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Im Reich des Folterkönigs

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Im Reich des Folterkönigs Flucht aus dem Sepulkorvat - der Hölle der

tausend Martern

von Clark Darlton

Atlan - Held von Arkon - Nr. 120

erschienen Januar 1974

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Im Großen Imperium der Arkoniden schreibt man das Jahr 10.497 v.A. – eine Zeit, die dem 9. Jahrtausend v.Chr. entspricht, eine Zeit also, da die Erdbewohner in Barbarei und Primitivität verharren und nichts mehr von den Sternen oder dem großen Erbe des untergegangenen Lemuria wissen.

Arkon hingegen – obzwar im Krieg gegen die Maahks befindlich – steht in voller Blüte. Imperator des Reiches ist Orbanaschol III, ein brutaler und listiger Mann, der den Tod seines Bruders Gonozal VII inszeniert hat, um selbst die Herrschaft übernehmen zu können.

Auch wenn Orbanaschol seine Herrschaft gefestigt hat – einen Mann hat der Imperator von Arkon zu fürchten: Atlan, den rechtmäßigen Thronerben, der kurz nach dem Tode Gonozals zusammen mit Fartuloon, dessen Leib­arzt, spurlos verschwand und bei der Allgemeinheit längst als verschollen oder tot gilt.

Doch der junge Kristallprinz ist quicklebendig! Nachdem man ihn über seine wahre Herkunft informiert und sein Extrahirn aktiviert hat, ist sein ganzes Sinnen und Trachten nur darauf gerichtet, den Usurpator zu stür­zen.

Im Zuge seiner Maßnahmen bleibt Atlan – in der Maske des Satago Werbot – dem Blinden Sofgart, dem Henker des Imperators, dicht auf den Fersen. Atlan will Farnathia befreien, das Mädchen, das er liebt. Doch Far­nathia ist nur eine von vielen Gefangenen IM REICH DES FOLTERKÖ­NIGS …

Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Kristallprinz gibt sich zu erkennen. Kelese Ta-Amonte - Atlans Kampfgefährte. Der Blinde Sofgart - Folterkönig von Ganberaan. Argee - Ein Oberwächter fällt in Ungnade. Farnathia - Gefangene des Blinden Sofgart.

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1.

Meine Einsicht kam zu spät. Wenn ich auf Fartuloon gehört hätte, säße ich jetzt nicht in einer tödlichen Falle – in einer Falle, aus der es kein Entkom­men gab. Wenigstens sah es ganz so aus.

Mein neuer Verbündeter, der arkonidische Edelmann Kelese Ta-Amonte, kannte meine wahre Identität natürlich nicht. Wir waren uns zwar in den letzten Stunden nähergekommen, und ich konnte ihm vollkommen vertrauen, aber ich hielt es für besser, wenn er mich weiterhin für den von einem Transporter entflohenen Satago Werbot hielt. Er wußte auch nicht, daß meine Haare schwarz gefärbt waren und mein Gesicht durch einen ge­schickten Maskenbildner um Jahre älter gemacht worden war.

Seit zwei Stunden hockten wir in einem dunklen Seitengang der Folter­festung des Blinden Sofgart auf dem Planeten Ganberaan und warteten auf eine Gelegenheit, unseren Weg in das Innere des gigantischen Bauwerks fortzusetzen.

Zwei Stunden können lang wie eine Ewigkeit sein. Jedenfalls hatte ich Zeit genug, mir noch einmal die Ereignisse der vergangenen Tage ins Ge­dächtnis zurückzurufen.

Mein Ziel war es, den Imperator des Großen Arkoniden-Imperiums auf eindrucksvolle Art und Weise davon zu unterrichten, daß ich, der rechtmä­ßige Herrscher des Reiches, den feigen Mord an meinem Vater rächen würde. Denn Orbanaschol hatte seinen Bruder, meinen Vater, umbringen lassen, um selbst auf den Thron zu gelangen.

Fartuloon hatte eine einfache Funkbotschaft für vernünftig gehalten, aber mir genügte das nicht. Wenn schon, dann sollte Orbanaschol, mein verräterischer Onkel, durch eine Schreckensbotschaft von meiner Existenz erfahren. Und so machte ich mich auf den Weg in die Höhle des Löwen – in die Festung Sepulkorvat des Blinden Sofgart, der Bestie in Menschen­gestalt. Ich hatte Kelese Ta-Amonte aus den Klauen der Kralasenen befreit und so einen treuen Freund gewonnen. Gemeinsam waren wir durch den sumpfigen Dschungel des Folterplaneten Ganberaan geflohen, hatten uns die Uniformen von Kralasenen angeeignet und waren so in die Vorhalle der Festung gelangt.

Niemand hatte unser Eindringen bemerkt. Ganberaan war der vierte und äußerste Planet einer mir unbekannten ro­

ten Sonne, eine heiße und feuchte Urwelt mit unendlichen Waldflächen, riesigen Sumpfgebieten und trockenen Hochebenen. Die Rotation dauerte etwas mehr als zwanzig Stunden, was kurze Tage und Nächte bedeutete. Die Schwerkraft betrug 1,26 Gravos und hätte mir zu schaffen gemacht, wenn ich keinen Antigravprojektor von den Kralasenen erbeutet hätte.

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Kelese Ta-Amonte saß neben mir, den Rücken gegen die Wand der Ni­sche gelehnt. Aus der glattgefügten Decke kam gedämpftes Licht. Irgend­wo war das qualvolle Jammern eines Gefolterten, aber ich begann schon, mich daran zu gewöhnen. Ich konnte keinem helfen, ohne mich selbst der Gefahr auszusetzen, in einem der schrecklichen Käfige zu landen.

Aber einen Gefangenen würde ich retten müssen, und wenn es mein Le­ben kosten sollte!

Einer der Gefangenen in der Höllenfestung war meine über alles gelieb­te Farnathia, die Tochter des Tatos Armanck Declanter. Der Blinde Sof­gart hatte sie entführen und hierher bringen lassen. Sie war verloren, wenn ich sie nicht herausholte.

Wo aber war sie jetzt? Ich durfte mir nicht vorstellen, daß Farnathia in eine der Sumpfmulden

getaucht und daß ihr nackter Körper den Bissen unbekannter Insekten aus­gesetzt wurde. Aber wahrscheinlich hielt Sofgart sie hier im Innern der Fe­stung gefangen, wohin er sie ja auch zuerst gebracht hatte.

»Hier können wir nicht ewig bleiben«, murmelte Kelese Ta-Amonte und brach damit das dumpfe Schweigen, das zwischen uns herrschte. »Selbst wenn sie uns nicht durchschauen, haben wir für unser Verhalten keine Erklärung. Faulheit wird bestraft – auch hier.«

Ich nickte. Natürlich hatte er recht. Wir mußten weiter. Aber ich war froh gewesen,

mich nach den Strapazen der letzten Stunden ein wenig ausruhen zu kön­nen. Und der Seitengang war relativ sicher. Wir hatten seit zwei Stunden keinen Kralasenen mehr gesehen.

»Wir waren entkräftet und erschöpft«, erinnerte ich ihn. »Jetzt sind wir wieder frisch und können handeln. Aber wir werden nur dann handeln, wenn es unbedingt notwendig ist. Ich fürchte, wir haben bereits die Auf­merksamkeit der Wachen auf uns gelenkt, und es kann nicht mehr lange dauern, bis der Blinde Sofgart nach uns forschen läßt. Bis dahin müssen wir ein sichereres Versteck gefunden haben. Außerdem muß ich herausfin­den, wo Farnathia steckt.«

»Du liebst sie sehr?« »Wir sind verlobt.« Kelese Ta-Amonte nickte vor sich hin. Ich hatte ihm nicht die volle

Wahrheit erzählen können, aber das wenige, das er erfahren hatte, genügte, ihn meine Gefühle ahnen zu lassen.

Farnathia, meine geliebte Farnathia, in den Klauen eines Ungeheuers! Erst jetzt, da ich die Folterfestung sah und die Klagen der Gefangenen ver­nahm und ihren Schmerz und ihre Verzweiflung förmlich spürte, kam mir zu Bewußtsein, in welcher Lage sie sich befinden mußte.

Ich würde den Blinden Sofgart mit meinen eigenen Händen erwürgen,

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wenn ihr etwas zugestoßen sein sollte. Dieser Teufel hatte den Tod tau­sendfach verdient.

»Es tut mir leid«, sagte Kelese. Ich hatte ihn vor dem sicheren Tod gerettet, und dafür war er mir dank­

bar, wenn wir auch beide noch lange nicht in Sicherheit waren. Noch nie war jemandem die Flucht von Ganberaan geglückt. Nun gut, dann würden wir eben die ersten sein – zusammen mit Farnathia.

»Danke«, murmelte ich und stand mühsam auf. »Gehen wir.« Der Gang war von einer sterilen Sauberkeit, die nicht zu den meist

schmutzig und verkommen aussehenden Kralasenen passen wollte. Ich nahm an, daß er von Wartungsrobotern gereinigt wurde. Allerdings funk­tionierte die Klimaanlage nicht einwandfrei, denn die Luft war warm und fast stickig. Dem Boden sah ich an, daß er regelmäßig begangen wurde. Bis jetzt hatten wir Glück gehabt und waren niemandem begegnet.

Wir passierten einen hell erleuchteten Seitengang und hielten an. Das Stöhnen der Gefangenen, die in vergitterten Nischen saßen und auf die Folter oder den Tod warteten, schnürte mir fast die Kehle zu. Mein Herz krampfte sich zusammen, wenn ich daran dachte, wieviel Freunde meines ermordeten Vaters hier auf ihr Ende warten mochten. Männer, die dem wahren Imperator treu ergeben waren und die Herrschaft seines Mörders nicht anerkennen wollten.

Ich stieß Ta-Amonte an. Wir hasteten weiter, ohne unser Ziel zu ken­nen. Das Sepulkorvat, wie Ta-Amonte die Folterfestung nannte, war ein gewaltiger Komplex. Ein Tafelberg von anderthalbtausend Metern Höhe und sechs Kilometern Durchmesser war ausgehöhlt und bewohnbar ge­macht worden. Dem Gipfelplateau zu verjüngte sich der konisch geformte Berg nur wenig. Ich konnte mir leicht ausrechnen, daß man monatelang durch das Labyrinth irren konnte, ohne einen Raum zweimal betreten zu müssen.

Ta-Amonte blieb plötzlich stehen, so daß ich gegen ihn rannte. Er legte einen Finger auf die Lippen und deutete nach vorn. Ich hörte die Schritte.

Rechts und links gab es weder einen Seitengang noch eine Nische. Es gab kein Versteck. Aber wir trugen ja die Uniformen von Kralasenen, und wenn uns nicht gerade ein Vorgesetzter begegnete, würden wir auf dumme Fragen einfach keine Antwort geben.

»Weitergehen!« ermahnte ich meinen Begleiter. »Wir haben eine Auf­gabe. Keine Antwort, wenn wir gefragt werden – und wenn es sein muß, laß mich reden.«

Wir gingen nebeneinander her, ziemlich schnell, so als hätten wir einen wichtigen Befehl erhalten, der möglichst schnell ausgeführt werden müß­te. Meiner Schätzung nach gab es in der Folterfestung des Blinden Sofgart Tausende von Kralasenen, und sicherlich kannten sie einander nicht alle.

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Drei Kerle waren es, denen die Uniform zerlumpt am Körper hing. Sel­ten hatte ich so verkommen aussehende Subjekte gesehen. Sie waren viel­leicht auf der Oberfläche bei den Sumpfmulden beschäftigt gewesen und kehrten vom »Einsatz« zurück. Wie dem auch sei, jedenfalls waren sie be­waffnet und sahen alles andere als vertrauenerweckend aus.

Ta-Amonte und ich warfen ihnen einen nichtssagenden Blick zu, nick­ten kurz und gingen weiter.

Einer der Kralasenen hielt an und drehte sich um. »He, wohin geht ihr?« Zuerst dachte ich, es sei vielleicht klüger, die Frage zu ignorieren, aber

dann überlegte ich es mir doch anders. Ich blieb ebenfalls stehen und dreh­te mich um.

»Geheimbefehl!« erwiderte ich kurz. Der Kralasenen grinste wissend und sah nun noch häßlicher aus als vor­

her. Am liebsten hätte ich ihm meine Faust mitten hinein ins grinsende Gesicht gesetzt. Wieviel Gefangene mochte er schon zu Tode gefoltert ha­ben?

»Spezialfolterung, eh?« machte er. »Hat ja ein Mädchen angeschleppt, unser Chef. Wird ihm sicher viel Vergnügen bereiten, aber später haben wir dann auch etwas davon, wenn sie dann noch lebt …«

Jetzt zuckte es mir wirklich in der rechten Hand, aber ich beherrschte mich mühsam. Ta-Amonte war ebenfalls stehengeblieben. Ich fing seinen warnenden Blick auf.

»Leider ist es nicht das Mädchen«, preßte ich zwischen den Zähnen her­vor. »Ein abtrünniger Arkonide, wenn ich nicht irre.«

»So? Die überläßt der Blinde doch meist den Robotern. Das wundert mich aber …«

Verdammt, da hätte ich fast einen Fehler gemacht, aber woher sollte ich auch die Gepflogenheiten des Blinden Sofgart so genau kennen?

»Vielleicht ein Spezialfall?« sagte ich leichthin und wandte mich zum Gehen.

Er hielt mich nicht auf, aber ich spürte sein Mißtrauen und seine Blicke. Dann aber hörte ich, daß er seinen Kameraden folgte.

Erleichtert atmete ich auf. »Ist gutgegangen«, flüsterte Ta-Amonte. »Hoffentlich«, gab ich skeptisch zurück. Wieder Schritte, die uns entgegenkamen! Genau wie beim erstenmal gingen wir einfach weiter, wenn ich auch

bald in dem hellen Licht feststellen konnte, daß wir es nun mit Robotern zu tun hatten. Ihre Form ließ darauf schließen, daß es sich um Wartungsro­boter handelte. Sie waren unbewaffnet.

Stur marschierten sie an uns vorbei, als hätten sie uns nicht gesehen.

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Aber es gab ja auch Wach- und Kampfroboter in der Folterfestung. Die waren auf Mißtrauen programmiert und mit Sicherheit in der Lage, Psy­chogramme gewissermaßen im Vorübergehen aufzunehmen. Unsere Mu­ster waren nicht in der Kartei. Da die Roboter wahrscheinlich auch noch mit automatischen Sendeanlagen ausgerüstet waren, konnte es nur Minu­ten dauern, bis in der Überwachungszentrale festgestellt wurde, daß sich zwei nicht registrierte Kralasenen in der Festung aufhielten.

Vielleicht sah ich aber zu schwarz. Schließlich war Ganberaan der Planet einer unbekannten und namenlo­

sen Sonne. Niemand wußte, wo der Blinde Sofgart seine Machtzentrale aufgebaut hatte, und wer hierherkam, der gehörte entweder zu seiner ge­fürchteten Truppe, oder er war ein Gefangener. Und Gefangene hatten Ganberaan bisher noch niemals lebend verlassen.

»Eine Folterhalle!« sagte Ta-Amonte, als der Gang plötzlich endete und wir in einem großen Raum standen, dessen Seitenwände aus vergitterten Nischen bestanden, hinter denen Gefangene auf ihre Stunde warteten. »Wir müssen hier weg …«

Natürlich hatte er recht, und ich hatte nicht zu sagen vermocht, warum ich zögerte. Ich sah nur die angstvollen und verzweifelten Gesichter der Gefangenen, von denen jeder wohl annahm, daß wir gekommen waren, um sie zu quälen.

In der Mitte der Halle bemerkte ich Schienen, auf denen ein mit kompli­zierten Kontrollen ausgestattetes fahrbares Schaltpult stand. Der Zweck wurde mir nicht sofort klar, aber ich konnte mir vorstellen, daß hier gewis­se Foltermethoden vorprogrammiert werden konnten. Kein Kralasene mußte sich hier die Finger schmutzig machen. Alles erfolgte vollautoma­tisch, und wenn der Gefolterte ein Geständnis machte, so wurde es von verborgenen Mikrophonen in der jeweiligen Zelle aufgenommen und wei­tergeleitet.

Noch während wir überlegten, begann sich das fahrbare Schaltpult plötzlich zu bewegen. Es rollte ein Stück über die Schienen auf uns zu und hielt abrupt an.

Ein Scheinwerfer drehte sich langsam zur anderen Seite und konzen­trierte sein grelles Licht auf das Quadrat einer Zelle, in der ein Arkonide in vornehmer Kleidung mehr lag als saß. Der Gefangene schloß geblendet die Augen und legte die Hände davor. Aber es war vielleicht weniger das Licht, das ihm Unbehagen bereitete, als die enorme Hitze, die in der trockenen Luft des Gefängnisses noch unerträglicher werden mußte.

Meine Hand zuckte zum Griff des Strahlers. Ta-Amonte hielt mich zu­rück.

»Laß das, Satago! Es ist sinnlos! Unsere Anwesenheit würde sofort be­merkt, und wir könnten den Gefangenen nicht einmal retten. Er hat bald

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ausgelitten.« »Ich habe auch dich befreit, obwohl es sinnlos schien!« erinnerte ich

ihn. Er schüttelte den Kopf. »In jener Situation hattest du jeden befreien können und doch etwas da­

mit erreicht. Hier ist das anders, oder hast du Farnathia vergessen? Willst du ihren Tod?«

Wieder einmal hatte er recht! Es hatte keinen Sinn, die Foltermaschine mit einem Strahlschuß zu zerstören, denn sie würde sofort durch eine an­dere ersetzt werden. Außerdem würde der Blinde Sofgart sofort wissen, daß Fremde in das Sepulkorvat eingedrungen waren. Die Ausgänge wür­den sich schließen und das Innere der Festung hermetisch von der Außen­welt abriegeln. Dann würde die Jagd beginnen, und es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß man uns früher oder später entdecken würde.

Nein, es war sinnlos, dem bedauernswerten Opfer helfen zu wollen. Das Jammergeschrei lag mir noch in den Ohren, als wir längst die Halle

verlassen hatten und weitergegangen waren. Wer war dieser Blinde Sofgart nur? War es vielleicht seine Blindheit,

die ihn so grausam gemacht hatte? Wollte er sich so für die Benachteili­gung rächen, der er zum Opfer gefallen war? Aber mit Hilfe seiner Spezi­albrille konnte er doch sehen. Warum also?

Wahrscheinlich gab es überhaupt keine Antwort. Der Gang mündete in einen breiteren Korridor, der fast unmerklich ber­

gan führte. Die Richtung konnte ich unmöglich feststellen, aber ich nahm an, daß wir weiter in das Innere der Festung vordrangen, wenn wir ihm folgten. Ich mußte eine Spur von Farnathia finden, und der Weg führte zweifelsohne über den Blinden Sofgart.

Mir lief ein Schauer über den Rücken, wenn ich nur daran dachte, ihm begegnen zu müssen. Sollte ich ihn töten? Sollte ich damit warten? Was überhaupt sollte ich tun, wenn es zu einer Konfrontation kam?

Ein Trupp Kralasenen kam uns entgegen. Sie trugen Gitterkäfige mit Gefangenen. Mir war klar, daß man sie hinaus in den Dschungel zu den Sumpfmulden brachte, wo die ausgehungerten und blutgierigen Insekten Ganberaans bereits auf ihre hilflosen Opfer warteten.

Kelese Ta-Amonte sah mit Entsetzen auf die Käfige, die er nur zu gut in Erinnerung hatte. Sie wurden mit ihren Insassen in den Sumpf versenkt und erst dann wieder emporgezogen, wenn die Opfer halb erstickt waren. Dann kamen die Insekten …

Zum Glück riß er sich zusammen. Ich gab das Nicken des Anführers gelassen zurück, und unbehelligt

konnten wir weitergehen. Ich sah, daß Ta-Amonte befreit aufatmete, als die Schritte hinter uns verklangen.

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»Widerlich!« »Nicht nur das!« erwiderte ich leise. »Es ist erstaunlich.« »Was ist erstaunlich?« »Die Methode der Sumpfmulden, mein Freund. Du hast die automati­

schen Folteranlagen in der Festung gesehen, wenigstens einen Teil davon. Roboter verrichten die Hauptarbeit, und trotzdem schleppen Kralasenen ihre Gefangenen noch in Käfigen hinaus in den Urwald, um sie dort zu foltern. Reine Beschäftigungstherapie, wenn du mich fragst. Der Blinde Sofgart hat zuviel Diener.«

»Es wird noch andere Gründe geben«, widersprach Ta-Amonte. Weitere Kralasenen begegneten uns, aber wir wurden kaum von ihnen

beachtet. Meine Theorie, daß sie sich gegenseitig nicht kannten, wurde da­durch noch mehr bekräftigt. Der Korridor wurde breiter, und dann erreich­ten wir eine Verteilerstation. Hier begann zugleich das Laufband.

Es war nichts anderes als eine endlos rollende Kunststoffschleife, die rechts und links des Hauptkorridors in beiden Richtungen lief und ein je­derzeitiges Auf- oder Absteigen ermöglichte. Ein rollender Bürgersteig, wie ich ihn von den technisch hochentwickelten Planeten des Imperiums her kannte.

