49

Im Reich der Ausgestoßenen

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Im Reich der Ausgestoßenen
Page 2: Im Reich der Ausgestoßenen

Nr. 293

Im Reich der Ausgestoßenen

Sie entgehen der Exekution - doch der Mörder erwartet sie in der

Unterwelt

von Hans Kneifel

Das Geschehen im Großen Imperium der Arkoniden wird gegenwärtig durch innere Konflikte bestimmt – in höherem Maße jedenfalls als durch die Kämpfe gegen die Methans.

Es gärt auf vielen Welten des Imperiums. Und schuld daran ist einzig und allein Or­banaschol, der Brudermörder und Usurpator, der in seiner Verblendung und Korrupt­heit einen politisch völlig falschen Weg beschritten hat. Die Tage Orbanaschols scheinen gezählt, und es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, wann die Gegen­kräfte im Imperium stark genug sind, den Usurpator vom Thron zu stoßen.

Kristallprinz Atlan, der eigentliche Thronfolger, und seine verschworenen Gefähr­ten, die Orbanaschol bisher schwer zu schaffen machten, sind augenblicklich aller­dings nicht in der Lage, gezielt einzugreifen. Kraumon, ihre geheime Stützpunktwelt, wurde von den Methans zerstört, und Atlan selbst weiß nichts Genaues über das weitere Schicksal seiner rund 15.000 Kampfgefährten.

Der Kristallprinz versucht gemeinsam mit Fartuloon, seinem Lehrmeister, nach Ar­kon zu gelangen. Doch das Unternehmen endet vorerst auf dem Planeten des Ge­richts, wo der Kristallprinz, zusammen mit Hunderten von Deserteuren der Flotte und Männern einer angeblichen Fluchthilfe-Organisation, in einem Schauprozeß zum To­de verurteilt und anschließend exekutiert werden sollen.

Dazu kommt es jedoch nicht, Atlan und Fartuloon flüchten und landen IM REICH DER AUSGESTOSSENEN …

Page 3: Im Reich der Ausgestoßenen

3 Im Reich der Ausgestoßenen

Die Hautpersonen des Romans:Kaarfux - Ein Staranwalt übernimmt die Verteidigung von zwei »Deserteuren«.Ches Prinkmon - Ein TV-Reporter wird zum Opfer seiner eigenen Sensation.Lothor und Premcest - Atlan und Fartuloon enthüllen ihre wahre Identität.Fralwerc - Beherrscher der Unterwelt von Celkar.Yacori - Fralwercs Assistentin.

1.

Ches Prinkmon drosselte die Geschwin­digkeit des Gleiters, der an seinen Flanken und auf der Motorhaube das große, deutlich erkennbare Zeichen der Arkon-Vision trug. Hier, am Ende einer ruhigen Straße im nörd­lichen Kutenarynd, wohnte der uralte An­walt mit den merkwürdigen Manieren. Ches, unausgeschlafen und hochgradig aufgeregt, fühlte seinen Pulsschlag hämmern wie ver­rückt. Er hielt die Maschine unter einem ur­alten Baum an und stieg aus. Er zwang sich dazu, langsam auf die breite Haustür zuzu­gehen. Er las die Namensschilder: Kaarfux – beratender Sekretär: Lekos und wunderte sich ein wenig. Bürochef Fimm Monhole hatte nicht gesagt, daß hier auch der Sekretär wohnte.

Er drückte auf den Knopf, ein Signal er­tönte.

Eine halbe Minute hörte er hinter der Tür, als Unterbrechung einer milden, volltönen­den Orchestermusik, kurze, tappende Schrit­te und ein hornissenähnliches Summen.

Die Stahlplatte glitt geräuschlos zur Seite. Vor Prinkmon stand ein schmaler, rund­

gesichtiger alter Mann. Hinter ihm, irgend-wie drohend im Gegenlicht, schwebte ein Roboter, nicht ganz so groß wie der Anwalt.

»Ich bin Ches Prinkmon von Arkon-Visi­on«, sagte Ches halblaut. »Habe ich das Vergnügen mit Kaarfux, den man Kaarfux mit den siebenhundertsiebenundsiebzig Tricks nennt?«

»Kommen Sie herein. Ich bin von Mon­hole angerufen worden.«

Ches sah, daß der Robot zur Seite schwebte. In den Leuchtfeldern dieser ural­ten Konstruktion mit der zerschrammten und

zerbeulten Außenhaut spielte sich ein Far­bengewitter ab.

»Ich störe Sie hoffentlich nicht beim Mu­sikgenuß?« fragte Ches mit dem Anschein von Höflichkeit.

»Musikgenuß? Das sind meine Pflanzen. Am lautesten schreit die Tanifera ragens.«

Sie kamen in einen großen, vornehm aus­gestatteten Wohnraum, dessen eine Wand­fläche von einem riesigen Regal eingenom­men war. Hier befanden sich Tausende von Komputerspeicherelementen. Eine giganti­sche juristische Bibliothek, wie Ches er­kannte.

»Die Pflanzen?« stotterte Prinkmon. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz …«

Kaarfux lachte gutgelaunt, nahm Ches am Arm und führte ihn durch weit offenstehen­de altertümliche Flügeltüren in den recht­eckigen Hof hinaus. Versteckte Lichter ver­wandelten den Pflanzenwuchs am Boden und an den drei Seiten des Patio in einen ge­heimnisvoll wuchernden Dschungel. Erst auf den zweiten Blick sah Prinkmon die halbversteckten Kabel und Anschlüsse und die Verstärker. »Diese Pflanzen …?«

»Ich benutze die chemoelektrischen Schwingungen, den Turgordruck und andere Elemente pflanzlichen Lebens, um gewisse Wirkungen zu beobachten. Die Schwingun­gen werden positronisch hörbar gemacht, in dem man sie in voller Bandbreite ein Stück des akustischen Spektrums hinauftranspo­niert.

Die Pflanzen sehen Sie an, junger Mann. Hören wir, was sie empfinden!«

Plötzlich schalteten sich ein paar Schein­werfer dazu, die den Reporter anstrahlten. Einige Schalter klickten. Dann produzierten die Lautsprecher eine Melodie des Irrsinns.

Wilde Kadenzen türmten sich auf, heulen­

Page 4: Im Reich der Ausgestoßenen

4

de Zwischentöne erklangen, auf und ab­schwellendes Wimmern unterbrach die dunklen, fast rhythmischen Tonfolgen. Für Ches klang dies alles chaotisch. Ähnlichkeit mit zeitgenössischer oder gar alter Musik hatte diese pflanzliche Darbietung nicht.

»Was … das sollen die Empfindungen der Pflanzen sein? Des Grases? Der Zierbäume dort hinten?« stammelte Prinkmon. Er war verwirrter, als er zugeben wollte. Diese Re­aktion der Pflanzen verletzte sein bisher in­taktes Selbstwertgefühl. Er zog den Kopf zwischen die Schultern und trat einige Schritte zurück.

Kaarfux lachte sarkastisch. »Offensichtlich spüren die Pflanzen, daß

Sie unruhig und im Augenblick unsicher sind. Oder sollten sie sich irren?«

Er schaltete die Musik ab; die Ruhe war wohltuend, aber noch immer rasten die wil­den Farbmuster über das Vorderteil des merkwürdigen Roboters.

»Ich werde Ihnen den Grund verraten, warum ich derartig aufgeregt bin.«

Kaarfux deutete auf den Wohnraum und machte eine einladende Bewegung. Der Ro­bot schwebte vor ihnen und meldete sich mit knarrender Kunststimme:

»Ich bringe Ihnen die Getränke.« »Danke.« Die greisenhaft abgeklärte Ruhe des ehe­

maligen Staranwalts, der Roboter, der mehr einem zerbeulten alten Faß mit vielen bizar­ren Anbauten glich, die musizierenden Pflanzen im Garten – dabei sagte sich Ches Prinkmon, daß das Thema an sich faszinie­rend und einen späteren langen Bericht rechtfertigen würde –, das alles schockierte ihn deswegen so stark, weil es so ganz an­ders war als die Dinge des Lebens, die er bisher kennengelernt hatte.

»Was kann ich für Sie oder Arkon-Vision tun?« erkundigte sich schließlich der Star­verteidiger.

»Ich möchte Sie im Namen und auf Ko­sten von Arkon-Vision einladen, wieder einen Fall zu übernehmen, der Ihrer würdig ist.«

Hans Kneifel

»Sie haben eine bemerkenswerte Ge­schichte ausgegraben, scheint es mir?«

Ches hob das Glas und kostete das bele­bende Getränk.

»Ich brauchte nicht tief zu graben. Verste­hen Sie, daß ich nicht gleich die Namen nen­ne. Es ist besser so. Bei Aufnahmen im Ge­fängnis haben mein Kollege und ich zwei Männer entdeckt und deren wahre Existenz verifizieren können. Es sind genau solche hoffnungslosen Fälle, durch deren Lösung Sie berühmt wurden. Niemand sonst kann es, niemand sonst hätte die geringste Chan­ce. Sie sind genau der Mann, der die beiden Todeskandidaten retten kann.«

Der Anwalt blickte ihn prüfend und schweigend an. Schließlich erklärte er:

»Sie haben auch die Reportage über Ogor gemacht, nicht wahr? Ich erkenne Sie wie­der. Gute, vernünftige Betrachtungsweise, junger Mann! Machen Sie weiter so.«

Ches entgegnete schnell: »Sie können, nein, Sie müssen mir mor­

gen helfen, einen ebensolchen Kommentar abzugeben. Dasselbe Team wird morgen den Massenprozeß gegen die Verräter und De­serteure kommentieren, in Bild und Wort. Für das Wort bin ich zuständig. Ich nenne Ihnen die Namen der zwei Männer noch nicht, Kaarfux, aber Sie werden sie erfah­ren.«

Der Anwalt lehnte sich zurück und lachte genußvoll. Er schien den Antrag des Journa­listen noch immer für einen Scherz zu hal­ten. Ches merkte dies sofort.

»Ich soll blind zwei Männer verteidigen, ohne sie zu kennen und zu wissen, was sie angeblich oder wirklich verbrochen haben?«

»Nicht mehr und nicht weniger als das, was den Leuten von Serrogat vorgeworfen wird. Der Prozeß fängt morgen um zehn Uhr an.«

»Das ist reichlich spät!« Es sah so aus, als ob der Staranwalt zu­

mindest nicht mehr ablehnend diesem Ver­langen gegenüberstand.

»Es ist derjenige Prozeß, wegen dessen Dringlichkeit die Verhandlung gegen Ogor

Page 5: Im Reich der Ausgestoßenen

5 Im Reich der Ausgestoßenen

ausgesetzt wurde. Der Imperator wünscht, daß die sogenannten Verräter und Deserteu­re schnellstens abgeurteilt und, das denke wenigstens ich, auch sofort öffentlich hinge­richtet werden sollen. Es ist sein Befehl. Verstehen Sie, warum zumindest zwei Män­ner eine Chance erhalten sollten, diesem Massaker zu entgehen?«

»Zuerst die beiden Namen.« »Der jüngere, in gewisser Weise der be­

deutendere der beiden Gefangenen, heißt Lothor. Der ältere trägt jetzt den Namen Premcest.«

»Die Namen sagen mir nichts«, erklärte Kaarfux.

»Das ist Absicht. Es sind die Namen, un­ter denen die beiden Gefangenen so lange si­cher sind, wie sie nicht enttarnt werden. Verstehen Sie? Sie verstecken sich in der Anonymität und haben dort noch die mei­sten Chancen zu überleben. Wenn ihre wah­re Identität bekannt wird, sterben sie mit Si­cherheit.«

Der Anwalt ließ sich nachschenken, dach­te schweigend nach, stand auf und spazierte einige Minuten lang durch den Raum und hinaus in den Garten und wieder zurück. Am Ende dieser langen Pause blieb er vor Ches stehen.

»Abgesehen vom Honorar, das ich mit Si­cherheit einzutreiben weiß – welche Sicher­heiten können Sie mir bieten?«

»Sicherheiten welcher Art?« »Fachlicher Art. Ich befinde mich, wenn

ich die beiden Männer Lothor und Premcest verteidige, in direkter Gegnerschaft zu Orba­naschol. Richtig?«

»Richtig.« »Wenn ich aber die Männer unter ihrem

wirklichen Namen verteidige, dann wird der Imperator mich ebenso hassen wie meine Mandanten. Richtig?«

»Auch das ist richtig.« »Wäre ein Aufschub der Hinrichtung, ein

Herausnehmen aus dem Massenprozeß oder gar eine andere, risikoreichere Taktik für die beiden ein Vorteil?«

Ches Prinkmon nickte.

»Alles, was Premcest und Lothor hilft, wenige Stunden oder Tage länger zu leben, ist ein Vorteil. Mit jeder Stunde haben sie mehr Chancen. Der Imperator ist weit, und er wird nicht an jedem Punkt in die Ver­handlung eingreifen. Allerdings weiß jeder, daß er Todesurteile und die sofortige Hin­richtung aller Deserteure verlangt.«

»Das erscheint auch mir sicher. Sie sind politisch nicht interessiert?«

»Nicht einschlägig, aber mein Beruf ver­langt von mir keine Stellungnahme, sondern Objektivität.«

»Zurück zu meinen Sicherheiten. Die bei­den Gefangenen werden mich als Anwalt akzeptieren?« fragte Kaarfux und winkte Lekos näher zu sich heran. Ches Prinkmon stieß ein humorloses Gelächter aus.

»Akzeptieren? Sie würden mit Orbana­schol paktieren, wenn sie sich davon einen Vorteil versprechen würden.«

»Hört sich gut an. Heute können wir nichts mehr unternehmen. Lekos, was denkst du über diesen Vorschlag?«

Mit rostiger Stimme erklärte der »Berater« augenblicklich:

»Das Ansinnen Ihres Gesprächspartners ist ungewöhnlich, aber legal. Juristisch gese­hen wäre ein einzelner Verteidiger für jeden der mehreren hundert Deserteure durchaus möglich. In den Ewigen Annalen der Arena der Gerechtigkeit sind Präzedenzfälle ver­zeichnet.

Nach der hier gepflegten Gerichtsordnung sollten Sie sich morgen vor Prozeßbeginn das Einverständnis der beiden Klienten si­chern. Ich, der Berater, genüge via Bild­tonaufzeichnung als Dokumentation, dassel­be gilt für den Honorarvertrag zwischen Prinkmon und Ihnen. Es hängt alles nur von Ihrem Einverständnis ab.«

»Auf alle Fälle muß ich morgen früh mit den beiden Gefangenen sprechen können. Ich brauche natürlich Material für die Ver­teidigung. Sie werden gewisser Delikte an­geklagt, und Meuterei oder Desertion sind keine Kleinigkeiten.«

Prinkmon sprang auf und fühlte große Er­

Page 6: Im Reich der Ausgestoßenen

6

leichterung. »Bedeutet das Ihre Zustimmung, Verteidi­

ger?« »Ja.« »Ich hole Sie morgen früh rechtzeitig ab.

Wir fliegen mit unserem Gleiter zu Doomyh Kiln, der uns sicher eine kurze Möglichkeit verschaffen kann. Ich spreche noch heute mit ihm. Dann muß ich zurück neben die Kamera, und Sie kann ich in den Gerichts­saal bringen. Können wir es so machen?«

»Meinetwegen. Ich werde über Bildkon­takt meine Zulassung zu diesem Prozeß be­antragen. Der Anschluß ist jetzt zwar nicht besetzt, aber eine automatische Anlage wird meinen Spruch registrieren. Ehe Sie gehen – noch eine formelle Übertragung.«

»Ich stehe zur Verfügung«, erklärte Lekos und fuhr einen biegsamen Arm mit Linsen und Mikrophonen aus. Beide Männer erklär­ten ihre Übereinstimmung für diesen Ver­trag und besiegelten sie mit Händedruck und einer Unterschrift. Dann trank Ches einen letzten Schluck und sagte leise:

»Ich danke Ihnen persönlich noch einmal, Kaarfux. Hoffentlich schaffen wir es, diese zwei Gefangenen vor dem Schlimmsten zu bewahren. Sie werden sehen, warum es so wichtig ist. Wenn wir es schaffen, haben wir drei Dinge erreicht: Sie haben wieder einen ganz großen Fall, Arkon-Vision hat eine spannende Berichterstattung, und zwei Män­ner sind mit dem Leben davongekommen.«

Interessiert fragte der Starverteidiger zu­rück:

»Ist es, abgesehen von den beiden Gefan­genen, für das Imperium so wichtig?«

»Sie werden alles begreifen, wenn Sie die Männer sehen. Bis morgen früh, Partner!«

Sie gaben sich kurz die Hand; der Anwalt brachte Ches zur Tür. Der Reporter fuhr zu­rück in sein Hotel, bestellte einen Weck­dienst und ein Abendessen, rief das Mäd­chen aus der Redaktion an, dessen Namen er schon fast wieder vergessen hatte, und schließlich gelang es ihm, kurz mit dem Ge­fängnisdirektor zu sprechen. Etwas mür­risch, schließlich aber doch entgegenkom-

Hans Kneifel

mend, nannte Kiln einen Termin: Sie muß­ten vor acht Uhr innerhalb des Gefängnis­komplexes sein.

Prinkmon entspannte sich nur wenig. Die­se fanatische Unruhe blieb in ihm. Er würde sie erst wieder losgeworden sein, wenn er von Celkar gestartet war, dem Planeten des Gerichts.

2.

Der Gleiter, in dem Kaarfux und Lekos saßen, von Prinkmon gesteuert, hielt vor der zweiten Sperre an. Der Posten kam aus sei­nem kugelsicheren Bunker hervor, gleich­zeitig aktivierten sich die Verteidigungsein­richtungen.

»Ich muß Ihren Gleiter durchsuchen. Bit­te, gehen Sie dort durch den Eingang!« sagte er. Seit der Meuterei Ogors waren die Wa­chen verdoppelt und die Kontrollen noch schärfer geworden. Prinkmon und der Star­verteidiger stiegen aus, Lekos schwebte summend vom Beifahrersitz hoch und folgte den Männern.

»Als ob wir Neuankömmlinge wären«, scherzte der Verteidiger. Jetzt, im ersten Sonnenlicht, sah Ches ihn deutlich. Der Mann schien sich verändert zu haben. In der künstlichen Beleuchtung seines Hauses hatte er wie ein gemütlicher, alter Mann mit runz­ligem Gesicht und freundlichen Augen ge­wirkt. Nun sah Ches die Härte und Verschla­genheit in den Augen des Mannes.

Sie passierten die Kontrollen, und selbst der Lekos, in dessen Innern eine Bombe hät­te verborgen sein können, wurde durchgelas­sen.

Ein anderer Posten brachte den Gleiter. Sie fuhren weiter bis zum Parkplatz, wurden abermals kontrolliert, aber als sie endlich ih­re Verbindung mit Doomyh Kiln hatten, rief der Direktor:

»Leider, meine Herren, hat man sämtliche Gefangenen schon vor fünfundvierzig Minu­ten zur Arena gebracht. Kehren Sie sofort um. Es war ein bedauerlicher Zwischenfall, der sehr überraschend kam.«

Page 7: Im Reich der Ausgestoßenen

7 Im Reich der Ausgestoßenen

Kalte Furcht packte den Reporter. Fast ei­ne Stunde verloren! Er rief aufgeregt:

»Wir waren um acht verabredet, Kiln! Jetzt ist es zehn vor acht Uhr! Ich war vor einer halben Stunde noch im Hotel zu errei­chen und der Verteidiger ebenfalls.«

Er trat zur Seite, und Lekos wurde neben seinem Herrn sichtbar. Kiln hob beide Arme vor Verblüffung.

»Sie! Ausgerechnet Sie wollen Premcest und Lothor …?«

»Deswegen sind wir hier!« bestätigte Le­kos mit blecherner Stimme. »Ich habe mei­nen Kollegen dahingehend Beratung zuteil werden lassen.«

»Wo sind die Gefangenen jetzt?« Prinkmon sah seine Chancen abbröckeln

wie eine morsche Mauer. »Bereits in der Arena, beziehungsweise

auf dem Transport dorthin. Wir wurden von höchster Stelle angewiesen, größte Schnel­ligkeit bei allen Abläufen walten zu lassen«, gab der Gefängnisdirektor zurück.

»Und auch Premcest und Lothor sind nicht mehr innerhalb der Mauern dieses Komplexes?« wollte der Verteidiger wissen. Ches sah förmlich, wie angestrengt er nach­dachte, um noch eine erfolgversprechende Möglichkeit herauszufinden.

»Nein, ich bedaure.« Alle starrten sich gegenseitig verlegen,

aufgeregt und gespannt in die Gesichter. »Gut. Ich habe verstanden. Wir sollten al­

les unternehmen, um schnellstens in die Arena der Gerechtigkeit zu kommen«, mein­te der Verteidiger schließlich. »Geben Sie Ihren Posten Anordnung, uns sofort durch­zulassen, Herr Kiln. Wir haben es eilig – und wir werden uns auf diese Eigenmächtig­keit von Verwaltung und Arena berufen, wenn es hart auf hart geht. Wir hören uns noch, Kiln!«

Kiln war sichtlich beeindruckt, aber seine Verwirrung war ein gutes Zeichen dafür, dachte Prinkmon, daß Atlan und Fartuloon noch nicht enttarnt worden waren. Er hörte nur noch das gemurmelte Einverständnis des Mannes, dann begleitete sie der Pförtner im

Laufschritt zum Gleiter. Das Fahrzeug wen­dete auf der Stelle und raste mit aufbrum­menden Maschinen auf den Ausgang zu.

Die Posten ließen sie ohne jede Kontrolle durch. Dann, auf der Piste zur Hauptstadt, holte Prinkmon das letzte aus dem Gefährt heraus. Einmal rief der Anwalt von hinten:

»Es wird seine Zeit brauchen, bis sämtli­che Angeklagte im Saal sicher untergebracht sind. Man ist hier auf Massenprozesse dieser Art nicht eingerichtet.«

»Dennoch«, krächzte das blecherne Vo­koderorgan des Robots, »ist größte Eile ge­boten, sie darf dennoch nicht ausarten, denn in diesem Fall droht die Gefahr eines Ver­kehrsdelikts.«

Rätselhaftes Ding, dachte Ches und jagte den Gleiter über Kreuzungen, Rampen auf-und abwärts und durch schmaler werdende Verbindungswege auf den Hochbau der Are­na zu. Sie waren, als sie zu dritt die Freitrep­pe hinaufstürmten, so erschöpft, als wären sie hierher gelaufen.

Vor der schwer bewachten Tür des Großen Saales trennten sich ihre Wege. Atemlos sagte Prinkmon:

»Aderlohn Dharr und Monhole warten schon und verfluchen mich. Ich sehe alles, was im Saal vor sich geht. Viel Glück für uns, Staranwalt!«

Kaarfux nickte kurz und rief: »Irgendwie werden wir es schon schaffen.

Sie werden es erleben.« Sie spielten einen verdammt hohen Ein­

satz, sagte sich Prinkmon, als er nach rechts rannte, seinen Ausweis herauszog und nach einer schnellen Kontrolle die schmale Trep­pe nahm, die in die Räume der Sprecher, Übersetzer und Kommentatoren hinaufführ­te. Tatsächlich warteten seine Kollegen be­reits, und Fimm Monhole hatte das Mikro bisher übernommen. Mit einem Blick über­schaute Prinkmon die Situation: die Ver­handlung war soeben eröffnet worden. Man hatte es tatsächlich geschafft, alle Gefange­nen, etwa halbkreisförmig umgeben von Wächtern und Raumsoldaten, vor der Rich­terbarriere zu platzieren.

Page 8: Im Reich der Ausgestoßenen

8

In Höhe der Barriere öffnete sich eine Tür.

Zuerst schwebte Lekos herein, dann folgte Kaarfux, bereits in der blauen Tracht des Se­nioren-Strafverteidigers. Auf eine geheim­nisvolle Weise wirkte er maßlos selbstsicher und überlegen. Lekos zog sofort sämtliche Blicke auf sich. Das Gerät, bisher in jedem Prozeß als »Berater« zugelassen und auch verwendet, fuchtelte mit mindestens fünf seiner Vielzweck-Armen durch die Luft und ließ auf seiner Vorderfront fast hypnotisie­rende Lichtspiele sehen. Die Richter, Beisit­zer, Sekretäre und Assistenten wurden voll­kommen abgelenkt, obwohl sie gewußt ha­ben mußten, daß Kaarfux mit den 777 Tricks hier erscheinen würde.

Es war seit Jahren sein erster Auftritt in der Öffentlichkeit. Nur Monhole und Prink­mon wußten, wie teuer dieser Auftritt wirk­lich bezahlt worden war; es handelte sich um eine schier astronomische Summe.

Monhole schaltete den Ton kurz ab und flüsterte:

»Wir haben gezittert. Das war höllisch knapp, Ches!«

»Dieser verdammte Kiln«, gab Prinkmon zurück und streifte sich Ohrenhörer und Mi­kroträger über den Kopf. Dharr machte das In-Ordnung-Zeichen und richtete die Kame­ra auf den Staranwalt. Die Vergrößerungen auf dem Monitor zeigten, daß er mit dem Verhandlungsleiter sprach.

»Wird er zugelassen?« fragte Monhole voller Spannung.

