gepflegt werden muss (Netz-Werk ) .

NEUES SOZIALBEWUSSTSEIN: Leben im Netz-Werk

Wachsende Aufmerksamkeit für ‚soziales Kapital ‘ - sei es in Form tragender persönlicher Beziehungen, in Gestalt von sozialen Projekten oder in Form von ‚Connections’ , strategischen

Allianzen und Seilschaften, sei es privat oder beruflich .

Bez iehung und Kommunikat ion t re ten in den Vordergrund.

v Organisat ionen bemühen sich um ihre ‚Kommun ika t i ons-Kul tur ‘

v Soziale Kompetenzen sind Karriere -Schlüssel

v Projekte bürgerschaftl ichen Engagements als Chance zur Gestaltung und Tei lhabe

v Hoher Stel lenwert von Freundschaft, Ver t rauen, Geborgenhei t und Fami l ie

v Partnerschaftliches Beziehungsideal: Sich gegenseit ig den Rücken frei halten, damit jeder sein Lebensprojekt verwirkl ichen kann.

Bedürfnis nach punktuel ler Gesel lung mit Gleichgesinnten (Vermitt lung von Tei lhabe, Bestätigung, Synergie) - aber au tonom, o f fen und unverb ind l ich.

v Settings gefragt: Clubs, Salons, Lounges, Events, Onl ine-Foren etc.

v ‚Wahlverwandtschaften‘: Interessengruppen, Szenen, Online- Communi t ies, Selbsthilfegruppen

verändert nach: Barz, H., Kampik, W., Singer, T. & Teuber, S. (2001). Neue Werte, neue Wünsche. FutureValues.

Welche Ressourcen benötigen nun Heranwachsende, um selbstbe-stimmt und selbstwirksam ihre eigenen Weg in einer so komplexgewordenen Gesellschaft gehen zu können? Ohne Anspruch aufVollständigkeit lassen sich die folgenden nennen:

v Lebenskohärenz

In einer hochpluralisierten und fluiden Gesellschaft ist die Ressource„Sinn“ eine wichtige, aber auch prekäre Grundlage der Lebensfüh-rung. Sie kann nicht einfach aus dem traditionellen und jederzeitverfügbaren Reservoir allgemein geteilter Werte bezogen werden.Sie erfordert einen hohen Eigenanteil an Such-, Experimentier- undVeränderungsbereitschaft. Im Rahmen der salutogenetisch ausge-richteten Forschung hat sich das „Kohärenzgefühl“ (sense of cohe-rence) als ein erklärungsfähiges Konstrukt erwiesen (vgl. Antonovsky1998). Dieses Modell geht von der Prämisse aus, dass Menschenständig mit belastenden Lebenssituationen konfrontiert werden. DerOrganismus reagiert auf Stressoren mit einem erhöhten Spannungs-zustand, der pathologische, neutrale oder gesunde Folgen habenkann, je nachdem, wie mit dieser Spannung umgegangen wird. Esgibt eine Reihe von allgemeinen Widerstandsfaktoren, die innerhalb

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einer spezifischen soziokulturellen Welt als Potential gegeben sind.Sie hängen von dem kulturellen, materiellen und sozialen Entwick-lungsniveau einer konkreten Gesellschaft ab. Mit organismisch-konstitutionellen Widerstandsquellen ist das körpereigene Immun-system einer Person gemeint. Unter materiellen Widerstandsquellenist der Zugang zu materiellen Ressourcen gemeint (Verfügbarkeitüber Geld, Arbeit, Wohnung etc.). Kognitive Widerstandsquellen sind"symbolisches Kapital", also Intelligenz, Wissen und Bildung. Einezentrale Widerstandsquelle bezeichnet die Ich-Identität, also eineemotionale Sicherheit in bezug auf die eigene Person. Die Ressour-cen einer Person schließen als zentralen Bereich seine zwischen-menschlichen Beziehungen ein, also die Möglichkeit, sich von an-deren Menschen soziale Unterstützung zu holen, sich sozial zu-gehörig und verortet zu fühlen.

Die empirische Datenlage bei den Phänomenen Gewalt und Suchtzeigen deutlich, dass das Kohärenzgefühl sich auch in diesen Risi-kobereichen als Widerstandsressource erweist. Jugendliche, die dasGefühl haben, die Welt zu verstehen und im Griff zu haben, neigenwesentlich weniger zu gewaltförmigem Verhalten oder zum Dro-genkonsum.

v Boundary management

In einem soziokulturellem Raum der Überschreitung fast aller Gren-zen wird es immer mehr zu einer individuellen oder lebensweltspe-zifischen Leistung, die für das eigene „gute Leben“ notwendigenGrenzmarkierungen zu setzen. Als nicht mehr verlässlich erweisensich die Grenzpfähle traditioneller Moralvorstellungen, der nationa-len Souveränitäten, der Generationsunterschiede, der Markierungenzwischen Natur und Kultur oder zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit.Der Optionsüberschuss erschwert die Entscheidung für die richtigeeigene Alternative. Beobachtet wird – nicht nur – bei Jugendlicheneine zunehmende Angst vor dem Festgelegtwerden („Fixeophobie“),weil damit ja auch der Verlust von Optionen verbunden ist. Gewalt-und Suchtphänomene können in diesem Zusammenhang auch alsVersuche verstanden werden, entweder im diffusen Feld der Mög-lichkeiten unverrückbare Grenzmarkierungen zu setzen (das istnicht selten die Funktion der Gewalt) oder experimentell Grenzen zu

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überschreiten (so wird mancher Drogenversuch verstanden). Letzt-lich kommt es darauf an, dass Subjekte lernen müssen, ihre eigenenGrenzen zu finden und zu ziehen, auf der Ebene der Identität, derWerte, der sozialen Beziehungen und der kollektiven Einbettung.