»Na also«, murmelte Ta-Amonte voller Sarkasmus. »Jetzt kommen wir weiter in die Hölle hinein, ohne uns anstrengen zu müssen.«

Wenn uns jetzt Kralasenen begegneten, hätten sie gar keine Zeit gehabt, sich näher mit uns zu beschäftigen, denn beide Bänder liefen ziemlich schnell aneinander vorbei. Eine kurze, neugierige Musterung, und schon waren sie wieder verschwunden. Uns konnte das nur recht sein, wenn wir auch noch nicht wußten, wohin uns die Reise führte.

Farnathia! Die Erinnerung an die glücklichen Stunden, die ich mit ihr auf ihrem

Heimatplaneten Gortavor zugebracht hatte, brach wie ein Schock über mich herein. Der Gedanke, sie vielleicht nie mehr lebendig wiederzuse­hen, verursachte mir Übelkeit. Mein Haß gegen den Blinden Sofgart stieg ins Unerträgliche. Wenn ich ihn jetzt in diesem Augenblick vor mir gehabt hätte, wäre er verloren gewesen.

Aber noch konnte ich nicht ahnen, wie schnell dieser Moment eintreten sollte. Und erst recht konnte ich noch nicht ahnen, wie ich mich dann ver­halten würde …

Es ist nicht leicht, einen Menschen zu töten, selbst dann nicht, wenn er ein menschliches Ungeheuer ist.

Farnathia war von den Kreaturen des Blinden Sofgart entführt worden, und bisher hatte ich mich nicht um sie kümmern können. Ich liebte sie mehr denn je zuvor, trotzdem war es mir nicht möglich gewesen, etwas zu ihrer Befreiung zu tun. Doch nun war es soweit. Ich hatte mich selbst in

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diese nahezu hoffnungslose Lage begeben, um sie zu retten und gleichzei­tig meinen Onkel davon zu unterrichten, daß ich den Tod meines Vaters rächen würde.

Ich wollte zwei verschiedene Dinge in einem einzigen Unternehmen er­reichen.

»Träumst du?« fragte Ta-Amonte und riß mich aus meinen Gedanken. Ich hatte nicht bemerkt, daß wir schon eine ganze Weile auf dem Roll­

band fuhren und eine beachtliche Strecke zurückgelegt hatten, ohne daß uns jemand aufgehalten hätte. Die auf der anderen Seite des Korridors vor­beigleitenden Gestalten waren wie schattenhafte Schemen, die überhaupt nicht für uns zu existieren schienen. Das würde sich wahrscheinlich schlagartig ändern, wenn unsere Gegenwart entdeckt und Alarm gegeben würde.

»Nein, mein Freund, ich träume nicht. Ich war nur mit meinen Gedan­ken woanders.«

»Das ist träumen!« wies Ta-Amonte mich zurecht und vertrieb mit sei­ner realistischen Bemerkung meine Erinnerungen. »Meiner Ansicht nach nähern wir uns immer mehr dem eigentlichen Zentrum der Anlage. Sollte mich nicht wundern, wenn wir plötzlich dem Blinden Sofgart selbst be­gegnen.«

»Deshalb sind wir hier«, erinnerte ich ihn. Auch das war eine realistische Feststellung, aber mir war nicht sehr

wohl bei dem Gedanken, dem Bluthund ohne Vorbereitung gegenüberzu­stehen. Dabei hatte ich es mir schon lange gewünscht. Ich hatte mir meine Worte zurechtgelegt, aber nun war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich sie auch sprechen würde. Vielleicht kam alles ganz anders, als ich es mir aus­gemalt hatte.

Drei bewaffnete Wachroboter kamen uns auf der anderen Seite des Kor­ridors entgegen. Sie standen nacheinander auf dem Rollband, als wären sie desaktiviert. Ich erkannte ihre starr nach vorn gerichteten Waffenarme und sah das lebendig wirkende Funkeln ihrer Sehlinsen.

Meine rechte Hand näherte sich unwillkürlich dem Impulsstrahler, der lose im Gürtel steckte. Wenn die drei Roboter uns anhielten, blieb uns kei­ne andere Wahl, als sie sofort zu vernichten und zu versuchen, in einen Seitenkorridor zu entkommen. Wir konnten keiner Kontrolle standhalten.

Aber meine Befürchtungen erwiesen sich als überflüssig. Ohne uns zu beachten, glitten die Roboter vorbei und verschwanden in der Endlosigkeit des Korridors, die hinter uns lag.

Meine Vermutung, daß sich der Blinde Sofgart in seiner Festung absolut sicher fühlte, wurde wieder einmal bestätigt.

»Puh!« machte Ta-Amonte. »Mir bleibt immer das Herz stehen, wenn ich sie sehe. Sie sind schlimmer als die Kralasenen.«

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»Zumindest sind sie aufmerksamer und gefährlicher«, gab ich ihm recht. »Wir werden das sicherlich noch zu spüren bekommen – ich hoffe nur, daß es erst dann geschieht, wenn wir Farnathia befreit haben.«

»Soweit ich informiert bin, wäre das der erste geglückte Befreiungsver­such aus den Gefängnissen des Folterplaneten«, sagte Ta-Amonte pessimi­stisch. »Viel hört man ja draußen nicht über die Tätigkeit des Blinden, aber das Wenige, das durchsickert, genügt.«

»Ich wundere mich, daß man überhaupt etwas darüber weiß.« »Es sind wohl mehr Gerüchte, und niemand weiß, was daran wahr ist.

Ich habe sie nicht glauben wollen, nun wurde ich eines Besseren belehrt, und das nur deshalb, weil ich mich weigerte, ein paar zerlumpte Kralase­nen mitzunehmen. Ich möchte wissen, wo die alten Maßstäbe von Traditi­on und Verdienst geblieben sind. Alles hat sich geändert, seit Orbanaschol auf dem Thron sitzt. Manchmal frage ich mich, warum Gonozal sterben mußte.«

Ich hätte ihm die Wahrheit sagen können, aber noch war es zu früh da­zu. Erst wenn ich den Blinden Sofgart aufgeklärt hatte, durfte auch Ta-Amonte die Wahrheit erfahren. Wenn er jetzt mit seinem Wissen gefangen wurde, bestand die Gefahr, daß ihm die Folter jedes Geheimnis entlockte. Das war ein Risiko, das ich unter keinen Umständen eingehen wollte.

»Vielleicht mußte er sterben, damit Orbanaschol Imperator werden konnte«, deutete ich lediglich an.

Er warf mir einen forschenden Blick zu, gab aber keine Antwort. Lautlos rollte das Band weiter. Weiter vorn sah ich es heller werden. Meiner Schätzung nach mußten

wir etwa dreitausend Meter zurückgelegt haben und befanden uns damit fast in der Mitte des ausgehöhlten Tafelberges. Bei der mäßigen aber gleichbleibenden Steigung hielten wir uns nun vielleicht fünfhundert Me­ter über der eigentlichen Oberfläche des Planeten auf.

Der Korridor verbreiterte sich zu einer Art Halle, die zugleich eine Sta­tion für das Rollband darstellte. Es verschwand im Boden und lief zur Ausgangsstation zurück. Überall mündeten Seitenkorridore, allerdings oh­ne Rollbänder. Geradeaus führte der bisherige Korridor weiter. An seinem Eingang standen zwei Wachroboter.

Wir standen auf der anderen Seite und überlegten. »An denen kommen wir nicht vorbei«, flüsterte Ta-Amonte. »Da kannst du recht haben«, gab ich ebenso leise zurück, »aber ich neh­

me an, genau dort liegt unser Ziel. Wir müssen vorbei, wenn wir nicht für alle Zeiten hier herumirren wollen.«

Die Seitengänge waren unbewacht, das fiel mir auf. Um so wichtiger mußte der eigentliche Korridor selbst sein. Führte er direkt ins Hauptquar­tier des Blinden Sofgart? Die strenge Bewachung, die er beim Herflug

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Farnathia hatte angedeihen lassen, wies deutlich darauf hin, daß er seine Gefangene für wichtig hielt. Daraus schloß ich, daß er sie nicht im ge­wöhnlichen Gefangenentrakt untergebracht haben konnte. Wenn über­haupt, dann war sie in seiner Nähe.

»Vielleicht gelangen wir auf Umwegen hin?« Ich schüttelte den Kopf. »Das kann Tage dauern, und wir haben nicht soviel Zeit. Komm, wir

versuchen es. Halte den Strahler bereit.« Ta-Amonte nickte gefaßt und lockerte seine Waffe. Man konnte damit

in wenigen Sekunden einen Roboter kampfunfähig machen, aber ich ver­mutete, daß jeder von ihnen mit einer Zentrale in ständigem Kontakt stand. Sobald eine Beschädigung eintrat, würde er ein Alarmsignal aussenden. Das wiederum würde die Suche nach uns einleiten. Die ganze Folterfe­stung mußte dann von Suchrobotern wimmeln, und auch die Kralasenen würden uns nicht mehr unbehelligt lassen.

Wir gingen quer durch die Halle auf die beiden Roboter zu. Sie blickten uns mit starren Facettenaugen entgegen und zeigten noch keine Reaktion. Meine Hand hing wie leblos nach unten, ganz in der Nähe des Strahlers.

»Du nimmst den linken«, flüsterte ich Ta-Amonte zu. »Aber erst dann, wenn ich das Kommando gebe. Vielleicht geht es auch so.«

Erst als wir halb an ihnen vorbei waren, wandte sich einer der Roboter uns zu.

»Ihre Aufgabe?« schnarrte er unpersönlich, aber mit einem deutlich pro­grammierten Unterton von Autorität. »Der Zutritt zum Kommandoteil ist verboten, wenn keine Sondergenehmigung vorliegt. Haben Sie eine solche Genehmigung?«

»Dazu blieb keine Zeit«, sagte ich schnell, blieb jedoch stehen. »Wir haben wichtige Nachrichten für den Kommandanten.«

»Welche Nachrichten? Sprechen Sie, die Zentralleitung ist eingeschaltet und zeichnet alles auf.«

Das fehlte mir noch! Nun konnten sie mithören, was wir sprachen. Es konnte nur noch Minuten dauern, bis die Überwachungszentrale wußte, daß hier etwas nicht stimmte.

»Geheim!« stieß ich hervor und versuchte zu bluffen. »Die Meldung ist nur für die Ohren des Blinden Sofgart bestimmt. Das ist ein Befehl des Imperators, unseres Herrschers Orbanaschol.«

Ich spürte förmlich, wie in dem positronischen Gehirn des fragenden Roboters einige Stellen heiß wurden, als er versuchte, mit der scheinbaren Logik meiner Behauptung fertig zu werden. Ganz gelang es ihm nicht, denn er verweigerte uns auch weiterhin die Erlaubais, den Korridor zu be­nützen. Jedenfalls richtete der Roboter seine beiden Waffenarme auf mei­ne Brust und sagte:

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»Sie müssen sich beide einer Kontrolle unterziehen. Wie lautet Ihre Ko­denummer?«

Ich hätte irgendeine Zahl nennen können, aber die Kontrolle hätte in wenigen Sekunden den Schwindel entlarvt. Wir hätten nichts damit ge­wonnen. Im Gegenteil, die andere Seite wäre noch früher gewarnt worden, und wir hätten nichts von den Gegenmaßnahmen bemerkt.

Ich sprang mit einem Satz zur Seite und riß gleichzeitig den Strahler aus dem Gürtel.

»Los!« rief ich Ta-Amonte zu. Mein erster Energiestrahl traf das positronische Zentrum in der Brust

und setzte es sofort außer Gefecht. Der Roboter kippte zwar nicht um, aber er bewegte sich nicht mehr. Ich wollte Ta-Amonte unterstützen, aber auch er hatte schnell und gut gezielt. Sein Roboter lehnte sich schwer zur Seite und krachte dann mitten in den Korridor, wo er liegenblieb.

»Weiter!« sagte ich mit einer Ruhe, die mich selbst in Erstaunen ver­setzte »Gleich wird hier die Hölle los sein.«

Ich konnte nicht ahnen, daß meine Vermutung sich nicht sofort bewahr­heitete und daß diese Tatsache einem reinen Zufall zu verdanken war, der wiederum auf einem technischen Fehler beruhte. Jedenfalls wurde mir erst viel später klar, daß Ta-Amonte und ich bei der Vernichtung der beiden Roboter so gestanden hatten, daß unsere Schußwinkel ein Kreuzen der Energiestrahlen ermöglichte. Dadurch mußte in der Überwachungszentrale der Eindruck entstanden sein, daß sich die Maschinen gegenseitig zerstört hatten. Wahrscheinlich hatte auch die akustische Übertragung nicht funk­tioniert, und so war man nicht über das Gespräch orientiert, das die Robo­ter mit uns geführt hatten.

Ich erfuhr es niemals, aber so ähnlich mußte es gewesen sein. Jedenfalls hörten und spürten wir nichts von einem Alarm. Unbehelligt

konnten wir weitergehen, und ich hatte abermals den Eindruck, daß die Si­cherheitsvorkehrungen in der Folterfestung mangelhaft waren.

Der Korridor führte nun wieder aufwärts, aber er besaß keine Rollbän­der. Helles Licht kam aus Decke und Wänden. Rechts und links waren wieder die gewohnten Seitengänge mit den Gitterkäfigen. Mir blieb nur wenig Zeit, mich um die bedauernswerten Geschöpfe zu kümmern, trotz­dem warf ich ständig hastige Blicke auf die Gefangenen, immer in der ver­zweifelten Hoffnung, Farnathia unter ihnen zu entdecken. Aber meine Vermutung, sie sei eine besondere Gefangene und an einem anderen Ort untergebracht, schien sich zu bestätigen. Ich entdeckte nicht die geringste Spur von ihr.

Roboter kamen uns entgegen. Sie schleppten einige Arkoniden und An­gehörige anderer Völker des Imperiums mit sich, um sie in ihre Wartekäfi­ge zurückzubringen. Ihr Anblick war grauenvoll, und ich sah, daß Ta­

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Amonte sich nur noch mühsam beherrschen konnte. Wir gingen weiter, vorbei an dem Trauerzug, der mich in meinen Absichten nur noch bestärk­te: Orbanaschol mußte abgesetzt und bestraft werden, und mit ihm sein Oberhenker Sofgart.

»Wenn das die Offiziere unserer glorreichen Flotte sähen, würden sie Orbanaschol stürzen«, flüsterte Ta-Amonte heiser. »Aber niemand weiß davon, niemand! Und wer soll schon phantastischen Gerüchten Glauben schenken?«

»Wenn wir hier jemals lebendig wieder herauskommen, Kelese, dann werden wir dafür sorgen, daß aus den Gerüchten belegte Tatsachen wer­den. Wir werden dafür sorgen, daß eine Kommission den Fall untersucht. Bis dahin wird es uns auch gelungen sein, die Koordinaten dieses Sonnen­systems herauszufinden.«

»Ich hoffe es, Satago, ich hoffe es wirklich.« Das alles würde sich ändern, schwor ich mir in diesen Augenblicken,

wenn ich Orbanaschol ablöste und das rechtmäßige Erbe meines Vaters antrat. Die Kralasenen konnten ihren Planeten Ganberaan behalten, aber ohne Gefangene und ohne Verbindung zu den anderen Welten. Wenn sie überleben wollten, mußten sie arbeiten, die Wälder roden und die dadurch entstehenden Flächen urbar machen. Vielleicht würden sie dann zum er­stenmal in ihrem Leben wissen, was Freiheit bedeutete: nicht faulenzen und in den Tag hineinleben, sondern eine Aufgabe erhalten und erfüllen.

Ta-Amonte unterbrach meine Gedanken: »Es gibt keine Seitengänge mit Käfigen mehr – schon eine ganze Weile

nicht.« Mir war das kaum aufgefallen, aber jetzt kam es mir wieder zu Bewußt­

sein. Überhaupt hatte die Intensität der auf mich einströmenden Quale­motionen nachgelassen. Es war ruhiger und stiller geworden, auch schien mir die Luft hier kühler und frischer zu sein.

»Wir müssen vorsichtiger sein«, riet ich leise, denn ich vermutete nun überall verborgene Abhöranlagen. »Dies scheint ein besonderer Teil der Festung zu sein.«

»Hier finden wir kein Versteck, Satago.« »Vielleicht brauchen wir keins.« Schweigend gingen wir weiter, immer tiefer hinein in den ausgehöhlten

Tafelberg – und immer höher. Schon seit längerer Zeit hatte ich bemerkt, daß der breite Korridor eine leichte Rechtsbiegung machte. Das änderte sich nicht, und ich konnte abschätzen, daß wir uns zwar ständig im Kreis bewegten, dabei jedoch in der Art einer Wendeltreppe immer höher stie­gen.

Mit Sicherheit gab es Lifts, aber wir hatten keinen gesehen. Plötzlich hörten wir Stimmen.

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Mit einem Ruck blieb ich stehen und hielt Ta-Amonte am Ärmel fest. Wir rührten uns nicht und wagten kaum zu atmen.

Die Stimmen kamen von vorn, und keiner von uns konnte wissen, wie weit der Korridor den Schall trug. Angestrengt lauschte ich, denn eine der beiden Stimmen kam mir vage bekannt vor, die andere war mir absolut fremd. Es waren die Stimmen von Männern.

Die bekannte Stimme weckte in mir eine Erinnerung an ein Ereignis, das ich niemals in meinem Leben vergessen würde und das mit der Flucht aus dem Tarkihl auf Gortavor endete. Damals wurde Fartuloon verhaftet – von dem Blinden Sofgart.

Wir hatten den Satan mitten in der Hölle gefunden! Alles in mir krampfte sich zusammen, als ich daran dachte, nur noch

wenige Meter von dem Verhaßten entfernt zu sein. Ta-Amonte sah meine Erregung. Er flüsterte:

»Was ist, Satago? Fühlst du dich nicht wohl?« Leise gab ich zurück: »Wie soll man sich in der Nähe des Teufels wohl fühlen? Die Stimme

da vorn … es ist die Stimme des Blinden Sofgart. Er spricht mit jeman­dem.«

»Und warum gibt es keine Wachen? Ich verstehe das nicht.« »Er fühlt sich zu sicher«, war meine einzige Erklärung. Es kostete uns beide einige Überwindung, weiterzugehen. Unsere Hän­

de lagen auf den Kolben der Strahlwaffen, das gab uns ein wenig mehr Selbstvertrauen. Auch der Blinde Sofgart war kein Selbstmörder. Von Vorteil war, daß er mich dank der Kunst der Maskenbildner nicht mehr er­kennen würde. Wenn er erfuhr, wer ich wirklich war, konnte er sich bei Orbanaschol ungemein beliebt machen. Ich war der Sohn des ermordeten Herrschers, sein rechtmäßiger Erbe und damit der größte Feind, den Orba­naschol besaß.

Mein Kopf war ein Sternenreich wert. Die Stimmen wurden lauter. Und deutlicher. Es waren bekannte Worte darunter, deren Sinn mir zuerst nicht klar

wurde. Es schien um eine ganz bestimmte Sache zu gehen, aber vergeblich kramte ich in meiner Erinnerung herum, woher ich die einzelnen immer wiederkehrenden Begriffe kannte.

Fartuloon! Ja, Fartuloon hatte damit zu tun, aber ich fand keinen Zusammenhang.

Vielleicht mußten wir noch näher heran, damit ich jedes einzelne Wort mitbekam. Ich stieß Ta-Amonte an.

»Weiter!« hauchte ich. Außer den beiden gedämpften Stimmen war nichts zu hören. Hier fehlte

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das Stöhnen der Gefangenen und das Schreien der Gefolterten. Hier herrschte Stille, aber es war die Stille des Todes. Ich wußte, daß eine Ent­scheidung kurz bevorstand, und ich war mir noch lange nicht sicher, wie sie ausfallen würde.

Nun wurden die Stimmen lauter. Ich konnte jedes Wort verstehen. Es war kein richtiges Gespräch, dem wir lauschten, sondern mehr ein

gelegentlicher Wechsel bestimmter Begriffe, wie bei einem Spiel … Spiel …? Die Erkenntnis durchzuckte mich wie ein Blitz. Garrabo! Natürlich, das war es! Die beiden Männer spielten Garrabo! Fartuloon war es gewesen, der mir das Spiel einst beigebracht hatte. Fi­

guren wurden derart auf einem quadratischen Brett mit ebensolchen Fel­dern hin und her geschoben, bis einer der Spieler seine beiden wertvollsten verlor. Wir nannten das Spiel Garrabo, es war auf Arkon entstanden und errang eine derartige Beliebtheit, daß es zu allen Welten des Großen Impe­riums getragen wurde.

Das Spiel erforderte Intelligenz, logisches Denken und vor allen Dingen eine gute Kombinationsgabe. Der Spieler mußte die Fähigkeit besitzen, die Absichten seines Gegners rechtzeitig zu erkennen und seine Züge voraus­zuberechnen. Das war einer der Gründe, warum es auf den Raumakademi­en zum Pflichtfach wurde.

Das alles schoß mir durch den Kopf, während wir uns weiterhin vor­sichtig den beiden Stimmen näherten. Die des Blinden Sofgart war lauter als jene seines Spielgegners. Was ich nicht ganz begriff, war das gelegent­liche Stöhnen, das an meine Ohren drang. Dann wieder hörte ich Sofgart mit scharfer Stimme Befehle erteilen, die meines Erachtens nichts mit dem eigentlichen Spiel zu tun hatten.

