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02 | 2019 ISSN 2567-3742 Fachmedium für Thermoprozesstechnik www.prozesswaerme.net [email protected] www.einfachsicher.info Ihr Assistent der Instandhaltung INTERVIEW Dennis Miller, IVA Schmetz GmbH FACHBERICHT Mobile Instandhaltungsassistenten für Thermoprozessanlagen STUDIE Investitionsstandorte für digitale Geschäftsmodelle im Vergleich

Ihr Assistent der Instandhaltung...dener Gesichtspunkte zusammen mit dem Kunden prü - fen, wie sinnvoll eine Erweiterung der jeweiligen Anlage ist. Diese Umrüstung wird auch Teil

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02 | 2019ISSN 2567-3742

Fachmedium für Thermoprozesstechnik

www.prozesswaerme.net

[email protected]

Ihr Assistent der Instandhaltung

INTERVIEWDennis Miller, IVA Schmetz GmbH

FACHBERICHTMobile Instandhaltungsassistenten für Thermoprozessanlagen

STUDIEInvestitionsstandorte für digitale Geschäftsmodelle im Vergleich

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SONDERTEIL EDITORIAL

Die Digitalisierung verändert die Thermoprozesstechnik

Die Thermoprozesstechnik ist eine Branche, die viele verschie-dene Disziplinen vereint. Physik, Chemie, Maschinen- und

Anlagenbau ebenso wie die hohe Kunst des Handwerks. Seit langer Zeit gehört auch die Informatik zu den Fundamenten der Thermo-prozesstechnik. Insbesondere in den Entwicklungsabteilungen hat sich der Computer seit den 80er Jahren in vielen Unternehmen durchgesetzt und alte Konstruktionszeichnungen abgelöst. Heute gehört die Digitalisierung in vielen Bereichen der Thermoprozess-technik zum Alltag und nimmt zunehmend an Fahrt auf.

Die PROZESSWÄRME berichtet kontinuierlich über diese Ent-wicklung in der Rubrik Messen/Steuern/Regeln und Automatisie-ren. Einmal im Jahr veröffentlichen wir einen Sonderteil zu dem Thema Digitalisierung. Dieses Thema wird bis heute auf unseren Schriftleitersitzungen kontrovers diskutiert. Denn insbesondere mit dem Begriff Industrie 4.0 schien plötzlich alles digital machbar zu sein. Was aber nicht den Tatsachen entspricht. Die Thermopro-zesstechnik ist eine Branche, die von der Werkstatt lebt, in der viele Geschäftsführer noch selbst den Schraubenzieher oder das Prüfge-rät in die Hand nehmen. Auch die Inbetriebnahme vor Ort ist harte Arbeit, die viel Erfahrung erfordert. Die Industriegebiete, in denen die Kunden der Hersteller von metallurgischen Anlagen arbeiten, haben nichts zu tun mit einer digitalen Welt. Sicherheitsschuhe und Blaumann kommen zum Einsatz. Trotzdem ist insbesondere für die Inbetriebnahme die Digitalisierung von großer Bedeutung. Denn heute werden Anlagen bereits digital in Betrieb genommen – unter Nutzung echter Daten aus der Konstruktionsabteilung. Das Bedienpersonal wird auf virtuellen Anlagen trainiert, die der realen Anlage entsprechen. Der digitale Zwilling kommt hier zum Einsatz.

Und auch in der Wartung kommen immer mehr Produkte auf den Markt, mit denen sich Laufzeiten von Anlagen verlängern lassen. Die vorausschauende Wartung (Predictive Maintenance)

ist eines der wichtigsten Themen im Rahmen der Digitalisierung der Anlagen. Ein gutes Beispiel für diesen Trend beschreibt Carsten Stölting in seinem Beitrag über mobile Instandhaltungsassisten-ten (S. 53). Und auch auf der THERMPROCESS im Juni stellen viele Unternehmen das Thema Digitalisierung in den Mittelpunkt ihres Messeauftritts.

Die Digitalisierung ist also längst in der Thermoprozesstechnik angekommen und verändert die Branche. Doch bleibt ein Bren-ner ein Brenner – und eine Induktionsspule eine Induktionsspule. Daran wird die Digitalisierung nichts ändern. Allerdings erlaubt die Simulation jedes Produkt zu optimieren, ohne viele Prototypen herzustellen. Im Verbund mit der additiven Fertigung wird die Dynamik der Veränderung voraussichtlich weiter zunehmen.

Ich wünsche eine aufschlussreiche Lektüre.

Thomas SchneidewindChefredakteur

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SONDERTEILINTERVIEW

„Predictive Maintenance bietet enormes Einsparungspotential“Dennis Miller ist Head of Digital Service & IT der IVA Schmetz GmbH mit Sitz in Men-den und Dortmund, Nordrhein-Westfalen. Im Interview mit PROZESSWÄRME erläutert er, welche Potentiale die Digitalisierung von Wärmebehandlungsanlagen bereithält und was die IVA Schmetz GmbH in diesem Bereich anbietet.

Sie haben auf dem HärtereiKongress 2018 Ihren Digital Service vorgestellt. Was verbirgt sich hinter diesem Begriff?Miller: Der Digital Service ist unser neues, innovatives Serviceprodukt mit Predictive Maintenance und Remote Assistance als Hauptkomponenten.

Predictive Maintenance, auf Deutsch „vorhersagende Instandhaltung“, bedeutet im Prinzip genau das: Unse-re intelligenten Algorithmen können Maschinenausfälle erkennen, bevor diese überhaupt entstehen. Das ist mög-lich, da die Sensoren, mit denen unsere Öfen rundum ver-sehen sind, bereits minimalste Veränderungen feststellen. Unser sogenanntes Digital Diagnostic Center kann daraus dann zukünftige Defekte ableiten und proaktiv agieren, bevor es zu ungeplanten Ausfällen kommt.

Remote Assistance wiederum ist eine Unterstützung für unsere Servicetechniker, die vor Ort Wartungen an den Anlagen unserer Kunden durchführen. Sie können per Smart-phone, Tablet oder auch über unsere Mixed-Reality Brille, die Microsoft HoloLens, Kontakt zu den Kollegen im Digital Diagnostic Center aufnehmen. Die sehen einen Live-Video-Stream aus der Werkshalle und können dem Servicetechniker nützliche Informationen rund um die Anlage direkt ins Sicht-feld einblenden, was unseren Service noch effizienter macht.

Welche Vorteile bieten Sie Ihren Kunden mit diesem Service?Miller: Letztendlich sorgt beides dafür, dass unsere Kunden Zeit und Geld sparen. Insbesondere die Minimierung von Stillstandzeiten durch Predictive Maintenance bietet enor-

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SONDERTEIL INTERVIEW

mes Einsparungspotential. Wenn ein Defekt droht, erfasst unser Digital Diagnostic Center die Zustandsverschlechte-rung an der jeweiligen Komponente sofort, sodass frühzei-tig ein Termin vereinbart und das benötigte Ersatzteil schon im Vorfeld bestellt werden kann. Die Anlage muss somit nur für die Dauer des Komponentenaustauschs außer Betrieb genommen werden und lange Stillstandzeiten, aufgrund von Wartezeiten, sowie ungeplante Ausfälle gehören der Vergangenheit an.

Wie unterscheidet sich das Produkt von Lösungen Ihrer Wettbewerber?

Miller: Üblicherweise erfolgt die Zustandsüberwachung anhand

von festen Grenzwerten. Wir setzen bei unserer Lösung allerdings auf künstliche Intel-ligenz, deren Grundlage unser Knowhow und unsere jahrelan-

ge Erfahrung im Ofenbau bil-det und die mit allen Daten, die

nun an verschiedenen Anlagen gesammelt werden, dazulernt. Auf

diese Weise können zunehmend zuverlässigere Zustandsbeurtei-

lungen und Vorhersagen getroffen werden.

Hat sich dieses Angebot in der Praxis bereits bewährt?Miller: Bei unseren Pilotkunden ist die Predictive Mainte-nance Lösung bereits seit über einem Jahr im Einsatz. In dieser Zeit konnten wir schon einige Anomalien erkennen und sehr interessante Erfahrungen mit unseren Partnern teilen. Seit dem Produktlaunch auf dem HärtereiKongress haben wir natürlich schon einige Anfragen weiterer Kunden erhalten, mit denen wir uns nun in Gesprächen zur Umset-zung befinden. Die Remote Assistance Lösung befindet sich im Rollout bei unseren Servicetechnikern und hat in den ersten Wochen bereits viel Zuspruch bekommen.

Welche Resonanz erhalten Sie von Ihren Kunden?Miller: Das Feedback, vor allem auch auf dem Härterei-Kongress, wo wir unsere Lösung live präsentiert haben, war durchweg positiv. Viele waren erstaunt darüber, dass so etwas heute schon möglich ist. Gelegentlich aufkom-mende Bedenken, wie beispielsweise die Datensicherheit, besprechen wir gewissenhaft und geben Transparenz rund um unsere Lösungen. Insgesamt sind wir mit der bisherigen Resonanz sehr zufrieden und freuen uns über die Aufge-schlossenheit unserer Kunden.

Welche weiteren Entwicklungen sind geplant, um das Produkt zu optimieren?Miller: Zunächst wurde die Predictive Maintenance Lösung für die gängigsten Modelle der Marken IVA und Schmetz

Digital Service – Predictive Maintenance & Remote AssistanceZiel von Predictive Maintenance ist es, die Anlagenverfügbarkeit zu maximieren und Planbarkeit zu schaffen, indem der Zustand der jeweiligen Anlage ständig überwacht und potenzielle Ausfälle vorhergesagt werden. Zustandsbeurteilungen und Vorhersagen nutzen Machine Learning, einen Bereich der künstlichen Intelligenz.Mit Hilfe von Remote Assistance wird der Service effizienter und schneller, denn der ausführende Techniker steht in auditivem und visuellem Kontakt mit dem Backoffice und wird durch Einblendungen ins Sichtfeld via Tablet oder Mixed Reality Brille unterstützt.

VITADennis Miller

■ 2010 in die Welt der Wärmebehandlung eingetreten, dualer Student bei Ipsen International GmbH ■ Seit 2014 aktiv an der Entwicklung von Predictive Maintenance Lösungen beteiligt, Ipsen USA ■ Seit 2015 bei der IVA Schmetz GmbH mit der Entwicklung der Digital Services betraut ■ 2016, Studium, Abschluss M.Sc. im Bereich Software Engineering ■ Seit 2018 als Head of Digital Service & IT verantwortlich für Produktentwicklung des Digital Service

„Wir setzen bei unserer Lösung auf künstliche Intelligenz“

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SONDERTEILINTERVIEW

umgesetzt, künftig wollen wir sie aber für all unsere Anla-gen sowie auch für die unserer Schwestergesellschaften BMI und Mahler anbieten. Damit geht eine stetige Ver-besserung und Erweiterung unserer Algorithmen zur Datenauswertung einher. Grundsätzlich planen wir auch, das Monitoring sowie Remote Assistance um zusätzliche Anwen-dungsfälle zu erweitern.

Ist der Service auch für Altanlagen erhältlich?Miller: Ja, auf jeden Fall. Wir können die meisten Alt-anlagen mit der entsprechenden Sensorik nachrüsten und so den Service auch diesen Kunden zugänglich machen. Natürlich müssen wir uns aber jeden einzelnen Fall genau ansehen und unter Berücksichtigung verschie-dener Gesichtspunkte zusammen mit dem Kunden prü-fen, wie sinnvoll eine Erweiterung der jeweiligen Anlage ist. Diese Umrüstung wird auch Teil unserer neuen Digital Service Verträge sein.

Wie wird die Digitalisierung die Härtereibranche Ihrer Meinung nach verändern?Miller: Seit Jahren dreht sich alles um Industrie 4.0 und wir erleben, wie die Digitalisierung Einzug in die Industrie

erhält. Höhere Anla-genverfügbarkeit, optimierte Prozesse, effiziente Logistik und eine transpa-rente Historie vom Rohstoff bis zum Endprodukt – die enormen Potentiale

wurden bereits vielfach quantitativ belegt. Wir sind über-zeugt davon, dass auch die Härtereibranche da keine Ausnahme darstellt. Natürlich bleibt das Kerngeschäft unserer Branche das Härten, künftig eben reibungsloser, schneller, günstiger, besser. Eine erfolgreiche Digitali-sierung stärkt die Wettbewerbsposition eines Unter-nehmens und viele unserer Kunden haben das bereits erkannt, was die positive Resonanz auf unseren Digital Service und die hohe Nachfrage unterstreicht.

„Aufkommende Bedenken, wie beispielsweise die Datensicherheit, besprechen wir gewissenhaft und

geben Transparenz“

Programm-Höhepunkte Wann und Wo?