v Soziale Ressourcen

Gerade für Heranwachsende sind neben familiären Netzwerken ihrepeer groups eine wichtige Ressource. Im Rahmen der Belastungs-Bewältigungs-Forschung stellen soziale Netzwerke vor allem einenRessourcenfundus dar. Es geht um die Frage, welche Mittel in be-stimmten Belastungssituationen im Netzwerk verfügbar sind odervon den Subjekten aktiviert werden können, um diese zu bewälti-gen. Das Konzept der „einbettenden Kulturen“ (Kegan 1986) zeigtdie Bedeutung familiärer und außerfamiliärer Netzwerke für denProzess einer gelingenden Identitätsarbeit vor allem bei Heran-wachsenden. Dies kann im Sinne von Modellen selbstwirksamer Le-bensprojekte erfolgen, über die Rückmeldung zu eigenen Identi-tätsstrategien, über die Filterwirkung kultureller und vor allem me-dialer Botschaften bis hin zur Bewältigung von Krisen und Belastun-gen. Ein zweiter Aspekt kommt hinzu: Netzwerke bedürfen der ak-tiven Pflege und ein Bewusstsein dafür, dass sie nicht selbstver-ständlich auch vorhanden sind. Für sie muss etwas getan werden, siebedürfen der aktiven Beziehungsarbeit und diese wiederum setztsoziale Kompetenzen voraus. Sind diese Kompetenzen im eigenenSozialisationsmilieu nicht aktiv gefördert worden, dann werden die„einbettenden Kulturen“ auch nur ungenügend jene unterstützendeQualität für eine souveräne Lebensgestaltung erzeugen können, dieihnen zukommen sollte.

v Materielle Ressourcen

Die Armutsforschung zeigt, dass Kinder und Jugendliche überpro-portional hoch von Armut betroffen sind und Familien mit Kindernnicht selten mit dem „Armutsrisiko“ zu leben haben. Da materielleRessourcen auch eine Art Schlüssel im Zugang zu anderen Ressour-cen bilden, entscheiden sie auch mit über Zugangschancen zu Bil-dung, Kultur und Gesundheit. Hier liegt das zentrale und höchst ak-tuelle sozial- und gesellschaftspolitische Problem. Eine Gesellschaft

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die sich ideologisch, politisch und ökonomisch fast ausschließlichauf die Regulationskraft des Marktes verlässt, vertieft die gesell-schaftliche Spaltung und führt auch zu einer wachsenden Ungleich-heit der Chancen an Lebensgestaltung. Hier holt uns immer wiederdie klassische soziale Frage ein. Die Fähigkeit zu und die Erprobungvon Projekten der Selbstorganisation sind ohne ausreichende mate-rielle Absicherung nicht möglich. Von die Chance auf Teilhabe amgesellschaftlichen Lebensprozess in Form von sinnvoller Tätigkeitund angemessener Bezahlung ist für Heranwachsende kaum mög-lich, Autonomie und Lebenssouveränität zu gewinnen.

v Zugehörigkeitserfahrungen

Die gesellschaftlichen „disembedding“-Erfahrungen gefährden dieunbefragt selbstverständliche Zugehörigkeit von Menschen zu einerGruppe oder einer Gemeinschaft. Die „Wir-Schicht“ der Identität –wie sie Norbert Elias nennt- , also die kollektive Identität wird alsbedroht wahrgenommen. Es wächst das Risiko, nicht zu dem ge-sellschaftlichen Kern, in dem sich dieses „Wir“ konstituiert, zu gehö-ren. Die Soziologie spricht von Inklusions- und Exklusionserfahrun-gen. Nicht zuletzt an der Zunahme der Migration wird der Konfliktum die symbolische Trennlinie von Zugehörigkeit und Ausschlusskonflikthaft verhandelt. Rassistische Deutungen und rassistisch be-gründete Gewalt sind Teil dieses „Zugehörigkeitskampfes“.

v Anerkennungskulturen

Eng verbunden mit der Zugehörigkeitsfrage ist auch die Anerken-nungserfahrung. Ohne Kontexte der Anerkennung ist Lebenssouve-ränität nicht zu gewinnen. Auch hier erweisen sich die gesellschaft-lichen Strukturveränderungen als zentrale Ursache dafür, dass ein„Kampf um Anerkennung“ entbrannt ist. In traditionellen Lebensfor-men ergab sich durch die individuelle Passung in spezifische vorge-gebene Rollenmuster und normalbiographische Schnittmuster einselbstverständlicher Anerkennungskontext. Diese Selbstverständ-lichkeit ist im Zuge der Individualisierungsprozesse, durch die dieModerne die Lebenswelten der Menschen veränderte und teilweiseauflöste, in Frage gestellt worden. Anerkennung muss – wie esCharles Taylor (1993, S. 27) herausarbeitet - auf der persönlichenund gesellschaftlichen Ebene erworben werden und insofern ist sie

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prekär geworden: "So ist uns der Diskurs der Anerkennung in dop-pelter Weise geläufig geworden: erstens in der Sphäre der persön-lichen Beziehungen, wo wir die Ausbildung von Identität und Selbstals einen Prozess begreifen, der sich in einem fortdauernden Dialogund Kampf mit signifikanten Anderen vollzieht; zweitens in der öf-fentlichen Sphäre, wo die Politik der gleichheitlichen Anerkennungeine zunehmend wichtigere Rolle spielt." Taylors zentrale These istfür ein Verständnis der Hintergründe von Gewalt und Sucht zentral:Er geht davon aus, „dass unsere Identität teilweise von der Anerken-nung oder Nicht-Aner-kennung, oft auch von der Verkennung durchdie anderen geprägt (werde), so dass ein Mensch oder eine Gruppevon Menschen wirklichen Schaden nehmen, eine wirkliche Deforma-tion erleiden kann, wenn die Umgebung oder die Gesellschaft eineinschränkendes, herabwürdigendes oder verächtliches Bild ihrerselbst zurückspiegelt. Nichtanerkennung oder Verkennung kannLeiden verursachen, kann eine Form von Unterdrückung sein, kannden anderen in ein falsches, deformiertes Dasein einschließen" (S.13f.).