Oder doch? Immerhin nannte er Koordinaten, Zahlen und Buchstaben. Der Korridor endete vor einer Reihe von massiven Säulen, die eine ho­

he gewölbte Decke trugen. Dahinter lag ein großer, quadratischer Saal. Was wir sahen, ließ uns den Atem stocken. Lautlos und wie nach Ver­

einbarung huschten Ta-Amonte und ich zwischen die Säulen, die uns Schutz vor einer sofortigen Entdeckung boten. Obwohl der Blinde nur ein paar Dutzend Meter von uns entfernt war, konnten wir hier sicher sein.

Jetzt erst blieb Zeit, das Geschehen zu beobachten und ganz in uns auf­zunehmen.

Der quadratische Saal mit einer Kantenlänge von gut fünfzig Metern war in kleinere Spielquadrate unterteilt, acht mal acht, wie beim Garrabo. Die Figuren waren Arkoniden, alle unterschiedlich gekleidet und so als Fi­guren des Spiels gekennzeichnet. Sie machten einen erschöpften und total erledigten Eindruck, aber immer wieder wurden sie von den längs des

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Spielfeldes stehenden Robotern durch schwache Energiestöße angetrieben. Der Blinde Sofgart spielte Garrabo, und er tat es mit lebenden Figuren! Aber das war noch nicht alles. Sobald eine seiner Figuren von seinem Gegner geschlagen wurde, ließ

er sie töten. Das geschah schnell und schmerzlos durch einen Energie­schuß, und mit einer makabren Erleichterung kam mir zu Bewußtsein, daß dieser Tod für die gequälten Gefangenen eine Erleichterung sein mußte.

Der Blinde Sofgart saß ein wenig erhöht auf einem Podium, vor sich ei­ne Schaltanlage, die er bei jedem Zug bediente. Zuerst kam ich nicht da­hinter, was sie bezweckte, aber dann, als er wieder einen Zug machte, löste sich das Rätsel. Ein Stromstoß trieb die entsprechende Figur auf ein ande­res Feld. Sie konnte gar nicht anders, denn das eigene Feld war elektrisch geladen, der zweite Pol bestand in einer drahtlosen Verbindung zur Decke, wo die entsprechenden Kontakte nahezu unsichtbar angebracht waren. So­bald die Figur das gewünschte neue Feld erreicht hatte, schaltete sich der Strom automatisch ab.

Da saß er, der Blinde Sofgart, der Teufel in Menschengestalt, und spiel­te das kaiserliche Spiel des Imperiums wie kein anderer.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit seinem Gegner zu, einem relativ gutgekleideten und etwas beleibten Arkoniden, der mir nicht den Eindruck eines Gefangenen machte. Vielmehr sah er so aus, als bekleide er einen hohen und einflußreichen Posten innerhalb der Teufelshierarchie. Sein ängstliches Gesicht allerdings widersprach diesem ersten Eindruck.

Auch er saß auf einem Podium mit Schaltanlagen, dem Blinden Sofgart genau gegenüber, fast sechzig Meter von ihm getrennt.

Wieder verlor einer der Gefangenen sein Leben. Schon nach wenigen Zügen erkannte ich, daß der dicke Arkonide keine

Chance gegen den Blinden Sofgart hatte, der sehr geschickt Garrabo spiel­te. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis der letzte und entscheidende Zug erfolgte.

»Du mußt mehr denken, Argee«, sagte der Blinde Sofgart höhnisch. »Wenn du das Spiel verlierst, hast du auch dein Leben verloren. Vergiß das nicht!«

»Du wirst es mir schenken, wenn ich gewinne?« »Du hast mein Wort, obwohl du nach deiner Verfehlung den Tod auch

ohne diese Chance verdient hättest. Ich kann keine Oberwärter mit senti­mentalen Gefühlen gebrauchen. Du hättest den Gefangenen zu Tode fol­tern müssen, statt ihn gleich umzubringen.«

»Er starb schneller, als ich es wollte.« Der Blinde Sofgart winkte verächtlich ab. »Das wird auch mit dir geschehen, wenn du nicht aufmerksam genug

bist.« Er drückte auf einen der vielen Knöpfe vor sich. »D7, mein Lieber –

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und damit hast du wieder eine Figur verloren. Bald wirst du dich höchst­persönlich aufs Spielfeld begeben müssen – das ist eine Chance, die ich dir noch gewähre …«

Argee gab keine Antwort. Er saß da und überlegte seinen nächsten Zug. Ich konzentrierte mich auf den Blinden Sofgart. Er trug die enganliegende Lederkleidung, die seine hagere Figur noch

mehr hervorhob, als es ästhetisch zu ertragen war. Die hervorstehende Brille mit ihrer positronischen Einrichtung wirkte wie eine Maske, die sein Gesicht verbergen sollte. Es gab kaum jemanden, der je sein Gesicht ohne diese entstellende Brille gesehen hätte.

Ich hätte ihn mit einem einzigen Energieschuß töten können, aber dann hätte ich noch immer nicht gewußt, wo er Farnathia verborgen hielt. Au­ßerdem hatte er einen anderen Tod verdient.

Argee zog und erntete ein Hohngelächter seines Gegners. »Dummkopf! Du hast mir gegenüber behauptet, gut Garrabo spielen zu

können, und ich hatte mich auf dieses Spiel gefreut. Was aber bist du? Ein Stümper! Ein kleines Kind spielt besser als du. Aber bitte, es ist ja dein Leben, um das wir spielen.«

Ich wußte, daß ich eine weitere Leidenschaft des Blinden Sofgart ent­deckt hatte! Garrabo! Vielleicht würde ich das einmal ausnutzen können, denn ich hatte schon lange einen Gegner gesucht, der mich schlagen konn­te – außer natürlich Fartuloon, der mir das Spiel beigebracht hatte und bis heute mein Meister geblieben war. Ab und zu gewann ich aber doch gegen ihn, und dann schien es so zu sein, als sei er ganz froh darüber.

Ich glaubte schon, gegen den Blinden Sofgart gewinnen zu können, wenn er mir die Gelegenheit zu einem Spiel bot.

Wieder starb eine der Figuren. Ta-Amonte warf mir einen fragenden Blick zu. Ich wußte, was er dach­

te. Langsam schüttelte ich den Kopf. Es war noch zu früh. Argee schien jede Hoffnung verloren zu haben, das Spiel noch gewin­

nen zu können. Der Blinde Sofgart hingegen genoß die Todesangst des be­reits Verurteilten. Ich bemerkte, daß er jetzt für ihn selbst nachteilige Züge machte, um das Spiel und damit die Qual seines Gegners zu verlängern.

»Ich werde verlieren«, sagte Argee verzweifelt. »Willst du mich wirk­lich töten, wenn das geschieht?«

»Sicher«, erwiderte der Blinde Sofgart. »Ich halte mich an unsere Ver­einbarung. Du hast zugestimmt.«

»Hatte ich eine andere Wahl?« »Nein, natürlich nicht«, sagte der Blinde kalt. Argee schauderte zusammen. Soweit ich das Spielfeld und die verbliebenen Figuren überschauen

konnte, war er in zwei Zügen erledigt – wenn der Blinde es wollte.

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»Ich bin dir viele Jahre ein guter Aufseher gewesen«, versuchte Argee es noch einmal. »Habe ich dir nicht treu gedient, besonders dann, wenn du abwesend warst? Konntest du dich nicht immer auf mich verlassen und mir deine wertvollsten Gefangenen anvertrauen?«

»Doch, du warst ein guter Diener, Argee. Aber du hast gefehlt, und wenn ich so etwas durchgehen lasse, werden die Zustände unerträglich. Ich werde also deine Hinrichtung vollziehen müssen, sobald der letzte Zug getan ist.«

Meine Empörung über das Scheusal stieg von Minute zu Minute. Es wurde schwer für mich, einfach da zwischen den schützenden Säulen zu stehen und nichts zu tun. Ich kannte Argee nicht, und vielleicht hatte er den Tod – von meinem Standpunkt aus gesehen – ohnehin verdient. Aber der Blinde Sofgart würde ihn ermorden, nicht mehr und nicht weniger.

Wieder erfolgte ein Zug, und nun war es bald soweit. Es blieb dem Blinden Sofgart keine andere Wahl, als die Hauptfigur seines Gegners jetzt zu schlagen, wollte er sich nicht selbst in Gefahr begeben.

Ich sah, daß Ta-Amonte seinen Impulsstrahler zog und auf höchste In­tensität einstellte. Abermals schüttelte ich den Kopf, war mir aber nicht mehr so sicher, ob ich mich zurückhalten konnte, wenn es soweit war. Auf der anderen Seite konnte ich mir nicht vorstellen, daß die Hinrichtung im Spielsaal erfolgen würde.

Ich fühlte plötzlich Sympathie mit Argee, der einen Gefangenen aus Mitleid getötet hatte. Dann aber dachte ich an Farnathia. Bisher hatte ich nicht die geringste Spur von ihr gefunden und noch keinen einzigen Hin­weis über ihren jetzigen Aufenthaltsort erhalten.

Wenn wir den Blinden Sofgart regelrecht schockten, verriet er sich viel­leicht, ohne daß ich meine wahre Identität preisgab.

Ich zog ebenfalls den Strahler und flüsterte: »Aber erst dann, wenn ich es sage, Kelese! Wir müssen ihn überrum­

peln. Das Spiel muß erst zu Ende sein.« Er nickte stumm. Argee tat seinen letzten, erfolglosen Zug und schloß für einen Moment

die Augen, als sei er ohnmächtig geworden. Er lehnte sich in den Stuhl zu­rück, bleich und hoffnungslos. Er wußte, daß er soeben seine letzte Chan­ce vertan hatte, aber er wußte auch, daß es keine andere Möglichkeit gege­ben hatte.

Der Blinde Sofgart kostete seinen Triumph aus. »Du hast selbst dein Todesurteil gesprochen, Argee. Warum bist du

auch ein so schlechter Spieler?« »Du hättest mich auch dann getötet, wenn ich gewonnen hätte!« »Wie kannst du so etwas sagen, Argee? Du hast wenig Vertrauen zu

mir.«

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Argee war an einem Punkt angelangt, an dem ihm alles egal war. Bevor er starb, wollte er wenigstens dem Blinden Sofgart noch seine Meinung sagen, die er jahrelang hatte für sich behalten müssen. Der Tod war ihm gewiß, und je mehr er seinen bisherigen Herrn reizte, um so schneller wür­de er eintreten. Er wollte nicht in einem der Käfige landen.

»Wer sollte schon zu dir Vertrauen haben, du blindes Scheusal? Und damit du es nur weißt: ich habe viele Gefangene von ihren Qualen erlöst, indem ich ihnen einen schnellen Tod gönnte. Ich hätte sie auch freigelas­sen, wenn es einen Sinn gehabt hätte. Du warst mir schon immer zuwider, aber es war mein Schicksal, dir dienen zu müssen. Ich kam nie weg von dieser verfluchten Welt, du hieltest selbst deine eigenen Diener wie Gefan­gene. Eines Tages wirst auch du sterben, und ich hoffe nur, es geschieht langsam, unendlich langsam …«

Der Blinde Sofgart saß ganz ruhig vor seinen Kontrollen. Sein Blick war starr auf Argee gerichtet, der ihm seine Anschuldigungen ins Gesicht schleuderte. Auf dem Garrabofeld standen noch ein knappes Dutzend schwankender Figuren. Die Roboter trieben sie zusammen und führten sie aus dem Spielsaal.

Der Blinde Sofgart und Argee waren allein. Wenigstens nahm ich das an. »Nun hast du die Maske endlich fallenlassen, Argee. Meine Vermutung

hat mich nicht getäuscht, denn ich habe schon lange geahnt, daß du unzu­verlässig bist. Du hast mir zwar die Stiefel geleckt, als ich dir das Amt ei­nes Oberwächters übertrug, aber am liebsten hättest du mich dabei umge­bracht. Du mußt doch zugeben, daß du den Tod verdient hast.«

Argee erhob sich fast würdevoll. »In deinen Augen mag ich ihn verdient haben, aber in den Augen der

Edlen unseres Imperiums bist du ein Mörder. Es wird der Tag kommen, da du vor ihrem Gericht stehen wirst, denn auch Orbanaschol lebt nicht ewig, und vielleicht wird nach ihm einer kommen, der gerechter denkt als er. Dann ist auch deine Herrschaft zu Ende.«

Der Blinde Sofgart erhob sich ebenfalls. In seiner Hand lag der Impuls­strahler. Wollte er Argee mit eigener Hand exekutieren?

Langsam kam er von dem Podium herab und betrat das Spielfeld. Die Waffe auf Argee gerichtet, ging er auf ihn zu.

»Komm herab, Argee, und stirb auf dem Feld deiner Figuren, die dir kein Glück brachten. Komm, ich warte. Oder willst du, daß ich dich lang­sam sterben lasse?«

Argee ergriff blitzschnell einen Gegenstand, den ich nicht erkennen konnte. Mit einem Satz war er vom Podium und rannte auf den Blinden Sofgart zu, den Gegenstand erhoben und schlagbereit.

Es war ein einfacher Metallhebel, den er wohl aus der Halterung geris­

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sen hatte – eine lächerliche Waffe gegen einen Strahler. Der Blinde Sofgart zielte in aller Ruhe. Er hatte einige Sekunden Zeit. In diesem Augenblick hielt es mich nicht länger. Ohne Ta-Amonte zu verständigen, stürmte ich aus dem Versteck und

lief auf das Spielfeld. Der Blinde Sofgart sah mich kommen, und obwohl ich eine Waffe in

der Hand hielt, war er kaltblütig genug, sich zuerst um seinen ursprüngli­chen Gegner zu kümmern. Der Energiestrahl blitzte auf und traf Argee mitten in die Brust. Der Mann starb sofort und stürzte zu Boden.

Ich riß die Waffe empor, aber dann Zögerte ich. Welchen Sinn hatte es, den Blinden zu töten, ohne von ihm erfahren zu

haben, wo er Farnathia versteckt hielt? Er besaß eine Waffe, ich besaß eine Waffe. Ich würde mit ihm reden können, wenn er nicht riskieren wollte, von mir erschossen zu werden.

»Bleib ruhig, Blinder Sofgart!« rief ich ihm zu. »Ich wollte dir nur hel­fen, wenn es dem anderen gelungen wäre, dich zu erreichen.«

Zu meinem Erstaunen ließ der Blinde seine Waffe sinken. Ta-Amonte stand nun neben mir. Er zögerte ebenfalls, als er meine Absicht erkannt hatte.

»Wer seid ihr? Wie kommt ihr in den verbotenen Teil der Festung? Wer hat euch den Zutritt erlaubt?«

Er hielt uns für Kralasenen – gut so. »Uns hat niemand aufgehalten, so gerieten wir zufällig hierher und

konnten dein exzellentes Spiel bewundern. Aber dann, als dieser Argee mit der Waffe auf dich zu rannte, verließ uns die Angst vor dem Entdeckt­werden, wir wollten dir helfen.«

Innerlich widerstrebte mir das erniedrigende Schauspiel, aber ich sah keine andere Möglichkeit, erst einmal mit dem Blinden ins Gespräch zu kommen. Wenn ich geahnt hätte, daß er viel raffinierter war als ich, wäre meine Entscheidung vielleicht anders ausgefallen.

»Werft die Strahler weg!« befahl der Satan. »Wir tragen sie mit deiner Erlaubnis.« »Ja, außerhalb der Festung, aber nicht hier. Werft sie weg, sonst werden

euch die Roboter töten. Seht euch um, sie warten nur noch auf mein Kom­mando.«

Ta-Amonte und ich hatten nicht bemerkt, daß die Roboter inzwischen zurückgekehrt waren. Sie standen um das Spielfeld herum, ihre Waffenar­me auf uns gerichtet. Es waren mindestens dreißig Stück, und gegen sie hatten wir nicht die geringste Chance.

Ich verfluchte meinen Leichtsinn, mich so unüberlegt in die Gewalt des Blinden Sofgart begeben zu haben, ohne Rückendeckung und Aussicht auf Hilfe. Auch Ta-Amonte hatte ich nun in Gefahr gebracht, denn früher oder

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später mußte der Blinde Sofgart herausfinden, daß es sich bei ihm nicht um einen Kralasenen, sondern um einen entflohenen Arkoniden handelte.

»Nun? Ich warte nicht mehr länger«, warnte der Blinde Sofgart. Ich nickte Ta-Amonte zu. »Wir haben keine andere Wahl«, sagte ich laut und ließ den Strahler

einfach fallen. Ta-Amonte folgte meinem Beispiel. Der Blinde Sofgart kam auf uns zu. Er musterte uns aufmerksam. »Außenkommando?« fragte er lauernd. »Wem unterstellt?« »Außenkommando«, bestätigte ich und suchte verzweifelt nach einer

Ausrede, den Namen meines angeblichen Vorgesetzten nicht nennen zu müssen. »Ich wurde gestern einer anderen Gruppe zugeteilt und habe den Namen des Kommandanten vergessen. Wir erhielten den Auftrag, Gefan­gene aus dem Sepulkorvat zu holen und verirrten uns. So gelangten wir hier und wurden Zeugen des Spiels.«

Der Blinde Sofgart musterte uns mit einem grausamen Zug um die Lip­pen.

»Das Betreten dieser Anlage ist verboten. Niemand darf sie sehen, und wer sie einmal gesehen hat, wird sein Wissen niemandem mitteilen kön­nen, denn er stirbt hier.«

»Wir haben nur das Spielfeld gesehen.« »Das ist bereits zuviel.« Er hob seine Waffe und richtete sie auf mich.

»Ihr werdet sterben müssen. Oder ist es euch lieber, ich lasse euch foltern? Vielleicht erfahre ich dann, was ihr wirklich hier gewollt habt.«

Ich sah ein, daß jedes weitere Wort Zeitverschwendung war, auf der an­deren Seite lagen unsere Strahler auf dem Boden, und ehe wir uns bücken konnten, waren wir tot.

Mir kam ein verzweifelter Gedanke. »Hör zu, Blinder Sofgart, du bist ein ausgezeichneter Garrabospieler.

Ich aber auch. Wollen wir an diesem Spiel unsere Kräfte messen? Wenn ich siege, sind mein Freund und ich frei, und du wirst uns nicht töten. Ver­liere ich, kannst du mit uns tun und lassen, was du für richtig hältst.«

Er betrachtete mich mit neuem Interesse. »Du glaubst, daß du besser bist als ich? Und du willst um das Leben

deines Freundes und um das eigene spielen?« Er lächelte teuflisch. »Na gut, ich nehme deinen Vorschlag an. Eure Freiheit gegen euren Tod – das ist ein guter Preis. Beginnen wir.«

Ohne sich weiter um uns zu kümmern, kehrte er auf sein Podium zu­rück. Er gab den Robotern einen Wink. Einige verschwanden, um die le­benden Figuren zu holen.

»Ich habe noch eine Bitte, Blinder Sofgart«, sagte ich.

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Er setzte sich und sah mich an. »Sprich!« »Ich möchte, daß unsere Figuren, wenn sie ausscheiden, nicht getötet

werden.« Er runzelte die Stirn. »Eine seltsame Bedingung, aber ich bin einverstanden. Dein Tod wird

mich für den Verlust der Hinrichtungen entschädigen. Dein Freund soll sich dort drüben hinstellen und das Spiel beobachten. Du entscheidest auch über sein Schicksal.«

Ich nahm in dem Stuhl Platz, in dem Argee gesessen hatte. Obwohl der Blinde Sofgart sechzig Meter entfernt war, konnte ich seine Gesichtszüge deutlich erkennen, als säße er mir direkt gegenüber.

Ich las Neugierde in ihnen, ein wenig Verwunderung – und eine große, ungelöste Frage. Ich sah ihm sein Mißtrauen an. Er schien nicht ganz da­von überzeugt zu sein, daß wir wirklich Kralasenen waren, die nur rein zu­fällig in die Folterburg gelangt waren. Diesem Umstand hatten wir viel­leicht zu verdanken, daß er uns nicht gleich hatte erschießen lassen.

Er hatte den ersten Zug. Die Roboter brachten die Gefangenen und stellten sie richtig auf. Kaum

war das geschehen, bediente der Blinde Sofgart auch schon die Kontrollen und zwang eine der Figuren zum Zug. Dann sah er mich erwartungsvoll an.

Ta-Amonte hatte sich an der Seite aufgestellt. Ohne seine Waffe fühlte er sich hilflos. Er war nun voll und ganz auf mich angewiesen, und an mir würde es liegen, ob er noch eine gewisse Zeit zu leben hatte oder nicht.

Lag es aber wirklich an mir? Mir kamen plötzlich Bedenken. Würde der Blinde Sofgart sein Wort

überhaupt halten und uns freilassen, wenn ich gewann? »Nun mach endlich deinen Zug, Kralasene, oder du hast schon jetzt ver­

loren!« Die Stimme des Gnadenlosen riß mich aus meinen Überlegungen, die

ohnehin fruchtlos waren. Mein Zug, der zweite, benötigte keine Überle­gungen. Er folgte logisch dem ersten. Ich suchte die entsprechenden Koor­dinaten und betätigte die Kontrollen. Meine Figur, ein erbärmliches Bün­del Lumpen mit einem unkenntlichen Lebewesen darin, bewegte sich ruckartig auf ein anderes Feld.