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Veranstalter

Mehr Informationen und Online-Anmeldung unter www.haertereipraxis.net

Die

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Montag, 20. Mai 2019Firmenbesichtigung** Freiformschmiede Dirostahl (Karl Diederichs KG) in RemscheidGet-together am Abend

Dienstag, 21. Mai 2019Industrie 4.0 Wärmebehandlungsansätze für Liefer- und ProzessketteneinflüsseDatensicherheit, Datenschutz und DSGVO im Zeitalter von Industrie 4.0 – Anforderungen an die moderne LohnhärtereiDie kommerzielle Wärmebehandlung im Wandel der digitalen Transformation – Chancen und Herausfor-derungen im Controlling von Wärmebehandlungsanlagen. Ein Praxisbericht bei Renk AG in AugsburgLeichtbauoptimierte Stähle für anspruchsvolle Umform- und WärmebehandlungsprozesseEinsatzhärten von nichtrostenden Stählen mittels StickstoffBorieren für höchste Verschleißbeanspruchungen

E-Mobilität – Das Ende für die Lohnwärmebehandlung in Deutschland?

Mittwoch, 22. Mai 2019Induktionserwärmung - Anwendungen im AutomobilbauNitrieren von pulvermetallurgisch hergestellten StählenEinfluss der Wärmebehandlung auf die Tragfähigkeit von AntriebskomponentenGravierende Einsparungen des CO-Verbrauchs beim Schutzgashärten durch Optimierung der RegelungPlanung und Optimierung der Vakuumprozesse in der Wärmebehandlung und deren zentralen VersorgungCE-Kennzeichnung und sicherer Umgang mit Chargiergestellen

MIT REFERENTEN VON: Aichelin Holding GmbH, Bodycote Specialist Technologies GmbH, Bosch Transmission Technology B.V., Continental Emitec GmbH, Deutsche Edelstahlwerke Specialty Steel GmbH, ECM Technologies, GKN Sinter Metals Engineering GmbH, Georgsmarienhütte GmbH, Hanomag Härtecenter GmbH, Hugo Kern und Liebers GmbH, Inductoheat Europe GmbH, Neapco Europe GmbH, Rübig GmbH, Schweizer-Chemie GmbH u.v.a.

PROZESSWÄRME-Tagung

Wärmebehandlung - Prozess- und Anlagentechnik - QualitätssicherungHärtereiPraxis 2019 20.– 22. Mai 2019, Mercure Hotel Messe & Kongress, Dortmund

Termin: • Montag, 20.05.2019 (optional)

Firmenbesichtigung** (16:00 – 17:30 Uhr) Get-together ab 19:00 Uhr

• Dienstag, 21.05.2019, Seminar (08:30 – 17:00 Uhr) Abendveranstaltung ab 19:00 Uhr

• Mittwoch, 22.05.2019, Seminar (08:30 – 13:30 Uhr)

Ort: Mercure Hotel Messe & Kongress Dortmund

Teilnahmegebühr* für Tagungsbesuch (20.-22. Mai 2019) • Early Bird (bis 31.12.2018) 900,00 €• regulärer Preis: 1.050,00 €• PROZESSWÄRME Club-Mitglieder 900,00 €* Teilnahmebedingungen: Im Preis enthalten ist die Teilnahme an zwei/drei

Tagen, Tagungsunterlagen, Mittagessen, Erfrischungen in den Pausen, Get-together und Abendveranstaltung. Übernachtungskosten sind in der Teil-nahmegebühr nicht enthalten. Nach Eingang Ihrer schriftlichen Anmeldung (auch online möglich) sind Sie als Teilnehmer registriert und erhalten eine Bestätigung sowie die Rechnung, die vor Veranstaltungsbeginn zu beglei-chen ist. Bei Absagen nach dem 18. April 2019 oder bei Nichterscheinen wird die volle Teilnahmegebühr berechnet: Es kann jedoch ein Ersatzteilneh-mer gestellt werden. Stornierungen vor diesem Termin werden mit € 150,00 Verwaltungsaufwand berechnet. Die Preise verstehen sich zzgl. MwSt. Bezüglich der begrenzten Teilnahmemöglichkeiten an der Firmenbesichti-gung behalten die Veranstalter sich das Recht vor, eine Auswahl unter den re-gistrierten Teilnehmern zu treffen. Mit der Anmeldung stimmen Sie den AGB (www.prozesswaerme.net) zu.

**begrenzte Plätze

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SONDERTEIL STUDIE

Studie: Investitionsstandorte für digitale Geschäftsmodelle im Vergleich

Die Industrie 4.0 schreitet kontinuier-lich voran und beeinflusst sowohl die

Geschäftsstrategien, als auch die Unterneh-menskulturen. Ständig entstehen digitale Geschäftsmodelle, die wie ein Katalysator auf Forschung und Entwicklung (F&E) wir-ken. In diesem Kontext spielen die steuer-lichen Rahmenbedingungen an Investiti-onsstandorten oder die Standortattrakti-vität eine wichtige Rolle. Die vorliegende Aktualisierung des Steuerlichen Digitalisie-rungsindex, einer Gemeinschaftsstudie der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC mit dem Zentrum für Europäische Wirt-schaftsforschung (ZEW) sowie der Univer-sität Mannheim, analysiert und vergleicht die steuerliche Attraktivität für Investitionen in digitale Geschäftsmodelle in den 28 EU-Mitgliedsstaaten, Japan, Kanada, Norwegen, der Schweiz und den USA seit 2017 zum zweiten Mal. Im Rahmen des Index werden effektive Steuerbelastungen für typisierte Investitionen in digitale Geschäftsmodelle auf Grundlage der vorherrschenden steuer-lichen Faktoren mit Rechtsstand zum 1. Juli 2017 in diesen 33 Ländern analysiert.

In Bezug auf die direkte Unternehmens-besteuerung sind Italien, Irland und Ungarn die attraktivsten Standorte für Investitionen in digitale Geschäftsmodelle. Deutschland hingegen ist der unattraktivste Standort für digitale Geschäftsmodelle. In der Stu-die werden steuerliche Standortfakto-ren herausgearbeitet sowie quantitative Ergebnisse für Investitionen in digitale Geschäftsmodelle im Detail analysiert, mit Steuerbelastungen für traditionelle Geschäftsmodelle verglichen und in Bezug zu anderen relevanten Standortfaktoren in der digitalen Wirtschaft, wie z. B. Infra-struktur, Personal und Nutzungsgrad der Technologien gesetzt.

Die Resultate dienen somit als objek-tiver Beurteilungsmaßstab für die Poli-tik und unternehmerische Entscheider hinsichtlich der steuerlichen Rahmen-bedingungen im Zuge der Digitalisie-rung der Wirtschaft. Basierend auf der

letztjährigen Studie (Steuerlicher Digi-talisierungsindex 2017) werden zudem die aktuellen steuerlichen Änderungen in den untersuchten Ländern dargestellt. Außerdem werden in drei Sonderkapiteln steuerliche F&E-Anreize, die die Steuerbe-lastung digitaler Geschäftsmodelle stark beeinflussen können, spezielle Charakte-ristika von plattformbasierten Geschäfts-modellen sowie die Auswirkungen der zum 1. Januar 2018 in Kraft getretenen US-Steuerreform für digitale Geschäfts-modelle analysiert.

Digitalisierung ist Treiber von WachstumDie digitale Transformation der Wirtschaft vollzieht sich branchenübergreifend und hat die kontinuierliche Entstehung neuer Geschäftsmodelle zur Folge. Investitionen in digitale Güter und Technologien füh-ren zu Produktivitätssteigerungen und wirtschaftlichem Wachstum. Außerdem sind sie Grundlage für Innovationen, Effi-zienzsteigerungen und höhere Absatz-potenziale. Die verstärkte Nutzung von (individualisierter) Software fungiert hier-bei als maßgeblicher Erfolgsfaktor in der Wertsteigerung.

Allein in Deutschland wurden im Jahr 2016 knapp € 75 Mrd. in Informations-technologien investiert. Weltweit wird das Wachstum für 2017 auf 3,8 % und für 2018 sogar auf weitere 6,2 % geschätzt. Die internetbasierte Integration von Hard- und Software ist Basis neuer Geschäftsfelder, wie z. B. der Plattformlösungen, Artificial Intelli-gence und Cloud-Computing. Dabei gelten die Aggregation, Analyse und gezielte Nut-zung von Daten als wichtige Voraussetzun-gen für Innovation. Daneben ermöglicht die horizontale und vertikale Vernetzung von Wertschöpfungsprozessen, im Rahmen von Industrie 4.0-Projekten, gepaart mit dem gezielten Einsatz von Fachkräften, die Transformation traditioneller Geschäftsmo-delle hin zu Wertschöpfungsketten mit digitalen Ökosystemen.

Qualität von Standortfaktoren variiertIn der Studie werden verschiedene Stand-ortfaktoren für Investitionen in digitale Geschäftsmodelle erörtert und analysiert. Als wichtige nicht steuerliche Standortfak-toren können die digitale Infrastruktur, fähi-ges Humankapital und die Nutzung neuer Technologien identifiziert werden. Im inter-nationalen Vergleich ergeben sich hierbei deutliche Diskrepanzen. So stechen in zahlreichen Rankings die skandinavischen Länder, wie auch die Schweiz, als attraktive Standorte heraus, während Deutschland regelmäßig nur im Mittelfeld platziert ist.

Investitionskosten sind ein maßgebli-cher Faktor im unternehmerischen Ent-scheidungsprozess. Hierzu zählen aus betriebswirtschaftlicher Sicht auch Steu-ern. Zahlreiche wissenschaftliche Studien zeigen, dass Steuern internationale Inves-titionsentscheidungen, die Ansiedlung von wichtigen Funktionen und Wirtschaftsgü-tern sowie den Ausweis von Profitabilität einzelner Unternehmenseinheiten maß-geblich beeinflussen. Obwohl digitale Geschäftsmodelle höchst mobil sind und landesspezifische steuerliche Rahmen-bedingungen demnach gezielt genutzt werden können, bleiben Steuern in bishe-rigen Studien zu Standortfaktoren für die digitale Wirtschaft weitgehend unbeach-tet. In Anlehnung an die Ergebnisse aus dem letzten Jahr werden in dieser Studie Faktoren für die direkte Unternehmensbe-steuerung als weitere Einflussgrößen auf Investitionskosten und somit auf Investiti-onsentscheidungen hinsichtlich digitaler Geschäftsmodelle analysiert.

Für die Studie wurden relevante steu-erliche Parameter für Investitionen in digitale Geschäftsmodelle für die 28 EU-Mitgliedsstaaten sowie Japan, Kanada, Nor-wegen, die Schweiz und die USA recher-chiert. Grundsätzlich gilt für Investitionen in digitale Geschäftsmodelle das gleiche Steuerrecht wie für Investitionen in traditi-onelle Geschäftsmodelle – aufgrund ihrer

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SONDERTEILSTUDIE

Struktur gewinnen, für Investitionen in digi-tale Geschäftsmodelle, jedoch besondere Elemente des Steuersystems an Bedeu-tung. Wesentliche Treiber der nationalen Steuerbelastung auf Unternehmensebene sind der Steuersatz und die Regelungen zur Bestimmung der Bemessungsgrund-lage. Die qualitative Auswertung ergibt eine große Spannbreite der tariflichen Gewinnsteuersätze von 10 bis gut 38 %; Deutschland ist mit einem Satz von gut 31 % mittlerweile ein Hochsteuerland. Hin-sichtlich der Bemessungsgrundlage zeigen sich günstige Regelungen zur Behand-lung von, in digitalen Geschäftsmodellen genutzten, Wirtschaftsgütern. Sowohl für Software als auch für Hardware kommen meist verkürzte Abschreibungsdauern oder höhere Abschreibungssätze im Vergleich zu herkömmlichen Investitionsgütern zur Anwendung. Außerdem können Entwick-lungskosten immaterieller Wirtschaftsgüter regelmäßig sofort abgezogen werden, was digitale Geschäftsmodelle aufgrund der hohen Relevanz des Personals und der lau-

fenden Entwicklungskosten steuerlich im Vergleich zu traditionellen Geschäftsmo-dellen begünstigt. In Deutschland gelten ebenfalls großzügigere Regelungen für Investitionen in Informations- und Kom-munikationstechnologien im Vergleich zu Investitionen in herkömmliche Investitions-güter. Darüber hinaus sehen mehrere Steu-ersysteme die Förderung von Investitionen in F&E vor. Die Investitionskosten werden hierbei durch Bemessungsgrundlagen-begünstigungen oder Steuergutschriften reduziert. Außerdem existieren bereits in 13 der betrachteten Länder sogenannte Intellectual-Property-Box-Regime (IP-Box-Regime), wonach Einkünfte aus immateri-ellen Wirtschaftsgütern begünstigt besteu-ert werden. In Deutschland gibt es bislang keine steuerliche Förderung von F&E.