Ches vergewisserte sich mit professionel­ler Selbstverständlichkeit, daß das, was sie hier intern sprachen, auf keinen Fall in die Sendung ging, dann erst antwortete er:

»Er hat keinen Zweifel daran. Was ist das?«

Monhole hielt einen Karton hoch. Darauf standen die Worte:

»Auf Anordnung des Kristallpalasts er­folgt die gesamte Übertragung des Prozesses über eine besonders geschaltete Flottenlei­tung direkt nach Arkon. Der Imperator sitzt vor dem Bildschirm.«

Hans Kneifel

»Das bedeutet …«, knurrte Dharr. Ches winkte ab, er hatte eine solche Wendung durchaus für möglich gehalten und war von der Nachricht nur mäßig überrascht.

»Ich habe verstanden. Vorsicht mit der Kamera wegen Premcest und Lothor. Es gibt zweifellos eine Sensation. Nichts provozie­ren, Dharr!«

»Alles klar, Ches.« Der Gerichtssaal war brechend voll. Den

meisten Platz benötigten die Gefangenen und ihre Bewacher. Die Bewachung wurde mit professioneller Lässigkeit durchgeführt. Aber die Waffen, die hier vorhanden waren, genügten für einen kleinen Bürgerkrieg.

Rund dreihundert Gefangene. Dazu etwa zweihundert Bewacher, hundert Personen juristisches Personal. Und schätzungsweise siebenhundert Zuschauer. Dazu: Übersetzer, Pressevertreter, Verkäufer von Getränken und heißen Fleischbällen, Stewardessen und Boten, Beamte und Angestellte und ein paar Müßiggänger.

Eine riesige, unruhige Menschenmenge, die unaufhörlich in Bewegung war. Der eine oder andere wechselte den Platz, die Boten eilten hin und her, Gerichtspersonal verließ den Saal und kam wieder zurück, und un­zählige andere Bewegungen fanden statt. Es war ein Hexenkessel voller unzähliger klei­ner Geräusche, die sich zu einem Dauerton steigerten.

»Können wir weitermachen?« fragte Monhole knapp.

»In Ordnung!« sagte Dharr hinter der Lin­se. Plötzlich merkte Ches, daß er stechende Magenschmerzen hatte. Mit zitternden Fin­gern legte er einen ersten Schalter um und murmelte:

»Ich bin vorbereitet. Los?« Monhole zog sich ans Mischpult zurück

und verfluchte abermals seinen vor langer Zeit gefaßten Entschluß, für Arkon-Vision zu arbeiten. Aber er vergaß ebenso schnell alles wieder, als er Ches sagen hörte:

»Und wieder schaltet sich Arkon-Vision in eines der heißesten Themen dieses Jahr­zehnts ein. Es wird verhandelt gegen die

Page 9: Im Reich der Ausgestoßenen

9 Im Reich der Ausgestoßenen

Meuterer, Deserteure und Verräter von Ser­rogat. So wurde die Gruppe von Gefangenen genannt, die auf dem gleichnamigen Plane­ten gefaßt und von Sonnenträger Twellzock mit dem Schiff JERRAWON und der Mann­schaft aus Raumsoldaten hierher gebracht wurden. Viele aus den Kampfteams von Ser­rogat sitzen und stehen dort unten im Ge­richtssaal – es sind die schwer bewaffneten Raumsoldaten, die leicht an ihren farbigen Kampfanzügen zu erkennen sind. Wie im­mer in diesen bewegten Tagen informiert Arkon-Vision Sie über jeden Augenblick des Prozeßverlaufs.

Regie am Übertragungsort hat Fimm Monhole, an der Kamera steht Aderlohn Dharr, und Ches Prinkmon kommentiert die Vorgänge.

Soeben hat ein Anwalt, der seit Jahrzehn­ten mit aufsehenerregenden Fällen brilliert und lange nicht mehr vor den Schranken des Gerichts gesehen wurde, den Saal betreten. Noch weiß niemand, wen er vertritt, und was er vorhat. Neben ihm sehen Sie Lekos, seinen sogenannten juristischen Berater. Es ist ein derangiert und uralt wirkender Robot, der aus der ersten Generation dieser Art von Maschinen stammen soll. Lekos ist nichts anderes als ein schwebender Komputer, der einschlägiges juristisches Fachwissen be­sitzt.

Wir sehen, daß auf der Schrifttafel der Name des Staranwalts erscheint. Das bedeu­tet, daß er für die Vertretung von Gefange­nen in diesem Saal zugelassen wurde. Auf keinen Fall wird es Kaarfux, der Mann mit den siebenhundertsiebenundsiebzig Tricks, wie sein bekannter Spitzname lautet, leicht haben. Denn alle Prozesse, die er bisher führte, wurden durch überraschende Finten, prozessuale Überraschungen oder verblüf­fende Wendungen gewonnen – von ihm, von Meister Kaarfux mit den siebenhundertsie­benundsiebzig Tricks.«

Die Kamera bewegte sich ganz langsam. Der Monitor zeigte eine ununterbrochene Folge von Gesichtern. Soldaten, Zuschauer und Gefangene, sämtliche möglichen Aus­

drucksformen zwischen hoffnungsloser Re­signation und kalter, besinnungsloser Wut, die kurz vor der Detonation stand. Die Ka­mera zeigte alles in erschreckender Deut­lichkeit. Während Ches Prinkmon seinen Kommentar gab, wußte er, daß an irgendei­nem Bildschirm der Diktator kauerte, haßer­füllt auf das Todesurteil des Schnellrichters wartend.

Der Richter stand auf und hob die Hand. Der Lärm wurde eine Kleinigkeit geringer. Ein lauter Summer ertönte. Dieses Geräusch verringerte den Lärmpegel im Saal aber­mals. Die Lautsprecher knackten, dann war die Stimme des Gerichtsvorsitzenden zu hö­ren.

»Hiermit wird das Verfahren ,Das Imperi­um versus die Deserteure von Serrogat' er­öffnet. In einer internen, der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Verhandlung hat das Ge­richt dem Antrag des Öffentlichen Anklä­gers stattgegeben.

Dieser Antrag lautete: Die Schuld des Re­bellen Helcaar Zunth gilt als erwiesen. Durch diese Entscheidung, deren Wahrheits­findung außerordentlich schwer und lang­wierig war, ist auch die verräterische, gegen den Bestand des Imperiums gerichtete Ar­beitsweise der Organisation Macht der Son­nen als staatsfeindlich definiert worden.

Sämtliche Entscheidungsgremien haben in langem Ringen nach der Wahrheit diesen Tatbestand anerkannt. Damit steht fest, daß es sich bei den hier im Saal befindlichen Ge­fangenen um Meuterer, Deserteure und Ver­räter gegen Arkon und das Imperium han­delt.

Das Wort hat der Öffentliche Ankläger.« Die drei letzten Worte des Obersten Rich­

ters – es war ein anderer Jurist, nicht mehr Thorm von Daccsnor – verhallten ungehört und übertönt von dem Lärm, der sich inner­halb von Sekunden erhob.

Die Gefangenen sprangen auf oder sanken in sich zusammen. Die Wachen und die Sol­daten versuchten, die aufspringenden und fäusteschwingenden Männer zurückzuhal­ten. Kleine Handgemenge entwickelten sich,

Page 10: Im Reich der Ausgestoßenen

10

aber die Raumsoldaten handelten schnell und hart. Sie bedrohten die Gefangenen mit den Waffen, hier und dort wurde einer der Männer niedergeschlagen oder durch schwa­che Paralysatorladungen betäubt.

Der Starverteidiger stand, scheinbar unge­rührt, inmitten des Durcheinanders und rede­te mit fünf bewaffneten Saalwachen. Er hielt zwei Folien in der Hand und deutete in die dritte Reihe der Angeklagten hinauf.

Dharr betätigte die vergrößernden Linsen­sätze und zeigte auf diese Weise seinem Kollegen, daß auf den karteikartenähnlichen Blättern die Abbildungen von Lothor und Premcest zu erkennen waren. Ches nahm es zur Kenntnis und versuchte, das ausbrechen-de Chaos gebührend zu kommentieren.

Der Ankläger stand auf und hielt, immer wieder von wilden Verzweiflungsschreien und den Geräuschen von Schüssen unterbro­chen, eine flammende Rede. Er schilderte die einzelnen Vergehen der verschiedenen Gruppen von Gefangenen und beantragte je­desmal in Übereinstimmung mit geltenden Gesetzen die Todesstrafe.

Jetzt zeigte der Bildausschnitt für kurze Zeit die beiden Männer, auf die der Staran­walt zeigte. Noch hatte niemand ihre wirkli­che Identität erkannt – aber vielleicht würde dieses Bild, das über den Sender Milliarden von Arkoniden erreichte und natürlich auch den Imperator Orbanaschol, die wirklichen Namen der Rebellen erkennen lassen.

Der Ankläger beendete sein Plädoyer mit einem flammenden Aufruf, die einzige Stra­fe zu verhängen, die das Gesetz für diese Delikte vorsah.

Die Todesstrafe! Abermals folgte ein Tumult. Aber er ver­

ebbte schließlich, als der Verteidiger der ge­samten Gefangenenschar sich erhob und schärfsten Einspruch gegen diese Forderung erhob. Er begann mit einem langen Katalog von Erklärungen, die alle nur einen Zweck hatten, nämlich zu beweisen, daß die ver­meintlichen Meuterer ausgenutzt worden waren und nicht gewußt hatten, daß man sie skrupellos ausnutzte.

Hans Kneifel

Ches Prinkmon stellte fest, daß auch die­ser Pflichtverteidiger ein hervorragender Anwalt war, der sein Metier glänzend be­herrschte.

Inzwischen kämpften sich die Wachen durch die aufgeregten Gruppen von Assi­stenten und Hilfskräften und brachten, unter­stützt von drei Raumsoldaten, Lothor und Premcest in die erste Reihe der Gefangenen hinunter. Lekos schwebte jetzt vor einem der vielen Mikrophone, und abermals spiel­ten die Lichter auf seiner Vorderseite wilde Folgen.

Der Verteidiger mußte erleben, daß An­klage und Richter seine Einwände teils we­gen prozessualer Mängel und zum größeren Teil wegen erwiesener Unrichtigkeit nieder­schlugen.

Ein Rededuell zwischen Anklage und Verteidigung begann.

Da niemand mehr verstand, was der eine oder andere sagte, beruhigte sich das Publi­kum im Saal relativ schnell. Auch die Ge­fangenen hörten heraus, daß ihre Lage nicht mehr ganz so hoffnungslos war. Sie wurden stiller und hörten der Redeschlacht zu, die mit immer erbitterteren Argumenten geführt wurde.

Mitten in der Auseinandersetzung unter­brach der Richter die streitenden Parteien und rief:

»Mir liegt ein Antrag von Kaarfux vor. Sein juristischer Berater und er verlangen, daß das Verfahren gegen Premcest und Lo­thor von den Sammelverfahren abgetrennt wird. Diesem Antrag wird stattgegeben.«

Im Stillen zollte Ches Prinkmon, der na­türlich diese Wendung aufgeregt kommen­tierte, dem Richter Respekt: er bewahrte größtmögliche Unabhängigkeit von den Be­fehlen des Diktators. Vermutlich sagte er sich, daß zwei Hingerichtete weniger am Gesamtbild des zu erwartenden Urteils nichts zu ändern vermochten. Mit steinernen Mienen saßen die genannten Gefangenen in­zwischen in der ersten Reihe, flankiert von mehreren bewaffneten Saalordnern.

Die begleitenden Raumsoldaten hatten

Page 11: Im Reich der Ausgestoßenen

11 Im Reich der Ausgestoßenen

sich zurückgezogen. Im Augenblick herrsch­te große Ruhe und gespannte Aufmerksam­keit.

»Meine Forderungen werden von dieser Maßnahme, die ich nicht anders als taktisch und nutzlos bezeichnen kann«, rief der An­kläger aufgeregt, »keineswegs berührt. Ich gehe auf den letzten Einwand der Verteidi­gung näher ein. Im einzelnen ist zu sagen, daß …«

Für einen Augenblick stockte die bisher ruhige und informative Schilderung des jun­gen Reporters. Wieder schlug der Schmerz in seinem Magen zu, und er krümmte sich nach vorn und schnappte nach Luft.

Ohne auf den Monitor zu sehen, bemerkte er, daß Kaarfux jetzt die zwei Gefangenen erkannt hatte.

Der Augenblick der Wahrheit ging für sämtliche Anwesenden vor Gericht unbe­merkt vorüber, nur nicht für Premcest/Far­tuloon, Lothor/Atlan, Kaarfux und die drei Fernsehleute. Wenn noch jemand die richti­gen Namen erkannt und die wahre Natur dieser zwei herausgehobenen Gefangenen bemerkt haben sollte, so tat er nichts, um diese Wahrheit laut herauszuschreien. Viel­leicht fünf Sekunden lang brauchten Kaar­fux und die beiden Männer, um zu erkennen, was hier wirklich geschah. Dann entspannte sich die Situation wieder, aber der würgende Schmerz blieb im Körper des Kommenta­tors.

Etwa eine Stunde lang dauerte das Duell zwischen Verteidigung und Anklage. Immer wieder sah es so aus, als ob die Verteidigung einen leichten Vorteil herauskämpfen konn­te. Aber ebenso oft entschied das Gericht nach kurzer Beratung und nach Zuhilfenah­me des Komputers, daß auch dieser Ein­wand oder dieser Antrag nicht zulässig sei.

Kurz vor Mittag zogen sich die Richter zur letzten Beratung zurück.

*

Ein Teil der Zuschauer ging, andere nah­men ihre Plätze ein. Eine Gruppe von weiß­

gekleideten Helfern und eine Menge Robo­ter schwebten herein und verteilten Essen und Getränke an die Gefangenen und ihre Wachen. Die Unruhe erreichte einen hohen Grad, aber sie schien im Augenblick nicht explosiv zu sein. Die Kamera blieb minuten­lang in einer Totale-Einstellung, während das Team ein paar Becher heiße Getränke herunterschüttete und die Tonleitung aus­schaltete.

»Atlan und Fartuloon wissen, daß sie von Kaarfux verteidigt werden«, sagte Monhole und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Ja. Sie haben es erkannt. Und auch Kaar­fux hat sie erkannt. Jetzt weiß er, warum wir ihm unser Spesengeld für ein Vierteljahr zahlen werden!« erklärte Dharr. »Was ist los, Ches? Du siehst krank aus, deine Finger zittern.«

Ches versuchte, die Beklemmung durch einen langen Schluck und einige Armbewe­gungen abzustreifen. Aber dieses Gefühl, wie eine Todesahnung kam es ihm vor, ver­bunden mit dem auf- und abschwellenden Schmerz, ließ ihn nicht los.

»Nichts Besonderes«, hörte er sich sagen. »Ich bin krank vor Spannung. Keine Sorge, ich halte durch, Freunde.«

Wie auf ein Kommando blickten sie auf den Monitor. Dharr hatte die Kamera be­wegt und auf die fragliche Gruppe gerichtet. Leise sprach Kaarfux auf die Gefangenen ein und deutete mehrmals auf den Richter­tisch und Lekos.

»Es gibt hier einen Arzt, Ches! Willst du eine entkrampfende Spritze?« drängte Mon­hole und schüttelte seinen Kollegen.

»Nein, danke«, sagte Prinkmon und deu­tete wieder, den Becher hastig abstellend, nach unten.

Die gesicherten Türen hinter der wuchti­gen Richterbarriere öffneten sich. Nachein­ander kamen die Richter und ihre Gehilfen wieder in den Raum. Je mehr Personen hin­ter ihren Sesseln stehenblieben, desto leiser wurde es im Saal. Es schien, als würden die meisten Zuschauer und selbst die Raumsol­daten mitten in der Bewegung erstarren und

Page 12: Im Reich der Ausgestoßenen

12

den Atem anhalten. Der Oberste Richter klappte ein Doku­

ment auseinander und sagte mit fester Stim­me:

»Im Namen des Imperiums ergeht folgen-des Urteil: Sämtliche Gefangenen von Ser­rogat, deren Namen im Anschluß an diese Urteilsverkündung verlesen werden, werden zur Todesstrafe verurteilt. Das Urteil erfolgt in voller Übereinstimmung mit dem Gesetz …«

Er kam nicht mehr weiter. Atlan und Fartuloon sprangen auf, rissen

die Arme hoch und rissen Mikrophone an sich. Eine donnernde Stimme erfüllte den Raum und übertönte den Lärm von einigen Tausend Arkoniden.

»Wir sind keine Deserteure oder Verräter. Wir sind auch nicht die Gefangenen Prem­cest und Lothor, sondern wir sind die mäch­tigsten Kämpfer für Freiheit und Recht, die der wahnsinnige Diktator Orbanaschol ver­folgt und vor denen er sich fürchtet. Wir sind Atlan, der Kristallprinz, und Fartuloon, bekannt als Leibarzt Gonozals.

Wir werden nicht sterben. Auch die ande­ren Gefangenen werden nicht hingerichtet werden …«

Jetzt hatte der Tumult den gesamten Saal erfaßt. Die Gefangenen waren ausnahmslos kampferprobte Männer, die schnell zu rea­gieren gelernt hatten. Sie stürzten sich auf ihre Bewacher und kämpften mit ihnen um die Waffen. Die ersten scharfen Schüsse krachten auf. Panik bemächtigte sich der Zu­schauer. Wachen feuerten wahllos in die Masse der Gefangenen.

Die Männer hatten nichts mehr zu verlie­ren.

Jeder, dem es gelungen war, eine Waffe zu ergreifen, benutzte sie auch. Es gab die ersten Toten. Jemand betätigte die Alarm­schaltung, und Dutzende von Portalen öffne­ten sich.

Zunächst war der Vorteil der Überra­schung auf Seiten der todesmutigen Gefan­genen. Die Schüsse wurden zahlreicher, und mehr und mehr Soldaten sanken zu Boden

Hans Kneifel

oder feuerten zurück. Es waren Strahler­schüsse, die kreuz und quer durch die halb­kreisförmige Mitte des Saales röhrten, aber ebenso wurden Waffenläufe als Schlagin­strumente benutzt. Ein riesiger Gefangener warf sich auf zwei Soldaten, die Schulter an Schulter standen und gezielt tödliche Schüs­se abgaben. Er hechtete über drei Sitzreihen hinweg und schlug mit einer weit ausholen­den Bewegung ihre Köpfe zusammen, einen lauten Schrei ausstoßend.

»Wahnsinn!« schrie der Kameramann und filmte ununterbrochen mit der Totale-Einstellung das Chaos. Ein verirrter Strah­lerschuß sprengte einen fingerdicken Riß in die trennende Glasscheibe.

Dann sah Ches Prinkmon, warum Kaarfux so lange mit seinen Schützlingen gesprochen hatte.

Die Richter waren hinter der Barriere in Deckung gegangen, nur zwei Assistenten hoben die Waffen und schossen mit Schock­strahlern auf die Gefangenen.

Unterhalb der Richtertribüne gab es eine schwache Explosion. Dann zeichnete sich der Rahmen einer schmalen, nicht sehr ho­hen Tür ab. Diese Tür, vielmehr eine wuch­tige Platte, kippte nach vorn und schlug schwer auf den Boden. Staub und Mörtelre­ste wirbelten hoch. Im gleichen Augenblick sprang Atlan nach vorn, rammte mit der Schulter einen Wächter zur Seite und stürzte sich in die dunkle Öffnung.

»Nein!« schrie Ches Prinkmon auf. »Das ist … unfair! Sie entkommen unserer Be­richterstattung.«

Er riß sich die Kombination vom Kopf, rannte an der Kamera vorbei und gab dem massiven Dreifuß einen Tritt. Dann verließ er in rasender Eile die Berichterstatterkabine und sprang die Stufen des Verbindungs­gangs hinunter. Dadurch entging ihm das Bild, wie Fartuloon seinem Schützling folgte und sich Kaarfux anschloß.

Lekos, dessen Vorderseite ein kalkig wei­ßes Licht ausstrahlte, das alle Umstehenden und diejenigen blendete, die ihn ansahen, schwebte rückwärts den drei Flüchtenden

Page 13: Im Reich der Ausgestoßenen

13 Im Reich der Ausgestoßenen

nach. Nur Monhole behielt die Fassung, hob das

Mikrophon auf und knurrte: »Dharr! Auf den Fluchtweg!« »Schon im Bild!« gab der Kameramann

zurück und versuchte, seinen Kollegen zu sehen, der durch eine der Türen kommen mußte, durch die sich flüchtende Wachen, davonrennende Gefangene und panisch schreiende Zuschauer hinausstürzten.

Lekos verschwand in dem dunklen Schacht. Das grelle Licht flackerte noch ei­nige Sekunden lang, dann ging es aus.

Ches Prinkmon wirbelte in den Saal hin­ein; er hatte einen anderen Eingang gefun­den, der nicht von der Alarmschaltung ge­öffnet worden war. Er sah sich suchend um und nahm gerade noch das Ausbleiben des blendenden Lichts wahr.

Dann entdeckten einige wild um sich feu­ernde Gefangene den neuen Fluchtweg und rannten durch die Sitzreihen auf ihn zu. Die Männer wurden von mehreren Seiten aus unter Beschuß genommen.

Einige Soldaten rannten feuernd auf die Öffnung des geheimen Fluchtwegs zu. Als sie nur noch vier Schritte davon entfernt wa­ren und schon fast über die zerborstene Steinplatte stolperten, gab es eine schwere Detonation. Eine Stichflamme schoß aus dem schwarzen Viereck hervor, gefolgt von wirbelnden Trümmern.

Eine gewaltige Qualmwolke drang bro­delnd aus dem ausgefransten, gezackten Loch hervor. Die Körper der Soldaten waren rückwärts geschleudert worden und lagen bewegungslos da. Kaarfux hatte gezeigt, daß er noch immer für einen Trick gut war. Zu­erst hatte Lekos die Funkformel ausge­strahlt, die den Fluchtmechanismus heraus­sprengte, dann hatte die Bombe gezündet, die seit Jahrzehnten in dem Roboterkörper integriert war.

Im gleichen Augenblick stolperte einer der flüchtenden Gefangenen. Der Strahl­schuß, der ihn in den Rücken getroffen hät­te, schlug Ches Prinkmon voll in die Brust, schleuderte ihn rückwärts und tötete ihn.

Die letzten Gedanken des Reporters wa­ren:

Alles gewagt und alles verloren … Die wenigen Arkoniden, die in diesem to­

talen Hexenkessel noch klar zu denken ver­mochten, hörten, wie aus dem brennenden und qualmenden Fluchtschacht rumpelnde Geräusche ertönten.

Der Oberste Richter, der ein passiver An­hänger der Rebellen war und seine Freude über die Flucht des Kristallprinzen und des Bauchaufschneiders gut verbergen konnte, hoffte, daß möglichst viele Gefangene da­vongekommen sein würden. Er preßte den Kopf zwischen die Arme und merkte zu sei­ner Erleichterung, daß noch immer Schüsse in die Täfelung hinter dem Richtersessel ein­schlugen.

Also waren die alten Gerüchte, daß es in der Arena der Gerechtigkeit und unterhalb geheime Gänge und Verbindungen gab, doch keine Gerüchte!

Er grinste kurz und robbte dann in Rich­tung auf die offenen Türen zum Beratungs­raum davon. Seine Würde war ihm in die­sem Moment völlig gleichgültig. Als er zwi­schen dem wuchtigen Rahmen angekommen war, stellte er sich die Gefühle des Diktators vor und rang abermals mit einem Anfall völ­lig unmotivierter Heiterkeit.

3. GEDÄCHTNISPROTOKOLL ATLAN:

Nach zehn Schritten erfolgte eine Explo­sion. Der Druck packte mich im Rücken, warf mich vorwärts und auf eine glatte, schräge Fläche. Augenblicklich geriet ich ins Rutschen und krümmte mich zusammen.

Du bist gerettet! schrie triumphierend mein Extrasinn.

Es ging rasend schnell durch absolute Fin­sternis abwärts. Es roch modrig und, Sekun­den später, nach den Explosionsgasen. Ein schwerer Körper landete ächzend in meinem Rücken, und Fartuloon sagte:

»Dieser Anwalt! Wir werden ihn in ein paar Monaten zum Justizminister machen

Page 14: Im Reich der Ausgestoßenen

14

müssen!« »Falls ihr bis dahin noch lebt«, erklärte er

mit trockener Stimme. »Los, aufstehen und geradeaus weiter. Gleich kommt das Gewöl­be herunter.«

Wir hielten uns aneinander fest. Dann zuckte ein winziger Lichtstrahl auf. Er kam aus einer kleindimensionierten Lampe in der Hand von Kaarfux.

»Schnell!« drängte er. Über uns ertönten knisternde und bre­

chende Geräusche. Wir stolperten vorwärts. Unsere Stiefel wirbelten den tiefen Staub auf, der sich ätzend auf unsere Schleimhäute legte und in den Augen brannte. Ich hörte den Anwalt stoßweise sagen:

»Der Roboter war früher ein psycholo­gisch wirksames Werkzeug gewesen. Jetzt hat er die letzten beiden Überraschungen ausgespielt. Ich werde ihn vermissen. Nach ungefähr hundertfünfzig Schritten kommen wir in ein verlassenes Archiv der alten Rechtshalle, auf deren Platz man vor einem halben Jahrhundert die Arena gebaut hat. Alle anderen, die diesen Gang kannten, sind inzwischen gestorben. Achtung …«

Krachend fielen schwere Blöcke herunter. Aber durch das Splittern und Schmettern der Quadern hörte ich noch andere Geräusche, sie klangen, als ob feuchte Masse sich in die Hohlräume zwischen die Trümmer preßte.

»Zweikomponentenmasse!« erklärte Kaarfux.

Der Fluchtweg würde hinter uns nur in ta­gelanger Arbeit zu öffnen sein.