Der Blinde Sofgart zog sofort nach. Es war ein scheinbar einfacher Zug, aber ich durchschaute die Absicht sofort. Er wollte mich in eine Falle locken. Zum Glück setzte in diesem Augenblick mein aktiviertes Extrahirn ein. Ohne Mühe konnte ich die weiteren beabsichtigten Züge meines Geg­ners vorausberechnen und wußte gleichzeitig, wie ich dem einen Riegel vorschieben konnte. Langsam, fast lässig, schob ich die nächste Figur vor­

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an. Der Blinde Sofgart stutzte, und zum erstenmal konnte ich in seinem Ge­

sicht so etwas wie Erstaunen erkennen, obwohl seine Brille es halb ver­deckte. Er mußte bemerkt haben, daß er mich nicht unterschätzen durfte, wollte er kein Risiko eingehen.

Diesmal wartete er fast zehn Minuten; bis er endlich zog. Seine Absicht war leicht zu durchschauen. Meine Gegenreaktion erfolg­

te keine zehn Sekunden später. Nun begann der Blinde Sofgart ernsthaft zu überlegen, ich konnte es

deutlich an seinem Gesichtsausdruck sehen. Aus dem anfänglichen milden Erstaunen wurde Verwunderung. Wahrscheinlich hatte er noch nie einen Gegner wie mich gefunden.

»Wo hast du das Spiel erlernt?« fragte er mich. »Ich hatte gute Lehrer«, wich ich einer direkten Antwort aus. »Und

dann machte es mir Spaß.« Der Blinde Sofgart nickte grimmig. »Diesmal sollte es dir besonderen Spaß bereiten, denn es geht um dein

Leben. Jedenfalls spielst du besser als dieser Dummkopf Argee. Es wird ein wenig länger dauern, bis euer Todesurteil vollstreckt wird.«

»Wenn überhaupt«, erwiderte ich seelenruhig. Er warf mir einen forschenden Blick zu, dann konzentrierte er sich wie­

der auf die wartenden Figuren. Er überlegte lange, ehe er die Kontrollen bediente.

Ein kluger Zug, mußte ich erkennen, wenn ich nicht aufpaßte, lockte er mich in eine Falle, aber ich konnte seine Absicht rechtzeitig durchschauen. Trotzdem zögerte ich mit der Gegenreaktion, denn vielleicht war es bes­ser, meine Überlegenheit nicht allzusehr herauszustellen.

Ich tat, als müsse ich nachdenken. Ta-Amonte stand vor den Säulen. Rechts und links von ihm hatten Ro­

boter Aufstellung genommen. Er war nervös und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Ich hätte ihm gern zugerufen, er brauche sich keine Sorgen über den Ausgang des Spiels zu machen, aber das war unmöglich. Ich konnte nur hoffen, daß er keine unüberlegte Handlung beging.

Ich widmete mich erneut den Kontrollen. Die lebende Figur stolperte auf das neue Feld. Die Stirn des Blinden Sofgart wies plötzlich Falten des Unmuts auf.

Mein Zug hatte eine seiner Hauptfiguren in ernsthafte Gefahr gebracht. Er war in arge Bedrängnis geraten. Er bedachte mich mit einem langen Blick, und ich erriet seine Absicht,

mich nach dem Spiel einem peinlichen Verhör zu unterziehen, ganz gleich, wie das Ergebnis aussah.

Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich noch nicht, daß er ein passiv parapsy­

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chisch begabter Mann war, der die qualvollen Emotionssendungen seiner bedauernswerten Opfer auffing, weil er sie einfach zum Leben brauchte. Meine eigene Ausstrahlung störte den Empfang und machte ihn unsicher. Ohne es zu wissen, unterbrach ich empfindlich sein bisheriges Wohlbeha­gen – und zum Glück erkannte auch er nicht die Ursache seines jetzigen Unbehagens.

»Es macht Freude, mit dir zu spielen«, log er. »Danke«, erwiderte ich trocken. »Für einen gewöhnlichen Kralasenen bist du sehr intelligent.« »Ich habe immer versucht, dazuzulernen. Ich habe meinerseits niemals

einen intelligenteren Gegner beim Garrabo kennengelernt.« »Du spielst oft?« »Wenn ich Zeit und Gelegenheit dazu erhalte – ja.« Er zog blitzschnell. Ich hatte den Zug kommen sehen – wieder eine Fal­

le, in die ich hineintappen sollte. Aber ich tat ihm nicht den Gefallen. Noch während ich meine Kontrollen betätigte, sagte ich:

»Es macht keine Freude, mit schlechten Spielern die Kräfte zu messen – das sagtest du selbst, als Argee verlor. Das Spiel mit mir sollte dir mehr Spaß bereiten. Wir sind gleichwertig.«

Mein Gegenzug verwirrte ihn, denn abermals saß er in der Klemme. Es gab noch einen Ausweg, aber nur einen einzigen. Bereits in drei Zügen konnte ich ihn erledigt haben, obwohl erst eine Figur geschlagen worden war. Es wurde Zeit, daß ich einen kleinen und unbedeutenden Fehler machte, um Zeit zu gewinnen, auch wenn ich noch nicht wußte, wie ich sie ausnützen sollte.

Er triumphierte, als ich meine Chance nicht wahrnahm. Hastig zog er, aber noch bestand keine Gefahr für mich. »Das Blatt wird sich bald wenden, Kralasene«, prophezeite er siegessi­

cher. »Dann wirst du mir einige Fragen beantworten müssen.« »Nur dann?« warf ich gelassen ein. Wieder sah er mich lange an, ehe er endlich zog. Kein kluger Zug, erkannte ich sofort. Er bot mir seine eigene Niederlage

förmlich an, und ich war mir nicht sicher, ob das aus Absicht geschah oder nicht. Es wäre nun unklug gewesen, eine solche Möglichkeit zu übersehen. Nach dem bisherigen Verlauf des Spiels hätte das auch unlogisch erschei­nen müssen.

Also nutzte ich die Chance. Seine Hauptfigur wurde von der meinen be­droht – und es gab für meinen Gegner keinen Ausweg mehr.

Fast erleichtert lehnte er sich zurück. »Es ist das erste Mal, daß ich im Spiel geschlagen werde«, bekannte er,

aber es klang nicht echt. Er hatte sich nur deshalb so schnell schlagen las­sen, um endlich seine Neugier befriedigen zu können. Nie und nimmer

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hatte er daran gedacht, sich an unsere Abmachung zu halten. »Komm her, aber bewege dich vorsichtig. Die Roboter haben den Befehl, dich und dei­nen Freund bei einem Fluchtversuch sofort zu töten.«

Langsam stand ich auf und winkte Ta-Amonte zu. Er begriff und ging quer über das Spielfeld. Unser Ziel war das Podium, auf dem der Blinde Sofgart uns erwartete.

Er betrachtete uns aufmerksam. Sein Handstrahler lag unmittelbar vor ihm auf dem Schaltpult. Unsere eigenen Waffen waren inzwischen von den Robotern weggeräumt worden.

»Ihr seid Kralasenen, die rein zufällig in diesen Teil des Sepulkorvats gerieten, eh?« Er schüttelte den Kopf. »Ihr lügt – und das bedeutet den Tod.«

»Ich habe das Spiel gewonnen«, erinnerte ich ihn an sein Versprechen. Er zeigte keine Reaktion. »Ich werde die Oberwächter kommen lassen, damit sie euch identifizie­

ren können. In der Robotspeicherung jedenfalls seid ihr nicht vorhanden, weder eure Mentalimpulse noch Gedankenmuster. Ich habe das inzwi­schen überprüfen lassen.« Er beugte sich weiter vor und sah mich scharf an. »Wer seid ihr wirklich?«

Ich wußte, daß die Zeit des Redens nun bald vorbei war. Aber ich hatte keine Ahnung, was wir tun sollten. Die Säulen waren mehr als dreißig Me­ter entfernt, aber davor standen die Roboter mit ihren schußbereiten Waf­fenarmen. Sie reagierten blitzschnell.

Ich bemerkte, daß die Kontrollen auf dem Pult sich von jenen unter­schieden, vor denen ich gesessen hatte. Es gab zusätzliche Hebel und Schalter. Wahrscheinlich ermöglichten sie dem Blinden Sofgart den direk­ten Kontakt zur Kommandozentrale. Es war mir natürlich nicht möglich, ihren Sinn sofort zu erfassen, aber mein Extrahirn kam mir zu Hilfe. Wenn es mir gelang, drei der Hebel in die Nullstellung zu bringen, wurde die Verbindung zur Zentrale unterbrochen. Die Kampfroboter, zwar vorpro­grammiert, würden noch immer handeln, aber sie empfingen keine neuen Anweisungen mehr.

Einige Sekunden Galgenfrist, nicht mehr für uns. »Weißt du wirklich nicht, wer wir sind?« fragte ich und kam einen

Schritt näher. Er griff noch immer nicht nach seinem Strahler, so sicher fühlte er sich. »Dann rate mal, Blinder Sofgart. Wir sind uns schon früher begegnet, aber du hast ein schlechtes Gedächtnis.«

Während ich sprach, war ich einen weiteren Schritt näher gekommen. Blitzschnell griff ich zu und hielt den Impulsstrahler in der Hand, ehe der Blinde Sofgart reagieren konnte. In der Tat, so erfuhr ich später, hemmte ihn der positive Emotionsfaktor, der von mir ausging. Er wurde um Bruch­teile von Sekunden langsamer in seinen Entschlüssen.

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Ich richtete die Waffe auf ihn. »Ganz ruhig bleiben, ganz ruhig. Gib den Robotern den Befehl, die Hal­

le zu verlassen und unterbrich den Kontakt mit der Zentrale! Ich gebe dir zehn Sekunden, den Befehl auszuführen.«

Für den Blinden Sofgart mußte das alles wie ein Schock sein. In seiner eigenen Festung wurde er von zwei Eindringlingen bedroht, von denen er nicht einmal wußte, wer sie waren. So weit er zurückdenken konnte, war er hier der Herr gewesen, und nun wurde er von einer Sekunde zur anderen von seinem selbsterrichteten Thron gestürzt.

Er gehorchte mit verkniffenem Gesicht. Ich wagte mir nicht auszuma­len, was geschehen würde, wenn er uns wieder in seine Gewalt bekam. Keine Phantasie würde ausreichen, die Foltern zu beschreiben, die er sich in einem solchen Fall ausdenken konnte.

Die Roboter verließen den Saal. Ta-Amonte, dem ich die Waffe über­reicht hatte, sah ihnen nach, den Strahler schußbereit in der Hand.

»Wo ist das Mädchen?« fragte ich den Blinden Sofgart. Er musterte mich gelassen, dann sagte er: »Welches Mädchen?« »Du weißt, wen ich meine. Du hast sie auf deinem Schiff hierherge­

bracht. Wo ist sie?« »Deshalb seid ihr gekommen? Einer Frau wegen?« »Wo ist sie?« fragte ich, und zur Unterstreichung meiner Forderung

setzte Ta-Amonte ihm den Lauf der Waffe fast auf die Brust. »Rede schnell, wenn du weiterleben willst.«

Langsam stand er auf. »Wenn ihr mir folgt, führe ich euch zu ihr.« Ich drückte ihn auf den Stuhl zurück. »Die Tricks kenne ich«, eröffnete ich ihm. »Wir werden dir nicht in ei­

ne Falle folgen. Du wirst sie holen lassen und uns dann zur Oberfläche be­gleiten. Du wirst uns ein Schiff geben – und dann kannst du tun, was du für richtig hältst.«

»Um das tun zu können, muß ich Verbindung zur Zentrale aufnehmen.« »Dann tu das – aber ein Wort zuviel, und du bist tot!« Ich wußte, daß wir nun ein gewaltiges Risiko eingingen, aber was hätten

wir sonst tun sollen? Hier auf dem Podium und im Spielsaal hatten wir ihn in unserer Gewalt, nicht aber in den unübersichtlichen Korridoren und Ge­fängnisgängen. Erst recht nicht in unmittelbarer Nähe der Zentrale, von der aus alle Bewegungen der Roboter gesteuert wurden.

»Kennst du die Gefangene?« fragte der Blinde Sofgart, als wolle er Zeit gewinnen.

Ich schüttelte den Kopf. »Bisher warst du es immer, der Fragen stellte, gewöhne dich daran, daß

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diese Zeit nun vorbei ist. Jetzt stellen wir die Fragen, und du wirst sie be­antworten, wenn du nicht in einer deiner Marterzellen landen willst. Also, was ist?«

Er deutete auf einen roten Knopf, der mir schon vorher aufgefallen war. »Er stellt den Kontakt her. Ich werde die Gefangene bringen lassen.« »Nur von einem einzigen Roboter oder Kralasenen begleitet!« warnte

ich ihn. Er nickte und legte zwei Finger auf den Knopf. Bevor er ihn nieder­

drückte, sah er mich an und sagte: »Du wirst dies alles sehr bald bereuen und dir wünschen, nie geboren zu

sein. Ich gebe dir eine letzte Chance, dir und deinem Freund: Geht jetzt, und ich werde euch nicht verfolgen lassen. Ich werde das Spiel und euch vergessen.«

»Ja, für zehn Sekunden«, gab ich bissig zurück. »Du hast schon einmal dein Wort gebrochen, als ich das Spiel gewann. Wie sollten wir dir jetzt glauben?«

»Wie ihr wollt«, erwiderte er gelassen und drückte den Knopf ein. Ich wußte genau in dieser Sekunde, daß wir in eine Falle getappt waren,

die ich nicht rechtzeitig erkannt hatte. Selbst mein Extrahirn hatte mich nicht gewarnt.

Noch ehe ich Ta-Amonte eine Warnung zurufen konnte, flimmerte um den Blinden Sofgart ein undurchdringlicher Energieschirm auf. Er hüllte ihn völlig ein und machte ihn unangreifbar. Die Glocke hatte einen Durch­messer von vielleicht anderthalb Meter, und obwohl der Blinde keine zwei Meter von mir entfernt war, hätte er genausogut auf einem anderen Plane­ten sein können.

Diesen Zug hatte ich verloren. Ich rief Ta-Amonte zu, der wie erstarrt der Entwicklung gefolgt war: »Weg hier, schnell!« Über einen Lautsprecher teilte uns der Blinde Sofgart mit: »Nun habe ich euch, die Roboter sind bereits unterwegs. Es gibt keinen

Fluchtweg aus dem Sepulkorvat! Aber seid beruhigt, ihr werdet noch lan­ge leben. Lange genug wenigstens, um alle meine Foltermethoden kennen­zulernen.«

Ich nahm Ta-Amonte die Waffe ab, gab ihm einen Stoß und rannte zu den Säulen.

Hinter uns verklang das höhnische Gelächter des Blinden Sofgart.

29

2.

Wir nahmen wahllos den ersten Korridor, der nach links führte. Hier gab es keine Gitterkäfige, nur nackte, kahle Wände und verschlossene Türen. Wenn Alarm ausgelöst worden war – und niemand konnte daran zweifeln –, würde hier bald einiges los sein. Wir mußten ein Versteck finden, in dem wir einigermaßen sicher waren.

Ich öffnete hastig eine der Türen und sah in dem Raum dahinter einige Kralasenen auf ihren Betten liegen.

Wachmannschaften! Ich warf die Tür wieder zu und rannte weiter, Ta-Amonte dicht hinter

mir. Uns fehlte eine zweite Waffe. Der Gang machte eine Biegung, und dann begann er nach oben zu stei­

gen. Das Laufen wurde beschwerlicher. Aber wenn es überhaupt einen Fluchtweg für uns gab, lag er auf dem Plateau des Tafelberges. Dort hatte ich Gleiter starten und landen sehen. Wenn es uns gelang, einen solchen Gleiter zu kapern, konnten wir in den Urwald fliehen.

Farnathia! Es überlief mich glühendheiß, als ich an sie dachte. Es war mir nicht ge­

lungen, sie zu befreien oder auch nur ihren Aufenthaltsort herauszufinden. Ich hatte mich wie ein Dummkopf angestellt, nachdem es mir gelungen war, meinen Gegner zu überrumpeln.

»Wohin willst du denn?« keuchte Ta-Amonte neben mir, als er ein we­nig aufholte.

»Weiß ich nicht. Hinauf aufs Plateau vielleicht.« Wieder öffnete ich eine der Türen, immer in der verzeifelten Hoffnung,

Farnathia zu finden. Mir war klar, daß wir damit wertvolle Zeit vergeude­ten, denn wenn man uns erwischte, war Farnathia auch nicht geholfen. Warum hatte ich den Blinden Sofgart auch nicht sofort gezwungen, mir ih­ren Aufenthaltsort zu verraten?

Von vorn hörten wir Schritte. Wahllos öffnete ich eine der Türen. Der Raum dahinter war leer. An den

Wänden standen Regale mit Mikrobüchern und Filmrollen. Eine Art Ar­chiv, nahm ich an, in dem wir für einen Augenblick sicher waren.

Ich überprüfte die Energiewaffe und stellte fest, daß sie frisch geladen war. Ein Ersatzmagazin war nicht vorhanden. Trotzdem würde die Energie ausreichen, einige Dutzend Angriffe abzuwehren.

»Nie im Leben kommen wir heraus«, jammerte Ta-Amonte. »Wir hät­ten uns nicht auf dieses verfluchte Spiel einlassen sollen! Jetzt ist die gan­ze Festung in Aufruhr, der Blinde Sofgart ist gewarnt.«

»Wir schaffen es schon«, sagte ich zuversichtlich. Ich legte mein Ohr

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gegen die Tür. »Draußen ist alles wieder ruhig. Man sucht uns wahr­scheinlich im tiefer gelegenen Teil, nicht hier oben.«

Vorsichtig öffnete ich die Tür. Auf dem Gang war niemand zu sehen. »Komm, Kelese!« Wir hasteten weiter, aber bald hörte die Steigung auf. Es ging sogar

wieder leicht bergab. Überall war ein kaum wahrnehmbares Summen, und unter unseren Füßen vibrierte es leicht. Sollte sich in diesem Teil der Burg die Energieerzeugungsanlage befinden?

Ich begann mich allmählich darüber zu wundern, daß keine energeti­schen Sperren unsere Flucht behinderten. Überhaupt war nur wenig von einer Verfolgung zu spüren. Wie ich den Blinden Sofgart einschätzte, mußten sich überall verborgene Kameras befinden, damit er jeden Teil sei­nes Reiches jederzeit kontrollieren konnte. Bisher hatte ich noch keine die­ser Kameras entdecken können.

Ta-Amonte blieb stehen. »Langsamer, Satago, ich kann nicht mehr.« Ich hielt ebenfalls an. Vor uns lag der leicht gekrümmte, leere Gang.

Unser Atem ging keuchend. Ich schwitzte vor Anstrengung. »Gut, warten wir einen Augenblick hier. Es hat wenig Sinn, wenn wir

uns total verausgaben und ihnen erschöpft in die Arme rennen. Wir müs­sen überlegen. Es muß doch einen Lift geben!«

»Ich habe noch keinen gesehen.« »Das bedeutet nicht, daß keine vorhanden sind. Wir gehen jetzt ruhig

weiter, auch wenn die Gänge nach unten zurückführen. Mir ist da ein Ge­danke gekommen, wie wir den Blinden Sofgart restlos verwirren können.«

»Welcher Gedanke?« »Du wirst schon sehen«, vertröstete ich ihn, denn ganz genau wußte ich

selbst noch nicht, wie mein Plan aussah und wie ich ihn realisieren konnte. Als wieder Schritte ertönten, diesmal im harten und mechanischen Mar­

schrhythmus der Roboter, bogen wir in einen Seitengang, der steil nach unten führte. Es war dunkler als im Hauptkorridor, und es gab auch keine Türen mehr. Wenn uns jetzt jemand begegnete, konnten wir ihm nicht mehr ausweichen.

Und natürlich begegnete uns jemand. Ta-Amonte blieb ruckartig stehen, als vor uns plötzlich eine Gruppe be­

waffneter Kralasenen auftauchte, die bei unserem Anblick mindestens ebenso überrascht waren wie wir. Wahrscheinlich hätten sie nicht einmal das Feuer auf uns eröffnet, wenn ihr Anführer, ein großer grobschlächtiger Kerl, nicht das Kommando dazu gegeben hatte.

Da blieb mir keine andere Wahl. »Hinlegen!« rief ich Ta-Amonte zu und ging in die Knie. Meine Waffe

war entsichert und schußbereit. Den Kralasenen gab ich eine Chance, in­

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dem ich laut genug sagte: »Kehrt um oder laßt uns vorbei! Ihr habt uns nicht gesehen …«

Sie ließen mich nicht aussprechen. Der erste Energiestrahl des Anfüh­rers bohrte sich zischend in den Boden neben meinem rechten Knie.

Ich erschoß ihn, immer noch in der Hoffnung, die anderen würden mein Angebot annehmen. Aber wahrscheinlich saß ihnen die Angst vor ihrem Foltermeister zu sehr in den Knochen, und lieber wollten sie sterben, als in den Gitterkäfigen landen.

Sie eröffneten das Feuer auf uns. Ich warf mich hin und rollte zur Seite. Auch Ta-Amonte wechselte die

Position. Eng an die Wand gedrückt, bot er kaum ein Ziel. Es dauerte alles nur wenige Sekunden, dann war der Weg frei. Aber nun hatte ich die Kamera dicht unter der Decke gesehen, die die

Geschehnisse in die Zentrale weiterleitete. Nun wußten sie, wo wir waren und daß wir uns zu wehrenverstanden.