Steuerliche Rahmenbedingun-gen beeinflussen Standortat-traktivitätDie betrachteten Länder sind als Standorte für digitale Geschäftsmodelle unterschied-

lich attraktiv. Steuern können die Stand-ortattraktivität insofern beeinflussen, als Investitionen in digitale Geschäftsmodelle mit identischen Ausgangsparametern (insb. Rendite vor Steuern) eine unterschiedliche Rendite nach Steuern in Abhängigkeit des Standorts aufweisen. Weiterhin hängen die Investitionskosten in Form der Kapitalkos-ten von steuerlichen Parametern ab.

Die Analyse der steuerlichen Einflussfak-toren umfasst die Berechnung des effekti-ven Durchschnittssteuersatzes (effective average tax rate, EATR) und der Kapital-kosten (cost of capital, CoC) für typisierte Investitionen in digitale Geschäftsmodelle. Die Kapitalkosten drücken dabei die Ren-dite aus, die eine marginale Investition vor Steuern gerade erwirtschaften muss, um für einen Investor lohnenswert zu sein. Geringere Kapitalkosten signalisieren eine geringere Mindestrendite vor Steuern und damit eine höhere Standortattraktivität zur Ausweitung des Investitionsvolumens. Der effektive Durchschnittssteuersatz drückt die durch die Steuerbelastung verursach-

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SONDERTEIL STUDIE

te Veränderung des Kapitalwerts einer profitablen Investition aus. Ein geringerer effektiver Durchschnittssteuersatz signa-lisiert, dass eine Investition am jeweiligen Standort für Investoren lohnenswerter ist und deshalb die Standortattraktivität für die Ansiedlung profitabler Investitionen steigt.

Die steuerlichen Kennzahlen werden für drei typisierte Formen von Investitionen in digitale Geschäftsmodelle berechnet. Es wird dabei angenommen, dass am Investitionsstandort sowie am Standort internationaler Expansionen ein steu-erlicher Nexus nach vorherrschenden Regeln entsteht und die jeweiligen loka-len steuerlichen Rahmenbedingungen maßgebend sind. Das heißt, es werden steuerliche Konsequenzen realer Investiti-onsentscheidungen abgebildet. Rechtliche und organisatorische Strukturen mit dem Zweck der internationalen Steuerplanung bleiben unberücksichtigt. Im inländischen Fall wird angenommen, dass eine Kapital-gesellschaft in Hardware, Software und andere immaterielle Werte investiert. Das inländische Geschäftsmodell bildet isoliert betrachtet somit in vereinfachter Form auch den digitalen Transformationsprozess eines traditionellen Geschäftsmodells ab. Für den grenzüberschreitenden Fall werden B2C- und B2B-Geschäftsmodelle betrachtet. Hierbei wird jeweils angenommen, dass ein Unternehmen in sein digitales Geschäfts-modell am Hauptstandort investiert und Auslandsmärkte durch den Einsatz von Service (B2C)- oder Vertriebsgesellschaften (B2B) bedient.

Im Ergebnis werden Effektivsteuerbe-lastungen basierend auf einem ein-peri-odischen Investitionsmodell, innerhalb dessen Kapitalwerte vor und nach Steuern verglichen werden, für typisierte Investiti-onen in digitale Anlagegüter abgeleitet. Die Interpretation dieser Ergebnisse dient der Beurteilung der steuerlichen Parame-ter eines Investitionsstandorts, d. h. der vorherrschenden Steuerpolitik. Keinesfalls können tatsächliche Steuerzahlungen real existierender Unternehmen aus den quantitativen Ergebnissen gefolgert wer-den. Niedrigere Effektivsteuersätze relativ zu traditionellen Investitionen bedeuten, dass Investitionen in digitale Anlagegü-

ter in einem Land steuerlich vorteilhaft behandelt werden. Dies liegt z. B. an der sofortigen Abziehbarkeit laufender Kosten (z. B. Softwareentwicklung), wohingegen Investitionskosten in Maschinen aktiviert und abgeschrieben werden müssen und an gezielten steuerlichen Forderungen (FuE-Gutschriften, Sonderabschreibungen, niedrigere Gewinnsteuersätze) innovati-ver Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Digitalisierung von Geschäftsmodellen.

Steuerlicher Digitalisierungsin-dex 2018: Deutschland abge-schlagenDas finale Ranking des steuerlichen Digi-talisierungsindex 2018 basiert auf den effektiven Durchschnittssteuersätzen in den jeweiligen Ländern unter Berück-sichtigung der jeweils vorteilhaftesten steuerlichen Regelungen, d. h. unter Ein-bezug steuerlicher Sondervorschriften für Forschung, Entwicklung und Innovation. Die Kennzahlen ergeben sich jeweils aus den Mittelwerten der drei betrachteten Geschäftsmodelle Inland, grenzüberschrei-tend B2C und B2B. Die Steuerbelastung digitaler Geschäftsmodelle wird mit der für traditionelle Geschäftsmodelle und zusätzlich mit den Kennzahlen aus dem Vorjahr verglichen.

Italien führt den Steuerlichen Digitalisie-rungsindex 2018 mit deutlich negativem EATR an, gefolgt von Irland und Ungarn. Die jeweils negativen Effektivbelastun-gen resultieren aus der Anwendung von F&E-Anreizen und IP-Box-Regimen, die dazu führen, dass Investitionen in digitale Geschäftsmodelle nach Steuern profitabler sind als vor Steuern oder – mit anderen Worten – steuerlich subventioniert werden.

Italien weist eine hohe Attraktivität auf und schiebt sich, im Vergleich zum traditio-nellen Ranking, um 22 Plätze an die Spitze. Die sehr günstig ausgestaltete Behandlung digitaler Investitionsgüter (sog. Hyperde-duction in Höhe von 150 %), gepaart mit einer großzügigen F&E-Steuergutschrift und der IP-Box, führt zu dieser starken Senkung der Effektivbelastung für digitale Geschäftsmodelle.

Irland und Ungarn können als Länder mit bereits traditionell niedrigen Steuerni-

veaus durch Steueranreize, die die Effektiv-belastung weiter senken, ihre Standortat-traktivität behaupten.

Deutschland, die USA (bis 31. Dezember 2017) und Japan weisen hingegen hohe Effektivbelastungen mit über 21 % auf. Die geringe Standortattraktivität beruht auf hohen tariflichen Steuersätzen sowie der geringfügigen Ausgestaltung bzw. dem Fehlen von steuerlichen Sonderanreizen.

Im Zuge der Überarbeitung des Index wurden Inkonsistenzen in der simultanen Behandlung von F&E-Gutschriften und IP-Box-Regimen im Berechnungsmodell des letztjährigen Digitalisierungsindex berei-nigt. Der Vergleich basiert daher auf den korrigierten Ergebnissen für 2017.

Die Effektivbelastungen für digitale Geschäftsmodelle liegen zwischen rund -33 und 22 %. Im Schnitt betragen die EATR knapp 9 % und bestätigen damit die Ergeb-nisse des Vorjahres. Im Vergleich zum tradi-tionellen inländischen Geschäftsmodell ist der EATR über zwölf Prozentpunkte gerin-ger. Gründe dafür sind ein angenommener höherer Anteil nicht aktivierungspflichti-ger Kosten in der Investitionsstruktur (insb. selbst erstellte Software und immaterielle Werte), vorteilhaftere Abschreibungsre-geln für digitale Investitionsgüter und die Anwendbarkeit steuerlicher Sonderanreize für Forschung, Entwicklung und Innova-tion.

Im vorderen Mittelfeld rangieren vor allem traditionelle Niedrigsteuerländer, wie die osteuropäischen Staaten, Luxem-burg und Zypern sowie Hochsteuerländer und Industrienationen, wie Portugal, Spa-nien, Frankreich, das Vereinigte Königreich, Norwegen und die Niederlande, die ihre Standortattraktivität für digitale Geschäfts-modelle dank großzügig ausgestalteter F&E-Anreize und IP-Box-Regime verbessern. Portugal, Spanien und Frankreich rücken im Vergleich zum traditionellen Ranking deut-lich nach vorn, wobei vor allem Portugal und Frankreich die Effektivbelastung im Vergleich zum Vorjahr reduzieren.

Belgien, Irland, die Schweiz und Ungarn verzeichnen im Vergleich zum Vorjahr eine deutliche Mehrbelastung. Während Irland und Ungarn ihre Standortattraktivi-tät behaupten können, fallen Belgien und

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SONDERTEILSTUDIE

die Schweiz im Ranking anhand des EATR wie auch der Kapitalkosten am weitesten zurück.

Die Kapitalkosten für digitale Geschäfts-modelle liegen zwischen -9 und etwa 5 %. Im Schnitt sind dies drei Prozentpunkte weniger als für traditionelle Geschäfts-modelle. Die Ergebnisse implizieren, dass zusätzliche Investitionen, im Vergleich zur alternativen Investition am Kapitalmarkt (5 %), in den meisten Ländern durchaus lohnenswert sind.

Die Spitzengruppe, gemessen an den Kapitalkosten, bilden Italien, Frankreich und Spanien. Die Kapitalkosten sinken für digi-tale Geschäftsmodelle in diesen Ländern, wie auch in Norwegen, Malta und den USA, sehr stark. Dies impliziert eine höhe-re Standortattraktivität für die Ausweitung entsprechender Investitionen, was durch großzügige Regelungen zur Bestimmung der Bemessungsgrundlage, wie gewährte Sofortabzüge für Investitionen in erworbe-ne Hard- und Software oder F&E-Anreize, bedingt wird.

In Deutschland sinken sowohl der effektive Durchschnittssteuersatz als auch die Kapitalkosten für digitale Geschäfts-modelle. Im internationalen Vergleich fällt Deutschland jedoch aufgrund der attraktiveren Rahmenbedingungen in den anderen betrachteten Ländern zurück und rangiert auf dem letzten Platz (effektiver Durchschnittssteuersatz) bzw. auf Platz 28 von 33 (Kapitalkosten).

Die Ergebnisse für grenzüberschreiten-de B2C- und B2B-Geschäftsmodelle variie-ren zwar im Vergleich zum inländischen Fall (digitale Transformation), da eine weitere Besteuerungsebene im Marktstaat ent-steht. Die Steuerbelastung ist jedoch wei-terhin maßgeblich von den Vorschriften im Ansässigkeitsstaat der Muttergesellschaft abhängig. Die relative Attraktivität der Investitionsstandorte im Fall eines digita-len B2C-Geschäftsmodells verändert sich im Vergleich zum inländischen Geschäfts-modell fast nicht. Im Fall des digitalen B2B-Geschäftsmodells ergibt sich eine geänderte Rangfolge, da konzerninterne Zahlungen von Lizenzen entstehen. Das Vorliegen von Lizenzeinkünften ermöglicht in Ländern, wie Frankreich, Malta, Portugal,

der Schweiz, Spanien, Ungarn und Zypern, die Anwendung der IP-Box-Regelungen und führt somit zu reduzierten Effektivbe-lastungen in dieser Ländergruppe.

Die Effektivbelastungen einer Investiti-on in ein B2C- oder B2B-Geschäftsmodell in Deutschland, Italien und Frankreich, mit dem die jeweiligen Auslandsmärkte bedient werden, verdeutlichen dies.

Für die Investition in ein digitales B2C-Geschäftsmodell in Italien mit grenz-überschreitenden Absatztätigkeiten in Deutschland oder Frankreich ergeben sich weiterhin negative effektive Durch-schnittssteuersätze, was die Relevanz der Standortbedingungen am Hauptstandort des Unternehmens unterstreicht.

Bei Investition in ein B2C-Geschäftsmo-dell in Deutschland mit Aktivitäten in Itali-en kann eine niedrigere Effektivbelastung festgestellt werden, während Aktivitäten im Marktstaat Frankreich zu keiner Ver-änderung im Vergleich zur inländischen Investition führen.

Investiert ein Unternehmen in ein B2C-Geschäftsmodell in Frankreich, zeigen sich ähnliche Tendenzen wie im Beispiel Deutschlands.

Die Investition in Italien stellt auch im B2B-Modell einen Extremfall mit negativen effektiven Durchschnittssteuersätzen dar, was auf die vorteilhaften Bestimmungen zur Bemessungsgrundlage, die F&E-Anreize und die IP-Box-Regelungen zurückzufüh-ren ist.