v Interkulturelle Kompetenzen

Die Anzahl der Kinder und Jugendliche, die einen Migrationshin-tergrund haben, steigt ständig. Sie erweisen sich als kreativeSchöpfer von Lebenskonzepten, die die Ressourcen unterschiedli-cher Kulturen integrieren. Sie bedürfen aber des gesicherten Ver-trauens, dass sie zu dazu gehören und in ihren Identitätsprojektenanerkannt werden. In der schulischen Lebenswelt treffen Heran-wachsende aufeinander, die unterschiedliche soziokulturelle Lern-und Erfahrungsvoraussetzungen mitbringen, die zugleich aber auchden Rahmen für den Erwerb interkultureller Kompetenzen bilden.

v Zivilgesellschaftliche Kompetenzen

Zivilgesellschaft ist die Idee einer zukunftsfähigen demokratischenAlltagskultur, die von der identifizierten Beteiligung der Menschenan ihrem Gemeinwesen lebt und in der Subjekte durch ihr Engage-ment zugleich die notwendigen Bedingungen für gelingende Le-bensbewältigung und Identitätsarbeit in einer offenen pluralistischenGesellschaft schaffen und nutzen. „Bürgerschaftliches Engagement“

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wird aus dieser Quelle der vernünftigen Selbstsorge gespeist. Men-schen suchen in diesem Engagement Lebenssinn, Lebensqualität undLebensfreude und sie handeln aus einem Bewusstsein heraus, dasskeine, aber auch wirklich keine externe Autorität das Recht für sichbeanspruchen kann, die für das Subjekt stimmigen und befriedigen-den Konzepte des richtigen und guten Lebens vorzugeben. Zugleichist gelingende Selbstsorge von dem Bewusstsein durchdrungen, dassfür die Schaffung autonomer Lebensprojekte soziale Anerkennungund Ermutigung gebraucht wird, sie steht also nicht im Widerspruchzu sozialer Empfindsamkeit, sondern sie setzen sich wechselseitigvoraus. Und schließlich heißt eine „Politik der Lebensführung“ auch:Ich kann mich nicht darauf verlassen, dass meine Vorstellungen vomguten Leben im Delegationsverfahren zu verwirklichen sind. Ichmuss mich einmischen. Eine solche Perspektive der Selbstsorge istdeshalb mit keiner Version „vormundschaftlicher“ Politik und Ver-waltung vereinbar. Ins Zentrum rückt mit Notwendigkeit die Idee der„Zivilgesellschaft“. Eine Zivilgesellschaft lebt von dem Vertrauen derMenschen in ihre Fähigkeiten, im wohlverstandenen Eigeninteressegemeinsam mit anderen die Lebensbedingungen für alle zuverbessern. Zivilgesellschaftliche Kompetenz entsteht dadurch,„dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in dieLage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolleüber die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dassdie Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die allenihren Bürgerinnen und Bürgern dies ermöglichen" (Ottawa Charta1986).

Zusammenfassung

Welche Kompetenzen brauchen Heranwachsende, um in jener Ge-sellschaft handlungsfähig sein zu können, die sich im Gefolge desgesellschaftlichen Strukturwandels herausbildet. Viele Jugendlichenselbst fühlen sich durch Elternhaus und Schule ungenügend vorbe-reitet. Erwachsenwerden ist ein schwieriger werdendes Projekt. Anwelchen Modellen und Werten sollen sich Heranwachsende orien-tieren oder von welchen sich abgrenzen? Und welche Ressourcenbrauchen sie dazu?

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v Sie müssen ihre eigene Lebenserzählung finden, die für sieeinen kohärenten Sinnzusammenhang stiftet.

v Sie müssen in einer Welt der universellen Grenzüberschrei-tungen ihr eigenes „boundary management“ in bezug auf I-dentität, Wertehorizont und Optionsvielfalt vornehmen.

v Sie brauchen die „einbettende Kultur“ soziale Netzwerke unddie soziale Kompetenz, um diese auch immer wieder mit zuerzeugen.

v Sie benötigen die erforderliche materielle Basissicherung,die eine Zugangsvoraussetzung für die Verteilung von Le-benschancen bildet.

v Sie benötigen die Erfahrung der Zugehörigkeit zu der Ge-sellschaft, in der sie ihr Lebensprojekt verwirklichen wollen.

v Sie brauchen einen Kontext der Anerkennung, der die basaleVoraussetzung für eine gelingende Identitätsarbeit ist.

v Sie brauchen Voraussetzungen für den alltäglichen interkul-turellen Diskurs, der in einer Einwanderungsgesellschaft alleErfahrungsbereiche durchdringt.

v Sie müssen die Chance haben, in Projekten des bürgerschaft-lichen Engagements zivilgesellschaftliche Basiskompetenzenzu erwerben.

4. WELCHE HOFFNUNGEN RICHTEN SICH AUF DEN KÖRPER ALSIDENTITÄTSFUNDAMENT?

Meine abschließenden Überlegungen möchte ich mit einer Theseeinleiten: Die Hoffnungen auf den Körper sind berechtigt und illusi-onär zugleich. In der Körperarena spiegeln sich die risikoreichenChancen postmoderner Lebensverhältnisse. Sie kann kein "befreitesLand" liefern, in dem ein authentischer Zugang zur eigenen Leben-digkeit, Ganzheit oder Selbstbestimmung pur möglich wären undErfahrungen gesellschaftlicher Entfremdung, Entsinnlichung undZerrissenheit ferngehalten werden könnten. Der Körper ist heutezum Medium subjektiver Selbstvergewisserung und -darstellunggeworden. Aber auch gesellschaftliche Macht und Kontrolle vollziehtsich in diesem Medium. Es bleibt wohl nur die Chance, dieses am-bivalente Erfahrungsfeld reflexiv aufzuarbeiten. Reflexive Aneig-nung dieser Ambivalenz, die in kritischer Weise handlungsfähig

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machen soll und den souveränen Umgang mit den illusionären Fal-len des postmodernen Körpermarktes unterstützen soll.