»Wie sind Sie auf uns gekommen?« fragte Fartuloon und rannte neben mir auf den Punkt zu, den der Scheinwerferstrahl erhell­te. Es schien eine eiserne Tür oder ein Schott zu sein.

»Der junge Reporter von Arkon-Vision heuerte mich an.«

»Sie wußten …?« »Nein. Ich erkannte Sie erst im Gerichts­

saal, eine halbe Stunde vor Ihrem Auftritt, Fartuloon.«

»Ihr Handeln, aus welchen Beweggrün­den auch immer, macht uns zu Freunden!«

Hans Kneifel

sagte ich. Wir standen jetzt vor dem alten, fast unkenntlichen Schott. Fartuloon griff nach den schweren Hebeln des Schließme­chanismus.

»Achtung. Hinter der Tür wartet zwar nie­mand, aber das Ganze hier ist uralt.«

Kaarfux leuchtete die einzelnen Zuhaltun­gen an, und wir rissen mit aller Kraft an den Hebeln. Aber erst, als wir uns zu zweit an jeweils einem Hebelarm anklammerten und unsere vereinigten Kräfte einsetzten, drehten sich die Riegel knirschend in den Befesti­gungspunkten. Nach drei Anstrengungen dieser Art rissen wir die Stahlplatten auf.

Vor uns war abermals Dunkel. Aber jetzt roch es nach verrottenden Ge­

genständen aus Leinen, Leder und Papier. »Wir dringen von hier aus ins Kanalisati­

onssystem ein. Eine Fluchtmöglichkeit, die man weitestgehend kennt, aber wenn wir un­seren bisherigen Vorsprung nützen, dann bleiben wir unentdeckt. Sie müssen wissen, daß ich meine Karriere auf Celkar als Ge­meindesekretär angefangen habe. Ich kenne den Bauplan der alten Stadt Kutenarynd.«

Wir hielten uns nicht damit auf, die Tür wieder von innen zu verriegeln. Kaarfux wartete, bis das rostige Zentralschloß einra­stete, dann drehte er mit großer Anstrengung ein Stück Metall, das wie massive Verstre­bung aussah. Eine Sekunde später lief ein stechend helles Licht, das aus lauter winzi­gen Explosionen bestand, rund um den Rah­men und schweißte die beiden Teile zusam­men.

Fartuloon fragte mit ehrfürchtiger Ver­blüffung:

»Sind Sie der Konstrukteur dieses raffi­nierten Fluchtwegs?«

Wieder lief Kaarfux ihnen voraus und zeigte den Weg durch die endlosen, labyrin­thisch stehenden Regalwände, die mit ir­gendwelchen Akten, Spulen und Plänen ge­füllt waren und kaum mehr kenntlich vor Spinnweben und dicken Staubschichten.

»Es war ein Anwältekollektiv, damals …« »Sie meinen, daß mehrere Anwälte diesen

Weg als ihre letzte Zuflucht ansahen?«

Page 15: Im Reich der Ausgestoßenen

15 Im Reich der Ausgestoßenen

Kaarfux lachte selbstgefällig, als er ent­gegnete:

»Er wäre nur benutzt worden, falls einer unserer Mandanten aus Gründen wie in Ih­rem Fall zum Tode verurteilt worden wäre. Da es sich bei den Angehörigen dieses Kol­lektivs um Spitzenkönner handelte, brauch­ten wir diesen Ausweg niemals zu riskieren. Denn es hätte sicherlich das Ende der Kar­riere bedeutet.«

Er meint, daß noch keiner von dieser Gruppe jemals einen Prozeß verloren hat, erläuterte mein Extrahirn.

»Mein Wort! Sie sind tatsächlich der Mann mit den siebenhundertsiebenundsieb­zig Tricks!« staunte Fartuloon. »Wie können wir Ihnen jemals danken, Kaarfux?«

»Seien Sie unbesorgt. Wenn Sie überle­ben und Ihr Programm verwirklichen, dann melde ich meine Forderungen im Kristallpa­last an.«

Im Zickzack ging es zwischen den Teilen des uralten Archivs hin und her. Wir haste­ten ununterbrochen weiter und versuchten, dem Lichtstrahl zu folgen und nirgends an­zustoßen, aber immer wieder mußten wir uns den Schmutz aus dem Gesicht wischen, der in großen Flocken von den Spinnwebfä­den hing. Der Umstand, daß Kaarfux eine Lampe in der Hand hielt, ließ deutlich er­kennen, daß er den Gerichtssaal schon mit bestimmten Absichten betreten hatte.

»Keine Sorge. Wir werden es überleben«, gab ich zurück und fluchte, weil ich mit dem Knie gegen ein Hindernis knallte.

»Bisher sind wir jedesmal dem totalen Untergang um Haaresbreite entgangen«, pflichtete mir Fartuloon bei.

Etwa zwanzig Minuten lang rannten wir durch dieses Archiv und einen anschließen­den, von Trümmern erfüllten Gang. Seit ei­nem halben Jahrhundert waren wir die ersten Arkoniden, die diese verschütteten Bauwer­ke betraten. Die Luft roch abgestanden und faul. Wir bekamen immer wieder Hustenan­fälle und rangen nach Luft.

Aber uns erfüllte eine euphorische Stim­mung; wir waren wieder einmal buchstäb­

lich im letzten Augenblick durch ein halbes Wunder gerettet worden. Zwar erhielt jetzt, als wir umrißhaft die Informationen über Prinkmon, Arkon-Vision und Kaarfux beka­men, das Geschehen hinter den Kulissen ei­ne gewisse Logik: Ches Prinkmon mußte uns schon während der mißglückten Meute­rei im Gefängnis erkannt haben, ganz sicher aber während des Interviews in unserer Zel­le. Daraufhin hatte er seine sensationelle Chance erkannt.

Irgendwann, als wir uns durch den knö­cheltiefen Schlamm eines anderen, kalten und stinkenden Raumes kämpften, hörte ich Fartuloon fragen:

»Was denken Sie, Kaarfux, geschieht jetzt dort oben mit den anderen Gefangenen. Ha­ben Sie Chancen?«

»Wenn sie schnell und entschlossen ge­nug sind, werden viele von ihnen entkom­men können. Die Unterwelt von Celkar ist natürlich über alles informiert.«

»Und wohin flüchten wir?« wollte ich wissen.

»Auch in die Unterwelt. Diejenigen, die im verborgenen leben, sind letzten Endes nichts anderes als entkommene Sträflinge, gescheiterte Juristen und die normalen Ver­brecher einer jeden Stadt.«

Er ist noch gerissener, als du denkst, flü­sterte das Extrahirn.

Wir stolperten und rutschten durch schlammiges und stinkendes Wasser. Schließlich kamen wir an eine Treppe, und Kaarfux hielt an.

»Natürlich habe ich die Unterwelt nicht verständigen können. Aber ich denke, die Betreffenden hören auch Nachrichten und wissen, daß ich mit Ihnen auf der Flucht bin. Wir steigen jetzt abwärts in den Bereich der Kanalisation, der unterirdischen Kraftwerke und der Kläranlagen von Kutenarynd und ei­nem Teil Bassakutenas. Dort werden wir ir­gendwann auf die Leute Fralwercs stoßen.«

Fartuloon lachte kurz auf, schneuzte sich und hustete langgezogen.

»Uns ist alles gleich. Hauptsache, wir werden nicht von den Raumsoldaten der

Page 16: Im Reich der Ausgestoßenen

16

JERRAWON gefangen. Ich kann mir vor­stellen, daß sie ganz Kutenarynd einer ge­waltigen Razzia unterziehen.«

»Und ich stelle mir vor, daß Orbanaschol wie ein Rasender tobt und zusätzliche Kräfte herbeibeordert. Sind Sie nun auf unserer Seite, oder sind Sie trotzdem ein Anhänger des Imperators, Kaarfux?« fragte ich leise und wischte meine Hände am Brustteil des Overalls ab.

»Ich bin ein Anhänger des Imperators, aber keineswegs dieses Schurken im Kri­stallpalast. Er scheint wahnsinnig geworden zu sein. Aber ich bin zu alt, um eine Rebelli­on zu planen. Was ich hier unternahm, ge­schah unter anderem auch aus Sympathie für Sie beide und Ihren verzweifelten Kampf. Ich weiß, daß Sie eine riesige Anzahl von Anhängern überall im Imperium haben, Kri­stallprinz.«

»Danke!« Kaarfux spuckte aus und richtete den

Strahl der Lampe auf verschiedene Teile der steil abwärts führenden Treppe. Auch sie und das umgebende Gemäuer waren uralt: Relikte aus der Siedlungsgeschichte von Celkar. Der Gestank nahm immer mehr zu und wurde fast unerträglich. Ein Zeichen, daß wir uns dem Bereich der Abwasserkanä­le näherten.

»Es geht weiter!« ordnete Kaarfux an. »Es dauert nicht mehr länger als eine Stun­de, falls nicht ein Teil dieser Verbindungen zusammengebrochen oder überflutet ist.«

Wir rutschten und stolperten die Treppe abwärts. Zwischen den Fugen der mächtigen Quader und den Sprüngen der herausge­brannten Höhlungen sickerte Wasser, hinter­ließ Spuren auskristallisierender Mineralien, die im Licht der Lampe schimmerten und funkelten, lief über die Stufen und machte sie glatt wie frisches Eis. Wir klammerten uns aneinander fest und lehnten uns gegen die nassen Wände, als wir Schritt um Schritt die Stufen hinuntertappten.

Es ging in rechtwinkligen Absätzen wei­ter, immer tiefer unter die Planetenoberflä­che. Wenn meine Schätzung richtig war, be-

Hans Kneifel

fanden wir uns schon längst außerhalb der Grundrißfläche, die von der Arena der Ge­rechtigkeit bedeckt wurde. Mindestens drei­hundert Stufen und dreißig Treppenteile brachten wir hinter uns, ehe Kaarfux auf­stöhnte und rief:

»Die Lampe ist zu klein dimensioniert. Das Licht wird schwächer.«

»Das bedeutet, daß wir schneller laufen müssen!«

»Richtig. Beziehungsweise schneller schwimmen«, rief Kaarfux unterdrückt. »Wir sind bereits unten angelangt.«

Vor uns plätscherten seine ersten Schritte im Wasser. Ein gemauerter Stollen warf har­te Echos zurück. Wir traten von der unter­sten Stufe in öliges Wasser, dessen winzige Wellen im schwindenden Licht der kleinen Lampe funkelten. Hintereinander stiegen wir in das überraschend warme, dafür aber noch gräßlicher stinkende Wasser hinein und folgten dem Verteidiger. Für sein Alter be­wegte er sich schnell und kräftig. Gestank, Wärme und kleine Tiere, von denen wir nur aufleuchtende Augen und blitzschnelle Be­wegungen erkannten – das alles war lästig, aber es störte uns nicht. Wir waren ausge­ruht, satt und kräftig, und wir kamen trotz der Länge des geraden Stollens und der niedrigen Decke gut vorwärts.

Offensichtlich war Kaarfux weit mehr als nur ein gerissener Anwalt, der auch vor ge­wissen skrupellosen Überraschungen nicht haltmachte. So gut wie er die geheimen, längst vergessenen und überbauten Gänge und Uralt-Anlagen kannte, so eng schien auch sein Verhältnis zur kriminellen Unter­welt von Celkar oder zumindest dem Konti­nent Bassakutena zu sein. Jedenfalls strebte er mit uns schnell und sicher einem Punkt entgegen, an dem wir diese finsteren Anla­gen verlassen konnten. Ich war gespannt darauf, ob die »Unterwelt« von Celkar sich auch unterhalb des Bodens versteckte, fern­ab vom Sonnenlicht und frischer Luft.

»Wie kommen Sie zu den guten Kontak­ten zu flüchtigen Verbrechern und anderen Lichtscheuen, Kaarfux?« keuchte ich und

Page 17: Im Reich der Ausgestoßenen

17 Im Reich der Ausgestoßenen

sah, als der Lichtstrahl wieder einmal her­umschwenkte, das Ende des Stollens.

»Einige von ihnen habe ich verteidigt. Andere wandten sich an mich mit undurch­führbaren Aufträgen. Wieder anderen gelang es, gar nicht erst in Haft zu kommen. Und dann gibt es immer wieder Arkoniden, deren Lebensweg abseits der Pfade der Gesetze verläuft.«

»Nicht nur auf Celkar!« knurrte Fartu­loon. »Es wird Zeit, daß wir aus dieser Brü­he herauskommen. Hoffentlich können uns die Unterweltler mit einer Dusche und neuer Kleidung dienen.«

»Ich bin sicher, daß Sie alles bekommen, was Sie brauchen. Vielleicht schaffen wir Sie auch irgendwie weg vom Planeten. Sie können sicher sein, daß Orbanaschol eine gewaltige Durchsuchung durchführen wird. Er wird jeden Stein umdrehen lassen.«

»Warten wir die Entwicklung ab!« Wir kamen an das Kopfstück des langen,

geraden Stollens. Das Wasser versickerte rechts und links in kleinen Öffnungen. Vor uns ragten aus der Wand verkrustete Stahl­bügel heraus. Kaarfux nahm die längliche Lampe zwischen die Zähne und machte sich an den Aufstieg. Als ich ihm folgte, lief das schlammige Wasser in mein Haar und sickerte in den Kragen. Ich fluchte unter­drückt, und Fartuloon unter mir fluchte ebenfalls. Aber wir folgten dem zuckenden Lichtschein. Weit über uns rief der Anwalt:

»Bitte einen Moment warten!« »Geht in Ordnung.« Wir sahen nicht, was er dort oben tat. Wir

hörten ein scharfes Klirren, dann eine leise, undeutliche Lautsprecherstimme, schließlich sagte Kaarfux in grobem Ton:

»Macht endlich auf. Kaarfux ist hier, mit zwei Gästen. Keine Tricks, sonst verpfeife ich euch an Fralwerc. Schnell …!«

Ein metallisches Kreischen ertönte und schreckte hinter und unter uns Dutzende der unsichtbaren Tiere auf. Sie sprangen pfei­fend nach allen Seiten davon. Dann fiel von oben ein breiter Lichtstreifen herunter, und als wir nach oben sahen, erkannten wir am

Ende der Stahlbügel ein rundes Einstiegloch. Zwei Paar Arme griffen nach Kaarfux und zogen ihn aus dem Loch heraus, dann folgte ich und sah mich drei Männern gegenüber, von denen einer einen schweren Strahler auf meine Stirn richtete.

»Weg damit!« schnarrte Kaarfux. »Es sind Fartuloon und der Kristallprinz.«

Um unsere Füße bildeten sich sofort schwarze, stinkende Lachen. Fartuloon schwang sich aus dem Durchstieg, sah sich fröhlich um und wich dem schweren Hebel­apparat aus, der ein korkenförmiges Stück Stein zurück in das Einstiegloch drehte.

»Flutet den Kanal. Verwischt noch ein paar Spuren«, sagte Kaarfux. »Ist Fralwerc irgendwo in der Nähe?«

Der Mann mit der Waffe sagte: »Er hat uns benachrichtigt. Sie wollen

Dusche und Essen und so weiter. Wir brin­gen Sie weiter. Hier entlang.«

Der Bewaffnete steckte seinen Strahler ins Futteral zurück. Es waren Teile der offi­ziellen Flottenausrüstung, wie ich sofort sah. An einem einfachen Schaltbrett klappte ei­ner der Männer mehrere Schalter herunter. Wir sahen nicht, was geschah, aber wahr­scheinlich wurden unsere Spuren auf irgend­eine Weise verwischt. Wir wurden einen Gang entlang geführt und kamen in kleine Kabinen. Unser Optimismus stieg, als wir uns von den Schauern des heißen Wassers umspülen ließen. Ich hörte durch die dünne Trennwand, wie Fartuloon ein uraltes arko­nidisches Siegeslied vor sich hin summte.

Ihr seid noch immer in Gefahr! kommen­tierte der Logiksektor.

4.

Das scharfe Bild auf dem großen Monitor spiegelte sich auf der glatten, polierten Schreibtischplatte. Auf dieser Platte spiegel­ten sich auch die Hände des Mannes.

Der Ton zum holographischen Bild war gedrosselt. Trotzdem hörte Lebo Axton je­des Wort des Kommentars und die geschickt eingeblendeten Originalgeräusche.

Page 18: Im Reich der Ausgestoßenen

18

In steigender Unruhe hatte Lebo Axton zunächst den Prozeß gegen Ogor mitangese­hen, hatte die Reportagen und die Kommen­tare nach Ogors freiwilligem Tod erlebt, und jetzt sah er, wie der Prozeß Imperium gegen die Verräter von Serrogat in die letzte Phase ging.

Plötzlich beugte sich Axton aus seinem Spezialsessel nach vorn. Er sah und hörte Atlan und Fartuloon aufspringen und ihre Anklage herausschreien. Das Chaos folgte, die Kämpfe zwischen Bewachern und Ge­fangenen, dann der rettende Auftritt des al-ten Strafverteidigers mit seinem Roboter.

Axton sah die schnelle, entschlossene Flucht der beiden Männer und war begei­stert. Er vergaß aber keinen Augenblick, daß auch der Diktator über die Flottenleitung das Geschehen praktisch verzögerungsfrei mit­erlebte. Er rechnete bereits jetzt mit seinem Anruf.

Die Detonation, die einen Teil der Rich­tertischbarriere zusammensacken ließ und den Fluchttunnel verstopfte, erzeugte einen fahlen Blitz in dem Bild. Dann richteten sich die Linsen der Kamera auf die Kämpfe, die mit einer beispiellosen Härte geführt wur­den.

Rechts im Hintergrund des abgedunkelten Büroraumes schaltete sich mit einem harten Klicken ein Kommunikationsschirm ein. Noch bevor das Bild scharf genug war, drang die aufgeregte Stimme des Imperators aus den Lautsprechern. Die Worte über­schlugen sich fast, als er schrie:

»Haben Sie das gesehen? Haben Sie diese zwei Verräter gehört? Sie sind verschwun­den, ich werde den Planeten durchwühlen lassen. Aufgetaucht und wieder entkommen, diese Verbrecher!«

»Ich habe alles ebenso genau gesehen wie Sie, Imperator!« erklärte Lebo Axton. »Welche Befehle haben. Sie?«

Seine Augen huschten zwischen den bei­den Bildschirmen hin und her. Im Gerichts­saal herrschte die Panik. Ununterbrochen hämmerte das Dröhnen von Schüssen aus den Lautsprechern.

Hans Kneifel

»Kommen Sie sofort zu mir! Wir müssen beraten, was zu geschehen hat.«

»Selbstverständlich!« sagte Axton ruhig und drückte einen Schalter. Er sah ohne Überraschung, daß der Imperator die Ver­bindung getrennt hatte. Aus seinem Sekreta­riat wurde gemeldet, daß der Gleiter bereit sei.

Eines ist sicher, sagte sich Lebo Axton, der Diktator ist abermals in Panik.

5. GEDÄCHTNISPROTOKOLL ATLAN:

Als wir, frisch angezogen und geradezu nach Sauberkeit riechend, uns in einem an­deren Raum trafen, versuchten wir zuerst einmal, uns umzusehen. Der Mann mit der Flottenwaffe kam breit grinsend auf uns zu, drehte den Verschluß von einer Flasche und goß drei schartige Gläser halbvoll.

»Wir haben inzwischen alles gesehen. Sie haben den Behörden einen fabelhaften Streich gespielt. Sie, Kaarfux, werden sich nicht mehr an der Oberfläche sehen lassen dürfen, solange dieser Kerl auf Arkon hockt. Hier!«

Jeder von uns nahm einen Becher. Wir tranken in großen Zügen. Kaarfux schien sich trotz allem über seinen Entschluß zu freuen, denn er taute richtiggehend auf. La­chend fragte er:

»Haben Sie Fralwerc gesprochen?« »Ja. Er schickt einen Kurier. Der wird Sie

zu einem geheimen Treffpunkt führen. Na­türlich alles hier unten.«

Die Räume schienen aus dem massiven Fels unterhalb der Hauptstadt herausge­schnitten zu sein. Sämtliche Leitungen lagen einigermaßen sauber befestigt außerhalb der Wände. Die Kammern und Verbindungsgän­ge waren schmal, aber hell getüncht.

Die Klimaanlage arbeitete geräuschlos. Hin und wieder erkannte ich genau im Scheitelpunkt der Gewölbe unregelmäßige Löcher, die offensichtlich mit Schutt oder Steinbrocken oder einem ähnlichen Gemen­ge gefüllt waren. Aus jeder dieser senkrech­

Page 19: Im Reich der Ausgestoßenen

19 Im Reich der Ausgestoßenen

ten Schächte hing ein Kabel mit einem Schalter daran. Der fast haarlose Mann mit dem breiten Gesicht bemerkte meinen Blick und erklärte:

»Das sind Fallen. Sie können einen Ab­schnitt vom anderen trennen, falls jemand eindringen sollte. Dann kommt alles herun­ter, schmilzt zusammen und versperrt wie ein Korken das Ganze. Gut, nicht wahr? Stammt von Frallie!«

Frallie scheint der Spitzname dieses Fral­werc zu sein, sagte der Logiksektor.

»Einverstanden«, sagte ich. »Gut ausge­baut. Wohin sollen wir?«

Kaarfux schien eine unantastbare Gestalt auch unter den Ausgestoßenen von Celkar zu sein, jedenfalls wurde er von dem vier­schrötigen Hünen mit größter Hochachtung behandelt. Jetzt schaltete er sich in unser Gespräch ein und ließ sein Glas nachfüllen.

»Überall gibt es Gänge. Am sichersten sind wir in den Felskrusten der Planeten. Aber auch in der Nähe von allen Industrie­anlagen laufen Schlupfwege. Es gibt kein ei­gentliches Hauptquartier, sondern eine wich­tige Gruppe, die immer wieder umzieht und auch beste Verbindungen zur Oberfläche hat.«

»Wir werden sie brauchen, diese Verbin­dungen«, murmelte Fartuloon.

»Wir warten auf den Kurier!« sagte der Mann mit der Flasche. »Noch einen?«

Langsam folgten wir ihm durch einen Zentralgang, der immer wieder scharfe Knicke ausführte. Die beiden anderen schie­nen verschwunden zu sein, aber wir kamen an vielen Türen vorbei, hinter denen wir Stimmen hörten und die Lautsprecher der Fernsehübertragung.

»Nur Ruhe«, bestimmte Kaarfux. »Für die nächsten Wochen können wir uns hier ver­stecken. Selbst wenn die schärfste Razzia er­folgt, wird niemand dieses System ent­decken. Sie werden mit Sicherheit das ge­samte Kanalisationsnetz absuchen, denn die­sen Tip haben wir ihnen gegeben. Aber das ist so richtig wie falsch.«

»Wir sind keineswegs beunruhigt!« er­

klärte ich. Trotzdem blieb die Tatsache, daß wir auf Gedeih oder Verderb den Ausgesto­ßenen ausgeliefert waren. Der Verbrecher drehte sich plötzlich um, schwenkte einla­dend die Flasche und sagte schließlich:

»Sie sind also der berühmte Kristallprinz Atlan! Ich habe mir immer vorgestellt, Sie würden mit einer riesigen Flotte gegen den Imperator kämpfen!«

Fartuloon stieß ein wieherndes Lachen aus und ich mußte ebenfalls grinsen.

»Das stellte ich mir vor einigen Jahren auch vor!« versicherte ich. »Aber das Glück ist launisch. Im Augenblick sind wir wieder einmal die Gehetzten und Verfolgten.«

Der andere knurrte: »Kann sich blitzschnell ändern. Keiner

liebt Orbanaschol. Ich glaube, der liebt nicht mal sich selbst.«

Wir stießen befreiendes Gelächter aus und ließen unsere Gläser noch einmal füllen. Durch die linke Wand des Stollens drang jetzt ein dumpf rauschendes Geräusch in den schmalen Korridor hinein. Ich blieb stehen und fragte:

»Was ist das? Dieses Geräusch?« Der Mann mit der Flasche erwiderte über

die Schulter: »Ich erkläre nichts. Was Sie nicht wissen,

können Sie nicht verraten, wenn man Sie schnappt.«

»Eine Vorsichtsmaßregel, die ich guthei­ßen muß«, antwortete ich. Vermutlich ver­lief hier eine Wasserleitung oder ein Abwas­serkanal. Ich verstand natürlich die Vorsicht des Ausgestoßenen. Nach einigen Minuten führte uns der Korridor durch ein System von mindestens fünfzehn rechten Winkeln und auf einen kleinen Platz hinaus. Hier wa­ren die Beleuchtungskörper so angebracht, daß sie indirektes Licht spendeten. Wir blie­ben überrascht stehen. Die Anlage war alt, und das galt mehr oder weniger für das ge­samte Netz von Schlupfwinkeln und Ver­stecken. Hier saßen etwa zwanzig Arkoni­den jeden Alters. Jeder beschäftigte sich mit etwas: Kinder schienen zu lernen, einige an­dere sahen das Programm, das jetzt nur noch

Page 20: Im Reich der Ausgestoßenen

20

den leeren Gerichtssaal zeigte, in dem die ersten Aufräumungsarbeiten stattfanden. Wieder andere nähten Kleider zusammen, einige hielten Bildbetrachter in den Händen und lasen. Fartuloon meinte fast bewun­dernd:

»Ein Bild des Friedens. Sind Sie sicher, daß wir uns unter sogenannten Ausgestoße­nen befinden?«

Nicht jeder, der sich hier unten befand, war ein Verbrecher, dies schien klar. Aber sicher hatte jeder von ihnen einen guten Grund, sich zu verstecken.