Bei Investition in ein B2B-Geschäfts-modell am Standort Deutschland variie-ren die Ergebnisse wie im B2C-Segment in Abhängigkeit von der Steuerattraktivität des Marktstaats.

Für die Investition in ein B2B-Geschäfts-modell in Frankreich zeigen sich deutlich geringere Effektivbelastungen im Vergleich zur inländischen Investition, was von der Anwendbarkeit der IP-Box für Lizenzzah-lungen getrieben ist, welche im rein inlän-dischen Fall nicht gegeben ist.

Steuerliche Anreize für die ForschungTabelle 1 zeigt die Ergebnisse der detail-lierten Standortanalyse für das inländische digitale Geschäftsmodell. Es werden der

effektive Durchschnittssteuersatz und die Kapitalkosten zusammen mit der jeweiligen Platzierung für Deutschland, im Vergleich zu den wichtigen Handelspartnern Frank-reich und Vereinigtes Königreich sowie im Vergleich zum Spitzenreiter Italien, darge-stellt. Bei der Betrachtung werden die Effek-te der einzelnen Faktoren isoliert, indem die Ergebnisse einmal ohne und einmal unter Einbezug der steuerlichen Anreizmecha-nismen aufgeführt sind.

Im Durchschnitt ergeben sich Effektiv-belastungen von 17,5 % und Kapitalkosten von 5,1 %, wenn die Sondervorschriften nicht berücksichtigt werden. Die Ergebnis-se sind stark von dem jeweiligen tariflichen Steuersatz getrieben.

Die niedrigeren Belastungen digitaler Geschäftsmodelle ohne Berücksichtigung der Sondervorschriften resultieren aus den großzügigeren Abschreibungsvorschriften für Investitionsgüter digitaler Geschäfts-modelle im Vergleich zum traditionellen Geschäftsmodell. In Kombination mit steuerlichen Anreizen kann die Effektivbe-lastung im Durchschnitt auf bis zu 9,4 % reduziert werden.

Durch die Ausweitung von Sonder-abzügen für Investitionsgüter digitaler Geschäftsmodelle kann Italien seine Standortattraktivität sowohl anhand der Kapitalkosten als auch der Effektivbelas-tung deutlich verbessern (17 bzw. 14 Plätze). In Frankreich und Deutschland kommt es, gemessen an den Kapitalkosten, zu einer Verbesserung um mehr als zehn Plätze, während die relative Attraktivität, gemes-sen am effektiven Durchschnittssteuersatz, unverändert bleibt.

Werden steuerliche F&E-Anreize berück-sichtigt, verändern sich sowohl die abso-luten Ergebnisse als auch die Rangfolge erheblich. Italien sticht sowohl mit Kapi-talkosten von knapp -10 % als auch einer negativen Effektivbelastung durch eine großzügige Ausgestaltung der Steuer-gutschrift deutlich heraus. Auch die F&E-Steuergutschriften in Frankreich und dem Vereinigten Königreich führen zur weiteren Reduktion der Effektivbelastung.

Variiert man im Fall einer inkrementel-len Steuergutschrift die Anwendbarkeit, kommt es durch eine fehlende oder nur

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anteilige Berücksichtigung, speziell im Fall von Italien und Spanien, zu erheblichen Änderungen in der Rangfolge. Kommt die inkrementelle Steuergutschrift nicht zur Anwendung, so fällt Italien mit einer Effektivbelastung von 9 % auf den 20. Rang zurück.

Länder wie Deutschland, ohne steuer-liche F&E-Anreize, verschlechtern sich im internationalen Vergleich. In der aktuel-len Diskussion über die Einführung einer steuerlichen F&E-Forderung in Deutsch-land wird vor allem ein Fokus auf kleine und mittlere Unternehmen (KMU) gelegt. Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass für Deutschland je nach Ausgestaltung der Steuergutschrift keine gravierenden Ver-besserungen in der relativen Standortat-traktivität zu erwarten sind.

Bei isolierter Betrachtung der IP-Box-Regime sinken in Italien und dem Verei-nigten Königreich die effektiven Durch-schnittssteuersätze um drei bis vier Pro-zentpunkte, was auf die Anwendbarkeit der IP-Boxen auf sämtliche Einkunftsarten (u. a. Umsätze) zurückzuführen ist. Die Kapital-kosten bleiben weitestgehend unverändert.

Unter kombinierter Anwendung der F&E-Anreize und IP-Boxen kommt es durch eine komplementäre Ausgestaltung in den meisten Ländern zu weiteren Senkungen der Effektivsteuerbelastung.

Plattformbasierte Geschäftsmodelle Digitale plattformbasierte Geschäftsmo-delle, wie BlaBlaCar, eBay oder Netflix, zeichnen sich als internetbasierte Foren aus und nutzen digitale Technologien, wie Softwarealgorithmen, um als Inter-mediär Anbieter und Nachfrager effizient zusammenzuführen. Ihnen wird disrupti-ves Potenzial beigemessen, d. h., sie sind in der Lage, Marktstrukturen und den Wett-bewerb grundlegend zu verändern. Die Kernaktivität besteht in der Entwicklung der technologischen Plattform und der Sammlung und Verwertung von Daten, wobei überwiegend Kosten in Form von Personalaufwendungen entstehen. Digitale plattformbasierte Geschäftsmodelle zeich-nen sich durch eine schlanke Organisations-struktur aus und benötigen nur eine gerin-ge bis keine physische Präsenz im Markt-

staat. Entsprechend ergeben sich auch bei dieser Art von digitalem Geschäftsmodell steuerliche Anknüpfungspunkte haupt-sächlich am Investitionsstandort, wo die Software- und Plattformentwicklung statt-finden.

Diese Aktivitäten werden im Rahmen des Digitalisierungsindex in Form eines Extremfalls betrachtet, wenn ein Unter-nehmen nur in die Selbsterstellung von Software und immateriellen Wirtschafts-gütern investiert und zur Unterstützung zusätzlich Softwareanwendungen und Immaterialgüter erwirbt. Die effektive Durchschnittssteuerbelastung liegt auch für Investitionen in Aktivitäten digitaler Plattformunternehmen deutlich unter der Belastung für Investitionen in traditionelle Geschäftsmodelle. Der Großteil der Kosten, d. h. Personalaufwendungen, kann in den meisten Ländern sofort im Jahr der Entste-hung von der steuerlichen Bemessungs-grundlage abgezogen werden.

Die Sonderregime für F&E-Aufwendun-gen umfassen in den betrachteten Län-dern alle Entwicklungskosten immaterieller Wirtschaftsgüter, wie auch Software, und

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beeinflussen die Effektivbelastung entspre-chend stark, was durch die Anwendung einzelner IP-Boxen noch unterstützt wird. Der EATR liegt somit im Schnitt bei 7,4 % und es ergibt sich eine im Schnitt um 14 Prozentpunkte geringere Belastung als bei traditionellen Geschäftsmodellen. Auch die Kapitalkosten sind aufgrund der Berück-sichtigung von steuerlich sofort abziehba-ren Personalaufwendungen vergleichswei-se niedrig.

Die Analyse ergibt darüber hinaus, dass die Behandlung von Personalaufwendun-gen sehr relevant für die Steuerbelastung dieser Investitionen ist. Über die effektive Durchschnittssteuerbelastung auf Ebene

des Unternehmens hinaus sollten folglich auch die steuerlichen Konsequenzen der Arbeitnehmerbesteuerung berücksichtigt werden. Hinweise dazu kann der Vergleich der Standortfaktoren für digitale Geschäfts-modelle geben, welcher die Besteuerung des (hoch qualifizierten) Humankapitals beinhaltet (Tabelle 2).

Es lässt sich zudem festhalten, dass die steuerliche Behandlung von Inves-titionskosten in Zusammenhang mit IT-Infrastruktur (Hardware) relevant ist, um ein attraktives Investitionsumfeld für eine möglichst komplette Bandbreite an digita-len Geschäftsmodellen zu schaffen. Wer-den relativ gesehen nur Aufwendungen in

Zusammenhang mit Softwareentwicklung oder Software als angeschafftem immate-riellem Wirtschaftsgut begünstigt, profitie-ren vor allem digitale plattform-basierte Geschäftsmodelle, die nicht wesentlich auf einer eigenen Infrastruktur (Datenzentren etc.) aufbauen.

US-Steuerreform 2018 Die zum 1. Januar 2018 in Kraft getretene US-Steuerreform bringt weitreichende Änderungen im Unternehmenssteu-errecht mit sich, die auf die verstärkte Ansiedlung von Investitionen in den USA abzielen. Dabei verbessert sich auch die Standortattraktivität der USA für Investiti-

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onen in digitale Geschäftsmodelle gerade vor dem Hintergrund des internationalen Steuerwettbewerbs. Eine separate Studie des Zentrums für Europäische Wirtschafts-forschung (ZEW) zeigt, dass allein durch die Senkung des Unternehmenssteuersat-zes von 35 auf 21 % sowie die Einführung einer Sofortabschreibung für Investitions-güter der EATR traditioneller, inländischer Geschäftsmodelle in den USA von 36,5 auf 23,3 % verringert wird und die Kapitalkos-ten von 7,6 auf 6,0 % sinken.

Im Digitalisierungsindex werden die Effekte für digitale Geschäftsmodelle gegeben den Annahmen der vorliegenden Studie ermittelt. Für inländische Geschäfts-modelle sinken EATR, bzw. Kapitalkosten von 22,6 auf 10,4 %, bzw. von 3,1 auf 2,5 %, sofern steuerliche FuE-Gutschriften weiter-hin zur Anwendung kommen.

Gerade grenzüberschreitende Geschäftsmodelle (sowohl B2B als auch B2C) am Investitionsstandort können durch die Reform am stärksten profitieren, sofern der Sondersteuersatz von 13,125 % im Rahmen der FDII-Regelung für im Ausland generierte Gewinne zur Anwen-dung kommt. Dies ist für in dieser Stu-die betrachtete Geschäftsmodelle nicht unwahrscheinlich und führt im Extrem-fall zu negativen Effektivbelastungen von rund -10 % (EATR) und zu Kapitalkosten nahe 0 %. Damit gewinnen die USA als Investitionsstandort für profitable digitale Geschäftsmodelle, die im Ausland Gewin-ne erwirtschaften, extrem an Attraktivität. Es treten hohe Belastungsunterschiede zwischen Unternehmen mit Investitions-standort USA und ausländischen Markt-staaten (US Outbound) und Unternehmen mit ausländischem Investitionsstandort und Marktstaat USA (US Inbound) auf, was die Wettbewerbsfähigkeit dieser Unter-nehmen beeinflussen könnte.

Durch die stärkere Gewichtung grenz-überschreitender Geschäftsmodelle im Gesamtindex (zwei Drittel vs. ein Drittel inländisches Geschäftsmodell) steigen die USA unter der Annahme gleichbleiben-der Steuerfaktoren in anderen Ländern im Steuerlichen Digitalisierungsindex bis auf den dritten Platz auf. Dies ist der ext-remen Steuerentlastung im Rahmen der Reform, insbesondere der FDII- Regelung, geschuldet, wobei ausländische Unter-nehmen weniger stark vom gesunkenen, herkömmlichen Tarifsteuersatz in den USA profitieren.

Besteuerung als StandortfaktorDie für die Ansiedlung digitaler Geschäfts-modelle relevanten Standortfaktoren wer-den in einer Vielzahl von Studien erörtert. Welche Standortfaktoren Investitionen in digitale Geschäftsmodelle dabei maß-geblich beeinflussen und ob Steuern eine relevante Entscheidungsgröße für solche Investitionen sind, ist empirisch weiter-hin nicht nachgewiesen. Der Länderver-gleich der Studie verdeutlicht jedoch, dass sich deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Faktoren und Standorten abzeichnen. Die Ergebnisse dieser Studie liefern ein objektives Maß zur Unterstüt-zung unternehmerischer Investitionsent-scheidungen. Der Standortfaktor ,,direkte Unternehmensbesteuerung“ kann somit mit weiteren Standortfaktoren verglichen werden.

Die Attraktivität der betrachteten Län-der, anhand der steuerlich relevanten Fak-toren (Digitalisierungsindex, Humanka-pital, Verwaltungsaufwand), gestaltet sich oftmals sehr unterschiedlich. Für die ausgewählten Länder ist zu beob-achten, dass mit Ausnahme von Italien prinzipiell gute nicht steuerliche Stand-ortbedingungen für digitale Geschäfts-

modelle vorherrschen, während die steuerliche Standortattraktivität stark variiert. Deutschland weist eine geringe steuerliche Attraktivität für Investitionen auf und ist durch einen vergleichswei-se hohen steuerlichen Verwaltungsauf-wand gekennzeichnet, besteuert aller-dings hoch qualifizierte Arbeitnehmer im internationalen Vergleich moderat. Frankreich wie auch Italien sind hinsicht-lich der Besteuerung hoch qualifizierter Arbeitnehmer vergleichsweise unat-traktive Standorte. Auch der steuerliche Verwaltungsaufwand in Italien ist sehr hoch und kann besonders für kleinere Unternehmen eine Hürde darstellen.