(1) Der Körper ist einerseits sperrig und widersetzt sich in seinerspezifischen Eigenlogik der vollständigen Instrumentalisierung. In-sofern bindet er Hoffnungen auf feste naturhafte Bezugspunkte derLebensgestaltung, andererseits ist er ein bevorzugter Ort für Verän-derungsstrategien, in denen sich Subjekte ihre Hoffnungen aufSelbstgestaltung zu erfüllen versuchen. "Die Hoffnungen auf denKörper" sind also überdeterminiert. In ihnen mischen sich wider-streitende, zumindest ambivalente Erwartungen. In den körper-bezogenen Identitätsstrategien können wir das zwangsweise post-modernen Lebensverhältnissen ausgesetzte Subjekt in seinen Be-wältigungsversuchen und spezifischen Bedürfnissen erkennen.

(2) Auf den Körper richten sich die Hoffnungen, mit ihm einen un-verrückbaren Bezugspunkt der persönlichen Identität zu finden. DerKörper soll die Antwort auf die ontologische Bodenlosigkeit post-moderner Lebensverhältnisse sein.

In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 24.11.1995hat Agnes Heller ausgeführt, dass die unterschiedlichen Formen von"Biopolitik" von einer identitätsstrategischen Hoffnung getragen sindund welche Gefahren damit verknüpft sind:

"Wir brauchen in unserem Leben sinngebende Ideen. Wir könnennicht existieren, ohne unserem Leben einen Sinn zu geben. Beson-ders nicht in einer Welt, in der es keine traditionelle Sittlichkeit, kei-ne traditionellen Tugenden mehr gibt. Das politisch Problematischefängt immer mit den kollektiven Bewegungen an. Zwar können diesepositive Implikationen haben, aber sie bergen auch wieder die Ge-fahren der großen universalistischen Bewegungen in sich. Die uni-versalistischen Bewegungen heutzutage basieren nicht mehr aufKlassentheorien, sondern sie gründen auf Rassentheorien und be-ziehen sich auf die Identität des Körpers".

"Es ist die Identitätspolitik, bei der die Identität der Gruppe aus bio-logischen und somatischen Merkmalen konstituiert ist, und weil dasso ist, ist diese Identitätspolitik immer rassistisch überdeterminiert.

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Sie bedient sich einer Sprache der Rasse und eines kategorischenFreund-Feind-Denkens. Wobei es weniger um den Freund geht; dasHauptinteresse gilt immer dem Feind, es geht darum, ihn zu demas-kieren und zu zerstören. Bei einem Konflikt der Rassen ... werdendie Widersprüche und Kontroversen immer qualitativ interpretiert.Es gibt kein 'mehr oder weniger', es gibt keine Kompromisse, wie essie in der Klassenpolitik gab. Es geht nur darum, 'wer siegt' und 'werbesiegt wen'. Dieser Radikalismus gehört zur Rassenidenti-tätspolitik. Es gibt andere Varianten der Biopolitik, es gibt die Politikdes neuen Puritanismus, es gibt den Bio-Feminismus, es gibt einePolitik der Gesundheit, der Antiraucher, der Ökologie. Für alle diesebiopolitischen Bewegungen gibt es jeweils eigene Gründe, nur legi-timieren diese Gründe keine solche Politik."

(3) Der Körper bildet den bevorzugten Ort für Empfindungen dereigenen Lebendigkeit. Körperliche "Sensationen" bilden unstrittigeValidierungsmöglichkeiten für die eigene Existenz und sie könnengegen die Flüchtigkeit der postmodernen Bilderflut und die Entsinn-lichung einer Alltagswelt gesetzt werden, die kognitivistisch und ra-tionalistisch dominiert ist.

Ich möchte diese These am Gewaltthema exemplarisch verdeutli-chen: In einer Welt, die immer abstrakter und sinnenferner gewor-den ist und in der der einzelne wenig Chancen hat, sich gestaltend,produktiv und liebend zu verwirklichen, Spuren zu hinterlassen, er-hält Gewalt eine wachsende Faszination. Sie gibt die Chance, sichlebendig zu fühlen und sie ist in einer psychosozial zerstörten Weltdafür oft die einzige Chance.

An dieser Stelle will ich keine umfassende Gewaltanalyse vorlegen,nur ihre Funktionalität in einer spezifischen Form von Identitätspoli-tik betonen. Bill Bufford (1992), dem englischen Journalisten, dermit Fußfall-Hooligans durch Europa fuhr und seine Erfahrungen indem aufregenden Buch "Geil auf Gewalt" beschrieben hat, gelingt es,die "sinnliche Intensität" zu erfassen, die in Gewaltorgien gesuchtund erlebt wird. Er hat sich voll hineinbegeben und alle moralischenZensuren beiseite gelassen. Er schreibt: "Was mich anzieht, sind dieMomente, wo das Bewusstsein aufhört: Momente, in denen es umsÜberleben geht, Momente von animalischer Intensität, der Gewalt-

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tätigkeit, Momente, wenn keine Vielzahl, keine Möglichkeit ver-schiedener Denkebenen besteht, sondern nur eine einzige - die Ge-genwart in ihrer absoluten Form" (S. 232). Gewalt schafft eine Formvon Eindeutigkeit, die die Last des riskanten Abwägens von Alterna-tiven, den Zwang zur Reflexion widersprüchlicher Optionen, als alldas, was das Leben unter gegenwärtigen Bedingungen so anstren-gend machen kann. Wenn es so ist, wie es Bufford beschreibt, dannscheint Gewalt ein "Bewältigungsversprechen" für eine größten Las-ten der postmodernen Lebensverhältnisse anzubieten: Für die un-aufhebbare Reflexivität unseres Alltags, in dem alles so, aber auchganz anders sein könnte, in dem ich permanent zwischen Alterna-tiven abzuwägen und mit den damit verbundenen Ambivalenzenund Widersprüchen zu leben habe. In diesem Sinne wird Gewalt einestabile Identitätsplattform und sie verschafft Anerkennung, zumin-dest in spezifischen Subkulturen und in heimlichen Einverständnismöglicherweise von realen oder imaginierten Bevölkerungskreisen.

(4) Der Körper wird zum zentralen Bezugspunkt von Authentizitäts-bedürfnissen. Das Herdersche Authentizitätsideal "jeder Mensch hatein eigenes Maß", also "seine eigene Weise des Menschseins" (Taylor1995, 38), spricht zunehmend eine Körpersprache. Umso wenigerder jeweils gegebene kulturelle Rahmen konsensfähiger Vorstellun-gen dem Menschen sagt, "was gut ist", suchen Menschen in ihremKörper das Gefühl von Stimmigkeit und Echtheit.