»Absolut sicher«, meinte Kaarfux und schob vorsichtig einen kleinen Jungen zur Seite, der ihm zwischen die Beine gelaufen war.

»Denkt daran, daß wir auch eine Gefahr für die Untergrund-Leute darstellen«, gab ich zu bedenken. »Je eher wir weggebracht werden, desto besser für beide Teile.«

Die Szene entspannte uns abermals ein wenig; unser Hochgefühl erlitt keinerlei Ein­bußen. Der Mann mit der fast leeren Flasche deutete auf einige einfache Stühle und sagte leise:

»Wir warten hier. Der Kurier muß jeden Augenblick kommen. Ich kann hier nicht weg, weil ich für diesen Abschnitt verant­wortlich bin.«

Wir hatten gesehen, daß an vielen Stellen einfache Sprechgeräte an den Wänden befe­stigt waren. Das System der Vorsicht war weitestmöglich ausgebaut worden.

»Geht in Ordnung«, sagte Fartuloon, setz­te sich und nahm dem Führer die Flasche aus der Hand. Er setzte sie an den Mund und trank einen mächtigen Schluck. Dann schau­te er voller Neugierde in die vier Eingänge, die in diesen Aufenthaltsraum tief unter dem Planetenboden hereinführten. Irgendwo mußte der Kurier auftauchen. Sicher ver­sorgten die Ausgestoßenen Kaarfux mit wertvollen Informationen und umgekehrt, und es erschien durchaus denkbar, daß er sie mit Geld oder Waren unterstützte. Jedenfalls trafen uns immer wieder bewundernde Blicke.

Hans Kneifel

Ich setzte mich neben Fartuloon und sah ihm in die Augen. Wir verständigten uns mit einem langen Blick, dann meinte er nach­denklich:

»Wir haben zwar Kraumon verloren und vieles andere, aber wir haben jetzt die Ge­wißheit, überall im Imperium Freunde zu haben. Ich weiß, wie dir zumute ist – mir geht es keine Spur anders. Warte es ab. Viel schlimmer kann es nicht mehr kommen.«

Langsam nickte ich und entgegnete: »Nein, schlimmer wohl nicht mehr. Aber

ich weiß ebenso gut, daß unsere Reserven restlos erschöpft sind. Kein Geld, keine Waffen, nicht einmal eigene Kleidung. Von dieser Warte aus werden wir es schwer ha­ben, den Mörder meines Vaters schnell zu besiegen.«

Er schlug mir auf die Schulter und nahm den vorletzten Schluck.

»Solange es Männer wie Kaarfux gibt, ha­ben wir keinen Grund, unzufrieden zu sein. Wenn wir den Boß von hier unten treffen, werden wir mehr wissen. He, Namenloser, eine Frage: Wieviel seid ihr hier unten?«

»Etwa zweitausend. Es sind jetzt nicht al­le da. Doch sie werden kommen, denn vor ein paar Minuten hat Orbanaschol drastische Dinge verkündet. Lebo Axton schickt Spezi­altruppen. Und die Leute aus der JERRA­WON sind rasend vor Wut.«

Die Jagd hatte also bereits begonnen. »Ich verstehe.« Kurz darauf erschien im mittleren Ein­

gang ein junges, schlankes Mädchen mit ei­ner hinreißenden Figur. Sie steckte in einer aufregenden, piratenhaften Kleidung. Knie­lange Stiefel, enge Hosen und ein breiter Gürtel, in dem ebenfalls eine schwere Flot­tenwaffe steckte, darüber einen weißen Pull­over, der von einer dicken Goldkette geziert war. Sie trug ihr seidenweiches Haar bis weit über die Schultern und warf uns prüfen­de Blicke zu. Mit rauchiger Stimme sagte sie:

»Ich bin der Kurier. Ach – hier sind Sie, Meister Kaarfux!«

Sie kam mit energischen Schritten auf uns

Page 21: Im Reich der Ausgestoßenen

21 Im Reich der Ausgestoßenen

zu, schüttelte Kaarfux die Hand und blieb vor uns stehen. Fartuloon warf ihr einen sei­ner unverschämten Blicke zu und lächelte breit.

»Und wir sind die hilflosen Geretteten, die sich Ihrer Obhut anvertrauen, schönster Kurier von Kutenarynd.«

Er tätschelte gar nicht väterlich ihre Schulter. Sie schlug seine Finger zur Seite und erklärte ungerührt:

»Ich soll Sie, Kristallprinz, von Fralwerc grüßen. Sie ebenfalls, Bauchaufschneider. Er möchte Sie in seinem Geheimquartier se­hen. Ich bringe Sie dorthin.«

Wir sahen uns in die Augen. Ich wurde aus der Art ihres Blickes und des Gesichts­ausdrucks nicht ganz schlau. Sie witterte Aufregungen und Gefahren und machte uns dafür verantwortlich, nicht ganz zu Unrecht, wie mir schien.

»Ich finde es nett, daß Sie sich zur Verfü­gung gestellt haben. Können wir gehen?«

»Ja. Nennen Sie mich Yacori. Gehen wir.«

Abermals begann ein längerer Marsch durch die Anlage der Ausgestoßenen. Zwei­mal kreuzte unser Weg einen Schacht der Röhrenbahn, und wir erkannten, daß es Mit­tel gab, die Ausgestoßenen auf diesem Weg zwischen hier und der »Oberwelt« pendeln zu lassen. Ihr Anführer mußte ein Mann von großer Raffinesse sein.

*

Wir brauchten etwas weniger als eine Stunde, um das geheimnisvolle Hauptquar­tier der Ausgestoßenen von Celkar zu errei­chen. Das bildhübsche Mädchen, das uns führte, unterhielt sich mit mir und Kaarfux, aber sie ignorierte Fartuloon.

Das unterirdische Reich verteilte sich auf viele einzelne Stützpunkte. Sie waren unter­einander durch schmale Gänge verbunden, die gesprengt, überflutet oder mit nach­drückendem Gestein gefüllt und auf diese Weise unbrauchbar gemacht werden konn­ten.

Man sagte und erklärte uns nichts, aber unsere Erfahrung mit solchen Schlupfwin­keln war groß genug. Wir erkannten, daß immer wieder öffentliche Versorgungslinien diese Korridore kreuzten; Röhrenbahnen, Wasserleitungen, Energiekabel und Nach­richtenleitungen, Abwässer und Service­schächte. Ich war sicher, daß binnen verblüf­fend kurzer Zeit das gesamte System würde evakuiert werden können. Vielleicht erwies es sich in naher Zukunft sogar als notwen­dig, denn Orbanaschols Truppen würden si­cher auf die Idee kommen, nach solchen Verstecken zu suchen.

Dann, plötzlich, blieb Yacori stehen. »Fralwerc ist ein kranker Mann. Sie wer­

den ihn sehen und erschrecken. Bitte, versu­chen Sie, Ihr Erschrecken nicht allzu deut­lich zu zeigen. Fralwerc ist auf seine Art ein guter, gerechter Anführer.«

Kaarfux legte den Kopf schief und sah das Mädchen zweifelnd an.

»Keiner von uns ist so dumm, als daß es dieser Ermahnung bedurft hätte«, sagte er scharf.

»Entschuldigung«, sagte sie. »Ich meinte eigentlich mehr diesen fetten Prinzenerzie­her, der mich mit seinen Augen auszieht.«

Fartuloon stimmte ein dröhnendes Ge­lächter an, beugte sich blitzschnell nach vorn und hakte seine rechte Hand in den Gürtel des Mädchens. Dann hob er sie ohne sichtliche Anstrengung hoch und hielt sie am ausgestreckten Arm einige Minuten lang in der Luft, einen halben Meter über dem Boden.

»Es ist kein Fett, Mädchen«, erklärte er jovial und lockerte plötzlich seinen Griff. »Alles Muskeln und Sehnen. In diesem Fall entspricht die körperliche auch der geistigen Stärke.«

Sie taumelte bei dem Versuch, ihr Gleich­gewicht wiederzufinden, dann schüttelte sie den Kopf und lächelte Fartuloon schmelzend an.

»Jetzt habe ich mich schon wieder geirrt. Trotzdem sind Sie ein Lüstling.«

»Nur die Umstände verhindern es, daß ich

Page 22: Im Reich der Ausgestoßenen

22

meinen wahren Charakter zeige. Los, Schwester, bringe uns zu deinem Boß!«

»Genug der Tändeleien«, murmelte ich. »Wir wollen Gewißheit.«

Jetzt erst sah ich die bewegliche Optik ei­nes Meldesystems, deren Linsen sich auf uns richteten. Das Mädchen drehte sich her­um, drückte einen Schalter hinein und sagte in ein Mikrophon:

»Ich bin's, Fralwerc. Mit Kaarfux, Atlan und Fartuloon.«

Eine heisere Stimme entgegnete: »Kommt herein.« Ein uraltes Sicherheitsschott schwang

knarrend nach außen auf. Drei eingebaute Strahler bewegten sich im dicken Rahmen, aber als wir den ersten Schritt vorwärts ta­ten, erloschen die stechend roten Betriebsan­zeigen. Wir passierten den Durchstieg und betraten ein Vorzimmer, in dem drei verwe­gene Gestalten an der Wand lehnten, die Hände an den Kolben der Waffen. Mißtrau­isch wurden wir betrachtet, aber das Mäd­chen winkte uns und stieß die nächste Tür auf. Der dahinterliegende Raum war relativ groß, wohnlich eingerichtet und roch ste­chend nach Schnaps und Medikamenten.

»Willkommen, Kaarfux!« sagte der Mann hinter dem großen Schreibtisch, dessen Plat­te von allem nur denkbaren Gerumpel über­sät war.

»Danke. Ihre Organisation hat hervorra­gend funktioniert. Unsere Gäste: Kristall­prinz Atlan und Bauchaufschneider Fartu­loon. Ich denke, sie sind genügend bekannt; eine detaillierte Erklärung erübrigt sich wohl.«

Fralwerc lachte keuchend und streckte die Hand aus. Ein dünner Handschuh bedeckte die Hand bis fast zum Ellenbogen. Das Mäd­chen war hinter ihn getreten und schob ihn näher an den Tisch heran. Jetzt sah ich erst, daß Fralwerc in einem Rollstuhl saß, einem halbrobotischen Mechanismus mit allen Schikanen.

Fartuloon schüttelte die Hand, auch ich ergriff sie und sah Fralwerc an.

Strahlenkrankheit, flüsterte der Logiksek-

Hans Kneifel

tor. Der Mann, einst mittelgroß und breit­

schultrig, war ein Krüppel. Die Krankheit hatte seinen Körper verwüstet. Er war völlig entstellt. Wie er einmal ausgesehen haben mochte, war nicht mehr festzustellen. Ein kantiger Schädel, dessen Ohren angefressen und von schwarzgeränderten Löchern durch­bohrt waren. Kein Haar wuchs mehr auf die­sem Kopf, selbst die Wimpern und Augenli­der wirkten wie angeklebt oder einoperiert. Längliche und kraterähnliche Narben be­deckten jeden Quadratzentimeter des Ge­sichts, die Nase zeigte die Spuren einer kürzlich vorgenommenen Transplantation.

»Sie werden hier alles finden, was Sie brauchen«, krächzte Fralwerc. Ich bemerkte, daß Fartuloon ihn mit ungewöhnlicher Kon­zentration beobachtete.

Ich senkte den Kopf und empfand nichts anderes als grenzenloses Mitleid mit diesem Krüppel. Selbst wenn er einst alles andere als ein Verbrecher gewesen war – dieses Aussehen stieß ihn von selbst aus der Ge­sellschaft aus und machte ihn in einem lan­gen Prozeß aus Ablehnung, Chancenlosig­keit und Zwang zum Verbrecher. Es gab we­nig Chancen für jemanden, der so gräßlich aussah, diesem Teufelskreis zu entkommen.

»Ich danke Ihnen und Ihren Leuten, Fral­werc«, sagte ich leise und nicht ohne Verle­genheit, »für den herzlichen Empfang und die Hilfe.

Wir fühlen uns, als wären wir von den Toten auferstanden.«

»Das kann ich verstehen«, antwortete er. Fartuloon ertappte sich dabei, wie er ihn an­starrte, und gewann augenblicklich wieder die vollkommene Selbstkontrolle. Er stützte sich auf die Schreibtischkante, nachdem er dort Lesespulen, Medikamentenbehälter und einen kleinen Strahler zur Seite geschoben hatte. Sein Blick richtete sich wieder auf das Mädchen, das damit anfing, den Nacken Fralwercs zu massieren.

»Sie können diese Nacht hier in der Nähe schlafen«, erklärte der Chef der Ausgestoße­nen. »Wir haben immer Zimmer für unsere

Page 23: Im Reich der Ausgestoßenen

23 Im Reich der Ausgestoßenen

Gäste. Alles Notwendige und so. Aber mor­gen werden wir Sie an einen weitaus siche­reren Ort bringen müssen.«

»Einverstanden«, murmelte Fartuloon. Beide Hände des Ausgestoßenen waren

von dünnen, weißen Handschuhen umgeben. Offensichtlich war die Haut mit Salben be­strichen, denn die halbdurchlässigen Hand­schuhe rochen nach Chemikalien oder Aus­zügen aus Heilkräutern. Eine weiche, sehr locker sitzende Jacke umhüllte den noch im­mer wuchtigen Oberkörper des Mannes. Er kauerte vorgebeugt in seinem Spezialstuhl und sah mich an, dann wieder wanderte sein Blick hinüber zu Fartuloon und zurück zu mir. Ich konnte den Ausdruck der großen, stark geröteten Augen nicht deuten, auch die Gesichtszüge waren von den Narben ent­stellt und ließen keinerlei Schlüsse zu. Un­aufhörlich zuckte ein Nerv und zog den lin­ken Mundwinkel hoch. Ab und zu bewegte Fralwerc die Schultern vorwärts und rück­wärts. Er genoß die Massage von Yacoris Fingern.

»Bedauern Sie mich nicht«, stieß Fral­werc plötzlich hervor. »Ich bin noch sehr be­weglich. Diese verdammte Krankheit!«

Er schob mit einem Ruck den Stuhl zu­rück und warf beinahe Yacori zur Seite. Dann sprang er auf und kam um den Tisch herum. Er war mittelgroß, aber die Krank­heit zog seine rechte Schulter schräg nach vorn und nach unten. Er ging schwankend und breitbeinig, aber schnell. Auch die Kniegelenke konnte er nicht ganz durch­drücken.

»Ihnen danke ich besonders, Kaarfux«, keuchte er. »Ohne Ihre Medikamente wäre ich schon tot oder wahnsinnig. Danke. Sie kamen immer regelmäßig. Und wer wird jetzt dafür sorgen? Sie können sich doch dort oben nicht mehr sehen lassen, Kaar­fux?«

»Dort oben«, sagte er in einem Ton, der uns schaudern machte. Die Sehnsucht nach Sonne und Luft, Wasser und Wind sprach aus dieser Betonung. Aber ein Mann von seinem Aussehen hatte kaum eine Möglich­

keit, sich dort zu zeigen. »Wie groß ist Ihr Vorrat?« fragte der An­

walt ruhig und hielt Fralwerc an den Ellbo­gen fest.

»Er reicht vielleicht zwei Monate, nicht länger.«

Kaarfux nickte und erklärte: »In zwei Monaten hat sich vieles geän­

dert. Bleiben Sie ruhig. Ich verschaffe Ih­nen, was Sie brauchen. Wenn ich mich nicht sehen lassen kann, so gibt es viele Möglich­keiten; ich habe mehrere Konten, die mit meinem Namen nicht in Verbindung ge­bracht werden können. Abgesehen davon: wir sind nicht nur vorübergehend besitzlos, sondern auch ohne Waffen. Sie können da sicher Abhilfe schaffen?«

Fralwerc machte eine hölzern wirkende Bewegung und deutete auf die uralten Sessel vor dem Schreibtisch.

»Sicher kann ich. Setzen Sie sich bitte – Entschuldigung.«

Er schwankte zurück in seinen Sessel und schlug mit der flachen Hand auf einen Kon­takt. Sofort öffnete sich in unserem Rücken die Tür, zwei Leibwächter stürzten mit ge­zogenen Waffen herein. Fralwerc bellte ih­nen entgegen:

»Laßt sie stecken! Das sind meine Freun­de, ich bin nicht gefährdet. Hört zu – sie brauchen Waffen. Was wollen Sie?« wandte er sich an mich.

Ich breitete vielsagend die Arme aus und erwiderte lächelnd:

»Handlich, nicht zu groß, nach Möglich­keit eingeschossen und mit einem ganz vol­len Magazin und Waffengurt. Nicht wahr?«

»Schocker oder etwas Tödliches?« wollte er wissen.

»Strahler. Das entspricht dem Risiko, das wir im Augenblick tragen«, meinte der Bauchaufschneider. Trotz der merkwürdigen Umgebung und der Ruine, die uns gegen­über im Sessel kauerte, hielt unsere gute Stimmung noch immer an.

Fralwerc machte eine befehlende Geste in Richtung der beiden Leibwächter, drehte un­ter Schmerzen den Kopf und fragte den An­

Page 24: Im Reich der Ausgestoßenen

24

walt: »Sie auch, Meister?« »Ja, bitte. Ich fühle mich sicherer so. Kein

zu großes Modell!« »Ihr habt es gehört. Bringt das Spielzeug,

Kameraden!« keuchte Fralwerc. Seine Stim­me paßte zum Aussehen seines Gesichts und zu seiner verkrüppelten Gestalt. Die Männer verschwanden schnell und fast lautlos. Ich begann mich zu fragen, auf welche Weise Fralwerc seine Autorität zeigte. Nackte, bru­tale Gewalt schien es nicht zu sein, dafür hatten wir keinerlei Anzeichen gesehen.

»Gleich haben Sie die Waffen«, sagte er leise. Offensichtlich bereitete ihm auch das Sprechen Schmerzen. Wieder merkte ich – es gab viele untrügliche Anzeichen, die nur ich kannte, weil wir ein aufeinander einge­schworenes Team waren –, daß Fartuloon diesen narbenzerfressenen Krüppel mit gera­dezu wissenschaftlicher Neugierde studierte.

Und schließlich, nach einigen Sekunden schweigender Überlegung, wußte auch ich mit untrüglicher Sicherheit, daß ich auf ir­gendeine Weise diesen Mann auch kannte. Ich hatte ihn gesehen. Wo und wann? Mein photographisch exaktes Gedächtnis ließ mich im Stich.

Die Vermutung lag nahe, daß es erstens vor langer Zeit gewesen sein mußte, und daß zweitens die Narben und die Spuren der Strahlenkrankheit die Erinnerung beeinfluß­ten. Ich war aber sicher, daß es mir irgend-wann einfallen würde. Ich wußte nur nicht, wann es mir einfallen würde, und ich ahnte auch nicht, ob es eine positive oder negative Erinnerung sein würde.

Verschiebe die Klärung. Es gibt im Mo­ment wichtigere Dinge, erklärte der Logik­sektor.

»Abgesehen davon«, fing Fartuloon an und zeigte das entspannte Gesicht, das jeder von ihm erwarten würde, »daß wir Ihnen je­de denkbare Menge Dank schulden … aber wo werden wir diese Nacht untergebracht? Und wie sehen Sie, Fralwerc, die Chancen für uns beide, diesen Planeten zu verlas­sen?«

Hans Kneifel

Fralwerc lehnte sich zurück, und das Mädchen, das bisher alles schweigend mit­angesehen und gehört hatte, begann wortlos wieder damit, seinen Nacken und die Schulterpartie zu massieren. Es war eine ziemlich makabre Situation.

»Sie bekommen heute die beiden besten Räume, die hier in der Nähe sind. Wir befin­den uns direkt unterhalb des alten Raumha­fengeländes. Hier wird niemand suchen, we­der mit Truppen noch mit bestimmten Gerä­ten. Und überdies ist der Boden derart ver­dichtet und von alten Bauresten durchsetzt, daß man auch nichts finden würde.«

Er machte eine Pause und atmete schwer. »Aber es gibt hier ein Dutzend Stellen, an

denen Leute von uns an die Außenwelt wechseln können. Diese Löcher sind gefähr­det. Heute nacht wird niemand diese Punkte finden, aber je mehr Zeit vergeht, desto un­sicherer wird der Platz.

Morgen werden wir Sie in die Nähe des Industriegebietes und der Schadstoffum­wandler bringen. Dort sind Sie für Wochen sicher.«

Die beiden Männer kamen wieder herein und reichten uns die Waffen. Fartuloon und ich prüften die tödlichen Strahler und die Magazine. Es waren Waffen, die gebraucht worden waren, und die Energiemagazine zeigten volle Ladung an. Schweigend schnallten wir uns die Gurte um. Kaarfux unterließ die Prüfung und befestigte den Gurt um seine Hüften.

»Das hört sich gut an!« meinte ich. »Und nun zum letzten Satz meiner Frage: wie hoch sind unsere Chancen?«

»Sie sind nicht schlecht«, erwiderte Kaar­fux und gähnte plötzlich.

»Wie das?« Der Anwalt blickte Fartuloon an und er­

klärte: »Natürlich können Sie sich die Möglich­

keit, den Planeten mit einem offiziellen Schiff zu verlassen, aus dem Kopf schlagen. Es geht nur unter bester Tarnung, auf ge­heimnisvollen Umwegen und günstigsten­falls mit einem Trampschiff oder einem

Page 25: Im Reich der Ausgestoßenen

25 Im Reich der Ausgestoßenen

Handelsraumer. Auf alle Fälle werden Fral­werc und ich Ihnen weiterhelfen. Wir haben unsere Verbindungen. Es ist uns allen klar, daß Sie desto mehr gefährdet sind, je länger Sie sich auf Celkar aufhalten.«

»Ich sehe, wir reden dieselbe Sprache«, bestätigte Fartuloon und nickte. »Und jetzt nur noch ein kleines Abendessen und ein langer, erquickender Schlaf. Und schon sind wir morgen früh wieder unternehmungslu­stig und voller überschäumender Ideen.«

Ich brummte: »Du übertreibst.« Yacori hörte auf, den Nacken ihres Chefs

zu massieren. Fralwerc lachte stoßweise und entblößte eine Menge schadhafter Zähne. Dann stand er auf, drückte wieder auf den Rufknopf und sagte, als einer der Männer eingetreten war:

»Bringe du sie in das Quartier. Nur das Beste, hörst du? Und Yacori hier wird sich um ein genießbares Essen kümmern. Nicht dieses Zeug, das man mir jeden Abend vor­setzt.«

Mit einem Gesichtsausdruck, der eine Un­menge von Geduld ausdrückte, gab Yacori zurück:

»Sie wissen ganz genau, Chef, daß Sie nichts anderes essen dürfen. Alles andere würde Sie umbringen oder krank machen.«

Er winkte ab. »Schon gut. Unsere Gäste … behandelt

sie gut, solange sie hier sind. Und jetzt raus mit euch allen.«

Nacheinander verließen wir den Raum. Bereits im Vorzimmer herrschte eine ver­gleichsweise gelockerte, heitere Stimmung. Hinter uns blieben das Schicksal dieses Krüppels und die vielfältigen Gerüche und Stimmungen, von denen nichts sympathisch oder gelöst war. Der Leibwächter führte uns über einen schmalen Korridor, öffnete nach­einander drei Türen und gab uns die Wahl, wer welchen Raum beziehen würde. Natür­lich entschieden sich Fartuloon und ich, ne­beneinanderliegende Zimmer auszuwählen. Das Mädchen lehnte sich an die Wand, warf jedem von uns einen langen, schwer zu deu­

tenden Blick zu und meinte leise: »In einer Stunde hole ich Sie ab. Wir wer­

den uns bemühen.« Fartuloon grinste diabolisch. »Ziehen Sie ein Kleid an, daß Ihren hin­

reißenden Körper noch besser zur Geltung bringt, schönste Yacori. Mir zuliebe.«

Sie antwortete ihm mit einem Fluch, der seinesgleichen suchte, drehte sich um und ging schnell weg.

Zehn Minuten später klopfte es an meine Tür. Ich hatte mir die Stiefel ausgezogen und mich auf der Liege ausgestreckt.

»Ja?« »Ich bin's, dein väterlicher Freund.« »Nur herein.« Fartuloon schob sich in mein Zimmer,

zog mit dem bloßen Fuß einen klapprigen Stuhl herbei und machte das Zeichen, das in unserer Verständigungsart nichts anderes be­sagte, als daß er sicher sei, nicht abgehört zu werden. Vermutlich hatte er seinen Raum dahingehend getestet.

»Nun? Was meinst du?« fragte er schein­heilig.

»Ich meine, daß du dich auffallend für Fralwerc interessiert hast. Ich meine ferner«, sagte ich leise, »daß auch ich den Eindruck habe, ihn irgendwoher zu kennen. Richtig?«

Er lehnte sich zufrieden zurück und spreizte die Finger.