Ergebnis dieser Studie ist jedoch, dass Italien der attraktivste steuerliche Standort für Investitionen in digitale Geschäftsmo-delle ist. Frankreich reiht sich hinsichtlich des steuerlichen Verwaltungsaufwands im vorderen Mittelfeld ein und bietet auch für Investitionen eine vergleichsweise hohe steuerliche Standortattraktivität. Die stärks-te Variation innerhalb der verschiedenen Faktoren ist im Vereinigten Königreich zu verzeichnen. Hier ist die steuerliche Stand-ortattraktivität für Investitionen in digitale Geschäftsmodelle leicht geringer als in Frankreich und hoch qualifizierte Arbeit-nehmer werden relativ hoch besteuert. Hinsichtlich der nicht steuerlichen Stand-ortfaktoren und des steuerlichen Verwal-tungsaufwands schneidet das Vereinigte Königreich unter den betrachteten Ländern weiterhin jedoch am besten und im allge-meinen Vergleich sehr gut ab.

Die komplette Studie finden Sie unter: www.pwc.de/digitalisierungsindex

Eine Gemeinschaftsstudie von PwC, dem Zentrum für Europäische Wirtschaftsfor-schung GmbH (ZEW) und der Universität Mannheim.

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SONDERTEILFACHBERICHT

Mobile Instandhaltungsassisten-ten für Thermoprozessanlagen

von Carsten Stölting

Instandhaltung an Wärmebehandlungsanlagen ist heute noch sehr handwerklich geprägt und hat derzeit nur sehr wenige digitale Tools zur Informationsanzeige, Unterstützung an der Anlage, Datenaufnahme oder Datensammlung. Somit werden viele mögliche Vorteile durch Digitalisierung in diesem Bereich nicht genutzt. Mobile Instandhaltungsas-sistenten bieten somit eine echte Chance, Instandhaltungsabteilungen bei ihrer täglichen Arbeit zu unterstützen und Kosteneinsparungspotenziale durch höhere Effizienz und verringerte Ausfallzeiten zu heben. Der Beitrag gibt einen generellen Überblick über den Status-Quo und stellt ein neuartig mobiles Assistenzsystem für Thermoprozessanlagen mit dem Namen #jakob\einfach.sicher. vor.

Mobile maintenance assistant for thermal processing plantsTo this day, the maintenance of heat treatment plants is characterized mostly by manual work; very few digital tools exist for information display, plant support, data acquisition, or data collection. This means that only very few of the possible advantages of digitization in this field are being used. Digital maintenance assistants are thus a real opportunity to sup-port maintenance departments in their daily work. They also increase the potential for cost savings due to their better efficiency and the fact that they reduce downtimes. This article provides a general overview of the status quo. Moreover, #jakob\einfach.sicher. (#jakob\simple.secure.), a novel digital assistance system for thermal processing plants is presented.

Allgemein ist in Fertigungsbetrieben in den letzten Jahren eine deutliche Tendenz zu erkennen, dass Instandhaltung nicht mehr als reiner Kostenfaktor

und notwendiges Übel, sondern vielmehr als echter Wert-schöpfungsfaktor für die Produktion erkannt wird. Viele Produktionsverantwortliche wissen also von der Relevanz einer guten Instandhaltung auf den wirtschaftlichen Erfolg einer Produktion. Trotzdem steht die Instandhaltung als nicht direkter Erlösbringer immer stark unter dem Druck zur Kosteneinsparung. Diese diametral verlaufenden Aussagen, dass eine gute Instandhaltung Garant für eine effiziente und erfolgreiche Produktion ist, und zugleich als Kostenblock stets unter Druck steht, müsste ein ideales Umfeld für inno-vative Lösungen und Herangehensweisen darstellen. Leider ist dies jedoch, insbesondere in der Wärmebehandlung, nicht überall zu erkennen.

Selbst in Unternehmen mit einer ausgeprägten Instand-haltungsstrategie fehlt es an Methoden, die Instandhaltung

ins digitale Zeitalter zu bringen, um somit Kosteneinspa-rungspotenziale und Effizienzgewinne zu heben. Dies liegt sicher auch an der installierten Basis der Anlagen, die nicht selten 10, 15, 25 Jahre und in manchen Fällen noch sehr viel älter sind. Bei Anlagen mit diesem Alter kann man sich leicht vorstellen, dass dazu nur sehr wenige bis gar keine validen digitalen Daten wie Zeichnungen, Stücklisten, Sensordaten, etc. vorliegen. Und somit auch keine digitalen Assistenzsysteme Verwendung finden. Der vielgepriesene Digitale Zwilling ist hier nur ein ferner Traum.

Dennoch ist, oder sollte vielmehr, die Instandhaltung insbesondere in der Wärmebehandlung einen beson-deren Stellenwert haben, möglichst umfassende, digi-tale Assistenzsysteme zu entwickeln. So z. B. unter dem Gesichtspunkt der Anlagensicherheit. Es gibt nur wenige Produktionsanlagen, von denen ein ähnlich hohes Gefah-renpotenzial ausgehen kann. Latente Brand-, Verpuffungs- und Explosionsgefahr bis hin zum Austritt von giftigen

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SONDERTEIL FACHBERICHT

Gasen sind reale potenzielle Gefahren, die durch falsche oder unsachgemäße Instandhaltung von Wärmebehand-lungsanlagen entstehen können. Aber auch unter den rein monetären Gesichtspunkten kommt der Instandhaltung

von Wärmebehandlungsanlagen ein besonders großer Stellenwert zu. Im Vergleich zu den meisten herkömm-lichen Produktionsanlagen kann im Schadensfall der Ausfall eines ver-gleichsweisen einfachen Bauteils erhebliche ungeplante Stillstandzei-ten hervorrufen. Je nach Einbauort im Ofen, kann ein simpler Austausch, der eigentlich nur zwei Stunden Arbeitsaufwand bedeutet, selbst bei direkter Verfügbarkeit des Ersatzteils einen Anlagenstillstand von mehre-ren Tagen, bei großen Anlagen sogar leicht ein bis zwei Wochen, hervorru-fen. Durch entsprechendes Abkühlen der Anlage vergehen meist zwei bis drei Tage (in manchen Fällen auch deutlich mehr) bis das Schadensteil frei zugänglich ist. Das kontrollierte

Aufheizen, die Einstellung der Ofenatmosphäre und das erneute Freifahren der Anlage dauert meistens weitere vier bis fünf Tage. Je mehr Informationen und Hilfestellung also ein Instandhalter hat, desto besser kann er die Anlagen

Bild 1: Vorstellung des ersten Prototyps auf dem HärtereiKongress 2018

Bild 2: Bestehende technische Lösungen zur Bauteilerkennung [Quelle: Humai Technologies]

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SONDERTEILFACHBERICHT

instandhalten, und umso effizienter können Arbeitspro-zesse erledigt wer-den. Somit können ungeplante Aus-fälle und Produkti-onsunterbrechun-gen vermieden oder zumindest verkürzt werden.

Assistenzsys-teme im Allgemeinen (CMMS-Sys-teme)Am Markt befinden sich viele sogenannte CMMS Systeme (Computerized Maintenance Management System, auf Deutsch Instandhaltungsplanungs- und -steuerungssys-tem (IPS)). Die verschiedensten Hersteller haben oftmals einen gewissen Branchenfokus. Allen Systemen ist aber gleich, dass sie immer ohne Applikation, sprich der spezi-fischen Anlage, ausgeliefert werden. Die Systeme haben damit in der Regel keinen anlagenspezifischen Content und sind leer. Der Anwender muss diese Systeme erst ein-mal mit anlagenspezifischen Informationen befüllen. Diese liegen dem Anwender in der Regel nicht oder nur sehr rudimentär vor. Oftmals liegen beschreibende Dokumente und vereinzelte Ersatzteillisten als Dokumente, meist im PDF-Format, vor. Tiefergehende analagenspezifische Infor-mationen, wie Anlagenstrukturen, umfassende Stücklisten, Verschleißdaten, spezifische Wartungsanweisungen und Wartungspläne sind meist nicht vorhanden. Aber auch dedizierte SPS-Daten aus der bestehenden Anlage, die instandhaltungsrelevant sind, sind meist nicht im Zugriff bzw. nicht integrierbar. Das Befüllen dieser Systeme ist somit für die entsprechenden Fachbereiche eine echte Herkulesaufgabe, die kaum durchführbar ist. Hinzu kommt, dass viele am Markt etablierte Systeme sehr umfassend in ihrer Ausprägung fast schon ERP-Systemen gleich ausge-legt sind. Dies bietet zwar vielfältige Auswertungs- und Controllingmöglichkeiten, erschwert jedoch oftmals bei der operativen Arbeit an der Anlage eine Anwendung. Vielleicht ergibt sich diese Tatsache dadurch, dass diese Systeme als Computerized Maintenance Management Systems, beschrieben sind. Der Ursprung und Fokus liegt auf dem Management der Instandhaltung, aber nicht primär auf der Durchführung derselben. Dieser Fokus ist erst in den letzten Jahren, aufgrund der mobilen EDV-Möglichkeiten, entstanden.

Die Dateneingabe muss meist am PC erfolgen, somit muss das an der Maschine Durchgeführte analog zwischen-

gespeichert werden (meist der berüchtigte Schmierzettel an der Maschine), um nachträglich am PC wiederum ein-gegeben zu werden. Somit entsteht vielfach eine hohe Doppelarbeit und dadurch auch sehr geringe Akzeptanz der Systeme durch das Instandhaltungspersonal. Als weite-rer Aspekt wird von Instandhaltern oft genannt, dass zwar vielfältige Report- und Analysefunktionen vorhanden sind, aber nicht die Grundbedürfnisse des Instandhaltungsper-sonals direkt an der Anlage befriedigt werden.

Digitales Assistenzsystem für die BrancheVorgenannte Herausforderungen haben vielfältige Ursa-chen. Die Anbieter der CMMS Systeme verfügen nicht über das Anlagenwissen und auch nicht über die notwendigen Anlageninformationen, um ihre Systeme speziell für jede Anlage zu konfigurieren. Die Anwender verfügen ebenfalls nicht oder nur in sehr begrenztem Umfang über die not-wendigen Daten wie Dokumente, Teileinformationen oder Zugriff auf SPS-Informationen. Bisher war der Anlagenher-steller bei diesen Systemen gar nicht gefragt.

Aus diesem Grund wurde im Juni 2018 in einem Gemein-schaftsprojekt, bestehend aus einem Softwarehersteller (Humai Technologies GesmbH aus Wien), einem Anlagen-hersteller (Aichelin GesmbH aus Mödling), einem industriellen Instandhaltungs- und Servicedienstleister für Wärmebehand-lungsanlagen (Aichelin Service GmbH aus Ludwigsburg) und zwei produzierenden Unternehmen aus der Automobilbran-che (ein bayerischer Traktorenhersteller mit einen großen Durchstoßofen sowie ein oberösterreichischer Automobil-zulieferer mit drei großen Durchstoßöfen), ein firmenüber-greifendes Konsortium, unterstützt durch die österreichische Berndorf AG, gegründet und unter einem Dach zusammenge-bracht. Ziel ist es, ein mobiles Assistenzsystem für Instandhal-ter der Wärmebehandlungsbranche zu entwickeln. Dies unter dem besonderen Augenmerk, dass die angestrebte Lösung

■ herstellerübergreifend (mehrere Anlagenhersteller) ist

Bild 3: Objekterkennung mit gängigen mobilen Geräten

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■ bereits in installierte Anlagen integriert werden kann ■ keinen hohen zusätzlichen Installationsaufwand für

Sensoren erfordert ■ es dem operativen Instandhalter ermöglicht mit vor-

handenen Geräten (z. B. Handy, Tablet) die Anwendung direkt an der Anlage zu bedienen.

Gemeinsam wurden in diesem interdisziplinären Team intensiv technische Möglichkeiten diskutiert. Rechtzeitig zum HärtereiKongress im Oktober 2018 in Köln konnte

einem ausgewählten Fachpu-blikum der erste Prototyp live präsentiert werden (Bild 1). Zielsetzung war es, von den Anwendern und Experten ein umfassendes Feedback über die Ausrichtung des Projektes zu erhalten und dieses ent-sprechend in das Vorhaben mit zu integrieren. Das Feedback war positiv und bestätigte die grundlegenden Annahmen und Vorgehensweisen.