Ulrich Aufmuth (1986) hat am Beispiel des Extrem-Alpinismus her-ausgearbeitet, in welcher Weise sich im Risikosport das Begehrennach einer authentischen Selbsterfahrung Realisierung erhofft.

Am fündigsten wird man bei dem "psycho man" der Bergsteiger, beiReinhold Messner: "Es geht mir bei diesen Expeditionen darum, mirselbst näher zu kommen. In mich selbst hineinzusehen. Wenn ichsehr hoch hinaufsteige, kann ich eben sehr tief in mich hineinsehen"(Everest. Expedition zum Endpunkt. München 1978, S. 58). Ähnlichäußerte er sich kürzlich nach der Rückkehr von seiner Antarktisex-pedition.

Dazu Aufmuth: "... in einer nahezu allgegenwärtigen Weise (gehört)die Befindlichkeit des Fremdseins zu den existentiellen Grundtatsa-

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chen vieler Extrem-Alpinisten. Fremd sind viele in jener ganzschlichten Wortbedeutung, als sie sich nirgends richtig zu Hausefühlen. Sie entbehren in einem tragischen Maße jene Grunderfahrungdes selbstverständlichen Verwurzeltseins in einer Landschaft, einerGruppe oder Weltanschauung".

"Das harte und gefahrvolle Bergsteigen bringt die qualvollen Emp-findungen der Selbstunklarheit, der inneren und äußeren Fremdheitvorübergehend zum Erlöschen. (...) Im harten, todernsten Ringen mitdem Berg spüren wir uns sehr intensiv, aber wir 'denken' uns nicht.Man lebt hochbewusst, aber es ist dies eine Bewusstheit außerhalbder Ebene des unruhig schweifenden Intellekts. Sie wurzelt im Vib-rieren der hellwachen Sinne und im starken Empfinden des schwerarbeitenden Leibes. (...) Wir fallen im Ringen am Berg ganz in denelementaren Kern der Identität, das Körper-Ich, zurück, und diesesist am schweren Berg in jeder seiner Facetten unvergleichlichmachtvoll und intakt" (S. 194 f.).

(5) Der Körper wird zum Objekt individualisierter Gestaltungswün-sche. Der Wunsch individuelle "Spuren" zu hinterlassen, wird immermehr von der äußeren Welt auf den Körper projiziert. Die relativePlastizität und Formbarkeit des Körpers macht ihn zum bevorzugtenObjekt der Veränderung. Die kreativen Gestaltungsansprüche sollenin einer Ästhetisierung des körperlichen Habitus, mindestens seinesoutfits realisiert werden.

Sich als einzelner sichtbar, von anderen unterscheidbar machen zuwollen, aus der "Masse" herauszustechen, ist eine Norm der indivi-dualisierten Gesellschaft. Aufmuth zeigt, wie stark dieses Motiv beiAlpinisten ausgeprägt ist: "Ein radikaler und vielfach aggressiv ge-tönter Individualitäts-Kultus zieht sich als markante Strömung durchviele Generationen von Extrem-Bergsteigern hindurch" (S. 203). BeiEugen Lammer, einem Alpinisten der 20er Jahre heißt es: "Da untenwill ich fest gegründet sein und wesenseins mit der breiten, unge-formten Masse, verschmolzen mit meinem Volk, mit der Menschheit;daraus hervor aber soll mein Ich dem Berge gleich erwachsen alsdurchaus Eigener, ohne Andersgleichen, empor zur scharfgezacktenPersönlichkeit" (1923, S. 65).

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Was bei den Extremalpinisten als ein Auszug aus dem Zivilisations-gehäuse und seiner Enge inszeniert wird, hat sich in aktuellen Pro-grammen der Selbstsozialisation als Projekt individueller Leistungs-steigerung längst an die Spitze des Fortschritts begeben. Ein Beispieldafür liefert die Psychologin Maria M. Beyer (1992). "Verschlankung"wird bei ihr zu einem umfassenden Prinzip der Ressourcenmobili-sierung. Im Klappentext zu ihrem Buch kann man lesen: "Das Prinzipder Power Line liegt in der eleganten Kunst, individuell und selbst-bestimmt die Voraussetzungen für die erfolgreiche Neubelebungder eigenen persönlichen Kompetenz zu schaffen; (...) UngünstigeSteuerprogramme, die menschliches Verhalten immer wieder ein-leiten und garantieren, tragen erheblich dazu bei, dass die darausresultierenden Denk- und Handlungsstrategien zu Erfolglosigkeit,Unmotiviertheit, Übergewicht oder dem bedrohlichen Gefühl einerberuflichen Überforderung führen. Schwellen und Blockaden dieserArt lassen sich durch das NeuProgrammierungskonzept zuverlässiglösen. (...) Bereiche Ihrer Ernährung, des Umgangs mit dem Gehirnund der eigenen Neuro-Muster, Ihres Körpers und des Beziehungs-umfeldes erfahren dabei die notwendige Neuorganisation und Re-generation".

"Personal Identity" versteht sich als Programm der "Selbst-Schöpfung": "SIE sind im Kern DAS KUNSTWERK". Wir "dürfen" uns "alseinen kreativen Akt verstehen". "Dies bedeutet, dass durch Selbstor-ganisation, Selbststeuerung und die Unabhängigkeit von Außenre-ferenzen oder Fremdmanipulationen eigene Potentiale erwecktwerden, um SICH SELBST frei zu gestalten und zu erleben" (S. 217).

Um dies erreichen zu können, muss sämtlicher Ballast abgeworfenwerfen (das ist die metaphorische Übertragung des Ziels der "leanproduction" auf die Identität): an Körpergewicht, an ideologischenund sozialen Abhängigkeiten.