»Vollkommen richtig. Mir kommt er be­kannt vor. Aber ich kann nicht sagen, wo und wann ich ihn gesehen habe. Es ist sogar möglich, daß ich ihn vom Bildschirm her kenne. Auf keinen Fall ist die Erinnerung frisch. Natürlich hat ihn die Strahlenkrank­heit bis zur Unkenntlichkeit verändert.«

»Das habe auch ich gedacht. Abwarten?« Er nickte unruhig. »Beobachten und abwarten. Stets skep­

tisch bleiben. Wir sind dafür auserwählt, von einer Gefahr in die andere zu stolpern. Eine Gefahr haben wir eben haarscharf hinter uns gebracht, also lauert die nächste bereits auf uns.«

»Einverstanden. Wie fühlst du dich?« Fartuloon kratzte sich im Nacken. Er

Page 26: Im Reich der Ausgestoßenen

26

knurrte verdrießlich: »Dieses kaltschnäuzige Geschöpf, diese

Yacori! Sie ist völlig immun gegen meinen Charme. Und gerade jetzt brauche ich Schönheit um mich, Jugend und jede Menge wohlwollendes Entgegenkommen. Noch ist Zeit – ich werde mich beim zeremoniellen Abendessen geradezu übertreffen und turm­hoch über mich hinauswachsen.«

»Viel Glück.« Er nickte ernsthaft. Ich wußte, daß er zu

einem guten Teil schauspielerte, aber ande­rerseits verstand ich ihn völlig. Seit einer Zeit, die undenkbar weit zurücklag, kannten wir nichts anderes als aufregende Abenteuer und ständige Todesgefahr.

Für den Augenblick waren wir sicher, we­nigstens schien es so. Trotzdem war auch jetzt und hier Mißtrauen und Vorsicht am Platz.

6.

Seine eigene Geschichte hatte ihn einge­holt.

Heute zum zweitenmal. Er befand sich auf der Bahn des Verbrechens und der Hin­terlist, und heute war seine allerletzte Mög­lichkeit, diese Straße zu verlassen, fehlge­schlagen. Er bewunderte sich fast, daß er es so lange ausgehalten hatte. Unzufriedenheit mit seinem Schicksal, das Bewußtsein, aber­mals einer Situation gegenüberzustehen, die ihn in mörderischen Zugzwang brachte, die Resignation über dieses unwillkommene Wiedersehen – alle diese Empfindungen schlugen ihn wie mit Hämmern. Er war im Moment allein. Noch schützte ihn seine Tar­nung. Er lachte bitter auf.

Seine Tarnung verdankte er seiner Krank­heit, die ihn verstümmelt und verkrüppelt hatte. Bestenfalls Mitleid; dies war die edel­ste Regung, die er in anderen Geschöpfen hervorrufen konnte. Mit Hilfe von Mitleid und dem Unvermögen, einem Krüppel wie ihm etwas anzutun, verdankte er seine Posi­tion als Oberster Verbrecher und Herrscher aller Ausgestoßenen.

Hans Kneifel

Nicht einmal sein Name war echt. Er war nicht Fralwerc, obwohl nur zwei

Personen auf diesem Planeten seinen wahren Namen überhaupt einmal gehört hatten. Gä­be es diese beiden Personen nicht, würde er sein Inkognito bis zu seinem sicherlich nicht mehr sehr fernen Tod behalten.

In dieser Sekunde faßte Psollien alias Fralwerc den Entschluß, diese beiden Zeu­gen zu beseitigen. Zum erstenmal dachte er seit langer Zeit wieder an kaltblütigen Mord.

Keuchend atmete er ein und aus und zwang sich zur Ruhe.

»Hätten sie mich erkannt«, sagte er sich leise und dachte daran, daß er ohne Helfer würde töten müssen, »würde ich nicht mehr leben. Meine Krankheit hat mich beschützt.«

Vor nicht allzu langer Zeit war er Jagd­aufseher des Planeten gewesen, auf dem Go­nozal VII. getötet worden war, Heng, Orba­naschol, Sofgart, Offantur und er hatten den tödlichen Anschlag geplant und ausgeführt.

Man hatte ihn, Psollien, mit dem Gouver­neursamt von Erskomier belohnt.

ERSKOMIER! Alte Bilder tauchten in seiner Vorstellung

auf. Der junge, nichtsahnende Kristallprinz, Fartuloon, der Leibarzt, Vertraute und »Bauchaufschneider«, der blitzschnell und richtig, für ihn aber höchst verderblich rea­giert hatte, der tote Imperator und die Pa­nik, als ihr Plan fast fehlgeschlagen wäre.

Nur noch zwei Verschwörer lebten. Wie lange noch?

Orbanaschol und er, Psollien. Seit meh­reren Jahren erinnerte er sich wieder an sei­nen eigenen Namen.

Versuchte, aus seiner Mitwisserschaft Kapital zu schlagen. Es war nicht viel, was er von Orbanaschol wollte, aber der Impe­rator reagierte schnell und hart. Er wollte sich des letzten überlebenden Mitwissers entledigen und ließ ihn verfolgen.

Krankheit und Flucht! Zwei Schicksals­schläge fast gleichzeitig! Die Flucht beraub­te ihn seines Besitzes und seiner Macht. Die Krankheit stahl ihm die Gesundheit, das normale Aussehen und tarnte ihn gleicher­

Page 27: Im Reich der Ausgestoßenen

27 Im Reich der Ausgestoßenen

maßen. Nach einer langen und abenteuerlichen

Irrfahrt landete er im Untergrund von Cel­kar. Kaarfux hatte ihm nichtsahnend das Le­ben gerettet und ihm zu einer neuen Identität verholfen, teilweise aus echtem Mitleid und teilweise deswegen, weil er von ihm Infor­mationen von unschätzbarem Wert erhielt und die Hilfe der Unterweltler, wenn es nö­tig war, einen Angeklagten vor dem Tod zu retten.

Ein Wort von Kaarfux, und sie holten ihn, um ihn hinzurichten.

Oder nur eine deutliche Verärgerung – die Möglichkeit, die er zu kalkulieren hatte, wenn er den Starverteidiger beleidigte – und die Medikamente blieben aus, die sein jäm­merliches Leben sicherten.

Bis heute war es ruhig gewesen. Es gab nichts anderes als die gewöhnlichen Proble­me, die mit zweitausend Personen im Unter­grund einhergingen.

Und jetzt tauchten die Schatten der Ver­gangenheit auf. Fartuloon und Atlan. Sie würden den Tod Gonozals rächen, ganz oh­ne Zweifel. Sie hatten auch allen Grund da­zu. Er selbst würde nicht anders handeln; denn er hatte verschuldet, daß auch sie ebenso gejagt und verfolgt wurden, daß der Diktator sich ihrer ebenso wie seiner selbst entledigen wollte, und schließlich war er es auch gewesen, der die Thronfolge des Kri­stallprinzen mit einem feigen Mord verhin­dert hatte.

Konnte er von ihnen Gnade erwarten? Nein. Was war zu tun? Tod. Er konnte hinübergehen und sie umbrin­

gen. Oder er konnte seine Leute schicken, die ihm womöglich nicht gehorchen würden, weil sie trotz ihres Status auf Seiten der zwei Rebellen standen.

Also: nein. Er wußte, daß ihm niemand diese drecki­

ge Arbeit abnehmen konnte. Er mußte tat­sächlich allein handeln.

Irgendeine Überlegung flüsterte ihm zu:

DER SÄURESEE. Ein riesiges unterirdisches Becken, in das

die Abfälle der chemischen Industriebetriebe flossen, bevor sie umgewandelt wurden. Wer in diesen See fiel, starb wenige Sekun­den später eines gräßlichen Todes.

Das war es! Natürlich kannte er hier jeden Quadrat­

zentimeter sämtlicher Anlagen. Sein Spezi­alsessel war schnell und kräftig; auch die Spezialbatterien wurden von Kaarfux mit den 777 Tricks finanziert, jene kleinen, kompakten Energiezellen. Mit Hilfe dieses Werkzeugs und vielleicht einer geräuschge­dämpften Waffe konnte er Fartuloon und den jungen Atlan in den öligen, stinkenden See werfen. Dann: ein paar Sekunden, und das Problem war für immer beseitigt.

Wie? Wann? An welcher Stelle? Er zuckte zusammen, weil wieder ein

Stück Haut mitten auf dem Rücken teuflisch zu jucken und zu schmerzen begann.

Niemand durfte etwas ahnen oder merken. Auch nicht Yacori, die wohl seine treueste Anhängerin war. Wenn er die Blicke richtig deutete, mit denen sie diesen Bauchauf­schneider angestarrt hatte, dann wußte er, daß er von ihr keinerlei Unterstützung zu er­warten hatte.

Er begann kalt und ruhig zu planen. Bis zum Essen blieb ihm noch Zeit. Und dann die ganze Nacht, um den Plan in sämtlichen Einzelheiten durchzuarbeiten. Und morgen würde er ihnen das neue Quartier selbst an­weisen, als Zeichen für sein Entgegenkom­men und die Wichtigkeit der Gäste.

Hervorragend, für den ersten Moment. Nur gut, daß er heute bereits vom Gelände

des alten Raumhafengeländes gesprochen hatte. Direkt darunter befand sich der See aus Gift und Säure.

Sie durften ihn während des Essens nicht erkennen. Wenn er nicht erschien, würden sie mißtrauisch werden.

Kaarfux: das nächste Problem. Er mußte am Leben bleiben, denn er war die Garantie dafür, daß die Ausgestoßenen überlebten und daß er, Psollien – NEIN! Fralwerc hieß

Page 28: Im Reich der Ausgestoßenen

28

er! –, noch einige Jahre Herrscher der Unter­welt bleiben konnte. Medikamente, nahezu unbeschränkte Zuwendungen an wichtigen Lebensmitteln und Ausrüstungsgegenstän­den, die Möglichkeit, die Polizisten zu be­stechen, falls sie einmal einen der Ausgesto­ßenen fingen, der Versuch, mit Hilfe des ge­rissenen Anwalts nach dem Tod des Dikta­tors wieder Sonnenlicht und den blauen Himmel zu sehen … aus diesem Grund durf­te Kaarfux weder angetastet werden noch die geringste Kleinigkeit merken oder auch nur Verdacht schöpfen!

Also mußte er es ganz allein durchführen. Eine neue Variante fiel ihm ein. Er war

nicht froh darüber, aber die Alternative war für ihn klar und eindeutig: er oder sie.

Als das Mädchen hereinkam, um ihn zum Essen zu bitten und dafür zu sorgen, daß er sich nicht die falschen Gerichte auf den Tel­ler häufen ließ, war seine Verwirrung vor­bei. Er hatte sich fest entschlossen. Atlan und Fartuloon mußten sterben, und es würde morgen früh geschehen.

*

Kurz vor Ende des Essens wurden wir un­terbrochen. Einer der Leibwächter kam her­ein und sagte leise, aber in besorgtem Ton­fall:

»Chef! Besorgniserregende Nachrichten von oben. Sie greifen hart durch!«

Nur Fartuloon, das Mädchen, Fralwerc und ich saßen noch am Tisch; Kaarfux war aufgestanden und öffnete gerade eine alt aussehende Flasche. Der Anführer der Aus­gestoßenen legte den Kopf schräg und blin­zelte seinen Adjutanten an.

»Gefährlich, ja?« »Ja. Wir haben eine Sendung mitgeschnit­

ten. Unaufhörlich berichtet Arkon-Vision von den Zuständen.«

»Gut. Spiele sie auf diesen Bildschirm hier. Unsere Gäste sollen erfahren und mit­erleben, in welcher Gefahr wir seit Jahr­zehnten leben müssen.«

Ich leerte meinen Teller, schob ihn zurück

Hans Kneifel

und drehte meinen knarrenden Stuhl, so daß ich auf den Bildschirm sehen konnte. Fartu­loon nickte mir zu. Er hatte den gesamten Abend lang unausgesetzt Fralwerc beobach­tet. Der Leibwächter schloß die Tür. Sekun­den später baute sich das Bild auf dem Schirm auf.

Zuerst wurde der Gerichtssaal gezeigt. Der Sprecher sagte, daß bis zum gegen­

wärtigen Zeitpunkt siebzig Bewußtlose und vierzig Getötete aus dem Saal geborgen worden waren. Im Augenblick gäbe es noch keine genaue Zählung. Es war unklar, wie­viel davon Gefangene und wie viele getötete oder geschockte Soldaten und Wächter wa­ren. Es wurden ausführlich die Kampfspuren gezeigt, die Einschüsse, die Brandflecken und die Reste von Wasser und Löschmitteln. Überall waren Sessel aus den Verankerun­gen gerissen oder Sitzschalen zerbrochen worden. Immer wieder schwebten Maschi­nen durch das Bild, die Ausbesserungsarbei­ten vornahmen oder Material transportierten. Längere Zeit verweilte das Bild auf der of­fenstehenden, schmalen Tür zu den Übertra­gungsräumen, an denen der junge Reporter Ches Prinkmon den Tod gefunden hatte. Dann, als der Sprecher anfing, die Arbeiten zu schildern, die man unternahm, um den Fluchtweg freizubekommen, lachte Kaarfux auf.

»Sie sollten es gar nicht erst versuchen«, sagte er. »Aber natürlich werden sie irgend-wann diesen Stollen freigelegt haben.«

»Und wo sind sie dann?« krächzte Fral­werc und legte zwei Finger an sein Ohr. »Sie sind in der alten Kanalisation!«

Er lachte mißtönend. Die Öffnung unterhalb der Richterbank

war wieder verschlossen worden. Aber man würde von den dahinterliegenden Räumen vordringen, hieß es in dem Bericht. Eine Vielzahl von Gefangenen sei, bewaffnet oder unbewaffnet, aus dem Gerichtssaal ge­flohen. Man fahndete im Großeinsatz nach ihnen.

Die Bildfolge wechselte. Die Kamera fing die JERRAWON ein.

Page 29: Im Reich der Ausgestoßenen

29 Im Reich der Ausgestoßenen

Dort verließen Mannschaften in leichten Kampfanzügen die Luken und die Pol­schleuse. Diese Reportage war schon, wie der Sprecher ausführte, einige Stunden alt. Es wurde gezeigt, wie überall in der Stadt Polizeiverbände zusammengezogen wurden und systematisch, von Hundertschaften schnell aktivierter Robots unterstützt, Häu­ser, Straßen und Anlagen durchkämmten und Röhrenbahnstationen ebenso wie öffent­liche Plätze und Lokale durchsuchten.

Verdächtige Personen wurden in große Transportgleiter verladen.

Überall standen bewaffnete Polizisten herum und redeten auf die aufgeregten Bür­ger ein. Hin und wieder dröhnte ein Schuß auf.

Eine andere Szene: Ein luxuriöses, aber keineswegs großes

Büro. Eine Wand wurde von Monitoren und Signalanlagen ausgefüllt. Hinter einem Schreibtisch stand ein hagerer Arkonide auf, in eine helle Uniform gekleidet. Der Nach­richtensprecher sagte, daß dies der verant­wortliche Chef des Raumhafens Inselkonti­nent Bassakutena war. Der Chef nickte auf die Frage des Reporters und sagte:

»Natürlich habe ich augenblicklich, nach­dem ich den versuchten Ausbruch der Verrä­ter von Serrogat im Fernsehen miterlebt ha­be, den Raumhafen sperren, abriegeln und jeden Start stoppen lassen. Seit diesem Mo­ment sind drei Schiffe gestartet, Handels­schiffe. Unsere Beamten haben sie bis in den letzten Winkel durchsucht. Ich kann die Bürger und die Gerichte beruhigen: es wird kein einziger Gefangener die Chance haben, auf dem Weg über unseren Raumhafen den Planeten zu verlassen.«

Der Reporter erkundigte sich zur Sicher­heit ein zweitesmal:

»Sie haben also den Raumhafen gesperrt? Landungen werden gestattet, Starts sind nur mit Sondererlaubnis und nach Durchsu­chung von Schiff und Ladung möglich?«

»Jawohl. So verhält es sich.« Kaarfux kicherte wieder verhalten. Er

schien eine für sein Alter unangemessene

Freude an diesem Versteckspiel zu haben. Inzwischen kannten wir diesen Mann etwas besser. Er war tatsächlich ein scharfer Den­ker mit einem überlegenen Verstand. Ich glaubte erkannt zu haben, daß ihm auch der Umstand nicht entgangen war, daß Fartu­loon und ich Fralwerc besonders intensiv be­obachteten.

»Es gibt immer Mittel und Wege, Noor!« brummte er. »Sie würden sich wundern, Herr Raumhafenchef!«

Fralwerc zog die Schultern hoch und keuchte:

»Schlechte Zeiten brechen herein. Ich ha­be allen von uns die Nachricht zukommen lassen, daß sie hierher zurückkommen. Ich meine, daß sie die Oberfläche verlassen. Hoffentlich kommen sie nicht in eine Kon­trolle.«

»Sie haben sich ein Jahrzehnt lang nicht gefürchtet, Herrscher der Unterwelt«, schränkte Kaarfux in grobem Tonfall ein. »Fürchten Sie sich jetzt, obwohl die fähig­sten Rebellen des Imperiums bei Ihnen sind?«

Fralwerc schwieg und warf uns lange, von tiefem Mißtrauen erfüllte Blicke zu. Grund­los lächelte Fartuloon das Mädchen Yacori an, und ausnahmsweise antwortete sie nicht mit einem Fluch.

Wieder zeigte der Bildschirm eine neue Folge von Aufnahmen.

Der Richter Thorm von Daccsnor wurde interviewt. Der Reporter fragte:

»Mir wurde berichtet, daß es seit dem Bau der ›Arena der Gerechtigkeit‹ immer wieder dieselben Gerüchte gibt. Die Arena steht teilweise auf uralten Fundamenten der Grün­derzeit. Es soll dort ein Netz von Kanälen, Gängen und Fluchtwegen geben. Bisher hat jede Behörde eine Stellungnahme verwei­gert. Aber die Flucht des Verteidigers Kaar­fux mit Fartuloon und dem Kristallprinzen hat wohl jedem gezeigt, daß es doch solche Gänge geben muß?«

Vorsichtig erwiderte der Richter, der nun­mehr Ogors Gerichtsakten hatte schließen müssen:

Page 30: Im Reich der Ausgestoßenen

30

»Kaarfux und ich erlebten den Bau der ›Arena‹ seinerzeit mit. Aber ich weiß nichts von einem oder mehreren unterplanetari­schen Gängen. Allerdings ist mir bekannt, daß beim Aushub für die Fundamentierungs­arbeiten alte Gebäudereste gefunden wur­den. Kaarfux war nach meiner Erinnerung damals Sekretär oder Referendar der Stadt­verwaltung. Die Stadtverwaltung hat natür­lich damals viel mehr Einblick in die Bau­vorhaben gehabt als die juristische Abtei­lung. Ich bedaure, aber ich kann Ihnen nichts Erhellendes sagen. Sicher ist jedoch, daß zumindest ein Tunnel existiert. Oder existiert hat, bis Lekos detoniert ist.«

»Zu diesem Thema wollten wir Sie auch noch befragen. Lekos wurde von Kaarfux als juristischer Berater bezeichnet. Geheim­nisvoll der Inhalt dieses Roboters, ausge­sprochen witzig und auffallend das Ausse­hen. Was halten Sie von Lekos, Richter von Daccsnor?«

Thorm meinte vorsichtig abwägend: »Kaarfux ist ein glänzender Psychologe.

Daher auch sein Beiname ›mit den sieben-hundertsiebenundsiebzig Tricks‹. Ich kenne Lekos nicht, aber ich bin überzeugt, daß es ein normaler Roboter war, dessen Wort­schatz viele juristische Begriffe enthielt, ei­ne Auswahlschaltung für geschraubte Satz­bauweise und darüber hinaus die Kybernetik eines guten Servorobots, eines Hausdiener-Ro­bots etwa. Mehr war mit diesem rostigen Kasten nicht los. Die geradezu bestürzend antiken Leuchtfelder waren nur ein Gag, der optisch viel hermachte, in Wirklichkeit aber nichts bedeutete. Allerdings bedeuteten die blendenden Lichterscheinungen und der Umstand, daß sowohl die Auslöseanlage für den Geheimtunnel und die integrierte Bom­be innerhalb des Robots untergebracht wa­ren, für jeden von uns eine Überraschung.«

»Mit anderen Worten«, schloß der Repor­ter ab, »Sie können uns nichts Wichtiges sa­gen, Richter?«

»Ich bedaure«, erklärte Thorm von Daccs­nor.

Kaarfux lächelte grimmig und nickte, die

Hans Kneifel

Sendung widerwillig und mit achtungsvoller Ruhe kommentierend.

»Gut erkannt!« sagte er nur. Die letzte Folge von Kurzberichten zeigte

wieder die Stadt und die nähere Umgebung. Inzwischen war es Nacht geworden. Überall flammten Scheinwerferbatterien auf. Robo­ter bildeten wieder lange Ketten und errich­teten Energiezäune, langsam die betreffen­den Gebiete, Häuser oder Plätze einkreisend und abriegelnd. Die Straßen waren leer und glänzten im Licht der Lampen; ein leichter Regen war niedergegangen. Überall warfen die Drehlichter der Polizeigleiter mehrfarbi­ge Reflexe an die Mauern. Arkoniden flüch­teten und wurden eingeholt und verhaftet. Noch immer ertönten die Geräusche weit entfernter Schüsse.

Die Polizisten der Stadt verhielten sich zurückhaltend und etwas unsicher. Sie hat­ten offensichtlich solche Unternehmungen zu selten oder gar nicht geübt. Aber die Raumsoldaten gingen mit großer Routine und Sicherheit vor. Immer wieder konnten die Zuschauer sehen, wie einzelne Personen zu flüchten versuchten. Die Raumsoldaten gingen keine Risiken ein. Sie feuerten au­genblicklich aus ihren schweren Schockwaf­fen und überließen es den Robotern, die Zu­sammengebrochenen abzutransportieren.

Es wurde eine Razzia in einem Großhotel kurz gezeigt. Scharen von Verdächtigen wurden überprüft, überall breiteten sich Chaos und Panik aus. Natürlich waren noch keine Helfer eingetroffen, und das bedeute­te, daß ununterbrochen tagelang gesucht und verfolgt werden würde.

»Es sieht tatsächlich nicht gut aus«, gab Fartuloon zu, als die Sendung beendet war. »Aber trotzdem beabsichtige ich heute Nacht gut zu schlafen.«

Fralwerc ließ seinen Spezialschwebeses­sel einen Meter weit rückwärts schweben, indem er mit der linken Hand den schweren Steuerknüppel bewegte.

»Ich wecke Sie morgen. Nach einem kur­zen Frühstück bringe ich Sie dann an einen sicheren Ort. Er hat sogar einen Geheimaus­

Page 31: Im Reich der Ausgestoßenen

31 Im Reich der Ausgestoßenen

gang nach oben.« »Einverstanden«, sagte ich. »Und was

werden Sie tun, Kaarfux?« Kaarfux sah auf seine Uhr und schien sich

bereits einen Plan zurechtgelegt zu haben. »Ich gehe heute Nacht nach oben. Ich

kenne einen Weg zu meinem Haus, und auch dieses Haus ist nicht ganz ohne Über­raschungen. Von dort aus werde ich versu­chen, Ihnen den Fluchtweg durch den Raum zu öffnen. Wenn Sie einmal ein Lichtjahr von Celkar entfernt sind, können Sie sich als in Sicherheit betrachten.«

»Das riskieren Sie?« fuhr Fralwerc auf. »Glauben Sie es nicht? Wohin führen die

nächstgelegenen Fluchtwege?« Auch Fralwerc brauchte nicht mehr zu

überlegen. Er sagte schnell: »Einer in die Maschinenkammer der Sta­

tion zwischen Raumhafen und Stadt, der an­dere in den Waldgürtel im Norden, der dritte endet in einer Anglerhütte eines Öffentli­chen Anklägers am Sandron-See.«

Kaarfux wandte sich an Yacori. »Können Sie mich in diese Hütte bringen?

Von dort ist es nicht weit bis zu meinem Haus, und schließlich bin ich ein alter Mann, der nicht mehr so gut laufen kann. Ich neh­me dann denselben Weg und bin morgen nach dem Frühstück wieder bei Ihnen. Ein­verstanden?« fragte er, uns beide an­blickend.

»Natürlich. Und … begeben Sie sich nicht unnötig in Gefahr!« sagte ich leise, über­rascht von soviel Mut und Risikofreude. Er setzte wirklich sein Leben für uns ein, dieser kalt und nüchtern erscheinende Mann mit dem verschlossenen Gesichtsausdruck.

»Keine Sorge. Ich komme zurück!« Kein Mißtrauen! Er weiß genau, was er

tut, sagte der Logiksektor. Fralwerc drehte seinen Sessel. Yacori

stellte sich auf ein schmales Trittbrett hinter seinem Rücken und hielt sich an einem Griff fest. Summend glitt das Gefährt zur Tür und aus dem kleinen Raum. Vor der Tür drehte Fralwerc den Mechanismus auf der Stelle, sah uns nacheinander aus seinen roten, dü­

ster glühenden Augen an und stieß einige Worte hervor. Jedes einzelne schien ihm Be­schwerden zu bereiten.

»Schlafen Sie gut. Es wird alles … zum richtigen Ende kommen.«

Er verließ das Zimmer, und wir starrten ihm einigermaßen fassungslos nach. Als sich die Tür geschlossen hatte, setzte sich Kaar­fux wieder und fragte leise:

»Sie, Fartuloon, haben Fralwerc beson­ders lange und scharf beobachtet. Ich setze voraus, daß Sie über das normale Interesse hinaus einen Grund dafür haben. Kann ich ihn wissen?«

Ehe Fartuloon antworten konnte, hob Kaarfux die Hand und fügte schnell hinzu:

»Ich bin unparteiisch. Ich stehe zu mei­nem Versprechen, und ich kooperiere nur aus pragmatischen Gründen mit den Ausge­stoßenen. Ich dulde auch unter den drastisch veränderten Umständen gewisse Überlegun­gen nicht und bemühe mich, beiden Teilen gerecht zu bleiben. Sehen Sie klar, Bauch­aufschneider?«

Fartuloon grinste; es war ein Wortwechsel nach seinem Geschmack.