Der unter dem Namen #jakob\einfach.sicher. vorge-stellte Instandhaltungsassistent soll den operativen Instandhal-tern maximal einfach alle zur Anlage vorhandenen Informa-tionen durch einfache Bedie-nung zur Verfügung stellen. Mit „alle Informationen“ sind die vielfältigen Daten aus unter-schiedlichen Quellen, wie Arti-kelstammdaten und Struktur-stücklisten aus ERP-Systemen, den Konstruktionsdaten der Anlagen über die gesamte Anlagendokumentation bis hin zu den letzten Wartungs- und Einstellprotokollen, gemeint. Aber auch die aufbereiteten Monitoring Daten relevanter SPS-Daten wie Stromaufnah-men, Verfahrzeiten, Tempera-turkurven, Einstellparameter etc. sollen dem Instandhalter maximal einfach zur Verfügung gestellt werden.

Mit der Zielsetzung maxi-mal sicher ist gemeint, dem Instandhalter, aber auch dem Betreiber der Anlagen darüber Sicherheit zu geben, wie der

derzeitige Zustand der Anlage ist und ob die Gefahr von ungeplanten Anlagenausfällen besteht.

Unter dieser Maßgabe wurde #jakob in folgende Hauptbereiche und Funktionen unterteilt und soll dem Anwender bei

■ Identifizierung von Komponenten (Objekterkennung) ■ Ersatzteilbeschaffung/Ersatzteilmanagement ■ Instandhaltung und Wartung/Informationsbeschaffung ■ Monitoring des Anlagenzustandes

Bild 4: Beispiel einer Bauteilidentifizierung mittels KI-Erkennung

Bild 5: Beispiel einer Bauteilidentifizierung mittels KI-Erkennung

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■ vorausschauender Instand-haltung („Predictive Mainte-nance“) unterstützen.

ObjekterkennungDer Schlüssel zum Erfolg liegt nach Überzeugung des Pro-jektteams in der Einfachheit der Bedienung mittels Einsat-zes innovativer Technologie. Bei #jakob wurde bewusst entschieden, neue technolo-gische Wege zu beschreiten, aber gleichzeitig bodenstän-dig zu bleiben. Bestehende Lösungen zur Identifizierung von Ersatzteilen oder Baugrup-pen in deutschen Maschinen-bau-Unternehmen (Jahr 2017) beruhen vornehmlich auf den Technologien RFID, Barcode und QR-Code. In Bild 2 ist zu erkennen, dass dies nur zu ca. 50  % erfolgreich ist, da exis-tierende Anwendungen wie RFID, Barcode und QR Codes oftmals durch Hitze, Schmutz, Abnutzung oder aus anderen Gründen nicht funktionieren.

Es wurde weiterhin auch bewusst kein Fokus auf pres-tigeträchtige Eyecatcher wie z.  B. Augmented Reality Datenbrillen (Google Glass oder Microsoft Hololens) gelegt. Dies aus zwei essenti-ellen Gründen: zum einen soll der digitale Instandhaltung-sassistent für alle Mitarbeiter einfach verfügbar und immer dabei sein. Dies wäre bei teuren und empfindlichen Datenbril-len nicht sichergestellt. Mobile Geräte wie Smartphone oder Tablet-PC, egal ob Android oder Apple iOS, hat heute aber schon fast jeder immer dabei.

Weiterhin erfordern solche Datenbrillen perfekte Daten-strukturen (z. B. 3D-Modelle der Anlagen und Bauteile), die selbst bei neuen Anlagen in der Thermoprozessbranche noch lange nicht Standard sind. Hier wurde bewusst der Ansatz gewählt, ausschließlich auf bereits bestehende Daten und Informationen zurückzugreifen, sodass möglichst viele, auch ältere Anlagen, mit dem Instandhaltungs-assistenten

ausgerüstet werden können und somit für die gesamte Här-terei eine signifikante Hilfestellung geboten wird. Insofern kann gesagt werden, dass mit #jakob jedem Instandhalter sein eigener Assistent und Kollege (#jakob) immer griffbe-reit zur Seite steht.

Objekt- und Ersatzteilerkennung#jakob beschreitet im Bereich der Ersatzteilerkennung bewusst neue Wege. Per KI-App auf dem Smartphone kön-

Bild 6: Wartungsinformationen zu Baugruppen

Bild 7: Beispielhafte Wartungsinformation zu Baugruppen

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nen nun Bauteile und Baugruppen binnen weniger Sekun-den gescannt und identifiziert werden. Die automatische Erkennung von Ersatzteilen spart Mitarbeitern eine Menge Zeit. 2017 stellte man fest, dass Experten im Durchschnitt zwölf Minuten benötigten, um das richtige Ersatzteil aus den verschiedensten Unterlagen und Systemen zu finden. Die Dauer der Suche nimmt in Zukunft jedoch noch weiter zu, da Anlagen immer komplexer werden und weniger erfahrenes Personal eingesetzt wird.

Mit der sicheren Identifika-tion startet der einfache Weg zur Teileinformation. Wie oft ist dieses Teil verbaut, wie ist die Artikelnummer, was kostet das Teil, wie lange ist die Lieferzeit? Die Verknüpfung mit Informati-onen aus Beschaffungshistorie, Einbaudatum und erwartetem durchschnittlichem Ausfallrisiko hängt dem Teil einen Lebens-lauf an (Bild 4 und 5).

Abschließend kann das aus-gewählte Ersatz-/Verschleißteil in einen Warenkorb zur Ange-botsanforderung gelegt wer-den.

Wartungsplanung und Wartungsdurchfüh-rung/Informationsbe-schaffung#jakob bietet alles rund um die Instandhaltung und Wartung der Anlage. Der Instandhal-ter erhält per Fingerdruck alle relevanten Daten zur Wartung und Einstellung der erkann-ten Bauteile und Baugruppen. Fragestellungen wie: Wie wird ein Aggregat gewartet, wann wurde es das letzte Mal gewar-tet, wie wird ein Bauteil richtig eingestellt, werden mittels semantischen Suchalgorithmen aus den bestehenden Infor-mationsquellen detektiert und aufbereitet. Somit stehen dem Instandhalter direkt an der Anla-ge alle Antworten von Anfang an bereit (Bild 6). #jakob bietet somit Hilfestellungen für den erfahrenen Instandhalter und den Neuling.

Ebenso werden die Arbeiten analog zu den hersteller-spezifischen Serviceplänen Schritt für Schritt zur Verfügung gestellt und sorgen dafür, dass keine relevanten Schritte oder Bauteile vergessen werden. Gleichzeitig können für ausfallkritische Teile Zustandsbeurteilungen vorgenommen werden und ermöglichen somit zukünftige Vorhersagen von Ausfällen bzw. deren proaktive Vermeidung (Bild 7). Wichtiges Ziel ist es auch, dass das Instandhaltungsperso-nal keine Doppelarbeit vornehmen muss. Alle getätigten

Bild 8: Semantische Suche und Informationsbereitstellung

Bild 9: Monitoring Kenngrößen zu ausfallkritischen Baugruppen

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Arbeitsschritte und Erkenntnisse können, falls vorhanden, in bestehende CMMS Systeme übernommen werden. Bild 8 zeigt die semantische Suche und Informationsbereitstellung mit #jakob.

Monitoring Die permanente Überwachung von kritischen Bereichen der Anlage dient zur Vorbeugung von ungeplanten Aus-fällen. Ausfallkritische Baugruppen werden möglichst mit vorhandener Sensorik überwacht. Dies wurde in der neuesten Version Focos 4.0 des von Aichelin entwickelten Prozessdatenerfassungssystems realisiert. Diese seit drei Jahren dutzendfach verbaute Lösung greift auf bestehende Sensorik an der Anlage zurück und ermöglicht somit, die vorhandenen Systeme zu nutzen und deren Daten/Infor-mationen zugänglich zu machen (Bild 9). Die übersichtlich aufbereiteten Monitoring Daten werden dann mit dem Expertenwissen verglichen und hieraus können Handlungs-empfehlungen für die Anwender gegeben werden. Weiter-hin werden diese Daten auch zur weiteren Verwendung im Rahmen des zukünftig geplanten Predictive Maintenance Moduls gespeichert.

Predictive MaintenanceDas wichtigste Zukunftsziel dieses Entwicklungsprojektes ist es, dem Kunden eine sogenannte Predictive Maintenance Lösung anbieten zu können. Anhand der verschiedensten Informationsquellen aus Wartungsintervallen, Zustandsbe-urteilungen, Sensordaten wie auch indirekten Prozessdaten und dahinter gelegten Algorithmen wird es möglich sein, schon vor dem Ausfall eines Bauteils entsprechende War-nungen und Hinweise geben zu können. Hierzu werden in Zusammenarbeit mit dem Kooperationspartner Fraunhofer Austria Research GmbH Methoden entwickelt, um zuverläs-sige vorausschauende Zustandsbewertungen zu erhalten. Gerade im Härtereiumfeld liegt hier der Schlüssel nicht in unzähligen Sensoren, die insbesondere bei bestehenden, schon installierten Anlagen gar nicht verbaut sind und deren Nachrüstung schnell jegliche ROI („Return on Invest-ment“) -Betrachtung ad absurdum führen würde. Der Fokus liegt im möglichst sensorlosen bzw. indirekten Erfassen von Daten. Durch Kombination und Vernetzung vielfältiger, derzeit an den Anlagen vorhandener Informationen wird es möglich sein, präzise Ausfall- und Zustandsvorhersagen zu treffen und somit sicher Predictive Maintenance Arbeiten vorherzusagen.

WirtschaftlichkeitsbetrachtungWie eingangs erwähnt, ist eines der vorrangigen Ziele des Projektes, nicht nur für Neuanlagen, sondern für die viel häufigeren bereits bestehende Anlagen in den Härtereien, einen digitalen Instandhaltungsassistenten zu etablieren. Dies stellt neben der schon erwähnten Stammdaten-

Herausforderung auch ganz besondere Anforderungen an die Wirtschaftlichkeit. Es versteht sich von selbst, dass vorgenannte Funktionalitäten nicht gänzlich ohne Aufwand umgesetzt werden können. Während man bei Neuanlagen recht einfach mit nur geringen Mehrkosten alle notwen-digen Datenquellen bereitstellen und integrieren kann, bedarf es bei Bestandsanlagen jedoch eines nicht uner-heblichen Aufwands. Diesen Aufwand jedoch soweit zu reduzieren, dass sich die Installation eines solchen Systems innerhalb eines Jahres bezahlt macht, ist die Herausforde-rung an das Projektteam. Der Schlüssel liegt, wie schon erwähnt, in der konsequenten Nutzung und intelligenten Verknüpfung aller schon bestehenden Datenquellen und nicht in der Neuerstellung von Daten oder Neuinstallation von zusätzlicher Hardware.

Die ersten Pilotanwendungen zeigen jedoch schon deutlich, dass der Nutzen eines solchen mobilen, 24/7 verfügbaren Assistenten für die Instandhalter und Anla-genbetreiber einen hohen monetären und qualitativen Mehrwert bringt. Konkret heißt dies:

■ Zeiten zur Ersatzteil-Identifizierung werden drastisch reduziert

■ Fehlbestellungen und Fehllieferungen werden vermie-den

■ Effektivere Informationsgewinnung und konkrete, unmittelbare, schnelle Hilfe durch „smarten“ Zugriff auf alle verfügbaren Informationen aus Handbüchern, Listen, Zeichnungen, u.v.m.

■ Reduzierung von Fehleinstellungen an der Anlage ■ Reduzierung des Energieverbrauchs durch verbesserte

Anlageneinstellungen ■ Signifikante Senkung der Kosten durch ungeplante

Anlagenstillstände.Diese Erfahrungen bestärken das derzeitige Projektteam, den gewählten Weg von #jakob weiterzuverfolgen und somit für viele Instandhaltungsmitarbeiter aus der Wärme-behandlung eine wichtige Unterstützung in ihrer täglichen Arbeit anbieten zu können.