»Los, weiter!« Ta-Amonte erhob sich und lief hinter mir her. Selbst wenn ich vorher

noch gezögert hatte, nun wußte ich, daß mein vage gefaßter Plan, so ver­rückt er auch sein mochte, die einzige Möglichkeit war, aus dem Sepulkor­vat zu entkommen.

Wir rannten durch einen Saal mit Maschinen, dann erreichten wir den ersten Gang mit Gefängniszellen. Jede von ihnen war mit einem primiti­ven Schloß abgesperrt, das sich mit einem kurzen Strahlschuß öffnen ließ. Ohne Ta-Amonte von meinen Absichten zu unterrichten, begann ich mit der Arbeit.

Es waren meist Arkoniden, wenn auch in einem erbärmlichen Zustand. Ich bezweifelte, daß sie mit ihrer plötzlich gewonnenen Freiheit etwas an­fangen konnten, man würde sie wieder einfangen oder gar töten, was nur eine Erlösung für sie bedeuten konnte. Aber sie würden Verwirrung stiften und die Verfolger von uns ablenken.

»Das also war dein Plan«, sagte Ta-Amonte mit einem Unterton von Bewunderung. »Darauf wäre ich nie gekommen.«

»Dabei ist es so einfach«, erwiderte ich und half einem der Gefangenen aus der Zelle. »Lauf!« riet ich ihm. »Draußen wartet die Freiheit.« Meine Hoffnung. Farnathia unter den Gefangenen zu entdecken, erfüllte sich nicht. Trotzdem machte ich weiter, bis sämtliche Insassen der hier vorhandenen Gitterkäfige frei waren. Sie waren in alle Richtungen davon­gegangen oder gelaufen, je nach Kräften und Möglichkeiten.

Aber dann tauchten die ersten Kralasenenkommandos auf. Es gab genug Seitengänge, in denen wir verschwinden konnten. Aus ei­

nem Versteck heraus konnte ich beobachten, daß die Kralasenen die Ge­fangenen nicht töteten, sondern sie in ihre Zellen zurückbrachten. Manche

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wehrten sich und griffen ihre Peiniger mit den bloßen Fäusten an. Sie wur­den mit Schockstrahlen gelähmt und abtransportiert.

Immerhin konnte ich auch feststellen, daß meine Maßnahme Verwir­rung und Unsicherheit unter den Kralasenen stiftete. In diesem Augenblick hätte ich gern gewußt, was der Blinde Sofgart tat. Wahrscheinlich saß er in der Zentrale, kommandierte seine Truppen und verfolgte die Geschehnisse auf den Bildschirmen.

Unser Versteck war nicht mehr sicher. Wir hasteten weiter und erreichten einen neuen Trakt, in dem sich Zelle

an Zelle reihte. Einige Kralasenen hielten Wache, und als sie uns erblick­ten, eröffneten sie ohne eine Warnung das Feuer auf uns.

Ta-Amonte, der einem getöteten Wächter die Waffe abgenommen hatte, erwies sich als guter Schütze. Gnadenlos rächte er sich nun für die ausge­standenen Qualen, und ich konnte es ihm nicht verdenken, daß er einen Kralasenen nach dem anderen tötete, ehe ich überhaupt zum Schuß kam.

Dann ließen wir die Gefangenen frei. Diese hier mußten erst seit wenigen Tagen hier sein, denn sie machten

noch einen kräftigen und frischen Eindruck. Sie warfen uns dankbare Blicke zu, in denen auch Neugierde und Nichtbegreifen lag, dann stürzten sie sich auf die toten Wachen und rissen deren Strahler an sich. Ohne es zu wollen, besaßen wir nun bereits eine beachtliche Hilfstruppe.

Aber die Befreiten blieben nicht für immer bei uns. Sie zerstreuten sich und überfielen die Kralasenen, wo immer sie ihnen begegneten. Ich konnte mir vorstellen, daß in der Folterfestung nun alles drunter und drüber ging und wunderte mich abermals über die erstaunliche Tatsache, daß der Blin­de Sofgart die Situation nicht meisterte.

Oder tat er es absichtlich nicht und wartete ab? Aber warum? Welchen Grund gab es dafür? Auch diesmal erfuhr ich erst später, was wirklich geschehen war. Der

Blinde Sofgart wurde durch die Emotionsausbrüche der befreiten Gefan­genen so beeinflußt, daß er kaum noch einer vernünftigen Überlegung fä­hig war. Er, der sich sonst an den Qualen seiner Opfer weidete und Kraft aus der Aura des Leides schöpfte, wurde nun derart von positiven Emotio­nen überschüttet, daß er die Übersicht verlor und sinnlose Befehle gab. Ei­nige der vorprogrammierten Roboter drehten durch, als entgegengesetzte Anweisungen erfolgten. Sie wurden leichte Opfer der befreiten Gefange­nen, die sich auf alles stürzten, was ihren Weg kreuzte. Sie begannen so­gar, die Einrichtung des Sepulkorvat systematisch zu demolieren.

Der Erfolg unserer Maßnahme übertraf alle meine Hoffnungen. Zusammen mit einigen Arkoniden und Brigalen, echsenverwandten In­

telligenzen, stürmten wir weitere sieben Gänge mit Gefängnissen und setz­ten das Befreiungswerk fort. Meine unerwarteten Verbündeten gingen

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rücksichtslos vor, und ich hörte auf, die getöteten Kralasenen zu zählen. Bald hatte jeder von uns zwei oder drei Handstrahler in Besitz, und nun brauchten wir selbst die angreifenden Kampfroboter nicht mehr zu fürch­ten.

Ich sagte zu Ta-Amonte: »Wir müssen wieder nach oben, denn hier unten finden wir Farnathia

niemals. Der Blinde weiß, daß ich sie suche, also wird er sie in Sicherheit bringen lassen. Es kann auch sein, daß er sie als Köder benutzt. Damit müssen wir rechnen.«

Ta-Amonte, das sah ich ihm an, schöpfte neue Hoffnung, was seine Per­son anging. Er kannte einige der befreiten Arkoniden, die bei uns geblie­ben waren. Die Brigalen beachtete er nicht. Das war ein Charakterzug, der vielen vornehmen Arkoniden zu eigen war. Sie waren überheblich Frem­den gegenüber, und eines Tages, so ahnte ich, würde sich das für das Ster­nenreich verhängnisvoll auswirken.

»Ich bin dafür, den Ausgang zu suchen«, entgegnete er. Ich schüttelte den Kopf. »Das hat Zeit, Kelese. Ich bin hier, um Farnathia zu befreien, hast du

das vergessen? Alles andere ist nur notwendiges Beiwerk.« »Aber …« »Farnathia!« unterbrach ich ihn entschlossen. »Ich werde es versuchen.

Du kannst mitkommen, wenn du willst. Du kannst aber auch mit deinen Freunden den Weg zur Oberfläche suchen, ich werde dir deshalb nicht gram sein.«

Er senkte den Kopf. »Es tut mir leid, Satago. Natürlich komme ich mit dir. Ich habe dir mein

Leben zu verdanken, und es gehört dir.« »Es gehört immer noch dir, mein Freund, und nur du allein hast über es

zu entscheiden. Ich zwinge dich nicht, mir zu folgen.« »Das ist auch unnötig. Los, gehen wir!« Ich nickte ihm dankbar zu und sah rechts eine Bewegung. Ein Kralasene

schlich durch den Gang auf uns zu, den Strahler schußbereit. Schon hob Ta-Amonte seine Waffe, als ich ihm zuvorkam. Ich sprang aus der Nische, in der wir uns verborgen hatten, und schlug dem Überraschten den Strah­ler aus der Hand. Dann bog ich ihm den Arm auf den Rücken.

»Wo ist ein Lift, der nach oben führt?« fragte ich ihn. Die anderen Gefangenen umringten uns. Ich sah ihnen an, daß sie bereit

waren, eine Hinrichtung vorzunehmen, aber ich winkte ab. Niemals würde ich dazu meine Zustimmung geben. Ein wehrloser Gefangener durfte nie­mals getötet werden. Wenn wir angegriffen wurden und uns wehrten, war das etwas anderes.

»Wo ein Lift ist, will ich wissen, oder möchtest du, daß ich dich denen

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da überlasse?« Er deutete zögernd auf eine fugenlose Tür, die ich bisher übersehen hat­

te. »Dort«, sagte er tonlos. »Antigrav.« Ich ließ ihn laufen, obwohl Ta-Amonte und seine Freunde protestierten. »Hört zu!« forderte ich sie auf, und sie schwiegen. »Ich werde versu­

chen, zur Zentrale zu gelangen und den Blinden Sofgart zu stellen. Ihr könnt mich begleiten, aber ich mache keinem einen Vorwurf, wenn er es vorzieht, den Ausgang zu erreichen und zu fliehen. Draußen warten die Abschußkommandos auf euch, das muß euch klar sein. Aber mein Weg wird gefährlicher sein. Die Wahl überlasse ich euch.«

Die Zentrale und der Blinde Sofgart interessierten sie nicht. Sie wollten nur raus aus dem Sepulkorvat, und ich konnte das nur zu gut verstehen. Sie riefen mir noch gute Wünsche zu, dann eilten sie in entgegengesetzter Richtung davon.

Nur Kelese Ta-Amonte blieb. »Du willst wirklich mitkommen?« »Das sagte ich bereits, Satago. Gehen wir.« Ich begann ihn zu bewundern, denn ich wußte, daß er nur zu gern seinen

neuen Freunden gefolgt wäre, um aus der Festung herauszugelangen. Wenn Farnathia nicht gewesen wäre, hätte ich mich ihnen sicherlich ange­schlossen, aber so lag noch eine Aufgabe vor mir.

Ich deutete auf die Tür und drückte den unauffälligen Knopf daneben. »Gehen wir.«

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3.

Die Kabine wurde durch Antigravfelder gehalten und bewegt, wenn man die entsprechenden Kontrollen im Innern bediente.

Es fiel mir nicht schwer, ihren Zweck zu erraten, aber ich wunderte mich doch ein wenig, daß der Lift noch funktionierte. Langsam stiegen wir nach oben.

Es gab sieben schwarze Knöpfe, von unten an gerechnet. Dann kamen drei rote Knöpfe, die wahrscheinlich den verbotenen Sektor bezeichneten. Danach folgten fünf weitere schwarze Knöpfe. Erst der sechste und ober­ste war wieder rot.

Ich hatte den ersten roten eingedrückt. »Was wir versuchen, ist ziemlich aussichtslos«, sagte Ta-Amonte und

sortierte seine Energiestrahler, deren Anzahl inzwischen auf vier ange­wachsen war. Ich selbst hatte drei vollgeladene im Gürtel stecken und zwei in den Händen. »Du kannst deine Farnathia in diesem Labyrinth nie­mals finden!«

Vielleicht hatte er auch diesmal recht, aber ich wünschte es mir nicht. Nur der Zufall konnte mir jetzt noch helfen, sie zu finden, oder eben der Blinde Sofgart selbst. Wenn ich ihn noch einmal in meine Gewalt bekam, würde ich nicht mehr so leichtsinnig sein, das hatte ich mir geschworen.

»Ich muß es versuchen«, erwiderte ich kurz, denn der Lift hielt an. Die Tür öffnete sich automatisch.

Wir sahen einen breiten, hellerleuchteten Korridor, der sich nach beiden Seiten erstreckte und menschenleer war. Maschinen brummten irgendwo. Das Vibrieren war diesmal über uns.

Wir verließen die Kabine, die Waffen schußbereit. Niemand begegnete uns. Ich nahm an, daß der Blinde Sofgart alle ver­

fügbaren Kralasenen und Roboter in die unteren Regionen der Festung be­ordert hatte, in denen die befreiten Gefangenen den Weg in die Freiheit suchten. Sie richteten einen unübersehbaren Schaden an und mußten so schnell wie möglich wieder eingefangen werden.

Das gab uns eine Atempause. Ich öffnete die nächste Tür. In der Halle erblickte ich ein Gewirr techni­

scher Einrichtungen und vermutete, daß es sich um einen Energieverteiler handelte. Zwei Wartungsroboter verrichteten ihre Arbeit, ohne sich um uns zu kümmern. Sie bedeuteten keine Gefahr für uns.

»Los, hier verschnaufen wir erst einmal«, sagte ich und zog Ta-Amonte mit mir. Lautlos schloß sich die Tür hinter uns. Wir setzten uns auf einen Generatorblock. »Eine halbe Stunde Ruhe wird uns guttun.«

»Und inzwischen fangen sie ihre Opfer wieder ein und können sich er­

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neut um uns kümmern«, warnte er. »Das tun sie ohnehin.« Er sah mich von der Seite her an. Dann fragte er: »Wer bist du eigentlich? Ich kann mir nicht vorstellen, daß du ein ent­

laufener Raumfahrer bist. Du bist mehr, Satago. Warum vertraust du mir nicht?«

Ich hatte diese Frage erwartet und beschlossen, ihm reinen Wein einzu­schenken, wenn sich herausstellen sollte, daß er der Wahrheit würdig war.

Er war es. »Es ist eine lange Geschichte, die aber auch in wenigen Worten erzählt

werden kann, Kelese. Du hast dich als mein Freund erwiesen, besonders in den letzten Minuten. Du sollst die Wahrheit erfahren. Ich bin Gonozals Sohn, und damit bin ich der rechtmäßige Erbe des arkonidischen Herr­scherthrons.« Ich gab seinen verblüfften Blick zurück. »Glaubst du mir?«

Die Eröffnung hatte ihn so getroffen, daß er mich nur noch wortlos an­starren konnte. Dann nickte er, wie im Traum.

»Ich hatte geahnt, daß du etwas Besonderes bist – aber unser rechtmäßi­ger Imperator …?«

»Es ist die Wahrheit.« Er schüttelte mehrmals den Kopf, aber die Geste drückte keine Ungläu­

bigkeit aus, nur Überraschung und Erstaunen. »Ich glaube dir … Euch …« »Laß das, Kelese, wir sind Freunde.« »Ich glaube dir, Satago … Gonozal … wie soll ich sagen?« »Mein Name ist Atlan, aber das wissen nur wenige.« »Atlan, ich bin sehr glücklich, daß wir uns getroffen haben. Du wirst in

mir einen Freund haben. Aber sag mir, was ist mit deinem Onkel, Orbana­schol?«

»Er hat meinen Vater ermorden lassen, und dafür wird er mir eines Ta­ges büßen. Der Blinde Sofgart ist sein Werkzeug. Vielleicht werde ich es benutzen, um Orbanaschol zu stürzen.«

Er schwieg. Ich wußte, daß ich einen neuen Verbündeten gefunden hatte, einen Ar­

koniden der vornehmen Klasse, von deren Unterstützung sehr viel abhing. Nach und nach mußte ich sie alle auf meine Seite bekommen, denn allein auf mich angewiesen konnte ich meine ehrgeizigen Pläne niemals durch­führen.

Ich betrachtete die Anlage. Wenn man sie lahmlegte, stieg die allgemei­ne Verwirrung im Sepulkorvat noch weiter, aber man würde auch sofort wissen, wo wir uns verborgen hielten.

Ein zweischneidiges Schwert also … ich verwarf den Gedanken.

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Wenn ich schon eine technische Anlage außer Betrieb setzte, dann muß­te es die wichtigste der Folterfestung sein. Die gesamte Energieversorgung mußte ausfallen, die Zentrale selbst, die Luftversorgung und Kühlung …

Auf dem Gang war niemand, als wir die Halle verließen und weitergin­gen. Überhaupt war es hier oben viel ruhiger als unten bei den Gefange­nen. Sämtliche Wachmannschaften mußten dorthin beordert worden sein, um die Entflohenen wieder einzufangen. Ich hoffte, daß ihnen das nicht so schnell gelang.

Nach weiteren hundert Metern kam mir der Korridor bekannt vor, und als ich die Säulen vor mir sah, wußte ich, wo wir waren:

Der Spielsaal, diesmal allerdings ohne Figuren und Spieler! Hier würde uns der Blinde Sofgart zuletzt vermuten. Aber das half mir

nur wenig. Ich wollte Farnathia finden und befreien, mich aber nicht für alle Zeiten hier verstecken.

Ta-Amonte erriet meine Absichten. Er deutete zur anderen Seite des Spielfeldes.

»Aus dem Gang dort kamen die Roboter und die Spielfiguren. Er muß also zu weiteren Gefängnissen führen. Ich nehme an, der Blinde spielt nur mit besonders wertvollen Gefangenen Garrabo, und deine Farnathia ist be­stimmt wertvoll für ihn.«

Ich nickte ihm zu und überquerte schnell das quadratisch angelegte Mu­ster. Er folgte mir hastig bis in den Korridor, der vor einer großen Tür en­dete. Die Öffnungskontrollen waren übersichtlich angebracht und bedeute­ten kein Problem. Besondere Sicherheitsmaßnahmen schien es im verbote­nen Teil der Festung nicht zu geben.

Wir begegneten keinem Lebewesen, als wir weiter in den Kommando­teil des Sepulkorvats eindrangen und uns wahrscheinlich dessen Nerven­zentrum näherten. In einer der Hallen entdeckte ich eine ganze Reihe ses­selartiger Stühle, die durch Leitungen miteinander verbunden waren. Dicke Kabel führten zu Schaltpulten. Bildschirme und Meßinstrumente bestätigten meine Vermutung, daß es sich um eine gigantische Hypnoanla­ge handelte. Hier konnte der Blinde Sofgart auch ohne jede Folter alle Ge­heimnisse aus seinen Gefangenen herausholen. Die Anlage erfüllte auch einen weiteren Zweck: Die Delinquenten konnten gleichgeschaltet oder umfunktioniert werden. Man konnte sie zu willenlosen Sklaven und Werk­zeugen machen.

Einen Augenblick kam mir der Gedanke, die Anlage zu zerstören, aber dann ließ ich ihn wieder fallen. Viel war damit nicht gewonnen, und man würde uns sofort entdecken.

Eine geöffnete Verbindungstür führte in eine andere Halle. Sie war an­gefüllt mit den technisch raffiniertesten Folterinstrumenten, die man sich nur vorstellen konnte. Fahrbare Sessel, an die das Opfer gefesselt wurde,

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konnten überall hingerollt werden, ohne daß eine Flucht möglich war. Vier Fernsehkameras in den Ecken, dicht unter der Decke, bestätigten

meine Vermutung, daß sich der Blinde Sofgart an den Qualen seiner Ge­fangenen weidete und jedes Wort hörte, das gesprochen wurde.

Ta-Amonte erstarrte, als er die Kameras erblickte. Ich beruhigte ihn: »Keine Panik, Kelese! Wenn sie eingeschaltet sind, hat er uns längst

entdeckt. Dann sind seine Häscher längst auf dem Weg zu uns. Aber sie können auch abgeschaltet sein, was ich eher vermute. Komm, suchen wir weiter. Vielleicht haben wir Glück.«

Wir fanden weitere Folterkammern, in einer sogar einige tote Gefange­ne, die man einfach liegengelassen hatte, als der Alarm ausgelöst wurde.

Ich zog Ta-Amonte hinter einen Schaltblock, als ich plötzlich Stimmen und Schritte hörte. Sie näherten sich aus der entgegengesetzten Richtung, folgten uns also. Hatte man uns endlich entdeckt, oder war es purer Zu­fall?

Fast zwei Dutzend Kralasenen betraten in Begleitung von fünf schweren Kampfrobotern den Saal, der durch seine überladen wirkende technische Einrichtung sehr unübersichtlich war. Trotzdem fanden sie uns.

Sie stellten sich so auf, daß die beiden einzigen Zugänge versperrt wur­den und schnitten uns damit jeden Rückzug ab. Dann eröffneten sie das Feuer auf uns.

Der Schaltblock bot eine ausgezeichnete Deckung. Ta-Amonte sicherte die eine Seite ab, ich die andere. Wir hatten unsere Waffen neben uns ge­legt, um mehr Bewegungsfreiheit zu erhalten. Mir ging es in erster Linie darum, die fünf Roboter außer Gefecht zu setzen, denn sie bedeuteten die größte Gefahr.

Es gelang mir, zwei von ihnen sofort zu vernichten, ein dritter torkelte schwer angeschlagen in den Hintergrund und begann damit, die Schaltpul­te zu zertrümmern. Ich mußte das Programmierungszentrum beschädigt haben und hatte so ungewollt einen Verbündeten gewonnen.

Ta-Amonte räumte unter den Kralasenen auf, die uns offensichtlich un­terschätzt hatten. Sie achteten nun mehr auf Deckung, denn die Hälfte von ihnen war bereits tot.

Jemand rief uns zu: »Ergebt euch, werft die Waffen fort: Das ist eure einzige Chance!« Ta-Amonte erschoß ihn. Das Gefecht flammte nach der winzigen Feuerpause erneut auf. Ich er­

wischte den vierten Roboter und beschädigte den fünften so, daß er aus­fiel. Nun blieb mir nichts übrig, als mich den restlichen Kralasenen zu widmen.

Es waren noch sechs, und sie versuchten, durch den Eingang zu fliehen,

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durch den sie auch hereingekommen waren. Ta-Amonte schnitt ihnen je­doch durch gezieltes Feuer den Rückzug ab. Sie wehrten sich verzweifelt, aber wenn wir sie entkommen ließen, würden sie bald mit einer erdrücken­den Übermacht wieder erscheinen.

Neben mir stieß Ta-Amonte einen Schrei aus. Er wälzte sich auf den Rücken, die Waffe entglitt seinen erschlaffenden Händen.