»Ich akzeptiere Ihre Vorbehalte und Ihre Neugierde. Ja, wir beide beobachten Fral­werc besonders scharf. Der Grund: er erin­nert uns an jemanden, den wir gut kannten. Es muß lange Zeit her sein, und die Krank­heit hat natürlich das Aussehen verändert und macht das Wiedererkennen fast unmög­lich.«

»Da wir aber über einschlägige Erfahrun­gen in überreichem Maß verfügen, nehmen wir an, daß die Erinnerungen keineswegs positiv sein werden. Früher oder später wer­den wir es erfahren, an wen uns Fralwerc er­innert.«

»Zweifellos. Fühlen Sie sich bedroht, Kri­stallprinz?«

Ich schüttelte den Kopf. Im selben Au­genblick kam das Mädchen zurück und lehn­te sich mit dem Rücken gegen die geschlos­sene Tür.

»Wenn Sie einige Ausrüstungsgegenstän­de brauchen, Meister Kaarfux, dann kom­

Page 32: Im Reich der Ausgestoßenen

32

men Sie bitte«, sagte sie. »Ich bringe Sie zum Fluchtgang. Wollen Sie mich mitneh­men, damit Sie etwas Hilfe haben?«

Kaarfux stimmte zu. Er wußte, daß sie ihn irgendwie kontrollieren wollte, aber er schi­en nichts dagegen zu haben.

»Gut. Gehen wir. Voraussetzung für rechtzeitige Rückkehr ist zielstrebiges Han­deln.«

Wir verließen den Raum, verabschiedeten uns im Korridor voneinander und gingen in zwei verschiedene Richtungen auseinander. Ich schlief ein, die Hand um den Kolben der Waffe unter dem Kissen. Aber ich blieb un­gestört, bis mich das Hämmern einer Faust an die Tür weckte.

7.

Der Spezialsessel bremste summend und wurde um neunzig Grad gedreht. Fralwerc zeigte starke Nervosität.

»Haben Sie alles mitgenommen? Nichts vergessen? Sind Sie vorbereitet?«

»Natürlich«, erwiderte Fartuloon. Wir hatten etwa fünfzig Meter zurückgelegt. Hier schien sich ein sehr alter Teil des sub­planetarischen Systems zu erstrecken. Die Korridore waren breiter und teilweise ge­mauert, und es breitete sich ein stechender Geruch aus. In der Luft hing wieder das lei­se Brummen und Dröhnen irgendwelcher Maschinen. Im Schutz unterplanetarer Fun­damente bewegten sie uns in eine Richtung, die wir nicht einmal erahnen konnten.

»Ganz sicher?« fragte Fralwerc wieder. Der Boden senkte sich ein wenig. Die Lam­pen waren hier in weitaus größeren Abstän­den an der Wand und der Decke befestigt. Der chromfunkelnde Sessel glitt vor uns langsam dahin. Fralwerc hatte eine schwere Decke über seine Knie gebreitet und steuerte geschickt mit der Linken.

»Ja. Wir sind ganz sicher. Wir haben nur die Waffen und unsere gereinigten Over­alls«, erwiderte ich und trottete weiter. Bis­her hatten wir nicht einen einzigen Ausge­stoßenen gesehen, aber weit vor uns, am En-

Hans Kneifel

de des schmutzigen Stollens, erkannten wir bewegte Lichter und Gestalten.

»Wie weit noch?« fragte Fartuloon. »Eine knappe Stunde. Es geht nicht so

schnell. Sie wird schwieriger, die Strecke.« »Ich sehe.« Der Stollen führte gerade abwärts. Dann

erkannten wir mächtige Rohre, die aussahen, als würden sie aus keramikbeschichtetem Stahl bestehen. Sie kamen aus dem Fels her­aus und bildeten mächtige Knicke.

Überall erkannte man die Rückstände von Isoliermaterial. Die Ausgestoßenen hatten den Stollen genau unter der Knickstelle hin­durchgetrieben und an jedem Rohr einen Hahn angebracht. Primitive, aber schwere Stücke, die mit beträchtlichem Aufwand die Wandungen der Rohre durchstießen. Unter­halb der tropfenden Hähne sahen wir große, kraterförmige Vertiefungen, aus denen ät­zender grauer Rauch aufstieg.

»Was ist das?« »Industrieabfälle. Meistens hochkonzen­

trierte Säuren, die im Säuresee gesammelt und abgebaut werden. Wenn wir welche brauchen, kommen wir hierher und zapfen sie einfach ab. Großartig, nicht?«

Der Sessel steuerte knapp unterhalb der Rohre vorbei, die einen Durchmesser von nicht weniger als einem Meter hatten. Ein Schalterdruck, und drei Scheinwerfer an den Armlehnen und am Fußteil der Konstruktion flammten auf. Sie beleuchteten eine Gruppe von Männern, die in schwarze und glänzen­de Arbeitsanzüge gekleidet waren und Schutzhelme trugen. Sie arbeiteten daran, einen Stollen in die Wand zu treiben. Um sie herum standen und lagen altertümliche, aber gut gepflegte Maschinen. Ein dickes Kabel schlängelte sich in die unergründliche Tiefe eines schmalen und niedrigen Nebenstollens davon.

»Wie geht's voran?« krächzte Fralwerc und hustete schwer. Die Männer grinsten ihn an und hoben die Werkzeuge.

»Verdammt zäh. Massives Gestein. Au­ßerdem müssen wir aufpassen, damit wir nicht ein Rohr erwischen.«

Page 33: Im Reich der Ausgestoßenen

33 Im Reich der Ausgestoßenen

Als wir vorbei waren, begannen die Des­integratoren wieder zu jaulen und zu heulen. Die Ausgestoßenen schienen alles, was sie brauchten, irgendwie zu stehlen, ob es Säure war oder Energie, mit Trinkwasser schien es nicht anders zu sein als mit den Werkzeu­gen, die sie für die Diebstähle brauchten. Zwar waren solche Verluste exakt auszu­messen, aber niemand würde messen, wenn er nicht wußte, daß die eine oder andere Lei­tung angezapft war.

»Sie suchen ein neues Stromkabel. Direkt am See und an der Neutralisationsanlage ist es zu gefährlich!« erklärte Fralwerc und leg­te zwei Finger an sein verstümmeltes Ohr­läppchen.

»Rechnen Sie mit weiterem Zustrom in Ihr unterplanetarisches Reich?« erkundigte sich der Bauchaufschneider ironisch.

»Damit rechnen wir immer. Es kommen immer mehr. Wahrscheinlich kommen jetzt auch welche aus der Gruppe von Serrogat.«

»Das mag sein«, mußte auch ich zugeben. Der Stollen wurde niedriger und winkelte

ab. Mehrere Rampen führten im Zickzack weiter abwärts. Immer wieder unterbrachen Rohrleitungen und schwere, alte Kabel mit dicker Isolation die Wände oder verliefen halb aus der Decke herausragend. Schwei­gend steuerte Fralwerc seinen Sessel durch die schmalen Gänge. Der Boden unterhalb der Stadt war von Gängen und Stollen durchzogen wie eine Frucht oder ein Stück Holz von den Gängen der Bohrinsekten.

Dann, ganz plötzlich, sahen wir über der Schulter Fralwercs eine glänzende, von far­bigen Schlieren überzogene und von ver­schiedenen Spiegelungen verzerrte Oberflä­che. Ein Ausschnitt davon tauchte am Ende eines Tunnels auf. Wir kamen an einer der bekannten Unterbrechungen vorbei, jenem Loch in der Decke, das mit Gestein und ei­ner auslösenden Sprengladung versehen war. Dann hielt Fralwerc an und sagte kurz:

»Wir sind gleich da. Vor uns – der Säure­see.«

»Ist das diese glänzende Lache dort vorn, die so stinkt?«

»Ja. Wir müssen rund herum und auf der anderen Seite schräg aufwärts.«

»Hier scheint niemand zu arbeiten?« frag­te Fartuloon. Mir war aufgefallen, daß dieser Mann eine charakteristische Bewegung machte. Es war eine Angewohnheit, die sehr selten war. Er berührte mit Zeigefinger und Mittelfinger das rechte Ohrläppchen, als wolle er ein Hörgerät festdrücken oder einen Miniempfänger festhalten. Wo hatte ich die­se Geste schon gesehen? Ich wußte, daß ich sie genau kannte, aber niemals einen Mann namens Fralwerc, der mehr oder weniger re­gelmäßig diese Geste ausführte.

Dein Gedächtnis wird es dir sagen! mel­dete der Logiksektor.

»Das scheint nur so«, meinte Fralwerc kaum verständlich.

Der Generator des Sessels summte auf, die Lichtstrahlen der drei kleinen, aber sehr lichtstarken Scheinwerfer bohrten sich in die Finsternis vor uns und schwankten etwas, als der Sessel weiterglitt und sich dem Punkt näherte, an dem sich der Boden des Tunnels scheinbar in den Säuresee absenkte.

Wir folgten vorsichtig, aber wir legten in­stinktiv die Hände an die Kolben der Waf­fen. Mein Mißtrauen war bisher gemäßigt gewesen, aber jetzt ließ es sich nicht mehr unterdrücken. Ich fing an zu ahnen, daß ich Grund dazu hatte, mehr als nur mißtrauisch und wachsam zu sein.

Der Tunnel hörte auf. Fralwerc steuerte seinen Sessel nach rechts und drehte ihn so, daß die Scheinwerfer den Säuresee und einen Teil der Umfassung anstrahlten. Der Scheinwerfer in der rechten Armlehne be­wegte sich und wurde zum Suchlicht. Er huschte in wilden Kreisen über den merk­würdig leuchtenden Säurespiegel und blieb an einer Strickleiter haften. Die Leiter war am Rand eines riesigen Behälters aus Spezi­al-Edelstahl festgeknotet und schwang sich in verrücktem Bogen zu einer trichterförmi­gen Absaugöffnung, aus der ein fahles Heu­len und Brausen zu hören war. Es erfüllte die flache Höhle mit einem Dauersummton und den hallenden Echos. Dort in dem Ab­

Page 34: Im Reich der Ausgestoßenen

34

saugstutzen, der die Gase fortriß und aufwir­belte, verschwand die Leiter.

Aus der Dunkelheit rechts neben uns kam die krächzende, pfeifende Stimme Fralwer­cs.

»Einer unserer aufregendsten und … si­chersten Fluchtwege. Der See hat einen Durchmesser von hundert Metern. Vierzig Meter tief. Unterhalb der Überflußrinne wer­den die Abfallsäuren eingeleitet. Jeder, der diesen Fluchtweg benutzt, kommt in der La­trine eines entsprechenden Werkes heraus. Sehr gute Sache. Sie müssen links herum.«

»Alles klar!« meinten Fartuloon und ich fast gleichzeitig. Unsere Stimmen erzeugten neue Echos.

Der Suchscheinwerfer beleuchtete nach­einander die interessantesten Punkte dieses verblüffenden Sees aus verschiedenen kon­zentrierten Säuren.

Das Becken schien halbkugelig zu sein. An den Rändern war der Stahl nach außen gekrümmt und ragte etwa vier Meter in den Boden dieser Höhle hinein. Einige Hand­breit unterhalb des Knicks befand sich die Überlaufrinne mit den Abläufen für die Säu­re, die aufgespaltet und in ihre ursprüngli­chen Bestandteile in fester Form umgewan­delt wurde.

Ununterbrochen strömten Massen von Flüssigkeiten in das Becken, und ebensoviel wurde abgesaugt und in den unsichtbaren, irgendwo in der Kruste dieses Planeten ver­steckten automatischen Anlagen aufgearbei­tet.

Es stank scharf und unangenehm, und schon nach einigen Sekunden Aufenthalt in dieser summenden, schwarzen Höhle verlo­ren wir vorübergehend den Geruchssinn. Der Scheinwerfer schwenkte wieder herum und beleuchtete den Rand des Beckens. Zwischen dem ölig daliegenden Säurespie­gel und der Felswand gab es nicht mehr als vier, fünf Meter freien Raum. Dann drehte Fralwerc auch den Sessel und kam auf uns zu. Das Licht bildete eine breite Bahn zwi­schen uns und dem Spezialsessel.

»Sie müssen nach links. Dort gibt es ein

Hans Kneifel

Schott. Dahinter liegen sichere Aufenthalts­räume in der Nähe der Oberfläche!« sagte Fralwerc laut. Ein schlimmer Hustenanfall folgte. Wieder hob er die Hand im weißen Handschuh und berührte das Ohrläppchen.

»Danke für die Beleuchtung«, entgegnete ich. Wieder diese Bewegung, diese einmali­ge Geste.

Wer war Fralwerc wirklich? »Ich halte mich hinter Ihnen. Dann sehen

Sie mehr. Vorwärts, Freunde!« »Einverstanden.« Der Sessel schwebte zehn Meter hinter

uns und leuchtete Felswand, Stahlboden und die vielfältigen Anlagen, Rohre, Entlüfter und Sicherheitseinrichtungen aus. Unsere beiden Schatten bewegten sich riesengroß vor uns. Die Sohlen erzeugten schmatzende Geräusche auf dem Stahl. Fartuloon und ich hielten uns genau in der Mitte zwischen Säuresee und Wand. Wir mußten ununter­brochen ausweichen, uns bücken und zur Seite springen, wenn wieder Rohrknicke und Abzweigungen aus der Wand herausragten oder sich aus der niedrigen Decke herunter­senkten. Und ganz plötzlich warnte mich et­was. Sekunden später erst wußte ich, daß es die schnelle Veränderung des Lichts und die plötzlichen Bewegungen unserer Schatten­bilder waren, die mich retteten.

»Achtung!« knurrte ich und drehte mich herum. Gleichzeitig mit dem Warnschrei des Logiksektors gab ich Fartuloon einen Stoß, der ihn in die Richtung der feuchten, triefen­den Wand warf.

Fralwerc in seinem Sessel kam auf uns zu. Die drei Scheinwerfer blendeten uns, und der schwebende Krankensessel machte einen wilden Satz. Die Absicht war klar: er wollte uns rammen und in den Säuresee werfen. Dort würden wir ein für allemal verschwun­den sein.

Warum? Alles ging blitzschnell. Im Nebenlicht sa­

hen wir, daß Fralwerc die Decke von seinen Knien geschleudert hatte. In seiner rechten Hand funkelte eine schwere Waffe. Im sel­ben Moment donnerte ein Schuß auf, ein

Page 35: Im Reich der Ausgestoßenen

35 Im Reich der Ausgestoßenen

langer Feuerstrahl röhrte durch die Halle und traf auf das Gestein des Felsens. Der Schuß fauchte zwischen Fartuloon und mir hindurch.

Auch der Spezialsessel raste summend vorbei. Im Leuchtschein des tödlichen Strah­lenschusses sah ich das Gesicht des Ausge­stoßenen. Es war vor Wut verzerrt, die Schatten machten es zu einer wütenden Maske des Hasses.

ES IST PSOLLIEN! DENKE AN ERS­KOMIER! schrie der Logiksektor. Meine Erinnerung funktionierte wieder!

Ich duckte mich. Durch den Lärm und die Echos des Schusses, das Summen der Ent­lüfter und den aufheulenden Motor des Ses­sels hindurch hörte ich Fartuloon vor Über­raschung und Wut fluchen. Er befand sich irgendwo mir gegenüber an der Wand, ver­steckt im Dunkel zwischen den Rohrkon­struktionen.

Ich duckte mich, als der Sessel haarscharf neben mir vorbeiraste, geradeaus weiter schwebte und dann plötzlich verschwand. Psollien hatte die Scheinwerfer ausgeschal­tet. Ich sprang auf, zog meine Waffe und fühlte, wie meine Schulter gegen den Fels stieß. Dann sagte ich laut und deutlich:

»Fartuloon! Ich habe ihn erkannt! Dieser Mann ist nicht Fralwerc, sondern Psollien. Die Krankheit hat ihn verändert, aber seine Geste mit den beiden Fingern hat ihn verra­ten. Dort vorn in der Dunkelheit lauert einer der beiden noch lebenden Mörder meines Vaters. Psollien, stellen Sie sich!«

Die Antwort war ein Schuß, der an der Stelle einschlug, an der ich mich eben noch befunden hatte. Eine glühende Bahn fraß sich in den Stahl. Die hochenergetische Ent­ladung entzündete die Säuredämpfe über der Trefferstelle.

Psolliens Stimme, kaum kenntlich, verän­dert durch die Echos und die entsetzliche Wut, drang von dort vorn zu uns her.

»Ihr seid mir einmal entkommen. Hier ist mein Reich. Ihr werdet es nicht mehr …«, ein Hustenanfall, ein fast wimmerndes Keu­chen unterbrach ihn, »… lebend verlassen.«

»Das bleibt abzuwarten!« sagte Fartuloon unweit von mir und feuerte.

Der Strahl schlug ein, aber alles, was wir undeutlich erkennen konnten, war der leere Sessel, der auf dem Stahlrand stand. Psollien war verschwunden.

Ich zog mich weiter in die Finsternis zu­rück. Die Chancen waren gleich verteilt, als Psollien seinen Sessel verließ. Jeder von uns konnte überleben, jeder konnte getötet wer­den.

»Du hast vollkommen recht, Söhnchen!« sagte die Stimme des Bauchaufschneiders. »Ich habe mich nicht erinnert. Aber als du Psolliens Namen erwähntest, paßte alles zu­sammen. Er muß uns sofort erkannt haben. Alles war geplant, auch diese Falle hier. Nun, wir wissen, was wir zu tun haben.«

»Das ist sicher.« Erinnerungsfetzen an Erskomier zogen in

meinen Überlegungen vorbei. Inzwischen waren so viele Jahre vergangen, und der ha­ßerfüllte Drang, alles zu rächen, war fast vergangen. Aber der langgesuchte Mörder meines Vaters war hier und lauerte in der Deckung neben dem Säuresee. Hier kannte er jeden Zentimeter, aber auch wir waren in diesem makabren Gewerbe nicht unerfahren. Ich hob die Waffe und verließ die Deckung. Die Höhle war nicht völlig dunkel, aber die wenigen, schwachen Lampen vermochten die Finsternis kaum aufzuhellen. Immerhin konnten wir die Begrenzung des Säuresees erkennen und einige Umrisse von Rohrlei­tungen und dem Entlüftungssystem.

Ich zielte auf eine Stelle zwischen dem Sessel und der Wandung und feuerte zwei Schüsse ab. Die explodierende Materie an den beiden Stellen und die aufflackernden Gase zeigten die Stelle etwas deutlicher, aber ich sah Psollien nicht.

Augenblicklich verließ ich meinen Stand­ort und näherte mich der Deckung, in der Fartuloon stand.

Durch die Schüsse hatte ich meinen Standort verraten; ein erfahrener Gegner würde entsprechend reagieren, aber auch er mußte sich verraten, wenn er zurückschoß.

Page 36: Im Reich der Ausgestoßenen

36

Genau dies passierte. Psollien sprang aus seinem Versteck und

schoß mehrmals hintereinander. Er hatte hervorragend gezielt und kesselte uns förm­lich ein. Über uns, vor uns und an minde­stens drei anderen Stellen bekamen Rohrlei­tungen Risse, kochte das Gestein auf und schwirrten glühende Funken und Trümmer durch die Luft. Ätzender Rauch breitete sich aus, Hitzewellen schlugen uns entgegen. Gleichzeitig schossen wir. Sekundenlang spannten sich weißglühende Spurstrahlen durch einen Teil der Höhle und bildeten ein helles, flackerndes Licht verbreitendes Netz.

Fartuloon murmelte in den Donner und die Lärmorgie hinein:

»Bleib hier. Ich greife ihn von der ande­ren Seite an. Du gibst mir Feuerschutz. Klar, Söhnchen?«

»Eine gute Idee. Aber – gib acht. Keiner von uns weiß, was sich dort alles versteckt. Vielleicht warten dort auch seine Leibwäch­ter.«

»Keine Angst. Ich komme heil zurück!« Seine Hand kam aus der Dunkelheit, er

drückte kurz meine Schulter und war an mir vorbei. Lautlos lief er in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Ich wartete fünf Sekunden und feuerte dann einen wilden Hagel von Schüssen ab, sorgfältig verteilt auf die Stellen, an denen ich Psollien vermu­tete.

Wieder verwandelte sich ein Teil des Höhlensystems in einen Bezirk aus Glut, Flammen und Rauch. Die Schallwellen don­nerten und krachten, verstärkt durch die Echowirkung, über den schlierenwerfenden Säuresee dahin. Inzwischen mußte die Schießerei die Leibwächter und einen großen Teil der Ausgestoßenen alarmiert ha­ben – es war gar nicht anders möglich.

Du mußt verhindern, daß sie hier eindrin­gen. Sie werden auf alle Fälle ihren Boß Fralwerc schützen wollen. Denn sie vermu­ten, daß hier entweder Sicherheitstruppen oder Polizei eingedrungen sind! sagte mit Bestimmtheit der Extrasinn. Ich handelte so­fort und folgerichtig.

Hans Kneifel

Noch während der schwarze Rauch von den brennenden Gasen erhellt wurde und der Donner der Schüsse nachhallte, sprang ich aus dem Raum zwischen Betonstützen, Roh­ren und Traversen hervor und rannte zwan­zig Schritt zurück, in die Richtung des Tun­nels. Irgendwo dort drüben versuchte Fartu­loon, den See zu umgehen. Er würde ver­mutlich nicht eher schießen, bis er sicher sein würde, Psollien zu treffen.

Psollien, den ehemaligen Verbündeten Orbanaschols, vom Diktator ebenso gesucht wie wir – die Verhältnisse hatten sich dra­stisch geändert seit den Tagen der Jagd auf Erskomier. Ich erreichte den Stollen; ein Luftzug war das Signal.

Mit einem Satz sprang ich nach rechts und horchte in den Stollen hinein.

Sie kommen! flüsterte der Logiksektor. Ich hörte Schreie und wirre Geräusche,

aber weder Schritte noch Schüsse. Ich sah das letzte Stück des Stollens, denn irgendwo dort oben gab es eine stärkere Lampe, von der eine Kreuzung einigermaßen ausge­leuchtet wurde. Ich konnte ganz einfach mit wenigen Schüssen den Stollen sperren. Gleichzeitig aber zeichneten sich meine Umrisse mehr oder weniger deutlich gegen den helleren Hintergrund ab. Ich wich aus und lehnte mich hinter der nächsten Kante an die Wand.

Einige Sekunden lang herrschte Ruhe. Ich entspannte mich und überdachte unsere stra­tegische Situation. Sie war keineswegs hoff­nungslos, aber alles andere als gut. Wenn es einen anderen Zugang zu diesem Säuresee gab – und dies mußte als wahrscheinlich an­genommen werden –, dann würden in kurzer Zeit die Leibwächter und andere Ausgesto­ßene hier erscheinen und gegen uns kämp­fen.

Ich hob die Waffe, kontrollierte die La­dung und wartete. Von Fartuloon war nichts zu sehen und zu hören. Auch Fralwerc lauer­te irgendwo links von mir.

Nach einem Blick in den Tunnel schoß ich wieder. Noch waren keine Leibwächter zu erkennen. Was ich hörte, war vielleicht

Page 37: Im Reich der Ausgestoßenen

37 Im Reich der Ausgestoßenen

nur der Lärm der Bohrgeräte und Desinte­gratoren jener Arbeitsgruppe.

Ich feuerte jetzt langsam und überlegt. Ich setzte einen Treffer neben den anderen und erzeugte eine Reihe von Glutzonen, die un­zweifelhaft Fralwerc von mir weg treiben mußten. Wieder flammten Gasentladungen auf, erneut gab es Wolken aus schwarzem Rauch, die von dem Luftstrom erfaßt, in die Höhe gewirbelt und von der Anlage abge­saugt wurden. Unter der Decke der Höhle bildete sich eine dicke Wolke aus brodeln-den Gasen. Ich schoß weiter, aber ich achte­te darauf, in der Deckung zu bleiben. Aber keine einzige der flackernden Helligkeiten und der Blitze zeigte mir den Gegner. Nur dieser verdammte Spezialsessel stand da und war völlig unversehrt.

Du erleichterst Fartuloon das Vordringen, sagte der Logiksektor.

Also feuerte ich weiter. Die Energie fraß sich in den stählernen Boden und hinterließ lange weißglühende Spuren. Obwohl immer wieder rote und weiße Gasentladungen die Wände des Felsendomes und die Rohre scharf aus der Dunkelheit rissen, sah ich nicht die geringste Spur des Mörders.

Er verriet sich auch nicht, indem er zu­rückschoß; irgendwo dort kauerte er im Ver­borgenen und lauerte.

Ich hob den Lauf der Waffe und wartete wieder. Nichts geschah. Vor etwa zwei Mi­nuten war Fartuloon zu seinem Alleingang aufgebrochen. Ich hoffte, er würde mir ein Zeichen geben.

Und dann heulte ein Schuß dicht an mei­ner Schulter vorbei, verbrannte einige Haare und schlug ins Zentrum des Säuresees ein. Dort gab es eine schwere Explosion und ei­ne Glutwolke, die Säurenebel und Tropfen nach allen Seiten warf. Ich sprang zurück, drehte mich herum und erkannte am anderen Ende des Stollens eine Gruppe von Män­nern, die in der Kreuzung auftauchten. Einer von ihnen stand da und hatte eben geschos­sen.