AUTOR

Dipl.-Ing. Carsten Stölting, MBA Product-Owner #jakob-Team [email protected] www.einfachsicher.info Twitter: @SicherJakob(#jakob\einfach.sicher.)Linkedin.com/in/jakob-einfach-sicher

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SONDERTEIL FACHBERICHTVIER BÜCHER, DIE JEDER PROFI DER THERMOPROZESSTECHNIK

KENNEN SOLLTE.Dieses Buch beschreibt folgende Aspekte:• Effiziente und saubere Verbrennung bei Industriefeuerungen• Wärmerückgewinnung zur Verbrennungsluftvorwärmung als

wichtigste Maßnahme zur Steigerung der Energieeffizienz• Grundlagen der Verbrennungslehre, Strömungstechnik und

Wärmeübertragung für die Brennertechnik

Dieses Buch beschreibt folgende Themen:• Kriterien zur Auswahl feuerfester Werkstoffe• Zusammenhänge von Konstruktion und Verarbeitung

dieser Werkstoffe• Dargestellt anhand von farbigen Abbildungen und

Ausführungsbeispielen aus verschiedenen Anlagenbereichen

Joachim G. Wünning3. Auflage 2019Artikelnummer: 31020Auch als eBook erhältlich.Preis: € 100,-

Deutsche Gesellschaft für Feuerfest- und Schornsteinbau e.V.4. Auflage 2015Artikelnummer: 31631Auch als eBook erhältlich.Preis: € 130,-

Dieses Buch beschreibt praxisnah:• Grundlagen, Prozesse und Verfahren• Zusammengefasster Überblick über die gesamte Thermoprozess-

technik, insbesondere im Hinblick auf Entwurf, Projektierung oder Betrieb von Thermoprozessanlagen

Herbert Pfeifer, Bernard Nacke, Franz Beneke3. Auflage 2018Artikelnummer: 30856Auch als eBook erhältlich.Preis: € 160,-

Dieses Buch beantwortet wichtige Fragen:• Metallurgische Verfahrenstechnik der Induktionsanlagen

für das Schmelzen, Warmhalten und Gießen• Aktuelle Zusammenhänge der CO2-Diskussion und der

Abwärmenutzung

Erwin Dötsch3. Auflage 2019Artikelnummer: 31075Auch als eBook erhältlich.Preis: € 80,-

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Vorteile der digitalen Inbetrieb-nahme von Anlagen

von Ralf Zettier, Mark Haverkamp

Die Inbetriebnahme von industriellen Anlagen der Thermoprozesstechnik ist sehr anspruchsvoll und aufwändig. Mit Hilfe von Simulationen lässt sich eine digitale Inbetriebnahme vornehmen. Diese Methode ermöglicht es Projekte effizient umzusetzen. Zusätzlich können Prozesse, Funktionen und Probleme an virtuellen Anlagen untersucht werden. Verschiedene Simulationen und Konzepte bieten diese Möglichkeiten vor Baubeginn einer neuen Anlage sowie bei bereits existierenden Anlagen. Anwender können sich frei zwischen laufenden Aggregaten bewegen, die Bearbeitung von glühendem Metall hautnah erleben oder auch die gesamte Logistik im Werk überschauen.

Advantages of digital commissioning concepts for in-dustrial plants The commissioning of industrial plant in the thermprocess industry is challenging and complex. Time is always a crucial factor when it comes to a new or revamped plant. The sooner a plant goes on stream and achieves the planned produc-tion capacity – or the shorter the downtime for a revamp – the faster the return on investment for the plant owner. The simulation can offer a bird’s eye view of a work’s entire logistical activities. Not less appealing is the idea of being able to see one’s new plant or machine in operation before it has actually been built. All this has become possible thanks to virtual reality technology.

Durch Simulationen wird wertvolle Zeit gespart, da frühzeitig wichtige Funktionen, Prozesse oder logis-tische Materialflüsse an der virtuellen Anlage unter-

sucht werden können und die Optimierungspotenziale in die Planungen einfließen. Das beschleunigt alle nachfolgenden Arbeiten bis hin zur Inbetriebnahme. Außerdem lassen sich im Vorfeld technische Lösungen mit dem Kunden besser diskutieren, wenn man eine konkrete virtuelle Maschine vor Augen hat. Aber auch während des laufenden Betriebes werden, im Rahmen der Digitalisierung, die digitalen Klone beziehungsweise digitalen Zwillinge der Anlage immer wich-tiger. Ebenso eignen sich die digitalen Klone hervorragend für Schulungen des Bedien- und Wartungspersonals.

Simulationen: Varianten und VorteileDer zuständige Bereich der SMS group für Simulationen im Zusammenhang mit Umformen und Walzen – Rohr, Profil und Schmieden – nennt sich RDL. Vier Bereiche der Simulationen werden angeboten:

■ Physikalischen Prozess- und Anlagensimulationen ■ Logistiksimulationen zur Analyse und Auslegung der

Anlagen ■ HIL-Simulationen (Hardware in the Loop) ■ Virtual Reality, Augmented Reality und digitale Klone.

Physikalische Prozess- und AnlagensimulationenDie Prozess- und Anlagensimulationen stellen, vereinfacht gesagt, die Fertigungsprozesse auf den Anlagen dar. Mit ihrer Hilfe legen die Fachleute der SMS group die Anlagen hinsichtlich der z. B. zu installierenden Antriebsleistung aus und sehen bis zu welchen Kräften die Prozessketten funkti-onieren und ab wann leistungsstärkere Motoren installiert werden müssen. Die Modelle ersetzen kostenintensive Experimente. Es gibt kein Schadensrisiko und einzelne Pro-zessparameter können getrennt voneinander angesehen und geprüft werden.

Das Spektrum der Aufgaben ist breit: Machbarkeitsstudi-en, Möglichkeiten zur Ressourcen- und Energieeinsparung,

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Optimierung von Prozessketten und die Fehleranalyse können mithilfe der Simulationen durchgeführt werden. Im Fokus stehen häufig konkrete Fragestellungen, die es durch die Simulationen zu beantworten gilt.

LogistiksimulationenBesteht die Aufgabenstellung darin, die logistischen Pro-zesse einer Anlage zu analysieren, so werden Simulations-werkzeuge benötigt, mit denen man den Materialfluss simulieren kann. Dabei werden einzelne Ereignisse, wie z. B. der Transport mit einem Roboter, zeitlich (Dauer) und räum-lich (Bewegungsstrecke im Raum) definiert und über ein Netzwerk miteinander verbunden. Die Simulationszeit kann dabei frei definiert werden, sodass eine Jahresproduktion auf einer Anlage, unter Einbeziehung des Produktmixes und von Schichtbetrieb, in wenigen Minuten berechnet werden kann. Mit der Simulation können so Engpässe aufgespürt werden, die die Ausbringung begrenzen und die es wei-ter zu optimieren gilt, bis ggf. die Simulationsergebnisse die Leistungsdaten eines Anlagenangebots erfüllen. Das Simulationswerkzeug ermöglicht es ferner, die projektier-ten 3D-Anlagendaten einzubinden. So kann am konkreten 3D-Modell bereits sehr frühzeitig erkannt werden, ob es bei den geplanten Taktraten und Bewegungsprofilen zu Kollisionen kommt. Vereinfacht gesagt: Der Betrachter sieht auf einem Monitor, einer Projektionswand oder mittels VR-

Brille, wie ein Produkt von A bis Z alle Maschinen durchläuft und ob dieser Prozess reibungslos funktioniert. Bereits hier werden Fehler oder Engpässe im Produktionsfluss deutlich und das Anlagenlayout kann frühzeitig und kostengünstig angepasst werden. Bild 1 zeigt die Auslastungsanalyse einer Räderwalzanlage in einer Logistiksimulation.

HIL-SimulationenSimulationen sind aber nicht nur Planungsinstrumente, sondern helfen auch beim laufenden Betrieb, wie z. B. HIL-Simulationen. HIL steht für Hardware in the Loop und bedeutet, dass reale Elemente, wie die Automationssoft- und Hardware sowie Steuerungseinrichtungen, mit der Simulation gekoppelt werden und ihr Verhalten überprüft wird.

Ein konkretes Beispiel zeigt Bild 2: Die Sprühköpfe zur Kühlung der Gesenke kollidieren in der Schmiedepres-se regelmäßig mit dem Obergesenk, wodurch sich die Mechanik der Sprühköpfe verbogen hat, die dann später neue Probleme verursachte, als versucht wurde, die Anlage auf neue Produkte umzustellen. An der Maschine wurden unterschiedliche Einstellungen und Veränderungen vor-genommen – allerdings ohne Erfolg. Die entsprechenden Bauteile der Anlage wurden dann im Simulationsmodell nachgebaut und die Prozesse untersucht. Die Simulation konnte nachweisen, dass es in Bruchteilen von Sekunden

Bild 1: Auslastungsanalyse einer Räderwalzanlage in einer Simulation

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zu einer Kollision zwischen Gesenk und Sprühkopf kam. Auf dieser Basis konnte das Problem behoben werden.

Die mittels additiver Fertigung im 3D-Druck hergestell-ten Köpfe sind aus Kunststoff oder Metall und wiegen nur ein Zehntel der bisherigen Sprühköpfe. Dadurch können die Tragarme die Sprühköpfe wesentlich schneller ein- und ausfahren und die Produktivität der Presse steigt. Wichtig ist jedoch, vorher die optimalen Bewegungen der Achsen für die kürzesten Taktzeiten in den Simulationen festzustellen. Diese Werte können dann in die Steuerungen für die realen Prozesse übernommen werden.

Simulationen mit Virtual RealityIm Zeitalter der Digitalisierung gewinnt der sogenannte digitale Anlagenklon zunehmend an Bedeutung. Er wird u. a. für Virtual-Reality-Simulationen genutzt und ist von strategischer Bedeutung für die zukünftige Wettbewerbs-fähigkeit bzw. Wettbewerbsvorteile der Anlagenbetreiber. Bei der Virtual Reality steht ein 3D-Modell für die Simulation zur Verfügung, das mittels VR-Brille oder am Monitor bzw. per Großprojektion betrachtet werden kann.

So können Optimierungen an der virtuell nachgebil-deten Anlage durchgeführt werden, ohne dass dabei der laufende Betrieb beeinträchtigt wird. Mit Hilfe digitaler Klone finden insbesondere Trainings zu Wartungen und Bedienungen beim Kunden statt. Der digitale Klon eignet sich auch, um Schulungen weit vor dem Produktionsstart einer Anlage durchzuführen, z. B. mit dem Plug & Work-Konzept.

Wer mit einer VR-Brille in den virtuellen Raum der Anla-gen tritt, kann nicht nur die laufenden Prozesse passiv betrachten, sondern kann aktiv in das Geschehen eingrei-fen. So lassen sich in der räumlichen Simulation die virtu-ellen Knöpfe einer Automation oder eines Bedienerpults betätigen und entsprechend ändert sich die Fahrweise der Anlage (Bild 3). Für viele VR-Anwendungen werden hoch-entwickelte Spiele-Engines genutzt. Das hat den Vorteil, dass in dieser mächtigen Software bereits Eigenschaften der physikalischen Welt, also beispielsweise die Schwer-kraft oder Bewegungssimulationen, implementiert sind. Das erleichtert die Arbeit und gestaltet sie effizienter. Bei Fragestellungen, wo die Physik von besonderer Bedeutung für den Prozess ist werden eigene Modelle erarbeitet, die parallel zur Laufzeit im Hintergrund mitgerechnet werden.

Eine zweite Entwicklung ist Augmented Reality, kurz AR. Dabei werden mithilfe von Projektionen auf einer AR-Brille reale und virtuelle Welt miteinander verknüpft. Es können Animationen, 3D-Modelle oder Maschineninformationen in die Brillengläser eingeblendet werden und so die Tech-niker oder das Wartungspersonal, durch diese „erweiterte Realität“ bei ihrer jeweiligen Tätigkeit, unterstützen. Ein Wartungsspezialist kann so beispielsweise eine Pumpe betrachten und dann den inneren Aufbau mit Filter aufru-

fen. Er hat durch die Projektion in der Brille den Eindruck, dass er ins Innere der Pumpe schaut. Die Augmented Rea-lity kann ihm auf Wunsch nun Anweisungen geben, wie ein Filterwechsel durchzuführen ist. Der Wartungstechniker sieht die konkreten Schritte.

Plug & Work-KonzeptDas von der SMS group entwickelte Plug & Work-Konzept ermöglicht es, wertvolle Zeit schon im Vorfeld der Montage und Inbetriebnahme zu sparen. Ein neues Automationssys-tem wird als komplexe Einheit in den Testfeldern der SMS group aufgebaut, geprüft und voroptimiert – lange bevor die Montagearbeiten auf der Baustelle beginnen. Möglich wird dies durch eine realitätsnahe 3D-Echtzeit-Anlagensi-mulation, in der die kundenspezifische Anlage funktional und technologisch als digitales Ebenbild nachgebaut wird. Diese Simulation wird im Rahmen des Plug & Work-Tests mit dem Automationssystem der zu testenden Anlage verbunden und dient als Ersatz für die reale Anlage (Bild 4a und 4b). Darüber hinaus wird auf diese Weise auch die Schulung des späteren Bedienpersonals an den Original-Steuerpulten ermöglicht. Im virtuellen Produktionsbetrieb lernen die Kundenmitarbeiter die Funktionen der Anlage und ihre Handhabung in realitätsnahen Betriebssituationen kennen und beherrschen. Gegenüber der herkömmlichen

Bild 2: HIL-Simulation bei einer Gesenkschmiedeanlage

Bild 3: Anlagenklone für Bedienerschulungen

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Vorgehensweise kann mit Plug & Work die Zeit der Inbe-triebnahme um bis zu 30 % reduziert werden. Plug & Work verschafft den Kunden einen Wettbewerbsvorteil sowie eine hohe Anlagenverfügbarkeit und Zeitersparnis.