Im Augenblick konnte ich mich nicht um ihn kümmern. Vier Kralase­nen schossen noch immer auf mich, ohne allerdings zu treffen. Ta-Amonte mußte sich zu weit aus der sicheren Deckung hervorgewagt haben. Er leb­te noch, das sah ich.

»Durchhalten!« rief ich ihm ermunternd zu. »Gleich haben wir Zeit!« Ich erwischte den letzten Kralasenen, als er gerade verschwinden woll­

te. Der ganze Raum war inzwischen ein einziger Glutofen. Mir wurde fast übel, als ich Ta-Amontes Wunde untersuchte. Ich er­

kannte auf den ersten Blick, daß ich ihm nicht mehr helfen konnte. Er schüttelte den Kopf und hielt mich fest. »Sinnlos!« hauchte er so leise, daß ich mich zu ihm hinabbeugen mußte,

um ihn zu verstehen. »Es geht zu Ende … aber ich bin nicht umsonst ge­storben, Atlan.«

»Nicht sprechen, du vergeudest nur deine Kräfte.« Wieder schüttelte er den Kopf. »Ich hoffe, du findest Farnathia und kannst entkommen.« Er machte ei­

ne Pause, dann nahm er sich noch einmal zusammen: »Ich bin froh, dir be­gegnet zu sein, Atlan. Ich wünsche dir … wünsche dir …«

Ich konnte mir denken, was er mir wünschte, auch wenn er starb, bevor er es mir sagen konnte.

Nun war ich ganz allein auf mich angewiesen, allein in der Folterburg des Blinden Sofgart. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis ich abermals hier entdeckt wurde.

Ich mußte allein damit fertig werden. Wichtig erschien mir, von hier zu verschwinden, denn das Gefecht

konnte nicht unbemerkt geblieben sein. Ich mußte hinauf zum Plateau, auch wenn ich die Suche nach Farnathia vorerst aufgab. Tot oder gefangen konnte ich ihr nicht helfen.

In der dritten Halle war endlich eine Tür, die wieder hinaus auf den Korridor führte. Ich besaß drei funktionsfähige Strahler und war fest ent­schlossen, sie auch anzuwenden.

Ich irrte durch ein Labyrinth von Gängen, fand aber den Lift nicht mehr. Niemand begegnete mir, obwohl ich mehrere Türen öffnete, immer in der verrückten Hoffnung, zufällig Farnathias Zelle zu finden.

Und dann hörte ich Schritte. Ich drückte mich gegen die Wand des Ganges, denn es war gerade keine

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Tür in der Nähe. Dann atmete ich erleichtert auf. Die Schritte verrieten, daß es nur eine Person war, die mir entgegenkam. Damit wurde ich leicht fertig.

Zu meiner Überraschung jedoch erschien im hellen Deckenlicht vor mir kein Kralasene, sondern ein zerlumpter Gefangener. Er war nicht bewaff­net.

Ich ließ den Strahler sinken und wartete, bis er auf gleicher Höhe wie ich war, ohne mich bemerkt zu haben.

»Bleib stehen!« warnte ich ihn. Sein Gesicht spiegelte blankes Entsetzen wider, aber er gehorchte so­

fort. Voller Angst blickte er mich an, mußte dann aber wohl erkennen, daß ich keine bösen Absichten hatte, obwohl ich wie ein Kralasene gekleidet war. Ich sah, wie er sich entspannte.

»Wer hat dich freigelassen?« Er verstand mich, daran konnte kein Zweifel bestehen, aber er antworte­

te nicht. Er machte nur eine Geste, deren Sinn ich nicht deuten konnte. »Woher kommst du? Aus den Gitterkäfigen?« Diesmal nickte er bestätigend, sagte aber wieder kein Wort. »Kann du nicht reden?« Diesmal schüttelte er heftig den Kopf und off riete den Mund. Er hatte keine Zunge mehr. Da wir nichts zum Schreiben bei uns hatten, war die Verständigung

nicht einfach, aber soviel fand ich heraus: Er war nicht aus den unteren Gewölben geflohen, sondern in einem Gefängnis hier oben untergebracht gewesen. Ein Kralasene hatte seine Zelle geöffnet und war dann fortge­gangen.

Das war unbegreiflich und unlogisch. Aber wenn ich es auch nicht verstand, so wurde mir doch eines klar: Es

gab im verbotenen Teil der Festung Gefängniszellen, wenn ich auch noch keine bisher entdeckt hatte.

»Hör zu!« sagte ich zu dem Bedauernswerten. »Führe mich zu den Ge­fängniszellen. Ich suche einen Gefangenen.«

Er zögerte, aber als ich meinen Worten, so schwer mir das auch fiel, mit der Waffe Nachdruck verlieh, drehte er sich um und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Ich folgte ihm in geringem Abstand.

Immer mehr Gänge zweigten von dem Hauptkorridor ab, und in einen von ihnen bog mein unfreiwilliger Führer ab. Eine Tür, die den ganzen Gang einnahm, stand weit offen. Dahinter sah ich die bekannten Gitterzel­len, aber keinen einzigen Wärter.

So verdächtig das auch sein mochte, ich achtete nicht darauf. Ich prote­stierte auch nicht, als der Stumme mir zunickte und einfach davonging. Sein Gang war seltsam mechanisch, als habe man ihn aufgezogen – oder

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hypnobehandelt. Natürlich, das war es! Aber warum? Mir blieb nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, denn eine helle Stim­

me rief: »Atlan! Hier bin ich!« Farnathia! Unter Tausenden hätte ich diese Stimme wiedererkannt. Ich vergaß alle

Überlegungen und lief in den Gang hinein. »Hier, Atlan!« Sie stand in ihrer Zelle und sah mir entgegen. Tränen rannen ihr über

die Wangen, und sie streckte mir die Hände entgegen, die ich ergriff und fest drückte.

»Farnathia! Habe ich dich endlich gefunden!« »Wie kommst du hierher?« »Das hat Zeit bis später, erst muß ich dich aus der Zelle holen. Tritt in

die äußerste Ecke zurück, es wird heiß werden. Schnell!« Ich mußte jeden Augenblick mit dem Eintreffen von Robotern oder

Kralasenen rechnen und durfte keine Zeit verlieren. Während Farnathia sich zurückzog, öffnete ich das einfache Schloß.

Die Gefangenen in den anderen Käfigen sahen unbeteiligt zu, während ich Farnathia befreite. Nur zwei oder drei von ihnen forderten mich auf, auch ihre Zellen zu öffnen, aber ich konnte ihren Wunsch nicht mehr er­füllen.

Zwei Kampfroboter erschienen im Eingang und hoben die Waffenarme. Ich stieß das Mädchen in ihre Zelle zurück und warf mich zu Boden.

Noch bevor sie das Feuer eröffnen konnten, erledigte ich die beiden Robo­ter mit zwei gutgezielten Feuerstößen. Krachend stürzten sie zu Boden und rührten sich nicht mehr. Mindestens in diesem Augenblick mußte in der Steuerzentrale erneut Alarm ausgelöst worden sein.

Ich ergriff Farnathia und warf sie über meine Schulter. »Bleib ruhig liegen, dann kommen wir schneller voran. Bist du ge­

sund?« »Mir ist nichts geschehen, aber das alles hier ist so furchtbar. Ich habe

schreckliche Dinge gesehen.« »Festhalten!« warnte ich und setzte mich in Bewegung. Ich spürte kaum ihre Last, denn ich hatte jetzt genug damit zu tun, über

die gestürzten Roboter zu klettern und auf den Hauptkorridor zu gelangen. Auch wollte ich mich beeilen und diesen Sektor der Festung verlassen, ehe die Kralasenen auftauchten, die sicherlich noch genug in den unteren Trakten zu tun hatten, um die entflohenen Häftlinge wieder einzufangen.

Ich begriff noch immer nicht, welcher Zufall mir da zu Hilfe gekommen

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war, meine Farnathia wiederzufinden. Aber – war es wirklich nur ein Zu­fall gewesen? Der stumme Gefangene, der mich hierher geführt hatte …, war er echt gewesen?

Mir kamen plötzlich Zweifel, aber ich verscheuchte sie wieder. Ich trug Farnathia auf meiner Schulter, das war kein Traum, sondern wunderbare Realität. Warum sollte ich länger darüber nachdenken, wie es geschehen konnte? Die Hauptsache war doch, es war geschehen.

»Laß mich herunter, ich kann gehen«, sagte sie. »Dann kommen wir schneller voran.«

»Du bist noch zu schwach, Farnathia.« Sie strampelte, um mir ihre Stärke zu zeigen, aber ich gab nicht nach.

Ich hielt sie fest und rannte weiter, in den breiten Hauptkorridor hinein, aber jetzt in die andere Richtung, die ich noch nicht kannte.

Als vor uns einige Roboter erschienen, setzte ich Farnathia ab. »Preß dich gegen die Wand, damit du kein großes Ziel bietest«, sagte

ich zu ihr und zog den Strahler. Die beiden anderen ließ ich im Gürtel stecken. »Und rühr dich nicht!«

Sie gehorchte verschüchtert, während ich die Roboter erwartete. Zu meinem nicht geringen Erstaunen ignorierten sie mich völlig, mar­

schierten an mir vorbei und verschwanden in einem Seitengang. Ich starrte ihnen fassungslos nach. Dann fand ich eine plausible Erklärung: Die Gefangenen – oder auch

Ta-Amonte und ich – hatten einen wichtigen Teil oder ein Relais der Pro­grammierungs- und Überwachungszentrale beschädigt. Die Roboter mar­schierten zwar noch wie bisher durch das Sepulkorvat, aber der Alarm hat­te sie nicht mehr erreicht. Sie kümmerten sich nicht um entflohene Gefan­gene, sie patrouillierten nur.

Das betraf natürlich nicht alle Roboter, wie die Erfahrung bewiesen hat­te.

Farnathia kam zu mir. »Weißt du denn den Weg?« »Genausowenig wie du, mein Liebes. Wir müssen nach oben, glaube

ich. Dort gibt es Gleiter. Aber damit sitzen wir noch immer auf der Folter­welt fest. Wir werden ein Schiff finden müssen.«

»Wie kamst du hierher?« »Das erzähle ich dir später. Komm, gehen wir weiter. Es muß doch

einen Lift geben!« Noch einmal begegneten wir passiven Robotern, dann einem Trupp ent­

flohener Gefangener, die sofort das Feuer auf mich eröffneten, weil ich ja noch immer die Uniform eines Kralasenen trug. Ich konnte das Mißver­ständnis aufklären, ehe ich jemanden töten mußte. Sie erkannten mich wieder.

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»Wir werden den Blinden finden und umbringen!« erklärte mir ihr An­führer, ein Arkonide. »Sonst kommen wir nie hier heraus.«

»Niemand weiß, wo er sich aufhält«, gab ich zu bedenken. »Wir werden ihn finden!« betonte der Anführer entschlossen. »Wir ha­

ben ohne seinen Tod keine Chance, jemals von dieser Welt fortzukom­men.«

Ich mußte ihm recht geben, und weil ihr Plan meine eigene Flucht nur unterstützen konnte, unternahm ich auch nicht den Versuch, sie von ihrem Unternehmen abzubringen.

»Viel Glück!« wünschte ich ihnen. Sie hasteten weiter. Ich nahm Farnathias Hand, die sie mir willig überließ. »Achte auf Türen ohne Fugen. Sie sehen aus wie die Wand, aber man

erkennt ihr Vorhandensein an einem unauffälligen Knopf. Das sind die Lifte.«

Der Korridor wirkte endlos. Er erstreckte sich nun schnurgerade vor uns und verlor sich in der Ferne. Es gab zwar noch immer Seitengänge und Türen, aber keinen Lift.

Und dann erlosch das Licht. Einen Augenblick lang war ich vor Schreck so gelähmt, daß ich keinen

Schritt weitergehen konnte. Farnathia schmiegte sich an mich. »Keine Angst, Liebes. Das waren die entflohenen Gefangenen, sie ha­

ben eine der Energieanlagen zerstört, vielleicht aber nur eine Verteilersta­tion. Geh du auf der rechten Seite weiter, ich nehme die linke. Der Lift­knopf – wenn wir einen finden – ist genau in Schulterhöhe. Du wirst ihn mit der Hand fühlen können …«

Das war reine Theorie. Ich wußte es, sagte es ihr aber nicht. Auf keinen Fall durfte ich ihr jetzt den Mut nehmen.

Ich hatte seit langer Zeit nichts mehr gegessen, aber der Hunger machte mir nichts aus. Viel schlimmer war der Durst. Und Farnathia?… »Hast du zu essen bekommen?« fragte ich, als wir beiderseits des dunklen Korridors weitergingen und uns mit den Händen vorantasteten. »Und zu trinken?«

»Ich bin satt und nicht durstig«, bekannte sie. Wahrhaftig, der Blinde Sofgart mußte sie für eine ganz besondere Ge­

fangene halten, wenn er so für sie sorgen ließ. Um so seltsamer war es, daß ich sie so leicht hatte befreien können.

Ich unterdrückte das aufflackernde Mißtrauen. Und genau in diesem Augenblick des Zweifels rief Farnathia plötzlich: »Ein Knopf! Meine Hand hat einen Knopf berührt.« Ich ging zu ihr und fand ihre Hand. Es war ein Liftknopf.

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4.

Zu meiner maßlosen Verblüffung funktionierte er, obwohl das Licht im Korridor noch immer nicht brannte. Vielleicht handelte es sich um ver­schiedene Energiezubringer. Jedenfalls drückte ich den obersten roten Knopf, und die Kabine glitt aufwärts.

Farnathia sah mich an, aber ich konnte ihren Blick nicht deuten. Es war nur dämmrig in der kleinen Kabine, und ich fühlte ihre körperliche Nähe.

»Hat man dich gefoltert?« Sie schüttelte den Kopf. »Aber man hat doch Fragen gestellt, oder …?« Wieder das Kopfschütteln. »Und der Blinde Sofgart? Er hat sich doch eingehend mit dir beschäf­

tigt. Ich weiß es, denn ich war auf dem Schiff, das dich hierher brachte. Bitte, versuche dich zu erinnern, falls du es vergessen haben solltest! Was wollte er von dir wissen?«

Sie sah mich mit einem Blick an, der so Hilflos und voller Qual war, daß ich es nicht wagte, weitere Fragen zu stellen.

Die Kabine hielt. Bevor sich die Tür automatisch öffnen konnte, zog ich den Strahler aus

dem Gürtel und entsicherte ihn. Die beiden anderen waren noch voll gela­den. Ich rechnete damit, zumindest von einer Routinewache empfangen zu werden.

Und ich irrte mich nicht. Ich schob Farnathia hinter mich, als ich die drei Kralasenen sah, die

neugierig auf die sich öffnende Tür starrten. Ihre Waffen senkten sich, als sie mich sahen. Einer von ihnen grinste sogar und sagte:

»Ah, unsere bevorzugte Gefangene! Ist es soweit?« Im Augenblick fiel mir keine passende Antwort ein. »Was meinst du?« fragte ich ratlos und behielt die Waffe in der Hand. »Sie soll doch an einen anderen Ort gebracht werden, soweit uns be­

kannt ist. Stell dich nicht dumm, wir plaudern nicht. Wir wollen nur wis­sen, wann wir endlich mit ihr an der Reihe sind. Es gibt nur wenig Frauen auf dieser verdammten Welt.«

Nun begriff ich. Farnathia sollte, wenn der Blinde Sofgart alles von ihr erfahren hatte, den Kralasenen zur Belustigung dienen – zumindest schien er ihnen das versprochen zu haben. Ich ging geistesgegenwärtig darauf ein.

»Geheimer Befehl, meine Freunde. Aber wahrscheinlich wird sich euer Wunsch bald erfüllen. Ich darf nichts verraten.«

Nun grinsten sie alle drei. Sie mußten mich meiner Uniform wegen für einen der ihren halten.

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»Genügt auch so.« Der Sprecher beugte sich ein wenig vor. »Was ist ei­gentlich unten im Sepulkorvat los? Es hat Alarm gegeben.«

»Das ist der Grund, warum die Gefangene in Sicherheit gebracht wird. Wo stehen die Gleiter?«

»Im Hangar. Nimm das Rollband, sonst wird die Kleine zu schwach. Und wenn du zurückkommst, dann sagst du uns, wohin du sie gebracht hast. Vielleicht nach der Siedlung Perkora.«

»Vielleicht«, sagte ich, ohne eine Ahnung davon zu haben, wo Perkora eigentlich lag.

Die Rollbänder gingen ebenfalls in entgegengesetzten Richtungen und verliefen quer über das Plateau. Am Horizont erkannte ich die flachen Ge­bäude, etwas mehr als tausend Meter entfernt. Das mußten die erwähnten Hangars sein.

Farnathia hielt sich tapfer. Sie hatte kein Wort mehr gesprochen, seit wir den Lift verlassen hatten. Selbst der Anblick der drei Kralasenen schi­en sie nicht erschüttert zu haben.

Ich schob sie auf das Rollband und stellte mich dann neben sie. »Hier sind wir vorerst sicher, Farnathia«, beruhigte ich sie. »Die Wa­

chen lassen uns anstandslos durch, ich nehme an, die ganze Organisation funktioniert nicht mehr. Das ist unsere Chance.«

»Hoffentlich.« Mehr sagte sie nicht dazu. Ich mußte an Kelese Ta-Amonte denken. Kaum hatte ich einen zuver­

lässigen Freund gefunden, mußte er sterben. Wann endlich würde es mir gelingen, eine beachtliche Streitmacht zusammenzutrommeln, um Orbana­schol die Stirn bieten zu können? Vielleicht würde es notwendig werden, die führenden Offiziere der Flotte zu überzeugen, daß sie auf der falschen Seite standen, aber wie sollte ich das bewerkstelligen, ohne mich der Ge­fahr auszusetzen, sofort gefangengenommen und ausgeliefert zu werden?

Fast hätte ich den ursprünglichen Zweck meines ganzen Unternehmens vergessen, nämlich Orbanaschol davon zu unterrichten, daß es mich gab – mich, den rechtmäßigen Thronfolger.

»Sie kümmern sich nicht um uns!« sagte Farnathia und holte mich mit ihren Worten in die Wirklichkeit zurück.

Auf dem anderen Rollband, das vom Hangar zum Lift führte, zogen Kralasenen und Kampfroboter vorbei. Einige der Männer winkten, als sie Farnathia sahen, und ihre Gesichter drückten freudige Erwartung aus. Der Blinde Sofgart schien es so zu halten, daß er seinen treu ergebenen Die­nern weibliche Gefangene nach dem Verhör übergab – sozusagen als Son­derprämie.

»Wir sind bald da«, gab ich wortkarg zurück. So glücklich ich auch war, sie endlich gefunden und aus den Klauen des

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Ungeheuers befreit zu haben, ein merkwürdiges Gefühl blieb. Das Gefühl nämlich, daß alles viel zu glatt gegangen war. In mir war ein Mißtrauen, das ich nicht erklären konnte.

Allmählich näherten wir uns den flachen Gebäuden. Nach allen Seiten brach der Horizont abrupt ab. Kein Wunder, denn wir

hielten uns immerhin eintausendfünfhundert Meter über der eigentlichen Oberfläche von Ganberaan auf. Der Himmel war wolkenlos, und die rote Sonne brannte erbarmungslos auf uns herab. Ihre Koordinaten mußte ich noch herausfinden, um sie später wieder anfliegen zu können – dann, wenn ich den Blinden Sofgart endgültig erledigte.

Falls es nicht ein anderer vor mir tat. Die Gleiter standen im Freien. Alle paar Minuten startete oder landete

einer. Es würde nicht auffallen, wenn einer mehr startete. »Es sind viele Kralasenen dort«, machte Farnathia mich aufmerksam.

»Sie werden uns aufhalten und Fragen stellen.« »Abwarten«, riet ich. Ich hatte eigentlich keinen Grund, pessimistisch zu sein. Bisher war al­

les gutgegangen. Der Rest konnte kaum schwieriger sein. Die Frage war nur, wohin ich mit dem Gleiter fliegen sollte, wenn es mir wirklich gelang, einen zu erhalten.

Perkora fiel mir ein, die Siedlung. Dort mußten die Kralasenen leben, wenn sie keinen Dienst im Sepulkorvat versahen, sie konnte also nicht weit entfernt sein. Ob ich dort Hilfe fand, war eine andere Frage.

Ich sah die Gleiter auf den runden Startflächen stehen, allein und unbe­wacht. Dafür wimmelte es in der Nähe der flachen Gebäude von Robotern und Kralasenen. Das Rollband endete unmittelbar bei den Gebäuden. Wenn wir zu den Gleitern wollten, mußten wir vorher abspringen.

Ich nahm Farnathias Arm. »Wir springen gleichzeitig, aber du darfst das Tempo nicht unterschät­

zen. Ein Stück mitlaufen.« Der Absprung gelang, ohne daß wir stürzten. Als wir endlich wieder si­

cher auf den Füßen standen und weitergingen, waren die Gleiter noch hun­dert Meter entfernt. In gleicher Entfernung standen die flachen Gebäude, die Robotwachen und Kralasenen.

Vielleicht war es unser verfrühtes Abspringen, das sie auf uns aufmerk­sam gemacht hatte, jedenfalls bemerkte ich drei Kralasenen, die sich in Bewegung setzten und versuchten, uns unauffällig den Weg zu den Glei­tern abzuschneiden.