Ich zielte kurz, aber sorgfältig, dann löste sich ein langer Schuß. Die Hochenergie

schlug knapp vor den Stiefeln dieses Leib­wächters ein, ließ dort den Boden detonieren und verwandelte ihn in einen rauchenden, brennenden Krater. Laut schreiend wichen die Männer aus und verschwanden. Ich schoß ihnen noch einmal nach, hatte aber nicht die Absicht, einen von ihnen zu tref­fen. Sie hatten mir nichts getan, im Gegen­teil: irgendwie verdankten wir ihnen unser Leben.

Ich bewegte den Kopf und untersuchte je-den einzelnen Punkt des Kreises, der vor mir lag.

Nur noch an wenigen Stellen gab es Spu­ren des erbitterten, aber nutzlosen Schuß­wechsels. Weder Fartuloon noch Psollien/ Fralwerc waren zu sehen. Wieder breitete sich eine verderbliche, spannungsgeladene Ruhe aus.

Warte! In ganz kurzer Zeit ist alles zu En­de! meinte das Extrahirn mit Gewißheit.

Ich war bereit. Ich spielte die Einzelheiten unseres Vorgehens durch. Ich wußte, daß nur dieses Ende möglich war. Von beiden Seiten unter Feuer genommen, mußte der Mörder sein Versteck verlassen und würde im Feuer unserer Waffen sterben.

Dies war die trügerische Sicherheit, die uns am Ende des Fluchtwegs blieb. Diese Überlegung brachte mich wieder zurück zu »Meister Kaarfux«, wie Psollien den Staran­walt nannte. Wo war er? Hatten die Soldaten auch ihn und Yacori gefaßt?

8.

Kaarfux packte den Arm Yacoris und deutete über das Wasser des regungslos da­liegenden kleinen Sees.

»Bevor wir wieder in das Labyrinth eurer Fluchtwege hinuntertauchen, möchte ich ei­ne Frage an Sie richten, Yacori.«

Sie starrte ihn schweigend an. Kaarfux bemerkte im ersten Dämmerlicht des Tages, daß sie auf eine wilde Art sehr gut aussah. Sie war wie ein unbeherrschtes Tier; schnell und entschlossen und mit einer fast intuiti­ven Reaktionsschnelligkeit.

Page 38: Im Reich der Ausgestoßenen

38

»Fragen Sie, Anwalt.« Ein Raumschiff startete und raste schräg

über die erwachende Landschaft hinweg in das All hinaus.

»Was hält Sie in der Nähe Fralwercs? Warum dieses große Maß an Loyalität? Ha­ben Sie schon einmal darüber nachgedacht, daß er einer der übelsten Verbrecher ist, die es jemals gab?«

Sie hob die Schultern und erwiderte scharf:

»Möglich, daß er ein Verbrecher ist. Aber die erste und einzige Chance, die ich jemals hatte, war Fralwerc. Er ließ mich holen, ver­steckte mich, ließ mich erziehen und war nie auch nur eine Sekunde anders zu mir als ein besorgter Vater.«

»Hmm«, machte Kaarfux. »Möglicherweise müssen Sie um hundert­achtzig Grad umdenken. Fartuloon und der Kristallprinz scheinen ein Gespenst aus der Vergangenheit gesehen zu haben. Sie beob­achten Fralwerc unausgesetzt. Ich bin sicher, daß es zum Zusammenstoß kommt.«

»Zusammenstoß?« fragte sie ungläubig. »Warum? Was soll Fralwerc gegen den Kri­stallprinzen haben? Und Fartuloon kennt er nicht einmal.«

»Warten wir es ab«, sagte er leise. Er war alt und erfahren, und für Yacori stellte er ei­ne Autorität dar, die unzweifelhaft war. Sie blickte ihn voller Unglauben an.

»Sie meinen, daß beide eine irgendwie gemeinsame Vergangenheit haben?« fragte sie zweifelnd.

»So sieht es aus.« Schweigend starrten sie einige Sekunden

lang dieses Bild der Ruhe und des Friedens an. Es gab keinen Lärm mehr und keine auf­geregten Truppenbewegungen zwischen Raumhafen und Stadtgebiet. Kaarfux hatte mit Yacoris Hilfe erledigt, was er sich vor­genommen hatte. Es sah danach aus, als gä­be es unter bestimmten Voraussetzungen ei­ne Fluchtmöglichkeit für Atlan und Fartu­loon mit einem Raumschiff. Kaarfux selbst war es gelungen, in seinem Haus alle wichti­gen Aufzeichnungen zu verstecken, einige

Hans Kneifel

schnelle Kontenbereinigungen vorzunehmen und sich selbst abzusichern. Er trug einen Koffer, in dem seine wichtigsten Habselig­keiten verpackt waren. Dann holte er tief Atem und sagte:

»Gehen wir nach unten. Denken Sie dar­über nach, was ich Ihnen gesagt habe. Ich selbst habe bei Ihnen einen Ruf und eine Be­deutung, zu der ich nach wie vor stehe. Aber ich werde nicht zulassen, daß auch hier un­ten«, er deutete auf den Boden des Boots­hauses, »aufeinander geschossen wird.«

»Hoffentlich haben Sie unrecht!« flüsterte sie und öffnete die hervorragend getarnte Geheimtür.

»Hoffentlich.« Dann bewegten sie sich wieder durch die

Stollen und Röhren, benutzten einen simplen mechanischen Lift, umgingen die Sperranla­gen und trafen auf der obersten Basis der Geheimanlage auf einen Leibwächter, der ihnen aufgeregt entgegenstürzte.

»Nein!« rief Kaarfux, als der Mann auf sie zurannte und ihnen wirre Worte entge­genschrie. Er sah seine schlimmsten Be­fürchtungen bestätigt. Yacori bewahrte Kalt­blütigkeit und schrie in schneidendem Ton:

»Nimm dich zusammen! Was ist los! Ich will einen präzisen Bericht.«

Kaarfux, der schweigend neben ihr stand, erkannte jetzt, daß sie neben Fralwerc die nächste Autorität hier darstellte. Der Mann beruhigte sich und stieß hervor:

»Fralwerc hat Atlan und Fartuloon zum Säuresee gebracht. Dort gibt es ein System von Fluchtwegen. Aber jetzt scheinen sie aufeinander zu schießen. Wir sind nachge­rannt, aber jemand sperrt mit einer Hoch­energiewaffe den Endtunnel ab.«

»Wer ist am Säuresee?« schrie Yacori und wurde bleich.

»Nur die drei. Der Boß, der Kristallprinz und der Bauchaufschneider. Sie gingen ziemlich früh. Niemand dachte sich etwas. Aber der Boß hat seine schwerste und neue­ste Waffe mitgenommen.«

Yacori und Kaarfux wechselten einen lan­gen, schweigenden Blick. Das Mädchen

Page 39: Im Reich der Ausgestoßenen

39 Im Reich der Ausgestoßenen

schien zu begreifen, daß die Warnung des Anwalts berechtigt gewesen war. Aber noch wußte niemand, was wirklich passiert war.

»Schöne Schweinerei!« maulte der Leib­wächter. »Der Boß weiß, was er zu tun hat. Aber warum schießen sie aufeinander? Das muß doch einen Grund haben, Yacori.«

Kaarfux nahm seinen Koffer, öffnete ihn und zog einen schweren und großen Hand­scheinwerfer heraus. Er knotete den Riemen auf und hängte sich das stabförmige Gerät über die Schultern. Dann zog er die Waffe und kontrollierte die Ladung.

»Ich kenne den Grund nicht«, gab Yacori zu. »Ich wüßte auch nicht, warum sie Mei­nungsverschiedenheiten haben sollten.«

»Das weiß niemand. Wir sind ratlos!« rief der Leibwächter.

Yacori wandte sich an Kaarfux. »Wenn die Polizisten hier eindringen

würden, wüßte jeder, was zu tun ist. Aber wir wollen den Boß nicht gefährden.«

»Immerhin …«, murmelte Yacori. »Kaarfux! Bitte, helfen Sie mir. Gehen wir zum Säuresee und sehen wir nach.«

»Einverstanden.« Yacori deutete entschlossen auf den Leib­

wächter und sagte schroff: »Los. Du rennst voran. Wir werden ganz

schnell restlose Klärung erreichen. Schließ­lich geht es um die Organisation aller Aus­gestoßenen von Bassakutena.«

»Richtig.« Sie rannten los; der Leibwächter holte

sich ebenfalls einen Scheinwerfer und spur­tete ihnen voran. Yacori hinter ihm her, und der Anwalt folgte ihnen etwas langsamer. Sie brauchten bis zur letzten Kreuzung etwa vierzig Minuten. Immer wieder wurden sie von aufgeregten Ausgestoßenen aufgehalten und befragt, aber sie schoben sie einfach zur Seite.

Eine Gruppe von mindestens zwanzig be­waffneten Männern, von denen einige ihre Schutzhelme trugen und Detonatoren in den Armen hielten, hatten sich in der Kreuzung der Stollen versammelt. Aber vor einer un­sichtbaren Linie, die mit der Seitenkante des

letzten Stollenstücks identisch war, hielten sie sich alle zurück.

»Wir sind da«, rief Yacori und schob die Männer auseinander. »Was ist los?«

»Dort unten wurde wie verrückt geschos­sen. Hier, siehst du den Krater? Wir wollten nachsehen, Sepca feuerte einmal hinunter in den See, aber sofort wurde zurückgeschos­sen. Der Boß ist unten. Wir wissen nicht, was wir machen sollen.«

»Wir werden euch die Entscheidung ab­nehmen!« sagte Yacori laut und winkte Kaarfux und dem Leibwächter. »Leuchten Sie einmal hinunter, Meister?«

»Natürlich«, erwiderte der Anwalt ruhig. Im Augenblick beherrschte er deswegen die Szene, weil er überlegene Ruhe ausstrahlte. Er nahm den Scheinwerfer, wickelte den Riemen um sein Handgelenk und schaltete das Gerät ein. Er trat über die imaginäre Li­nie hinaus und richtete den blendend weißen Scheinwerferstrahl schräg nach unten. Er spannte seine Muskeln, aber kein Schuß schlug ihm entgegen.

Kaarfux winkte. »Wir riskieren es. Kommt ihr?« »Ja, natürlich.« Vorsichtig gingen sie das letzte Stück des

Stollens hinunter. Immer wieder bewegte Kaarfux seinen Scheinwerfer. Der Strahl kippte und taumelte hin und her. Es war wie ein Signal für jemanden, der dort unten mit einer schußbereiten Waffe lauerte.

Yacori und der Leibwächter folgten auf­geregt dem Anwalt. Sie hielten die Waffen in den Händen und warteten förmlich dar­auf, daß sie beschossen werden würden. Schritt um Schritt gingen sie weiter. Sie wa­ren voller Nervosität, ihre Nerven flatterten. Kaarfux erreichte das Ende des Stollens und blieb stehen. Yacori prallte gegen seinen Rücken und stieß einen Schreckenslaut aus.

»Ruhig!« brummte der Anwalt. Er veränderte die Einstellung des Fokus.

Dann richtete er den Strahl auf die gegen­überliegende Wand und ließ ihn ganz lang­sam wandern. Die Röhren und die Stahlplat­te, der Spiegel des Säuresees und einige rau­

Page 40: Im Reich der Ausgestoßenen

40

chende Spuren von Schüssen waren deutlich sichtbar. Als das Licht ziemlich weit auf der linken Seite des runden Kessels auf die Wand traf, wurde deutlich eine kauernde Gestalt sichtbar, die sich tief in die Deckung zwischen Betontafeln und mächtigen Rohren zurückgezogen hatte.

Kaarfux erkannte augenblicklich Fartu­loon. Er zog scharf die Luft ein und brüllte laut durch die Höhle:

»Hört mit der Schießerei auf. Wir sind hier, Yacori und Kaarfux!«

Der breitgefächerte Lichtkegel zog weiter. Fartuloons Gestalt wurde wieder von der Dunkelheit verschluckt. Aber bevor die auf­geregten Leute am Ausgang des Stollens et­was unternehmen konnten, dröhnte ein Schuß auf. Er schlug genau an der Stelle ein, an der eben noch Fartuloon zu sehen gewe­sen war. Die Entfernung zwischen dem Bauchaufschneider und dem unbekannten Schützen betrug weniger als dreißig Schritte.

War Atlan der Schütze? Undenkbar. Also mußte es Fralwerc gewesen sein. Langsam geisterte der Scheinwerferstrahl weiter und fing sich in einer Qualmwolke.

Fartuloon hatte längst seinen Standort ge­wechselt. Als der Donner des Schusses ver­hallt war, schrie Yacori auf.

»Aufhören! Wir helfen dir, Fralwerc!« Ins Echo ihres Schreies klang die Stimme

des Kristallprinzen. Er rief: »Es ist nicht Fralwerc! Er ist Psollien, der

Mörder des Imperators Gonozal. Zusammen mit Orbanaschol und anderen lockte er mei­nen Vater in einen Hinterhalt und tötete ihn. Ist das die Wahrheit, Psollien?«

Der Lichtstrahl traf den Spezialsessel, der dicht neben der Kante des Säuresees schwebte. Er war leer, aber die Stimme des Chefs schrie durch die Dunkelheit.

»Die Wahrheit ist, daß diese beiden Wahnsinnigen die Höhle nicht mehr lebend verlassen werden. Hilf mir, Yacori! Kaarfux, leuchten Sie die Ziele aus!«

»Den Teufel werde ich tun«, schrie Kaar­fux zurück und richtete das Licht auf den Abzugskanal der Entlüftung.

Hans Kneifel

»Schieß doch, Yacori!« kreischte Psollien und feuerte nach links und nach rechts. Aber neben den Stellen, an denen die Energie­strahlen einschlugen, sahen die Wartenden nun das scharfe, weißglühende Mündungs­feuer der Projektordüsen.

Atlan und Fartuloon schossen zurück. Ihre Schüsse saßen genau. Aus einer Ent­

fernung von jeweils fünfundzwanzig oder zwanzig Metern feuerten der Bauchauf­schneider und der Kristallprinz auf den Mann, den sie als Mörder bezeichneten. Kaarfux griff bewußt nicht ein, und weder der Leibwächter noch Yacori wagten, etwas zu unternehmen.

Zehn, fünfzehn Schüsse dröhnten und heulten auf. Sie erzeugten zwischen zwei Rohrbündeln und mächtigen Betontraversen einen Kreis aus Feuer, Flammen und Rauch. Weißglühende Brocken heulten nach den Seiten und versanken zischend im See.

Psollien sprang aus seinem Versteck her­aus. An einigen Stellen brannte und rauchte seine Kleidung. Er rannte auf den Sessel zu und feuerte wild um sich. Lange Strahlen donnerten in die Richtung der beiden Geg­ner. Sie schossen zurück und veränderten unaufhörlich ihren Platz.

Psollien schrie vor Schmerzen, aber deut­lich waren Haß und ausbrechender Wahn­sinn zu hören. Sie bestimmten, was er aus­drücken wollte.

»Ich habe Gonozal getötet. Aber ich habe nichts davon gehabt. Ihr habt auch nichts da­von, denn sie werden euch umbringen. Helft mir, Freunde!«

Er rannte im Zickzack, von den Schuß­bahnen der zwei unsichtbaren Schützen ver­folgt, auf den Sessel zu und warf sich hinein.

Alles ging in rasender Schnelligkeit vor sich. Die Zusehenden waren wie erstarrt und griffen nicht ein. Mit langen Qualmfahnen hinter sich steuerte Psollien den Sessel vor­wärts, schaltete die Scheinwerfer ein und feuerte ununterbrochen, ohne zu zielen, um sich. Der Sessel machte einen langen, gefa­den Satz und raste über den Stahl, unabläs­sig verfolgt von den Schüssen. Sie trafen

Page 41: Im Reich der Ausgestoßenen

41 Im Reich der Ausgestoßenen

meist und zerstörten den Mechanismus an verschiedenen Stellen.

Auch der Mann im kippenden und schwankenden Sessel wurde mehrmals ge­troffen. Jetzt schlug das Hinterteil des Ge­räts auf den Boden auf und erzeugte eine Schleifspur von Funken. Der Sessel krachte gegen einen Pfeiler, drehte sich halb herum und bewegte sich schwankend auf den Säu­resee zu.

»Ich bringe euch alle um!« schrie keu­chend der Mörder Gonozals.

Seine Waffe spie Schuß um Schuß aus, die vor dem dahinrasenden Sessel wahre Schauer von Flammen und Glut erzeugten. Einige zehn Meter weit schlitterte der Ses­sel, dessen Abstandsantigrav ausgefallen war, rauchend und brennend haarscharf am Rand des Beckenrands dahin. Atlan und Far­tuloon schossen nicht mehr, aber sie zeigten sich auch nicht mehr. Der erste Scheinwer­fer des Sessels fiel aus. Psollien schrie mar­kerschütternd, als der Sessel nach rechts kippte. Der Mörder warf sich auf die andere Seite hinüber und verlor die Waffe.

»Frallie!« kreischte Yacori auf. Kaarfux schwenkte den Handscheinwerfer herum und strahlte den Sessel an. Knallend barst der zweite Scheinwerfer. Das Vorderteil des Sessels schlug schwer auf, Psollien wurde herausgeschleudert und hielt sich krampfhaft an der Lehne fest.

Mit einem letzten, klirrenden und schep­pernden Geräusch, gefolgt von einem gel­lenden und langen Schrei Psolliens, schleu­derte der Sessel herum und kippte mit Psol­lien in den Säuresee. Fast lautlos versank er in der öligen Flüssigkeit, die augenblicklich wild zu schäumen und zu kochen schien. Einmal tauchte kurz die Schulter und ein wild rudernder Arm des Mannes auf, aber dann versank der Körper endgültig.

Fartuloon schrie zu Kaarfux hinüber: »Sie haben gesehen, was passierte. Halten

Sie das Mädchen und die Leibwächter zu­rück, sonst geht der Kampf weiter.«

»Ich tue mein Bestes!« rief der Anwalt. »Kommen Sie her. Ich denke, es ist zu En­

de.« Fartuloon schob seinen Strahler zurück in

die Schutztasche und folgte langsam der Lichtspur. Die Männer des toten Anführers verhielten sich im Moment noch abwartend und ruhig, aber jeder von ihnen hielt eine Waffe in den Fingern. Hinter Fartuloon schob sich der Kristallprinz in die Hellig­keit. Seine Waffe blieb nach wie vor auf die Gruppe um Kaarfux gerichtet.

»Fralwerc lockte uns hierher. Er ließ uns vorangehen. Plötzlich wollte er uns mit dem Sessel rammen und in den Säuresee stür­zen.«

»Ihr wollt nichts anderes als hier den Chef spielen!« schrie aufgeregt einer der Leib­wächter. Grob erwiderte der Bauchauf­schneider:

»Unfug! Wir wollen so schnell wie mög­lich weg, das ist alles. Haben Sie etwas er­reicht, Kaarfux?«

Atlan hielt sich weiterhin zurück, wäh­rend Fartuloon auf die Gruppe zuging. Ya­cori riß sich los und lief ihm entgegen.

»Sie haben ihn umgebracht, Bauchauf­schneider!« schrie sie und ballte die Fäuste. Sie starrte Fartuloon mit eisiger Wut an. »Meinen einzigen Freund.«

Fartuloon schwieg und führte in der be­kannten Geste zwei Finger ans Ohrläppchen. Dann erkundigte er sich ruhig:

»Diese Bewegung hat er immer wieder ausgeführt, nicht wahr?«

»Ja!« »Genau diese Geste machte ein Mann, der

auf dem Planeten Erskomier, vor einer Handvoll Jahren, einen Jagdunfall inszenier­te. Der Mann hieß Psollien und war der Jagdspezialist. Einst besaß er schwarze Locken und bräunlichen Teint, denn er war kein reinrassiger Arkonide.«

»Was wollen Sie damit sagen?« stieß ei­ner der Leibwächter hervor und schob sich neben Yacori.

»Nur noch folgendes: Psollien ermordete mit Orbanaschol und den Männern Sofgart, Offantur und Heng zusammen den Vater des Kristallprinzen. Sein einziger Zeuge war ich.

Page 42: Im Reich der Ausgestoßenen

42

Ich rettete Atlan vor dem Attentat, dem auch er zum Opfer gefallen wäre.

Aus diesem Grund verfolgt uns der Dikta­tor mit unvermindertem Haß. Als wir den Namen Psollien aussprachen, versuchte Ihr Frallie, uns zum zweitenmal umzubringen. Wir wehrten uns. Man kann diesen Kampf sogar in begrenztem Umfang fair nennen. Jetzt gibt es nur noch einen der Mörder, und er wird nicht mehr lange leben.«

Yacori stieß weinend hervor: »Ich kann es nicht glauben. Kaarfux! Sa­

gen Sie mir, ob es die Wahrheit ist, was die­ser Mann erzählt.«

Kaarfux kam heran und legte ihr einen Arm um die Schultern. Seine Stimme klang überraschend weich, als er sagte:

»Ich fürchte, es ist die Wahrheit. Über die Namen und den wahren Vorfall damals auf Erskomier existieren nur Gerüchte. Aber es scheint so gewesen zu sein, wie Fartuloon es berichtete. Sie können sich vielleicht noch erinnern, daß Fralwerc schwarzes Haar und eine bräunliche Haut hatte, denn wir beide kannten ihn noch, als er von der Krankheit noch nicht so entsetzlich verstümmelt war.«

»Außerdem«, ließ sich der Kristallprinz erschöpft vernehmen, noch immer abseits der Gruppe und mit schußbereitem Strahler, »sind wir hierher gekommen, weil sie uns sonst hingerichtet hätten. Wir wußten nichts von Fralwerc oder Psollien, ehe wir ihn dank Kaarfux trafen. Wir hatten außerdem nicht das geringste Interesse daran, gegen unseren Retter und denjenigen zu kämpfen, der uns versteckte.

Vergessen Sie die Mordtheorie. In ein paar Tagen sind wir ohnehin von

hier verschwunden, und dann können Sie tun, was Sie wollen.«

Mit tränenüberströmtem Gesicht blickte Yacori zuerst Kaarfux, dann Fartuloon und Atlan an. Schließlich stieß sie hervor:

»Ich glaube euch. Gehen wir zurück. Ich verstecke euch, so lange wie es nötig ist. Ich glaube die Geschichte.«

Atlan steckte seine Waffe ein und kam näher. Er blieb neben Fartuloon stehen, bis

Hans Kneifel

sich die Gruppe auflöste und durch den Stol­len zurückging. Mit jedem Schritt wurden der Geruch nach Säuren und den Energieent­ladungen schwächer. Auch die Erinnerung an den tödlichen Kampf verblaßte oder wur­de verdrängt.

Die Schwierigkeiten sind noch nicht vor­bei, kommentierte trocken der Logiksektor.

9. ERINNERUNGSPROTOKOLL ATLAN:

Ich entspannte meine Muskeln und wünschte mich zurück auf die Oberfläche Celkars. Natürlich würden die Stunden oder Tage, bis wir ein Schiff betreten konnten, ei­ne reine Qual werden. Begreiflicherweise waren alle Ausgestoßenen gegen uns, ob­wohl sie einsehen würden, daß wir tatsäch­lich nur in berechtigter Notwehr gehandelt hatten.

Irgendwo in einem leeren Stollen drehte sich Fartuloon um und musterte mich voller Besorgnis.

»Es ist nicht angenehm, von den Schatten der Vergangenheit wieder eingeholt zu wer­den, Söhnchen. Aber du hast in jedem Punkt hervorragend reagiert. Wann hast du ge­merkt, daß es Psollien war?«

Ich brauchte keine Sekunde lang zu über­legen.

»In dem Augenblick, als er schießend an uns vorbeischwebte. Sein Gesicht war plötz­lich fast wieder das Gesicht des viel jünge­ren Psollien. Ich nehme an, ein Effekt von Licht und Schatten.«

Auch Fartuloon sah im Licht der schwa­chen Ganglampen alt und müde aus. Die Anstrengung des Kampfes hatte ihm weni­ger stark zugesetzt als der plötzliche Schock, den Mörder Gonozals ausgerechnet hier zu treffen. Aber wir würden uns ebenso schnell wieder erholen wie sonst.

Eine Stunde später saßen wir mit Kaarfux zusammen und nahmen einen kleinen Imbiß zu uns. Wir befanden uns wieder in den be­reits bekannten Räumen.

»Yacori wird auch diesen Schock durch­

Page 43: Im Reich der Ausgestoßenen

43 Im Reich der Ausgestoßenen

stehen. Mit einiger Sicherheit wird sie die neue Chefin der Ausgestoßenen«, meinte Kaarfux und massierte seine Schläfen. »Die Nachrichten, die wir mitbrachten, sind weni­ger optimistisch.«

»Was ist passiert?« »Einige Schiffe sind gelandet. Sie brach­

ten Spezialeinheiten. Auf Celkar, mit stärk­ster Konzentration auf Bassakutena und na­türlich der Stadt Kutenarynd, finden die schwersten Razzien aller Zeiten statt. Das Fernsehen kommentiert nur noch ausschnitt­weise und ohne besondere Hinweise, denn sie scheinen sich daran erinnert zu haben, daß auch die Flüchtlinge einen Bildschirm haben könnten.«

Ich nahm diese Mitteilung ruhig entgegen. »Was konnten Sie tun, Anwalt?« »Meine Bewegungsfreiheit ist einge­

schränkt. Es sieht so aus, als könnten wir Er­folg haben. Möglicherweise hält sich einer meiner Freunde an seine Versprechen, die er mir vor Stunden gab.