Testcenter und SchulungseinrichtungenDie SMS group betreibt an vielen Standorten weltweit Plug & Work-Testcenter und Schulungseinrichtungen. In diesen speziell eingerichteten Testfeldern werden zunächst die Original-Steuerpulte, Schaltschränke und Automati-onssysteme aufgebaut und nach den individuellen Kun-denanforderungen konfiguriert. Anschließend werden die Hardwarekomponenten einer Funktionsüberprüfung unterzogen, sodass eventuelle Fehler bereits im Vorfeld aufgedeckt und behoben werden können. Der Vorteil für den Kunden besteht darin, dass fehlerfreies Equipment geliefert wird und später keine Fehler auf der Baustelle beseitigt werden müssen.

Nach dieser ersten Testphase wird die gesamte Elektrik und Automation über die verwendeten Feldbussysteme mit der Anlagensimulation gekoppelt, um den Integrations-test im Testcenter zu absolvieren. In einem ersten Schritt wird die für die Anlagenmodule erstellte Software auf ihre Funktion getestet. Dabei werden z. B. die unterschiedlichen Betriebsarten wie Hand-, Wartungs- und Automatikbetrieb der einzelnen Module überprüft. Im zweiten Schritt wird das fehlerfreie Zusammenspiel dieser Module als Gesamt-anlage inklusive der Produktionsabläufe untersucht. Ist die Gesamtanlage in ihren Funktionen grundsätzlich verfügbar, wird diese in einer dritten Testphase im Rahmen eines virtuellen Produktionstests kundenspezifisch voroptimiert.

3D-Echtzeit-AnlagensimulationDas Kernstück des Plug & Work-Tests bildet die realitätsnahe 3D-Echtzeit-Anlagensimulation. Um solche Simulationen zu entwickeln und aufzubauen, reichen mathematische

Modelle allein nicht aus. Auch eine tiefgreifende techno-logische Kenntnis der Prozesse sowie Erfahrungswerte sind für die Simulation von großer Bedeutung. Dieses komplexe Zusammenspiel fließt in das Simulationssystem ein und wird im Rahmen des Plug & Work-Tests abgebildet. So enthält das Simulationsmodell einer kundenspezifischen Anlage alle funktionalen und regelungstechnischen Ele-mente der Anlage, die für einen virtuellen Produktionstest nötig sind. Darüber hinaus wird eine weitere Klasse von Modellen verwendet, die das technologische Anlagenver-halten plausibel abbilden.

Als Grundlage für die Simulationserstellung dienen die unterschiedlichsten Engineering-Daten aus der realen Kun-denanlage. Aus den mechanischen Konstruktionsdaten werden die realitätsnahe 3D-Visualisierung abgeleitet und die kinematischen Bewegungsmodelle erzeugt. So kön-nen auch Funktionsweisen veranschaulicht werden, die später auf der realen Anlage nicht mehr zu erkennen sind. Weiterhin können aus den Engineering-Daten der Automa-tionsumgebung Kommunikationsschnittstellen zwischen Simulations- und Automationssystem abgeleitet werden.

Jede Anlagensimulation ist damit ein Unikat und genau auf die Kundenanlage abgestimmt. Das Resultat: Für den Bediener im Testfeld entsteht der Eindruck, als arbeite er an der konkreten Anlage, denn sämtliche Fahrweisen und Prozesse werden in Echtzeit simuliert und entsprechend visualisiert (Bild 5).

Parallel zum Plug & Work-Test findet die Schulung der Kundenmitarbeiter unter realitätsnahen Bedingungen statt. Schon vor der Inbetriebnahme der realen Anlage erhalten die Mitarbeiter dank der Echtzeit-Simulation und der visuali-sierten Prozesse eine praxisnahe Schulung an der zukünfti-gen Anlage. Darüber hinaus können die Mitarbeiter gezielt auf die anfallenden Wartungsarbeiten vorbereitet werden. Dabei legt die SMS group großen Wert auf eine partner-schaftliche Zusammenarbeit mit dem Kunden. Während

Bild 4a: Realanlage bei Big River Steel, Osceola, USA Bild 4b: Das digitale Ebenbild der Realanlage im Vergleich

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SONDERTEILFACHBERICHT

der Schulung haben die Mitarbeiter die Möglichkeit, ihre eigenen Ideen und ihr Feedback mit einzubringen. Damit sind die Mitarbeiter ganz in den Prozess der Inbetriebnahme integriert und unterstützen durch dieses praxisorientierte Vorgehen aktiv den schnellen Hochlauf der Anlage.

Anlagenbau im digitalen ZeitalterFür die SMS group sind Prozess- und Logistiksimulationen, HIL-Simulatio-nen und Anwendungen mit Virtual Reality sowie Augmented Reality kein Neuland, sondern gehören bereits in vielen Bereichen zum Arbeitsalltag dazu. Die Simulationen werden für die Arbeit der Ingenieu-re sowie zur Abstimmung mit dem Kunden genutzt. So auch bei einer Modernisierung und einem Anlagenneubau. Dieses Kon-zept bietet eine enorme Zeitersparnis. Die Anlagen werden schneller in Betrieb genommen und die Anlagenverfügbar-keit erhöht sich. Im Vorfeld durchgeführte Tests garantieren ein optimal voreingestelltes Equipment. Die individuell abgestimmte und optimierte Elektrik und Automation ermöglicht einen zuverlässigen Hochlauf und eine hohe Produktqualität von Anfang an. Dabei werden die Kunden durch die bereits zuvor geschulten Bedienermannschaften aktiv unterstützt. Mehr als 100 Referenzprojekte der SMS group in den Bereichen Anlagenneubau und Moderni-sierung belegen, dass mit dem Plug & Work-Konzept der Return-on-Investment früher erreicht wird als mit dem herkömmlichen Ansatz. Je früher eine Anlage in Betrieb geht und die geplante Produktionskapazität erreicht oder je kürzer ein Modernisierungsstillstand ist, desto schneller zahlen sich die Investitionen für den Anlagenbetreiber aus.

AUTOREN

Ralf ZettierSMS group GmbHDü[email protected]

Dr. Mark HaverkampSMS group GmbHMö[email protected]

Bild 5: Die Simulation im Testfeld

Termin: • Montag, 08.04.2019 (optional) Grundlagenseminar (14:00 – 17:30 Uhr)

• Dienstag, 09.04.2019 Kongress (08:30 – 18:20 Uhr) Abendveranstaltung ab 19:30 Uhr

• Mittwoch, 10.04.2019 Workshops (09:00 – 13:30 Uhr)

Ort: Atlantic Congress Hotel, Essen, www.atlantic-hotels.de

Zielgruppe: Brenner-, Anlagen- und Komponentenherstel-ler, Betreiber und Planer von Thermoprozess-anlagen, Lieferanten technischer Gase

Mehr Infos und Online-Anmeldung unter www.prozesswaerme.net/brennertechnik

Veranstalter

sponsored by

an ThermoprozessanlagenBRENNERTECHNIK 10. PROZESSWÄRME-Tagung

Emissionsminderungen – Industrie 4.0 in der Praxis – Betriebserfahrungen08.–10.04.2019, Atlantic Congress Hotel, Essen

Gold-Sponsoren

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SONDERTEIL AUS DER PRAXIS

Neues Antriebskonzept für Pressen auf Basis von verschleiß-armen Planetengetriebemotor

Kuka ist führend in der Entwicklung und dem Bau von Robotik- und Auto-

matisierungslösungen. Zudem treibt das Unternehmen mit seinen Entwicklungen die Digitalisierung in der Fertigung voran. Dazu hat Kuka, gemeinsam mit der Flender GmbH, einer Siemens-Tochter, eine neue Antriebsform der Schiebe-Kipp-Tisch-Presse

realisiert. Diese Pressen werden zum Entgra-ten von Gussbauteilen eingesetzt. Durch die neue, elektromechanische Alternative zum bisherigen hydraulischen Schwenkmo-tor profitieren die Anwender von bis zu 30 % kürzeren Taktzeiten, verbesserter Dyna-mik, weniger Verschleiß der Komponenten und reduzierte Wartungskosten und -zeiten.

Die Basis für die neue Lösung, die die Siemens-Tochter Flender, gemeinsam mit Kuka, als Alternative für die in der Pressen-branche üblichen Schwenkmotoren ent-wickelt hat, ist ein Planetengetriebemotor (Bild 1). „Die perfekte Abstimmung des gesamten Antriebsstrangs, von der Steue-rung über den Drehstrom-Asynchronmo-tor bis zum ‚Drehmoment‘ am Kipptisch, ist u. a. so gut gelungen, weil Flender ein riesiges Portfolio von mehr als einer Million Getriebevarianten und jahrzehntelanges Know-how in der Antriebstechnik mit in das Projekt eingebracht hat“, erklärt Steffen Günther, Vize-Präsident Casting Solutions Emea and Americas der Kuka Division Industries.

Anfang 2018 wurde erstmals in der Schiebe-Kopf-Tisch-Presse SEP SKT von Kuka der hydraulische Schwenkmotor durch einen einseitig wirkenden elektro-mechanischen Hauptantrieb ersetzt. „Wir sind mit unserer innovativen Lösung mei-nes Wissens weltweit der einzige Hersteller, der in einer Schiebe-Kipp-Tisch-Presse eine solche elektromechanische Schwenklö-sung standardmäßig anbietet“, so Günther. Die Vorteile für die Kunden sind vielseitig. Besonders relevant ist die Reduzierung der Taktzeit der Schwenkbewegung um rund 30 % – weitere Leistungssteigerungen des gesamten Produktionsverlaufes sind durch das bessere Regelverhalten der neuen Technik möglich (Bild 2).

Die digitale Integration des Antriebs in die Steuerung stellt sicher, dass die Steu-erung über den Drehgeber zu jeder Zeit „weiß“ in welcher Stellung der Tisch ist. Die digitale Überwachung und Prüfung der Komponenten sowie die Dokumentation erleichtern den Service. Auch hinsichtlich Robustheit, beziehungsweise Verschleiß, überzeugt der Flender-Antrieb. Beispiels-weise wiegt das Werkzeugunterteil auf dem Kipptisch der Pilotpresse 6 t. Die bei der Schwenkung um die Drehachse auftre-tenden Drehmomente und Beschleunigun-gen werden von der neuen Getriebetechnik

Bild 1: Gemeinsam mit der Flender GmbH, einer Siemens-Tochter, hat Kuka für die Schiebe-Kipp-Tisch-Presse eine Alternative zum bisherigen hydraulischen Schwenkantrieb auf Basis der Flender-Planetengetriebe-motoren entwickelt

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SONDERTEILAUS DER PRAXIS

problemlos abgefangen, wie die Dauerlauf-prüfung unter Belastung belegt. Nach der Prüfung zeigten die Flender-Komponenten keinerlei Verschleißerscheinungen. „Auf-grund der hohen Robustheit der Planeten-getriebemotoren sowie der verbesserten Einstell- und Ansteuerbarkeit der Antriebe sind wir nun in der Lage, das Schwenkge-wicht um bis zu 30 % zu erhöhen“, freut sich Günther. Der Frequenzumrichter bremst die hohen Massenmomente und speist zugleich die dabei erzeugte Energie zurück ins Netz.

Die neue Technik ist so ausgelegt, dass damit auch bestehende Pressen schnell – innerhalb von ein bis zwei Tagen oder schrittweise – nachgerüstet werden kön-nen. Und Günthers Blick in die Zukunft ist vielversprechend: „Weil die, durch den Technologiewechsel gewonnenen, Vortei-le nachhaltig überzeugen, werden wir die Flender SIP Planetengetriebe überall dort zum Einsatz bringen, wo sie die gleichen Verbesserungen bringen, wie in unseren Schiebe-Kipp-Tisch-Pressen.“

Autor:Ursula Lang

Kontakt:Siemens AGNürnbergTel.: 0911/[email protected]

Bild 2: Zu den Vorteilen der neuen, elektromechanischen Lösung gehören eine Reduzierung der Taktzeiten um 30 %, höhere Dyna-mik und geringer Verschleiß der Komponenten

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