Ich ging schneller und zog Farnathia mit. Es währe auch ein Wunder gewesen, wenn alles glattgegangen wäre,

dachte ich. Und ausgerechnet in diesem Augenblick fiel mir eine Frage ein, die ich schon früher hätte stellen müssen.

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»Wie hast du mich eigentlich so schnell erkannt, als ich in die Halle mit den Zellen kam? Ist meine Maske so schlecht?«

Mir schien, als zögere sie eine Sekunde, aber dann sagte sie hastig: »Ich habe dich erwartet – außerdem können mich die gefärbten Haare

und die älteren Gesichtszüge nicht täuschen, Atlan.« Ich gab mich damit zufrieden, außerdem blieb keine Zeit mehr, mich

länger mit dem Problem zu befassen. Wir hatten uns den Gleitern bis auf wenige Meter genähert, aber die drei Kralasenen waren schneller gewesen. Sie erwarteten uns bereits, die Waffen noch im Gürtel.

»Sie haben eine Startgenehmigung?« fragte einer von ihnen. Meine drei Strahler wirkten mit Sicherheit auffällig, denn jeder trug

normalerweise nur eine Waffe. Trotzdem versuchte ich es mit dem bisheri­gen Bluff.

»Ein Geheimauftrag des Blinden Sofgart«, erwiderte ich herrisch. »Keine Genehmigung erforderlich. Lassen Sie uns passieren!«

»Der Alarmzustand wurde auf ganz Ganberaan ausgedehnt, wir müssen daher auf eine Kontrolle bestehen. So lautet die Anweisung der Komman­dozentrale.«

Ich richtete meinen in der Hand liegenden Strahler auf sie und achtete darauf, daß sich mehrere Gleiter zwischen uns und den Gebäuden befan­den, damit man dort nicht beobachten konnte, was sich hier abspielte.

»Öffnet die Tür des großen Gleiters«, befahl ich ruhig. »Wer kann mit so einem Ding umgehen?«

Zwei der Kralasenen taten das, womit ich heimlich gerechnet hatte. Sie griffen nach ihren Waffen, und ich mußte sie erschießen, wenn ich nicht selbst getötet werden wollte.

Der dritte hielt sich zurück. Seine Hände hingen wie leblos herab. »Tür öffnen!« befahl ich zum zweiten Mal. Diesmal gehorchte er widerstandslos. Ich winkte ihm, einzusteigen und

folgte ihm, nachdem ich ihm seine Waffe abgenommen und auf den Bo­den der Kabine geschoben hatte. Damit besaßen wir nun vier voll funkti­onsfähige Strahler.

»Bleibe dicht bei uns«, sagte ich zu Farnathia und gab ihr eine der Waf­fen. »Wenn er versucht, mich zu behindern, töte ihn.«

Sie nickte und tat, was ich ihr gesagt hatte. Der Kralasene setzte sich ohne Kommentar auf den Platz des Kopiloten.

Er schien sich mit seinem Schicksal abgefunden zu haben, obwohl er noch immer nicht begriff, was wirklich geschehen war.

»Wo liegt Perkora?« fragte ich ihn und studierte die einfachen Flugkon­trollen. »Ist es weit bis dorthin?«

Er schüttelte den Kopf. »Nur zehn Flugminuten. Haben Sie den Alarm ausgelöst?«

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»Keine Fragen jetzt! Sie helfen mir, nach Perkora zu gelangen, dann se­hen wir weiter. Jedenfalls retten Sie Ihr Leben, wenn Sie mir helfen. Sie haben gesehen, was ich mit Ihren Freunden machte.«

»Mein Leben retten, wenn ich Ihnen helfe?« Er lachte trocken. »Der Blinde Sofgart wird mir seine Anerkennung schon zollen, wenn er Sie er­wischt hat. Ich bin einfach neugierig, deshalb bin ich jetzt bei Ihnen.«

Er war mutig und ehrlich, aber eben ein Kralasene. Deshalb blieb ich vorsichtig.

Mit einem Blitzstart hob der Gleiter ab und stieg schnell in die Höhe. Mein unfreiwilliger Begleiter deutete nach Westen.

»Südlich an den Sümpfen vorbei. Wir müssen ein Waldgebiet überque­ren, dann kommt eine Hochebene. Perkora ist nicht zu verfehlen.«

Ich vertraute ihm, denn ich hatte keine andere Wahl. »Schalten Sie den Funkempfänger ein«, befahl ich ihm. »Wir müssen

wissen, was inzwischen im Sepulkorvat geschieht. Gibt es eine bestimmte Informationsfrequenz?«

Der Kralasene nickte. Wenig später hörten wir die Stimmen der Kommandozentrale und ihre

Anweisungen. Die Befreiung Farnathias wurde bekanntgegeben, aber der Name des Befreiers wurde dabei nicht erwähnt. Der Blinde Sofgart schien noch immer nicht zu wissen, mit wem er es zu tun hatte. Um so größer würde später seine Überraschung sein.

Inzwischen hatte man auch den Tod der beiden Kralasenen auf dem Pla­teau entdeckt und weitergemeldet. Somit wußte der Blinde Sofgart, daß wir bereits einen Gleiter gekapert und damit unterwegs waren. Jeden Au­genblick mußten die nächsten Maßnahmen bekanntgegeben werden.

Unter uns sackte der Rand des Plateaus in die Tiefe, als wir darüber hin­ausflogen. Ich blieb in gleicher Höhe und hielt mich nach Westen. Der Dschungel begann. Bis jetzt hatte der Kralasene neben mir die Wahrheit gesprochen, aber das besagte noch gar nichts.

Die Stimme eines Mannes, die ich inzwischen nur zu gut kannte, kam aus den Lautsprechern in der Kabine:

»Der geflohene Gleiter wird nicht verfolgt! Es werden keine weiteren Maßnahmen mehr ergriffen, bis auf solche, die noch später angeordnet werden. Der Alarmzustand innerhalb des Sepulkorvats ist hiermit aufgeho­ben, nur die entflohenen Häftlinge sind noch einzufangen. Die Wachtpo­sten haben in ihre Ausgangsstellungen zurückzukehren. Ich kümmere mich persönlich um die beiden Entflohenen. Ende der Durchsage!«

Zweifel packten mich. Auf keinen Fall würde mich der Blinde Sofgart, dessen Stimme ich soeben vernommen hatte, einfach entfliehen lassen. Er würde sich also persönlich um uns kümmern …? Wie meinte er das? Ver­traute er auf den Kralasenen, den wir an Bord des Gleiters hatten?

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Ich glaubte es nicht. Der Blinde Sofgart war viel zu klug, um anzunehmen, daß mich nach

allem, was bisher geschehen war, ein Kralasene noch aufhalten konnte, zu­mal wir in den Besitz eines Gleiters gelangt waren. Allerdings besaßen wir damit noch immer kein Raumschiff, um den Planeten verlassen zu können.

Ich ging tiefer, um die Oberfläche besser beobachten zu können, außer­dem wurde dann eine Ortung erschwert. Je niedriger wir flogen, desto ge­ringer war die Chance, uns zu entdecken.

Der Kralasene neben mir grinste. »Der Blinde Sofgart kümmert sich höchstpersönlich um Sie beide. Hof­

fentlich wissen Sie, was das bedeutet. Ich beneide Sie nicht.« »Sie werden schneller sterben«, gab ich zu und sah mit Unbehagen auf

die Wipfel der Urwaldbäume hinab, die ich fast streifte. »Ich selbst werde Sie töten, wenn uns der Blinde eine Falle stellt. Wieviel Einwohner hat Perkora?«

»Perkora? Ich möchte wissen, was Sie dort wollen? Sie kommen keinen einzigen Schritt weit, ohne sofort erkannt und verraten zu werden.«

»Eben deshalb wird uns dort niemand vermuten.« Er zuckte die Schultern. »Die Zahl der Einwohner schwankt ständig. Unsere Leute verbringen

dort ihren Urlaub, wenn sie Familie haben oder genug Frauen vorhanden sind. Manche wohnen auch ständig dort, wenn sie dienstfrei haben. Fünf­tausend manchmal. Oft auch doppelt soviel.«

Ich wußte nicht, ob er die Wahrheit sprach, aber es spielte auch keine Rolle. Ob fünftausend oder fünfzigtausend Gegner – das blieb sich gleich. Jedenfalls wollte ich nur deshalb nach Perkora, weil es die einzige Stadt auf dem ganzen Planeten zu sein schien.

»Sie werden uns helfen, nicht wahr?« »Ich meine, Sie wollen mich töten? Warum sollte ich Ihnen dabei noch

behilflich sein?« »Weil jeder länger leben will«, erklärte ich ihm. Ehe ich ein weiteres Wort sagen konnte, kam wieder die Stimme des

Blinden Sofgart aus dem Funkempfänger, und diesmal galten seine Worte mir.

Er sagte: »Satago Werbot! Ich weiß, daß Sie mich hören können, wenn Sie den

Empfänger eingeschaltet haben. Vernehmen Sie also meinen Plan: Ihr Gleiter wird in genau einer Minute abstürzen und im Urwald – vielleicht – unbeschädigt landen. Ich warne Sie deshalb, damit Sie Zeit haben, eine Lichtung zu finden, oder meinen Sie, ich ließe mir eine aufregende Verfol­gungsjagd entgehen?«

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5.

Er hatte immerhin meinen falschen Namen herausgefunden. Aber er ahnte noch immer nicht, wer ich in Wirklichkeit war.

»Stellen Sie Rückverbindung her!« rief ich dem Kralasenen zu. »Ich muß mit ihm sprechen.«

»Suchen Sie lieber einen Notlandeplatz«, riet er kaltblütig. »Los!« befahl ich und richtete die Waffe auf ihn. Er hantierte an den Funkkontrollen, dann nickte er. »Sprechen Sie – vielleicht funktioniert es …« Ich sagte: »Blinder Sofgart, wozu die Umstände? Wir haben noch dreißig Sekun­

den bis zum Absturz, wenn nicht alles ein Bluff ist. Gewähren Sie der Ge­fangenen und mir freien Abzug, und Sie werden sich eine Menge Ärger er­sparen.«

Ich wartete. Es erfolgte keine Antwort. Noch zehn Sekunden. Verzweifelt sah ich hinab in das Gewirr der grünen Baumwipfel, um ei­

ne Lücke in ihnen zu entdecken. Ich fand keine. Aber wir flogen auch in geringer Höhe. Ein Blick auf die Instrumente bestätigte, daß der eigentli­che Boden kaum fünfzig Meter unter uns lag.

Vielleicht war alles nur ein Bluff. Trotzdem wandte ich mich um zu Farnathia und sagte:

»Schnall dich an, schnell! Es kann sein, daß die Landung ein wenig hart verläuft – wenn es überhaupt eine gibt.«

»Es wird eine geben!« behauptete der Kralasene, dessen Ruhe ich all­mählich zu bewundern begann. »Oder glauben Sie, der Blinde Sofgart will Sie nur erschrecken?«

»Sie werden genauso sterben wie wir«, erinnerte ich ihn. »Jeder muß einmal sterben.« In diesem Augenblick versagte die Antigravanlage. Der Gleiter taumelte, immer noch von seiner geringen Eigengeschwin­

digkeit gehalten. Aber er sank schnell in die Tiefe, den dichten Wipfeln entgegen. Es gab keine Lücke in dem Laubdach.

Da entdeckte ich keine zwei Dutzend Meter vor mir die Krone eines un­gewöhnlich hohen Baumes, der sich aus dem grünen Meer deutlich her­vorhob. Die Äste waren so dick, daß sie mir stark genug erschienen, auch einen Gleiter tragen zu können. Zumindest konnten sie den Aufprall mil­dern, wenn sie wirklich brachen.

Mir blieb keine andere Möglichkeit, als genau in die riesige Baumkrone

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hineinzusteuern und dann sämtliche Kontrollen rechtzeitig in Nullstellung zu bringen.

Ich klammerte mich an die Armlehnen des Sessels, als das Grün schnell auf mich zukam.

Dann gab es einen fürchterlichen Ruck, und ich verlor das Bewußtsein, als ich mit dem Kopf gegen die Kontrollen schlug. Als ich erwachte, kehrte die Erinnerung nur langsam zurück.

Ich hielt die Augen geschlossen, denn ich war fest davon überzeugt, daß sie in das Gesicht des Teufels blickten, wenn ich sie öffnete.

Aber es war nur Farnathias weiche Hand, die meine Stirn streichelte. »Du bewegst dich – du lebst? Nun sag doch endlich ein Wort, damit ich

weiß, wie es dir geht …! Hast du Schmerzen?« Langsam öffnete ich die Augen. Ich lag in einer mächtigen Astgabelung, sicher und geschützt. Der

Waldboden mochte fünfundzwanzig Meter unter mir sein. Farnathia hock­te dicht neben mir, unverletzt, wie es schien. In einigen Metern Entfernung sah ich den Gleiter, total zertrümmert und schief in den abgebrochenen Zweigen hängend. Er konnte jeden Augenblick in Flammen aufgehen.

»Der Kralasene …?« stöhnte ich, immer noch benommen. »Er ist tot.« »Und du?« fragte ich: »Alles in Ordnung, Liebster. Die Gurte haben mir das Leben gerettet.

Aber auch du hast Glück gehabt.« Ich richtete mich auf. Die Hüften schmerzten. »Bis jetzt – ja. Aber der Blinde hat eine Verfolgungsjagd angekündigt.

Sie wird bald beginnen. Es ist leicht, einen abgestürzten Gleiter zu orten, wenn man die ungefähre Unglücksstelle kennt.«

Ich griff an den Gürtel. »Wir haben noch zwei Strahler. Wo hast du deinen?« Sie deutete in Richtung des Gleiters. »Dort! In der Aufregung …« »Dann hol ihn!« Sie gehorchte ohne Widerrede. Als sie über die Stämme kroch, tat sie

mir leid. Sie hatte sich um mich gekümmert und aus dem Gleiter in die si­chere Astgabel geschleppt, und nun jagte ich sie in die Gefahr zurück, der wir gerade erst entronnen waren.

»Komm zurück!« rief ich und versuchte, mich aufzurichten. Sie schüttelte den Kopf. »Du solltest langsam wissen, wie du dich entscheiden willst«, meinte

sie ruhig und kroch weiter. Wenig später kehrte sie mit dem Strahler zurück. Aus dem Notbehälter des Gleiters brachte sie einige Konserven mit,

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darunter auch einen Wasserbehälter. Ich lächelte sie dankbar an, als sie mir zu trinken gab. Es wurde höchste Zeit, denn ich war halb verdurstet. Dann aßen wir ein wenig.

Es war inzwischen dunkel geworden. Nebelschwaden trieben aus den nahen Sümpfen zu uns herüber, strichen durch die Baumwipfel und ver­kürzten die Sicht. Für positronische Orterinstrumente bedeutete der Nebel jedoch kein Hindernis.

Man würde uns finden, sobald man es wünschte. Perkora lag im Westen, hatte der tote Kralasene behauptet, und ich

mußte es ihm glauben. Zehn Flugminuten vom Plateau entfernt. Wir wa­ren vielleicht sieben Minuten geflogen, bis wir abstürzten. Also noch drei Flugminuten!

Meiner Schätzung nach waren das nicht mehr als fünfzig Kilometer. In zwei oder drei Tagen konnten wir in Perkora sein, wenn alles gut­

ging. Wenn …! Ich hatte einen Vorgeschmack von dem vor uns liegenden Dschungel

erhalten, als ich Ta-Amonte befreite. Natürlich war dies ein anderer Teil des Urwaldes auf Ganberaan, vor allen Dingen ein trockenerer. Es gab hier keine Tümpel und Moraste mit giftigen Insekten. Aber vielleicht lauerten dafür andere Gefahren, die ich noch nicht kannte.

Und hinzu kam die Drohung des Blinden Sofgart, die Verfolgungsjagd genießen zu wollen.

Meiner Schätzung nach konnte diese Jagd nur von der Luft aus veran­staltet werden. Aber zum Glück würde es bald dunkel sein.

Ich richtete mich abermals auf. Die Schmerzen hatten nachgelassen. Es war nur eine Prellung gewesen.

»Wir müssen weiter«, sagte ich mühsam. »Hier können wir nicht blei­ben, weil man den Gleiter bald ortet. Ich steige zuerst hinunter, du kannst mir dann vorsichtig folgen. Ich stütze dich, wenn du den Halt verlierst.«

»Du bist noch viel zu schwach.« »Ich fühle mich wohl, keine Sorge. Außerdem ist es bald Nacht. Am

Tage müssen wir uns verbergen.« Ich ließ mich aus der Astgabel gleiten, bis meine Füße einen Stamm be­

rührten. Er schien mir stark genug, die doppelte Last zu tragen. Vorsichtig tastete ich mich weiter, und zum Glück war es noch hell genug, um die nä­here Umgebung erkennen zu können.

Der Stamm war breit wie ein Pfad, obwohl wir uns noch immer in der Gipfelregion des Baumes befanden. Schlingpflanzen verbanden die einzel­nen Stämme miteinander und gaben meinen tastenden Händen immer wie­der einen festen Halt.

Farnathia folgte mir tapfer und unverzagt.

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Zehn Meter über dem Erdboden – so hoch schätzte ich die Entfernung – wurde es so dunkel, daß wir nichts mehr sehen konnten. Langsam nur ge­wöhnten sich meine Augen an den viel zu schnellen Übergang.

Meine Füße mußten die fehlende Sicht ersetzen. Mit der einen Hand hielt ich Farnathia, mit der anderen klammerte ich mich an den Ästen fest.

So erreichten wir endlich die starken Wurzeln des Baumes und standen auf festem Boden.

Die Nacht war angebrochen. Vor uns lag der unbekannte Urwald mit seinen Gefahren. Und über uns wartete die Jagdmeute des Blinden Sofgart.

Langsam nur kamen wir voran. Jedes Hindernis mußte ich mehr erahnen als ertasten. Sehen konnten wir

überhaupt nichts, aber ich wußte, daß der schwache Energiestrahl der Nar­koseeinstellung des Impulsstrahlers genügte, die nähere Umgebung zu er­hellen.

Farnathia trug die wenigen Lebensmittel, die wir mitgenommen hatten. Wir wußten nicht, wann wir unsere Vorräte würden erneuern können. Zwei oder drei Tage, schätzte ich, vielleicht aber auch mehr.

Die Nacht war voller Geräusche. So unheimlich und voller Gefahren der fremde Urwald auch sein mochte, er war mir immer noch lieber als die be­kannten Gefahren des Sepulkorvat. Ich begann mich zu wundern, daß ich ihnen entkommen war – und warum.

Nur, um dem Blinden Sofgart eine aufregende Verfolgungsjagd zu bie­ten?

Nein, hinter allem steckte ein tieferer Sinn, den ich nur noch nicht be­griff, dessen war ich sicher. In gewisser Beziehung war der Teufel pervers. Er ergötzte sich an den Leiden anderer, und noch viel mehr Freude emp­fand er bei ihren vergeblichen Hoffnungen, die er selbst zerschlug, wenn es soweit war.

Plötzlich wurde der Boden unter meinen suchenden Händen weich. Ich blieb sofort stehen.

»Vorsicht, Farnathia, Sumpf! Hier kommen wir nicht weiter.« »Wo ist Westen?« fragte sie zurück. »Ich weiß es nicht, habe es aber im Gefühl. Wir biegen nun links ab,

müssen dann aber später wieder nach rechts. Das Hochplateau ist bei Ta­geslicht kaum zu verfehlen. Keine Sorge, wir schaffen es. Bisher haben wir ja auch Glück gehabt.«

Sie gab keine Antwort. Ich fand wieder trockenen Boden und tastete mich weiter voran, Farna­

thia bei der Hand. Raubtiere schien es hier keine zu geben, was in unserem Fall mehr als beruhigend war. Auch die Insekten wurden nicht lästig. Wahrscheinlich suchten sie nur im Tageslicht nach ihrer Beute. Es konnte

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aber auch gut sein, daß die Raubtiere, wenn es sie gab, ähnlich Gepflogen­heiten besaßen.

In sieben Stunden kamen wir etwa zehn Kilometer voran, dann begann es zu dämmern. Auf der einen Seite verspürte ich Erleichterung darüber, denn wir kamen wirklich nur sehr langsam voran, auf der anderen Seite er­höhte sich die Gefahr.

»Wir gehen noch ein Stück nach Norden, also nach rechts«, sagte ich, als wir erschöpft auf einer Baumwurzel saßen und etwas aßen. »Ich nehme an, zwischen dem Wald und dem Plateau ist ein Sumpfstreifen. Wir kön­nen ihn nur bei Licht überqueren.«

»Ich bin müde, Atlan.« Ihre Stimme verriet nur zu deutlich, daß sie die Wahrheit sprach. Aber

ich blieb hart. »Dann werde ich dich eben mitziehen, Farnathia. Unser Leben hängt

davon ab, daß wir jetzt nicht aufgeben. Vielleicht hat der Blinde unsere Spur verloren, und bis er sie wiederfindet, sind wir in Sicherheit. Nimm dich zusammen, bitte! Wir müssen weiter!«

Sie nickte in der fahlen Dämmerung. »Schon gut, Atlan. Aber wann werden wir schlafen …?« »Sobald es heiß wird, suchen wir ein kühles Versteck«, versprach ich

ihr. Nach der kurzen Pause rafften wir uns auf, und schon kurze Zeit später

wurde der Boden wieder weich und feucht. Trotzdem gingen wir weiter, denn ich ahnte, daß wir den Sumpfgürtel unter allen Umständen überwin­den mußten, welche Richtung auch immer wir wählten. Nachts war das unmöglich. Es mußte am Tage geschehen.