(6) Der Körper wird zum Ort, an dem sich die basalen Wünsche nachAnerkennung und Zugehörigkeit festmachen. Die Erosion von Koor-dinaten, Kontexten und Traditionen, die Zugehörigkeit und Aner-kennung verbürgen, sucht in körperbezogenen Identitätsmarkierun-gen und darin vorgenommenen Zuordnungen und Eingliederungenin subkulturelle Szene ihre Kompensation. Eine auf Schlankheit, Ju-

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gendlichkeit und Gesundheit zielende Körperarbeit eröffnet sonstnicht zugänglicher Chancen sozialer Anerkennung.

(7) Der Körper wird zum Symbol und Betätigungsfeld einer diffus-universellen Leistungsbereitschaft. Die Variante der protestantischenEthik, die den postmodern gekleideten Spätkapitalismus gekenn-zeichnet, sucht sich als "Corporate fitness" ihr Betätigungsfeld in derKörpersphäre. Die Grundhaltung, "allzeit bereit" zu sein, bemühtsich um körperliche Beweisfähigkeit und verschiebt dabei die Gren-ze immer weiter. Das Subjekt weiß nie genau, ob es am Ziel ange-kommen ist und muss deshalb die Anstrengungen ständig erhöhen.

Zygmunt Bauman (1995) hat sich kürzlich Gedanken zum gegen-wärtigen Fitness-Kult gemacht. Er stellt quasi die Gegenposition zudem Wunsch dar, im Körper einen unverrückbaren Ort des Identi-tätsbegehrens zu finden. Es geht um "Das Vermeiden des Festge-legt-Seins" und "Fitness als Ziel" .

"Fitness - die Fähigkeit, sich schnell und behende dorthin zu bewe-gen, wo etwas los ist und jede sich bietende Möglichkeit für neueErfahrungen zu ergreifen - hat Vorrang vor Gesundheit - der Vor-stellung, dass es so etwas wie Normalität gibt, die man stabil undunversehrt hält" (S. 10).

"Nicht mehr das Streben nach Normerfüllung und Konformität machtalso die Anstrengung unseres Lebens aus; vielmehr handelt es sichum eine Art Meta-Anstrengung, die Anstrengung, fit - gut in Form -zu bleiben, um sich anzustrengen. Die Anstrengung, nicht alt undrostig und verbraucht zu werden; an keinem Ort zu lange zu blei-ben; sich die Zukunft nicht zu verbauen" (S. 12).

"Körperliche Fitness als oberstes Ziel, das es - durch Selbstzwang -zu erreichen gilt, das jedoch niemals erreicht wird, ist für immer anAngst gebunden; diese sucht vergeblich nach immer neuen Entlas-tungsmöglichkeiten. Meine These ist, dass es sich bei dieser 'Priva-tisierung' des Körpers um die 'Urszene' postmoderner Ambivalenzhandelt. Sie verleiht postmoderner Kultur ihre unerhörte Energie undden inneren Zwang, ständig in Bewegung zu sein. Sie ist eine we-sentliche, wenn nicht gar die wichtigste Ursache für das typisch

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postmoderne 'Instant-Altern' - diese neurotische, beliebige, chao-tische, konfuse, zwanghafte Unruhe postmoderner Kultur mit ihrematemberaubenden Strudel immer neuer Moden und Trends, mit ih-ren ephemeren Wünschen, kurzlebigen Hoffnungen und schreckli-chen Ängsten, die von noch schrecklicheren Ängsten abgelöst wer-den. Der kulturelle Erfindungsreichtum der Postmoderne ist wie einBleistift mit einem Radiergummi an der Spitze; was er schreibt, ra-diert er sofort wieder aus und muss so ohne Unterlass über ein wei-ßes Blatt Papier wandern, das immer unbeschrieben bleibt" (S. 21).

(8) Der Körper bleibt aber zugleich auch ein Symbol des Nicht-Verfügbaren. Er kann gesellschaftlich kodiert, manipuliert und mitHoffnungen der instrumentellen Verfügbarkeit besetzt und überla-den werden, aber er bleibt zugleich Natur, die sich wehrt. Diese Di-alektik von Instrumentalisierung und Widerstand findet ihre Sprachein der Psychosomatik und man muss sie zu entziffern versuchen.

Weder der Körper als äußeres noch der Leib als inneres Selbstver-hältnis taugen als unverrückbare Stabilitätsgarantien der Identitäts-arbeit. Damit ist aber keine Aussage über ihre Identitätsrelevanzgetroffen. In den individuellen Identitätskonstruktionen können sieeinen zentralen, aber auch einen marginalen Stellenwert einnehmen.

IDENTITÄTSARBEIT HEUTE:KÖRPER ALS EIN BEZUGSPUNKT DES KOHÄRENZERLEBENS

Aus soziologischer Sicht hat Anthony Giddens (1991, S. 74 ff.) zu-sammengefasst, was Selbst- oder Identitätskonstruktionen heutekennzeichnet und in seiner Merkmalsliste taucht die Körperdimensi-on durchaus auf:

IDENTITÄT ALS REFLEXIVES PROJEKT(nach Anthony Giddens)

1. Identität wird zum reflexiven Projekt: "Wir sind nicht was wir sind,sondern was wir aus uns machen".

2. Identitätsarbeit schafft eine Verlaufskurve: Zwischen Kindheit undZukunft wird eine Kohärenz als Entwicklungsgestalt erzeugt.

3. Die Reflexivität der Identitätsarbeit ist kontinuierlich und allesdurchdringend: „Was geschieht gerade mit mir? Was denke ich? Was

tue ich? Was fühle ich?"

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4. Identität entsteht in einem narrativen Prozess: "Ich erzähle michselbst".

5. Selbstverwirklichung bedeutet die Schaffung persönlicher Zeitzo-nen, die bewusst gegen die äußere Zeit gesetzt werden.

6. Die Selbstreflexivität bezieht den Körper ein:„Ich bin, was ich spüre“.

7. Selbstverwirklichung wird im Spannungsfeld von Chancen und Risi-ken verstanden.

8. Authentizität wird zum Leitfaden der Selbstverwirklichung:„Ich bleibe mir selbst treu“.

9. Identität vollzieht sich in "Übergängen", die ohne gesellschaftlicheStützrituale gelebt und gestaltet werden.

10. Die Verlaufskurve der Identitätsentwicklung ist immer selbstrefe-rentiell: „Ich muss meine Lebenserzählung in sich stimmig präsentie-

ren“.