Sie verschwinden hier und müssen sich zu einem Beiboot durchschlagen. Natürlich können Sie es steuern?«

»Ja. Keine Sorge. Wir beide können es recht gut«, meinte der Bauchaufschneider.

»Dieses Boot müssen Sie starten. Sie fin­den an Bord Koordinaten, die Sie anfliegen müssen. Dort wartet ein Schiff auf Sie. Mehr konnte ich nicht erreichen. Ausrüstung liegt im Beiboot bereit.«

»Wie hoch ist die Aussicht auf Erfolg?« fragte ich direkt. Der Anwalt biß auf seine Unterlippe, überlegte kurz und erwiderte:

»So, wie ich Sie kenne, stehen die Chan­cen acht zu zwei gegen Sie. Denken Sie dar­an: Sie müssen über offenes Land flüchten und das Boot in den Raum bringen, was zahllose Risiken beinhaltet.«

»Wann soll das passieren?« murmelte Fartuloon und schnitt eine Scheibe vom trockenen Schinken herunter und riß gleich­zeitig eine Bierbüchse auf.

»Morgen, übermorgen. Jeder Moment ist gleich gut. Aber die Suchtrupps sollten na­türlich an anderer Stelle abgelenkt sein. Das

alles liegt in Ihren Händen. Ich habe nur den Kommandanten der NEKOR bestechen kön­nen. Die Rechnung, die ich Ihnen einst prä­sentieren werde, erhält ungeahnte Dimensio­nen.«

Wir beide lächelten müde und nickten nur. Dies war das geringste aller auf uns wartenden Probleme. In Gedanken versuch­ten wir bereits, den Fluchtweg auf seine Ge­fahren abzuschätzen. Kaarfux griff in eine Innentasche und brachte einen Plan der Stadt und der Umgebung zum Vorschein, den er glattstrich und zwischen den Tellern und Be­chern ausbreitete.

»Gehen wir diesen Plan durch. Ich weiß allerdings nicht, an welcher Stelle man Sie aus dem Labyrinth bringen wird.«

Wir sahen den Plan der Stadt und der nä­heren Umgebung. Der Punkt, an dem das Beiboot versteckt war – in Wirklichkeit hat­te es noch vor Ausbruch der Aktionen einen kurzen Flug unternommen und war dann durch die Sperrung des Raumhafens und das Startverbot festgehalten worden – lag abseits des Raumhafens.

Fartuloon und ich prägten uns die Einzel­heiten des Planes ein und wußten, daß für uns das Entkommen schwierig sein würde.

Aber wir mußten es versuchen; eine bes­sere Chance würde es hier auf Celkar nicht wieder geben. Ich fragte Kaarfux, wie er dieses Arrangement geschafft habe, aber er winkte ab und erklärte:

»Je weniger Sie wissen, desto besser ist es für uns alle. Ich werde versuchen, jetzt mit Yacori und den Leibwächtern zu sprechen. Vielleicht bringt man Sie morgen früh zu ei­nem der versteckten Ausgänge.«

»Danke, Kaarfux!« schloß ich. »Ich glau­be, wir ruhen uns besser aus.«

Wir tranken einen letzten Schluck und zo­gen uns in die kleinen Räume zurück. Ich konnte lange nicht einschlafen, denn alle möglichen Ereignisse und Gedanken darüber plagten mich.

*

Page 44: Im Reich der Ausgestoßenen

44

Wütendes Hämmern an meine Tür riß mich aus dem Schlaf. Ich fuhr hoch, rieb meine Augen und rief:

»Was ist los? Warum werde ich ge­weckt?«

Yacoris Stimme war unverkennbar voller Panik und Sorge.

»Stehen Sie auf. Die Soldaten und Polizi­sten haben einen Eingang gefunden. Wir müssen das System blockieren und die Leute hinaustreiben. Sie müssen uns helfen.«

»Ich komme!« rief ich und sprang auf die Beine. Ich erfrischte mich kurz, indem ich Wasser in mein Gesicht spritzte. Dann zog ich mich schnell an und schnallte den Waf­fengurt um. Das klang gefährlich, aber schließlich kannten wir die vielen vorberei­teten Fallen und Sicherheitseinrichtungen.

Ich riß die Tür auf und stieß mit Fartuloon und Yacori zusammen. Männer mit Waffen und Werkzeugen, meist mit Schutzhelmen auf den Schädeln, mit Scheinwerfern und Sauerstoffmasken ausgestattet, rannten vor­bei.

»Berichten Sie!« forderte ich Yacori auf. Sie trug ebenfalls eine Art Grubenausrü­stung und wirkte hilflos und überfordert. Tröstend legte ihr der Bauchaufschneider seine Pranke auf die Schulter.

»Wir haben einen Ausgang in einem der Betriebe, die ihren Säureabfall hierher lei­ten. Wir haben seinerzeit entlang des Kanal­rohrs gegraben. Dieser Eingang ist soeben entdeckt worden. Sie dringen ein.«

Augenblicklich knurrte Fartuloon: »In der Nähe? Oder ist der Einstieg weit

entfernt?« »Ziemlich weit entfernt. In der Nähe des

Säuresees natürlich. Wir haben einige Mit­tel, um sie in die Irre zu führen.«

»Worauf warten wir noch? Gibt es einen Bildschirm oder eine Zeichnung, aus der wir etwas erkennen können?«

»Ja. Drüben im Büro.« Wir rannten hinüber. Auf einem Bild­

schirm, der von den versteckten Linsen des entdeckten Einstiegs gespeist wurde, sahen wir einen Teil der Eindringlinge. Sie waren

Hans Kneifel

sehr gut ausgerüstet. Mindestens zwanzig Soldaten in Kampfanzügen, die schwere Scheinwerfer mit sich schleppten und lang­sam vordrangen. Der Eingang war als Rohr getarnt gewesen, und offensichtlich war von Arbeitern des Industriebetriebs dieses be­wegliche Rohrstück entdeckt worden. Nur hintereinander konnten die Soldaten voran­kommen.

Yacori deutete auf eine schematische Zeichnung.

»Sie sind bis hier vorgedrungen. Natürlich geht es langsam. Unsere Männer werden jetzt etwa an diesem Punkt sein.«

Ich erkannte auf der ungeschickt ausge­führten Funktionszeichnung, daß nach einer gewissen Entfernung zwei Gänge zur Ober­fläche an einem gemeinsamen Kreuzungs­punkt zusammentrafen.

»Wir müssen diesen Gang hier erreichen und die Kreuzung verschließen. Dann wer­den sie sich wieder weiterkämpfen und schließlich an der Oberfläche landen.«

»Gute Idee!« lobte Fartuloon. »Aber auf dem Vordringen schon müssen sie aufgehal­ten werden. Sonst verlieren wir den Zeitvor­teil.«

»Wir werden sie aufhalten. Gehen wir!« rief Yacori entschlossen. Wir rannten los. Zum Teil ging es durch bereits bekannte Teile des Gangsystems. Überall herrschte Aufregung, immer mehr Männer mit Ausrü­stungen schlossen sich uns an. Vor dem letz­ten Tunnelstück, das zum Säuresee führte, verschwanden wir in einem Querschacht, der abermals in ein Wohngebiet führte. Wir überholten einige Gruppen keuchender Män­ner, die schwer an ihrer Ausrüstung schlepp­ten. Nach weiteren zehn Minuten eines er­barmungslosen Rennens taumelte ein er­schöpfter junger Mann auf uns zu.

»Yacori! Endlich seid ihr da. Sie sind ver­dammt schnell. Eben haben sie Punkt eins erreicht und passiert. Noch niemand ist dort drüben. Ihr könnt sie schon fast hören.«

Punkt eins war die erste Möglichkeit, durch einen ausgelösten Erdrutsch und eine große Menge von Komponentenkleber und

Page 45: Im Reich der Ausgestoßenen

45 Im Reich der Ausgestoßenen

Bruchstein den Gang zu verschließen. Ich hatte mir die Zeichnung gut gemerkt und wußte genau, daß zwischen Punkt eins und zwei ein gerades Stück Stollen lag.

»Ich werde die Blockierung an Punkt zwei auslösen«, sagte ich entschlossen. »Kommt jetzt.«

Wir rannten weiter. Schwach brennende Lampen warfen trübes Licht auf die Wände aus Fels und verdichtetem Erdreich. Der Schacht machte eine leichte Krümmung und stieg dann ziemlich steil an. Jetzt fingen auch Fartuloon und ich zu schwitzen und zu keuchen an. Die Luft war schlecht, und der Schweiß strömte über unsere Gesichter.

»Es ist nicht mehr weit«, stieß Yacori her­vor und hielt sich an Fartuloon fest, der hin­ter mir rannte. Jetzt tauchte eine Gruppe von Männern auf; sie winkten uns zurück, und einer rief unterdrückt:

»Sie sind dicht vor Punkt zwei. Wir haben deine Anordnungen abgewartet.«

Ich bremste meinen Lauf ab und sagte: »Ich renne los, und zünde die Ladung.

Wenn ich losgespurtet bin, schaltet ihr die Lampen ab. Dann gebt ihr mir, wenn unbe­dingt nötig, Feuerschutz. Aber je mehr die Soldaten merken, daß dieses System be­wohnt ist, desto hartnäckiger werden sie sein. Und sollte ich getroffen werden, ver­lange ich von euch, daß ihr mich zurück­holt.«

Die Männer gingen zur Seite und gaben den Blick auf einen tragbaren Empfänger frei. Das undeutliche Bild zeigte, daß der Trupp der Polizisten und Raumsoldaten an­gehalten hatte. Die schweren Waffen behin­derten sie.

Punkt zwei lag laut Auskunft direkt hinter einer Biegung. Ich war voll sichtbar, wenn ich den Zündungsschalter betätigte. Mit et­was Glück war es zu schaffen.

Du solltest es riskieren, sagte der Logik­sektor.

Fartuloon hob den Arm, dann schob er die Männer auseinander und lief neben mir auf die Stelle des schmaler und niedriger wer­denden Ganges zu, an der wir die Wand sa­

hen. Wir wurden langsamer und gingen ein­mal rechts, dann wieder links und abermals rechts um Ecken. Dann, nach der nächsten Ecke, lag das annähernd gerade und gut ein­sehbare Stück des Fluchtgangs vor uns. Ich warf mich zu Boden und schob vorsichtig den Kopf um die Ecke.

»Verdammt!« flüsterte ich. Fartuloon schaute ebenfalls in den kaum

mannsbreiten Schacht hinein. Er führte schräg aufwärts und bestand aus weit aus­einanderliegenden, flachen Treppenstufen. Deutlich sah ich die herunterhängende Si­cherheitsschaltung. Im selben Moment erlo­schen die wenigen Beleuchtungskörper.

Ganz oben, keine fünfzig Meter weit ent­fernt, erkannte ich deutlich einige Soldaten in Kampfanzügen. Die Zone war gleißend hell ausgeleuchtet. Aber die Männer konnten sich nur schlecht bewegen, aus diesem Grund hatten sie jetzt wohl angehalten und beratschlagten, was zu tun war. Hin und wieder blendete mich der Strahl eines Scheinwerfers, der wohl zufällig nach unten gerichtet wurde … Fartuloon packte mich an der Schulter und sagte:

»Wenn es gefährlich wird, schieße ich den Scheinwerfer aus. Spurte jetzt los. Hof­fentlich wirkt die Sprengung.«

Ich spannte meine Muskeln, wischte mir den Schweiß aus den Augen und konzen­trierte mich auf das Ziel. Zwanzig Stufen aufwärts, und dann drei schnelle Bewegun­gen. Der Rest war schnelle Flucht. Noch­mals atmete ich ein, warf mich dann in den Stollen hinein und sprang die Stufen auf­wärts. Vier … sieben … elf … gegen die Helligkeit dort oben zeichnete sich das Ka­bel deutlich ab … fünfzehn … meine Finger schlossen sich um den einfachen Schalter. Ich drehte ihn einmal, zweimal herum und lauschte auf das Knistern der herunterstür­zenden Gesteinsmassen.

Eine gedämpfte Detonation über meinem Kopf.

Gleichzeitig ein Schrei von oben: »Halt! Dort ist einer von denen …!«

Eine breite Bahn Sand und Dreck rauschte

Page 46: Im Reich der Ausgestoßenen

46

herunter wie ein Vorhang. Ich warf mich herum und sprang die Stu­

fen abwärts. Nach zwei Sekunden drehte ich mich halb um und stützte mich an der Wand ab.

Polternd, knirschend und krachend pras­selten Gesteinsbrocken und Erdreich, Sand und die augenblicklich reagierenden und schnell abbindenden Klebematerialien aus dem Loch herunter. Jemand schoß von oben, aber er traf nur einen Gesteinsklotz, der knallend zerbarst. Das Poltern und Krachen der Lawine schwoll an. Der Luftdruck schleuderte mich halbwegs die letzten Stu­fen hinunter und in Fartuloons ausgebreitete Arme.

Er brüllte mir zu: »Dieser Lärm! Da kommt mehr herunter

als nur der Inhalt des Loches. Nichts wie weg hier.«

Wir flüchteten um die rechtwinkligen Ecken des Korridors. Die Staubwolke holte uns ein und überholte uns. Yacori und einige ihrer Männer kamen uns entgegen und schwenkten erleichtert die Arme. Der Korri­dor begann zu beben und zu vibrieren: Hin­ter uns war ein gewaltiges Lärmen und Don­nern zu hören. Fartuloon hob die Hände trichterförmig an den Mund und brüllte:

»Reißt die Lampen und die Leitungen ab. Wir müssen diesen Korridor so nachhaltig räumen, daß sie gar nicht erst nach Abzwei­gungen suchen. Habt ihr verstanden?«

Eine Handbewegung der neuen Anführe­rin scheuchte die Männer auseinander. Langsam liefen wir zum nächsten Punkt, an dem die Sperre ausgelöst werden konnte.

»Bis Punkt drei gibt es nur massiven Fels und keinerlei Leitungssysteme oder Neben­stollen. Aber an der großen Abzweigung wird es schwierig werden.«

»Auch dieses Problem ist zu lösen!« ver­sprach der Bauchaufschneider.

Zwanzig Minuten lang, während sich hin­ter uns der Korken aus Steinen und Sand fe­stigte und ein weiteres Eindringen der Such­trupps für lange Zeit verhinderte, erlebten wir einen planmäßigen Rückzug. Die Aus-

Hans Kneifel

gestoßenen schraubten die Lampen ab, nah­men die Kabel und rollten sie zusammen, entfernten Schalter und die Breitbandkabel der Fernsehleitung. Meter um Meter arbeite­ten wir uns rückwärts bis zum Punkt drei dieses Gangabschnitts.

Yacori wandte sich an einen der ehemali­gen Leibwächter und sagte halblaut, aber im Ton der neuen Autorität:

»Bringt das Material an einen sicheren Platz. Wir sprengen auch diesen Sicherheits­punkt. Es dürfte das Beste sein, diese beiden Schlupfwege nach oben für alle Zeiten zu vergessen.«

»Aber«, der Leibwächter nahm seinen Schutzhelm ab und kratzte sich ausdauernd am Scheitel, »das bedeutet, daß wir den Zu­gang dieser Abzweigung verschließen müs­sen!«

»Richtig. Und zwar so perfekt, daß nie­mand auf den Einfall kommt, in dieser Rich­tung zu suchen oder zu bohren. Erinnert euch an die Quelle. Wir leiten sie um.«

»Meinetwegen. Aber das ist eine höllische Arbeit.«

»Was zählt mehr? Die Arbeit oder die Wahrscheinlichkeit, daß sie uns alle ent­decken und vor die Arena der Gerechtigkeit schleifen? Zweitausend Ausgestoßene auf einen Schlag? Ich weiß, was wir tun wer­den.«

»Gut. Ich benachrichtige die Baumeister.« Yacori selbst zündete die zweite Spreng­

ladung. Etwa hundertneunzig Meter nach Punkt zwei brach auch hier die Decke ein und ließ eine große Menge Gestein nachrut­schen. Wir wichen den heranrollenden Stei­nen aus und zogen uns noch einmal zurück. Dunkelheit, Staub und Gestank erfüllten jetzt wieder die Reste des gespenstischen Ganges. Schließlich standen wir kurz vor der Kreuzung. Eine Gruppe von Männern eilte davon, um die Einrichtungen des ande­ren Tunnels zur Oberfläche von Celkar zu demontieren. Plötzlich dröhnte Fartuloons Stimme auf. Der Bauchaufschneider schrie:

»Halt!« Während die Männer zögernd stehenblie­

Page 47: Im Reich der Ausgestoßenen

47 Im Reich der Ausgestoßenen

ben, wandte sich Fartuloon an die Anführe­rin der Ausgestoßenen.

»Die Männer sollen die technischen Ein­richtungen ruhig demontieren. Aber sie dür­fen die Zündungen nicht betätigen. Ich habe da einen besseren Plan. Hören Sie zu, Yaco­ri.«

Er winkte mir und erklärte in ein paar Sät­zen sein Vorhaben. Es leuchtete uns allen ein. Es war in diesem Zusammenhang und unter den herrschenden Umständen die beste Lösung für uns und die Ausgestoßenen. Ya­cori gab ihre Anordnungen und ging mit uns zurück in den nächstgelegenen Wohnbezirk.

*

Sieben Stunden später schüttelte ich Kaar­fux die Hand und sagte in einem Tonfall, den er nicht mißdeuten konnte:

»Wir wissen, daß Sie uns gerettet haben. Es wäre verantwortungslos, Sie und die Ausgestoßenen noch länger zu belästigen. Wir werden uns irgendwie zum Beiboot durchkämpfen. Danke für alles. Wir werden an Sie denken, wenn wir im Kristallpalast zu Arkon sind und die Schreckensherrschaft vorbei ist.«

Er nickte und lächelte, etwas verlegen, wie mir schien. Auch Fartuloon verabschie­dete sich in aller Form vom Strafverteidiger.

»Sie bleiben hier bei Yacori?« »Vorläufig. Ich berate sie, wo es nötig ist.

Irgendwann wird sich dort oben alles abge­kühlt haben. Da ich ein Verfolgter Orbana­schols bin, steht und fällt diese Chance mit Ihrem Erfolg, Kristallprinz.«

»Das weiß ich.« Yacori begleitete uns bis zur Kreuzung.

Inzwischen war fieberhafte Tätigkeit ausge­brochen. Die Männer stellten einen riesigen Felsblock her, der haargenau in die Öffnung des geraden Gangabschnitts passen mußte. Sie bearbeiteten ihn mit Desintegratoren, und wir sahen, daß seine Oberfläche künst­lich gealtert wurde. Der tiefste Punkt dieser Abzweigung würde von der kleinen Quelle, einer Wasserader zwischen den Felsen der

Planetenkruste, geflutet werden, nachdem der Block eingepaßt war und wir die Anlage verlassen hatten.

Wir trugen einige Rationen Nahrungsmit­tel mit uns, waren ausgeruht und satt, hatten uns den Plan eingeprägt und wußten, an wel­cher Stelle wir die Oberfläche betreten wür­den. Mein photographisches Gedächtnis würde mich nicht wieder im Stich lassen. Yacori hob den Arm und sagte:

»Ich hoffe, Sie haben mit allem Erfolg. Wenn Sie der neue Imperator sein sollten, Kristallprinz, dann denken Sie bitte an die Ausgestoßenen im Untergrund von Celkar. Versprechen Sie das?«

Ich nickte und ergriff ihre Hand. »Ich verspreche es. Aber bis Arkon ist es

weit, und ich ahne, daß noch zahllose Ge­fahren auf diesem Weg warten.«

»Wir werden sie ebenso besiegen«, lachte Fartuloon und zog das Mädchen an seine mächtige Brust. Mit einiger Verblüffung sah ich, daß sie diese halbe Umarmung offen­sichtlich genoß; ein Umstand, der Fartuloon ebenso überraschte.

»Sie sollten versuchen, alle diejenigen an die Oberfläche zu bringen, die keine Verbre­chen begangen haben und nicht gesucht wer­den«, meinte ich. »Aber das ist ein schwieri­ger Weg. Ich meine, Kaarfux sollte dabei helfen, wenn die innenpolitische Lage sich geändert hat.«

»Wir haben schon darüber gesprochen. Viel Glück, Kristallprinz. Und auch Ihnen, Fartuloon.«

»Danke, Schwester!« sagte er und drehte sich um.

Der Stollen war absolut leer. Sämtliche Einbauten waren demontiert worden. Die Strahlen unserer Scheinwerfer durchbohrten die Finsternis. Wir rannten nicht, aber wir gingen schnell und zielstrebig durch den Stollen.

Schon nach etwa fünfzig Schritten kam der erste Punkt, an dem der Schacht ver­schlossen werden konnte. Wieder ging Far­tuloon voraus, leuchtete meinen Weg aus, und ich betätigte die Zündung und rannte

Page 48: Im Reich der Ausgestoßenen

48

auf den Scheinwerfer zu. Hinter uns brach die Decke des Ganges auf einer Länge von fünfzehn Metern zusammen, und wir flüch­teten vor dem Staub und den Felstrümmern, die krachend durch den Tunnel polterten.

»Hoffentlich geht die Rechnung Yacoris auf«, rief Fartuloon, als der Lärm und die Vibrationen aufgehört haben.

»Du meinst, daß sich die Soldaten nicht aufhalten lassen werden?«

»Früher oder später wird ein Schlupfloch nach dem anderen entdeckt.«

Wir kletterten schier endlose Treppen hin­auf. Dann kam ein Stück, das sich korkzie­herartig hinaufschraubte und in halber Höhe von uns gesprengt wurde. Dieses Mal brach mit gewaltigem Druck eine unterplanetari­sche Wasserader zugleich mit dem Gestein und dem Zement aus der Wand und ergoß sich nach unten. Der Effekt würde die Sol­daten, falls sie bis hier vorstießen, mit Si­cherheit am weiteren Eindringen hindern.

Wir kletterten weiter und kamen wieder in einen schmalen, niedrigen Gang, der mit ziemlicher Steigung uns immer näher dem Planetenboden brachte.

Nach weiteren fünfzehn Metern zündete ich die dritte Ladung.

Wieder wurde ein Teil dieses Ganges mit einer gewaltigen Menge herunterbrechenden Gesteins verstopft. Eine riesige Masse Sand und Geröll sickerte nach und bildete, mit dem Schnellzement durchmischt, einen fels­harten Verschluß. Schließlich, nach zwei weiteren Sprengungen, standen wir zwi­schen den Hauptwurzeln eines uralten Bau­mes. Fartuloon bewegte die dick eingefettete Kurbel eines Geräts, das in dem hohlen Baum eine unregelmäßig geformte Plattform hob. Ich klappte einen Sehschlitz auf und starrte nach draußen.

Nacht. Ruhe. Wir hörten nur Insekten und die Rufe von Nachtvögeln. Herrlich frische Luft strömte herein.

»Schnell hinaus. Es ist wie eine Wieder­geburt!« flüsterte der Bauchaufschneider und kletterte innerhalb des Stammes hinauf. Ich reichte ihm die Ausrüstung nach und

Hans Kneifel

verschloß mit größter Sorgfalt die verschie­denen Einrichtungen wieder hinter mir. Dann packten meine Hände die Einkerbun­gen im Holz, und schließlich stand ich neben Fartuloon zehn Meter über dem Boden in der ovalen Öffnung des Baumriesen.

»Herrlich!« flüsterte ich. Wir hatten eine der wenigen Infrarot-

Nachtsichtbrillen geschenkt bekommen. Far­tuloon setzte das Gerät auf, schwang sich vorsichtig auf einen dicken Ast hinaus und durchforschte die Umgebung. Nach etwa fünf Minuten wisperte er:

»Nichts. Niemand erwartet uns. Die Ge­gend scheint völlig leer zu sein.«

Wir machten uns an den Abstieg. Vor­sichtig und nahezu lautlos kletterten wir von Ast zu Ast, scheuchten ein paar Vögel aus den Nestern und mußten grinsen, weil dies das beste Zeichen dafür war, daß wir und auch der Geheimeingang bisher noch nicht entdeckt worden waren.

Schließlich standen wir auf dem weichen Boden des Waldrands.

»Auf zum Beiboot«, meinte Fartuloon. »Es ist noch ein langer Weg bis dorthin. Wir müssen die Dunkelheit ausnutzen.«

»Einverstanden«, erwiderte ich leise. »Hoffentlich werden wir nicht gesehen, hof­fentlich finden wir das Boot, hoffentlich startet es und wird nicht beschossen, und hoffentlich wartet das Schiff auf uns am an­gegebenen Treffpunkt.«

Der Bauchaufschneider lachte leise und flüsterte:

»Dein Optimismus hat, wie mir scheint, stark gelitten. Wir kommen immer wieder durch. Wir werden auch nach Arkon kom­men und dort den letzten der Mörder der ge­rechten Strafe zuführen.«

»Ich bin nichtsicher!« Wir schlichen langsam zwischen den

Stämmen und kugelförmigen, kleinen Bü­schen entlang in die Richtung, die wir der Karte entnommen hatten. Zahllose Hinder­nisse lagen zwischen uns und dem Beiboot. Aber es waren keine unüberwindlichen Schwierigkeiten.

Page 49: Im Reich der Ausgestoßenen

49 Im Reich der Ausgestoßenen

Fartuloon hat statistisch gesehen recht. Ihr werdet durchkommen, behauptete der Logik­sektor. Welch ein Trost!

E N D E

Lesen Sie nächste Woche ATLAN Nr. 294: Die Beutewelt von Clark Darlton Atlan und Fartuloon auf der Flucht – und auf dem Planeten der Sternenräuber