Wir versuchen in unserem eigenen Projekt der Identitätsforschung(vgl. Keupp & Höfer 1997), ein Verständnis von Identitäts-entwicklung zu formulieren, das den gesellschaftlichen Strukturver-änderungen Rechnung tragen kann. Ihren Kernbestand von Annah-men zur Identität könnte man so zusammenfassen:

Identität wird hier verstanden als ein Bedeutungsrahmen, innerhalbdessen eine Person ihre Erfahrungen interpretiert und die jeweils dieBasis bildet für aktuelle Identitätsprojekte. Die alltägliche Identitäts-arbeit sucht in spezifischen Identitätsprojekten situativ stimmigePassungen im Verhältnis von inneren und äußeren Erfahrungen zuentwickeln. Durch diese Passungen sucht sich das Subjekt seine ge-sellschaftliche Handlungsfähigkeit zu sichern. Dazu werden Identi-tätsstrategien eingesetzt. Identitätsarbeit zielt darauf, ein individuellgewünschtes oder notwendiges "Gefühl von Identität" zu erzeugen.Basale Voraussetzungen für dieses Gefühl sind soziale Anerkennungund Zugehörigkeit. Auf dem Hintergrund von Pluralisierungs-, Indi-vidualisierungs- und Entstandardisierungsprozessen ist das Inventarübernehmbarer Identitätsmuster ausgezehrt. Alltägliche Identitäts-arbeit hat die Aufgabe, die Passungen, die Verknüpfungen unter-schiedlicher Teilidentitäten vorzunehmen. Qualität und Ergebnisdieser Arbeit findet in einem macht-bestimmten Raum statt, derschon immer aus dem Potential möglicher Identitätsentwürfe spezi-fische erschwert bzw. andere favorisiert, nahe legt oder gar auf-zwingt. Qualität und Ergebnis der Identitätsarbeit hängen von denRessourcen (durchaus ein auch verharmlosender Ersatzbegriff für

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die Machtthematik) einer Person ab, von individuell-biographischgrundgelegten Kompetenzen, über die kommunikativ vermitteltenNetzwerkressourcen, bis hin zu gesellschaftlich-institutionell ver-mittelte Ideologien und Strukturvorgaben. Die Suche nach Kohärenzin den individuellen Identitätsprojekten orientiert sich an subjektiverStimmigkeit und Authentizität. Die Leiberfahrung kann ein zentralerMessfühler für Stimmigkeit und Authentizität sein. Die Kohärenzsu-che wird aber zugleich durch gesellschaftlich vorherrschende Nar-rationen geprägt, über die soziale Zugehörigkeit vermittelt wird.Die Konstruktion des individuellen Identitätskonstruktes wird vonBedürfnissen geleitet, die aus der persönlichen und gesellschaftli-chen Lebenssituation gespeist sind. Insofern konstruieren sich Sub-jekte ihre Identität nicht in beliebiger und jederzeit revidierbarenWeise, sondern versuchen sich in dem, was ich Gefühl von Identitätgenannt habe, in ein "imaginäres Verhältnis zu ihren wirklichen Le-bensbedingungen" zu setzen (Althusser). Beim Herstellen dieser I-dentitätskonstruktionen werden zumindest "Normalformtypisie-rungen" benötigt (Identifikationen), Normalitätshülsen oder Symbo-lisierungen von alternativen Optionen, Möglichkeitsräumen oder U-topien.

Ist das Festhalten am Kohärenzgedanken nicht der illusionär-vergebliche Versuch, ein gesellschaftliches Auslaufmodell normativfesthalten zu wollen? Sprechen nicht alle Gegenwartsanalysen derpostmodernen oder der individualisierten, globalisierten Risikoge-sellschaft gegen das Deutungsmuster einer kohärenten Sicht der ei-genen Biographie und Identität und der Lebenswelt? Muss die nor-mative Idee der Kohärenz nicht notwendig in die Sackgasse desFundamentalismus oder einer esoterischen Weltdeutung führen?Wird sie nicht notwendig zu einem „Kohärenzzwang“, die alle wi-derstreitenden, ambivalenten und kontingenten Erfahrungen aus-klammern muss, um eine „reine Identität“ konstruieren zu können?Eine solche „purifizierte Identität“ ist bei Heranwachsenden in dennordamerikanischen Innenstädten beschrieben worden (Sennett1996b), die für sich eine rigide-eingeengte Selbstkonstruktion ent-wickeln, um ihre mangelnden Chancen in einer angeblich multiopti-onalen Gesellschaft aushaltbar zu machen. In diesem Fall wird Ko-härenz in die defensive Gestalt einer geschlossenen und in sich wi-derspruchsfreien Sicht von sich und der Welt gebracht. Diese Kon-

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struktion braucht Feindbildkonstruktionen, muss einen Tunnelblickentwickeln, der nur Welterfahrungen zulässt, die das eigene Selekti-onsmuster bestätigen. Hier haben wir es mit einem Phänomen des„reflexiven Fundamentalismus“ zu tun.

Diese Überlegungen begründen den Zweifel, dass das formale Prin-zip der Ko-härenz bereits als normatives Modell ausreicht. Oderanders gewendet, es wäre gut, sich von einem Begriff von Kohärenzzu verabschieden, der als innere Einheit, als Harmonie oder als ge-schlossene Erzählung verstanden wird. Kohärenz kann für Subjekteauch eine offene Struktur haben, in der - zumindest in der Wahr-nehmung anderer - Kontingenz, Diffusion im Sinne der Verweige-rung von commitment, Offenhalten von Optionen, eine idiosynkra-tischen Anarchie und die Verknüpfung scheinbar widersprüchlicherFragmente sein dürfen. Entscheidend bleibt allein, dass die individu-ell hergestellte Verknüpfung für das Subjekt selbst eine authentischeGestalt hat, jedenfalls in der gelebten Gegenwart und einen Kontextvon Anerkennung, also in einem Beziehungsnetz von MenschenWertschätzung und Unterstützung gefunden hat. Es kommt wenigerdarauf an, auf Dauer angelegte Fundamente zu zementieren, son-dern eine reflexive Achtsamkeit für die Erarbeitung immer wiederneuer Passungsmöglichkeiten zu entwickeln.

Aus der aktuellen Identitätsforschung ist Unterstützung für ein Fest-halten am Kohärenzprinzip zu erhalten, und zugleich ein reichesAnregungspotential für ein Kohärenzmodell, das der „reflexive Mo-derne“ angemessen ist. Welsch (1995) betont, dass ein innerer Zu-sammenhang von unterschiedlichen Teilidentitäten für uns „hartnä-ckige Identitätskonstrukteure“ (S. 845) nicht in einem „System odereiner durchgängigen Bestimmtheit durch eine Erst- und Letz-tinstanz“ möglich ist (S. 846). Es sei vielmehr ein „neuartiger Kohä-renztyp“ erforderlich, in dem die Annahme der „Oberherrschaft“aufgegeben sei und eine „Kohärenz durch Übergängigkeit“ gedachtwird. Welsch geht von einer Verbindung von Teilidentitäten „durchÜberschneidungen, Bezugnahmen und Übergänge zwischen dendiversen Identitäten“ aus (S. 847). Erforderlich hierfür ist eine innerePluralitätskompetenz, durch die innere Vielfalt oder „Multiplizität“zu einem eigenwilligen, flexiblen und offenem Identitätsmusterkomponiert werden kann (vgl. Bilden 1998).

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Kohärenz wird über Geschichten konstruiert. In dem Konzept der„narrativen Identität“, das immer mehr Aufmerksamkeit auf sichzieht (vgl. zusammenfassend: Kraus 1996), wird diese Idee insZentrum gerückt. Deren Grundgedanken hat Heiko Ernst so zusam-mengefasst: "Erzählungen und Geschichten waren und bleiben dieeinzigartige menschliche Form, das eigene Erleben zu ordnen, zubearbeiten und zu begreifen. Erst in einer Geschichte, in einer ge-ordneten Sequenz von Ereignissen und deren Interpretation gewinntdas Chaos von Eindrücken und Erfahrungen, dem jeder Mensch täg-lich unterworfen ist, eine gewisse Struktur, vielleicht sogar einenSinn" (Ernst 1996, S. 202).

Sind solche Zusammenhang stiftenden Geschichten heute überhauptnoch möglich?

In seinem Buch „Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapita-lismus“ beschreibt Richard Sennett die zur „modernen Politökono-mie“ passende Subjektstruktur so: „Ein nachgiebiges Ich, eine Colla-ge aus Fragmenten, die sich ständig wandelt, sich immer neuen Er-fahrungen öffnet - das sind die psychologischen Bedingungen, dieder kurzfristigen, ungesicherten Arbeitserfahrung, flexiblen Institu-tionen, ständigen Risiken entsprechen“ (Sennett 1998, S. 182). FürSennett befindet sich eine so bestimmte „Psyche in einem Zustandendlosen Werdens - ein Selbst, das sich nie vollendet“ und für ihnfolgt daraus, dass es „unter diesen Umständen keine zusammenhän-gende Lebensgeschichte geben (kann), keinen klärenden Moment,der das ganze erleuchtet“ (ebd.). Hier wird das Ende der Kohärenzbeschrieben, also die Unmöglichkeit, eine zusammenhängende Le-bensgeschichte zu erzählen. Das seien die „narrativen Formen“, dieals postmodern bezeichnet werden.

Von dieser Diagnose ausgehend ist zunächst zu fragen, ob der glo-balisierte Kapitalismus mit seiner soziokulturellen Dynamik zur„Korrosion“ jener Subjektstrukturen geführt hat oder führen wird, diedem in der klassischen Identitätsforschung so hoch gehandeltenPrinzip der Kohärenz die Basis gegeben hatten. Es lässt sich aberauch die Frage stellen, ob sich mit historischen Wandlungsdynami-ken zunächst einmal „nur“ die Geschichten verändern, in denen so

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etwas wie lebenstaugliche Kohärenz gestiftet wird. Wenn es so wäre,dann bestünde ein aktuelles Forschungsprogramm eher in der Ana-lyse von zeittypischen Narrationen und ihrer Funktionalität für dieFormulierung von einem inneren Sinnzusammenhang und weniger ineinem intellektuellen Trauergesang auf den Verlust einer kohären-ten Identität.

Auf der Basis unserer eigenen Forschung zu Identität und Gesundheitkomme ich zu der These, dass Kohärenz für die alltägliche Identi-tätsarbeit von Menschen eine zentrale Bedeutung hat, deren Fehlenzu schwerwiegenden gesundheitlichen Konsequenzen führt. Auf derBasis dieser Befunde sehe ich mich in meiner Annahme bestätigt,dass das Kohärenzprinzip für die Identitätsbildung nicht zur Dispo-sition gestellt werden darf. Aber die soziokulturellen „Schnittmuster“für Lebenssinn oder Kohärenz haben sich dramatisch geändert. Dieindividuellen Narrationen, in denen heute Kohärenz gestiftet wird,schöpfen immer weniger aus den traditionsreichen „Meta-Erzählungen“. Sie müssen in der „reflexiven Moderne“ individualisiertgeschaffen werden. An diesen individualisierten Geschichten wirdaber auch deutlich, dass die Welsch’sche Aussage, dass die „ver-schiedenen Subjektanteile nicht von außen, sondern von innen ver-bunden (sind)“ (S. 849) nur dann richtig ist, wenn dazu gesagt wird,dass der Erzählstoff nicht allein in den Subjekten entsteht, sondernuns kulturell angeliefert wird. Wir werden mit vielfältigen Angebotenneuer kulturell vorgefertigter Erzählmuster überschüttet, die unterdem Versprechen von Individualität und Authentizität neue Standar-disierungen anmessen. Hier spielt vor allem die vielstimmige undmultimediale „Kulturindustrie“ eine wachsende Rolle. Auch der Ge-sundheitsbereich ist davon unmittelbar betroffen.

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