Aus Erfahrung wußte ich, daß jeder Sumpf seine festen, begehbaren Stellen hatte, wenn man sie zu finden verstand. Das wiederum war nicht schwer, wenn man etwas von der Geologie des entsprechenden Planeten verstand. Von Ganberaans geologischer Struktur hingegen hatte ich nicht die geringste Ahnung.

Ich mußte es also dem Zufall überlassen, eine günstige Stelle zu finden. Zu meiner Überraschung entdeckte Farnathia sie. »Da liegt ein Baum quer über dem Sumpf«, rief sie, als wir vor einem

Graben standen und ich nicht mehr weiter wußte. Ein Sturm mußte ihn gefällt haben, denn er sah noch gesund und kräftig

aus. Der Stamm hatte einen Durchmesser von mindestens drei Metern. Und er überbrückte den Graben.

»Folge mir, aber vorsichtig«, sagte ich. Ich hatte ihre Hand losgelassen, seit es hell geworden war. Nur dieses

eine Hindernis wollte ich noch überqueren, ehe ich eine Pause einlegte, die wir beide verdient hatten. Der Stamm schwankte kaum, als wir auf ihm

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weitergingen. Die grünen Blätter verrieten, daß er noch nicht lange hier liegen konnte.

Wohlbehalten erreichten wir den trockenen Boden der anderen Seite. Der Sumpf lag hinter uns, und damit das Hindernis, vor dem ich mich am meisten gefürchtet hatte.

Ich hielt an. »Du bleibst hier und wartest, Farnathia. Ich klettere auf einen Baum und

versuche mich zu orientieren. Ich muß das Plateau finden, damit wir die Richtung wissen, in der wir weitergehen müssen. Wenn sich etwas in dem Unterholz bewegt, dann feuere darauf. Lasse nichts an dich herankom­men.«

»Und wenn es etwas Harmloses ist?« »Dann warte ab, bis es dich frißt«, sagte ich härter als beabsichtigt. Ich kletterte auf den nächstbesten Baum, nachdem ich ihr noch einen

Strahler gegeben hatte. Nun besaß jeder von uns zwei Waffen. Je höher ich kam, desto besser wurde der Rundblick nach allen Seiten.

Südöstlich sah ich Rauch. Das war etwa die Richtung, aus der wir ge­kommen waren. Vielleicht war der Gleiter inzwischen wirklich in Flam­men aufgegangen und verbrannt. Wahrscheinlich hatten die Äste der dau­ernden Belastung nicht standgehalten und nachgegeben.

Im Nordwesten lag das Plateau. Es stieg stufenartig aus der grünen Ebene empor und schien nur eine

karge Vegetation zu besitzen. Vielleicht war das Klima auf ihm kühler und erträglicher als in der heißen Ebene, ein Grund mehr, dort eine Art Erho­lungsort für die Kralasenen einzurichten. Und noch eine weitere Überle­gung kam hinzu: Das Plateau war ohne Gleiter kaum zu erreichen oder zu verlassen. Es schien von Urwald umgeben zu sein.

Und von den Sümpfen. Langsam kletterte ich wieder hinab und atmete auf, als ich Farnathia

wohlbehalten auf mich warten sah. »Nun?« fragte sie gespannt. Ich setzte mich. »Noch eine ziemliche Strecke, etwa dreißig Kilometer. Aber die Rich­

tung stimmt. Wie fühlst du dich?« Sie trug meinen Antigrav-Regulator, der die erhöhte Schwerkraft von

Ganberaan neutralisierte. Ich hatte mich an die neuen Bedingungen inzwi­schen gewöhnt.

»Von mir aus könnten wir weitermarschieren.« »Wir werden einige Stunden ausruhen«, schlug ich vor. »Es hat keinen

Sinn, die Verfolger unnötig auf unsere Spur zu lenken, wenn sie auch un­ser Ziel ahnen mögen. Der Wald ist groß.«

Wir fanden eine mannshohe Höhle zwischen riesigen Baumwurzeln, in

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die wir hineinkrochen, nachdem ich sie zuvor nach Raubtieren und Unge­ziefer abgesucht hatte. Farnathia trank nur einen Schluck Wasser und streckte sich dann lang aus.

»Wie bist du eigentlich nach Ganberaan gekommen? Ich meine, hast du die Wahrheit gesagt, als der Blinde Sofgart dich fragte? Warst du wirklich auf dem Schiff, mit dem er mich hierherbrachte?«

»Ja, das war ich.« »Du hast kein kleines Raumschiff hier verborgen, mit dem wir fliehen

könnten?« Ich sah sie an. »Warum fragst du? Glaubst du mir nicht?« Sie gab den Blick offen zurück. »Ich weiß es nicht, Atlan. Es könnte doch sein, daß du befürchtest, man

könnte mir das Geheimnis entlocken, wenn man uns gefangennimmt, und du es mir deshalb nicht verrätst.«

»Sicher, so könnte es sein«, gab ich vorsichtig zurück. Mein Extrahirn gab mir einen leichten Warnimpuls, aber ich ignorierte ihn. »Aber ich ha­be kein Schiff auf Ganberaan verborgen, sonst wären wir bereits auf dem Weg in das Versteck.«

Sie schloß die Augen. »Dann wollen wir schlafen und hoffen, daß uns Perkora weiterhilft.« »Das hoffe ich auch.« Als auch ich die Augen schloß, spürte ich die ganze Müdigkeit und Er­

schöpfung, der ich bisher getrotzt hatte. Es dauerte keine zehn Sekunden, bis ich eingeschlafen war. Als ich erwachte, war die größte Mittagshitze vorüber. Farnathia schlief noch. Zum ersten Mal bemerkte ich in ihrem Gesicht eine gewisse Ent­spannung und Ruhe. Wenigstens im Schlaf konnte sie die Gefahr verges­sen, in der wir uns noch immer befanden.

Vorsichtig kroch ich aus der Höhle und nahm einen Strahler mit. Der Baum stand inmitten einer Lichtung, die sich aber nach oben durch

weitverzweigte Äste und ein dichtes Blätterdach fast schloß. Dafür gab es nur wenig Unterholz. In dem noch weichen Boden fand ich nur Farnathias und meine Spuren. Es gab nicht den geringsten Hinweis dafür, daß außer uns beiden noch andere Lebewesen in diesem Dschungel existierten.

In diesem Augenblick sah ich die »Achtbeißer«. Ta-Amonte hatte mir von ihnen berichtet und sie so genannt, weil sie

acht Füße hatten und kräftige Beißzangen, mit denen sie den unglückli­chen Gefangenen winzige Fleischstücke aus dem Körper rissen. Sie waren knapp einen halben Finger lang und krochen relativ langsam voran, aber wenn sie erst einmal Blut gewittert hatten, verloren sie die Spur ihres Op­fers nicht mehr.

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Ich hatte fest angenommen, es gäbe die Achtbeißer nur in den Sümpfen, nicht aber in dem verhältnismäßig trockenen Urwald. Der Schreck fuhr mir derart in alle Glieder, daß ich reglos stehenblieb und sie beobachtete.

Der Vortrupp, etwa zwanzig Tiere, bewegte sich am Rand der Lichtung entlang und schien zu zögern. Ich wußte nicht, ob sie mich gesehen oder gewittert hatten, jedenfalls änderten sie ihre Richtung und krochen nun ge­nau auf die Baumwurzeln zu, unter denen Farnathia noch ahnungslos sch­lief.

Ich hätte die zwanzig Achtbeißer mit einem einzigen Strahlschuß erledi­gen können, und schon begann ich zu überlegen, ob ich es nicht tun sollte, da bemerkte ich den Haupttrupp – wenigstens seinen Anfang.

Sie marschierten in Viererreihe, wie Soldaten. Eine endlose Schlange, die im Dschungel irgendwo enden mochte. Es mußten Zehntausende von ihnen sein. Gegen diese zahlenmäßige Übermacht kam ich selbst mit zehn Strahlern nicht mehr an – wenigstens nicht auf die Dauer.

Bisher hatte ich reglos dagestanden, nun aber wandte ich mich um und rannte zur Höhle zurück, um Farnathia zu wecken.

Der Ausdruck der gelösten Ruhe verschwand von ihrem Gesicht, als ich ihr von der drohenden Gefahr berichtete. Die ersten Achtbeißer waren nur noch zwanzig Meter entfernt. Sie würden in wenigen Minuten bei uns sein.

»Wir sind schneller als sie, Farnathia. Pack die Sachen zusammen, schnell! Nimm einen Strahler, ich nehme die anderen drei und bleibe dicht hinter dir. Wenn sie zu nahe herankommen, feuere ich auf sie, denn ent­deckt haben sie uns schon längst.«

Die tödliche Schlange ihres Zuges bewegte sich in gerader Linie quer über die Lichtung auf uns zu. Langsam und unbeirrt, unheimlich zielbe­wußt. Ich hätte gern gewußt, ob sie auch an den Bäumen emporkletterten, wenn man sich auf sie flüchtete. Aber jetzt blieb uns keine Zeit, das auzu­probieren.

Wir marschierten weiter, die Achtbeißer blieben zurück. Da es kaum Unterholz gab, kamen wir schnell voran. Meiner Schätzung

nach besaßen wir bereits nach einer Stunde einen Vorsprung von einem halben Tag vor den Raubinsekten. Ich versuchte mir vorzustellen, was ge­schehen würde, wenn sie Perkora oder eine andere Ansiedlung überfielen. Vielleicht gab es entsprechende Sperren, die sie nicht überwinden konn­ten.

Als es dämmerte und ich wieder auf einen Baum kletterte, war das Pla­teau merklich näher gerückt. Noch zwei Tage, dann erreichten wir den Rand des Waldes. Vielleicht schafften wir es doch noch, und vielleicht verließ sich der Blinde Sofgart auch darauf, daß wir in den Gefahren des Dschungels umkamen, aber das hätte nicht zu ihm gepaßt. Er wollte uns

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sterben sehen und vorher noch eine Menge erfahren. Hatte er wirklich unsere Spur verloren? »Wir werden auf einem Baum übernachten«, schlug ich vor. »Es hat

wenig Sinn, in der Nacht weiterzugehen.« »Und die Achtbeißer? Wenn Sie uns einholen?« »Ich glaube nicht, daß sie dazu in der Lage sind«, beruhigte ich sie und

vergaß dabei ganz, daß es auf Ganberaan mehr als nur einen Stamm Acht­beißer gab. »Vor morgen abend können sie nicht hier sein. Aber ich bin trotzdem für einen Baum als Nachtlager, auch wenn es unbequemer als ei­ne Höhle ist, dafür ist es aber auch sicherer.«

Ich suchte einen passenden Baum aus, einen uralten Riesen mit beque­mer Aufstiegsmöglichkeit für Farnathia. Außerdem versprachen die mäch­tigen Äste ein sicheres Nachtlager und guten Halt.

Farnathia kletterte vor mir her, nachdem ich ihr die beiden Waffen und den Beutel mit den restlichen Vorräten abgenommen hatte. Sie trug eine enganliegende Kombination, die ihre gute Figur nur noch mehr betonte. Ich konnte das Spiel ihrer Beinmuskeln beobachten, während es merklich dunkler wurde.

Mein Extrahirn warnte: Du hast keine Zeit für solche Gedanken! Ich fand eine günstige Stelle, bevor es gänzlich finster geworden war.

Drei Äste zweigten vom Hauptstamm ab und bildeten eine regelrechte Plattform, auf der wir leicht Platz hatten. Wir aßen ein wenig und tranken etwas Wasser.

Keiner von uns verspürte Lust zu einem Gespräch, obwohl noch längst nicht alles gesagt worden war. Immer wieder lauschte ich in die beginnen­de Nacht hinaus, aber die Geräusche, die ich hörte, waren nicht zu deuten. Hin und wieder knackten vertrocknete Zweige oder raschelte Laub unter den Tritten unbekannter Tiere, die ihre Beute suchten.

Hier also gab es sie doch! Aber dann, von Müdigkeit übermannt, schlief ich endlich ein. Neben mir hatte Farnathia schon längst die Augen geschlossen, und ihr

ruhiger Atem verriet, daß sie fern aller Sorgen war.

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6.

Ich erwachte von einem merkwürdigen, gleichmäßigen Geräusch. Es dämmerte bereits, so daß ich meine Umgebung erkennen konnte.

Farnathia schlief noch; sie schien sich überhaupt nicht bewegt zu haben und atmete gleichmäßig.

Das Geräusch kam vom Waldboden her. Es war wie ein Kratzen, das von Tausenden winzigen Füßen verursacht

wurde und sich zu einem gleichmäßigen Räuschen vereinigte. Zuerst dachte ich an die Achtbeißer, aber dann sagte ich mir, daß sie unmöglich schon hier sein konnten.

Aber – stimmte meine Theorie überhaupt? Vorsichtig richtete ich mich auf, um besser hören zu können. Ich legte

das Ohr gegen den Stamm des Baumes, der den Schall besser als die Luft leitete.

Das Rauschen wurde fast zu einem Dröhnen. Es waren die Achtbeißer, und sie kamen den Stamm emporgekrochen! Keine Sekunde war zu verlieren, keine einzige. Ich weckte Farnathia und unterrichtete sie. Sie starrte mich erschrocken

an, dann sank sie auf ihr Lager zurück. »Nimm dich zusammen, Liebes, bitte! Sie sind in wenigen Minuten

hier. Zum Glück wird es hell, und sehen können sie auch nicht besser als riechen. Wir werden versuchen, über die Äste den Nachbarbaum zu errei­chen und damit den Boden. Ich verbrenne die Äste dann.«

»Und da unten?« Sie deutete angstvoll in die Tiefe. »Warten da nicht andere auf uns?«

Da konnte sie recht haben, aber ich hoffte, daß sich der ganze Stamm um den Baum versammelt hatte, auf den wir geklettert waren. Wenn dem so war, hatten wir eine Chance, ihnen noch einmal zu entkommen.

Der Ast war dick genug. Wir konnten das erste Stück aufrecht gehen, dann allerdings hielt ich es für sicherer, wenn wir auf allen vieren weiter­krochen, bis wir die ersten Äste des Nachbarbaumes erreichten. Während Farnathia mit dem Abstieg begann, verharrte ich, um den sicherlich nach­folgenden Achtbeißern den Weg abzuschneiden – oder besser: abzubren­nen.

Ich sah sie nun. Sie kamen in der gewohnten Viererreihe den Hauptstamm emporgekro­

chen und hatten nun unseren Lagerplatz erreicht. Es gab eine deutlich sichtbare Aufregung, als sie die erhoffte Beute nicht mehr vorfanden, aber der Vortrupp erwies sich als ausgezeichneter Aufspürer.

Er fand unsere Witterung und begann, den Ast voranzukriechen.

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Nun wurde es höchste Zeit, etwas dagegen zu unternehmen. Ich nahm die schwächste Einstellung, die genügen mußte, die Tiere zu

töten, ohne gleich das Holz und Laub in Brand zu setzen. Meine Vermu­tung bewahrheitete sich vorerst auch. Sie fielen wie Trauben in die Tiefe, entweder betäubt oder tot, so genau ließ sich das noch nicht feststellen. Aber allmählich wurde es heller unter dem Blätterdach. Ich konnte bis hin­ab zum Waldboden sehen. Die herabgefallenen Achtbeißer rührten sich nicht mehr, wurden jedoch von ihren Artgenossen sofort aufgefressen.

Farnathia hatte inzwischen den letzten Ast über den Wurzeln des Bau­mes erreicht. Ich rief ihr zu:

»Nicht weiter, warte dort auf mich! Je länger die restlichen Tiere uns noch auf dem großen Baum vermuten, desto besser für uns.«

Immer und immer wieder stoppte ich die vorrückenden Achtbeißer mit Strahlschüssen. Der Ast war bereits angesengt. Er konnte jeden Augen­blick zu brennen beginnen, und dann wurde es höchste Zeit, von hier zu verschwinden. Allzu trocken waren Holz und Blätter nicht, trotzdem wür­de ein Waldbrand unangenehm werden, ganz abgesehen von der Tatsache, daß die starke Rauchentwicklung uns verraten konnte.

Der Vormarsch der Achtbeißer geriet ins Stocken. Die Nachzügler ka­men nicht mehr weiter, da ihr Weg blockiert wurde. Ich konnte bemerken, daß wütende Kämpfe entstanden – man hätte fast meinen können, die Na­tur auf Ganberaan habe sich den Methoden des Blinden Sofgart angepaßt.

Mit einem letzten Energiestoß setzte ich den Verbindungsast endgültig in Brand und begann hastig mit dem Abstieg. Als ich Farnathia erreichte, deutete sie entsetzt nach unten.

Ich sah sofort, was sie meinte: Der Strom der Achtbeißer hatte sich geteilt. Einer von ihnen kam direkt

auf unseren Baum zu. Seine Spitze war noch zwei Dutzend Meter von den Wurzeln entfernt.

»Los, weiter! Wir müssen laufen, um einen Vorsprung zu bekommen.« Ich sprang die letzten drei Meter und fing Farnathia auf. Dann jagte ich

noch einen Energieschuß in die nachfolgenden Achtbeißer und stiftete so viel Verwirrung, daß wir abermals einen Zeitvorsprung erhielten.

Wir kamen schnell voran, aber wir wußten, daß uns die Raubinsekten folgten, ausgehungert und mit dem Willen, uns zu töten. Mit Unbehagen dachte ich daran, daß mindestens noch eine weitere Nacht im Urwald vor uns lag. Wir marschierten den ganzen Tag, ohne einem Hindernis zu begegnen. Der Wald schien wie ausgestorben, und das konnte gut möglich sein. Die Achtbeißer duldeten kein anderes Lebewesen neben sich. Sie würden alles vertreiben oder töten, das ihnen ihr Gebiet streitig zu machen versuchte.

Als es zu dämmern begann, lichtete sich der Wald noch mehr.

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Und dann standen wir vor dem Wassergraben. Er war etwa hundert Meter breit und besaß eine starke Strömung. Ich

konnte mir gut vorstellen, daß er den Achtbeißern Einhalt gebot und hier ihren Vormarsch beendete. Da er künstlich angelegt wirkte, erhärtete sich meine Vermutung, es könne sich um das von mir vorausgesehene Hinder­nis handeln, mit dem die Raubinsekten von Perkora ferngehalten wurden.

»Wenn sie uns hier einholen …«, begann Farnathia voller Furcht, aber ich winkte ab.

»Keine Sorge, wir können notfalls immer noch schwimmen. Aber ich denke, wir finden genug Holz, um ein Floß zu bauen. Schlingpflanzen sind ebenfalls vorhanden. Allerdings wird es bald dunkel werden.«

»Warum entzünden wir kein Feuer?« Ich überlegte. Der Vorschlag war gut und schlecht zugleich. Ein Feuer­

schein konnte uns leicht verraten, aber er würde uns auch helfen, ein Floß zu basteln. Der Nachteil mußte sorgfältig gegen den Vorteil abgewogen werden. Schließlich schüttelte ich den Kopf.

»Nein, kein Feuer. Wir müssen das Baumaterial jetzt zusammentragen, solange es noch einigermaßen hell ist. Machen wir uns an die Arbeit, ehe es zu spät ist.«

Nahe am Rand des Flusses richteten wir unser provisorisches Lager ein und machten uns dann sofort auf die Suche nach geeigneten Baumstäm­men und den zähen Schlingpflanzen, die wir nur mit dem Strahler ab­schneiden konnten. Ich hoffte, daß niemand die kurzen Energieblitze be­merkte.

Es war stockfinster, als wir endlich alles beisammen hatten. »Leg dich schlafen, ich mach allein weiter«, sagte ich zu Farnathia. Sie wollte protestieren, aber ich schnitt ihr das Wort ab: »Wenn du morgen vor Erschöpfung zusammenbrichst, kommen wir

noch langsamer voran. Ich schaffe es wirklich ohne dich, glaube mir. Und nun schlaf endlich.«

Ich küßte sie behutsam und wartete, bis sie die Augen geschlossen hatte, dann erst begann ich mit der Arbeit. In der Dunkelheit war es nicht so ein­fach, wie ich mir vorgestellt hatte. Meine tastenden Hände suchten die passenden Stämme aus und sortierten sie. Dann verband ich sie mit den haltbaren Schlingpflanzen und sicherte alles doppelt und dreifach, obwohl wir nur kurze Zeit auf dem Wasser sein würden. Immerhin mußte ich die starke Strömung berücksichtigen, die uns abtreiben lassen würde.

Als ich fertig war, band ich das Floß an ein Pflanzenseil und ließ es pro­beweise ins Wasser. Soweit ich das in der Nacht erkennen konnte, schwamm es vorzüglich. Nur mit Mühe konnte ich es ans Ufer zurückzie­hen.

Nun fertigte ich auch noch ein Paddel an, mit dem wir zumindest steu­

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ern konnten. Bei geschickter Hantierung mußten wir etwa zwei Kilometer stromabwärts die andere Seite des Flusses erreichen.

Ich wartete eine weitere Stunde. Gegen Mitternacht weckte ich Farna­thia.

»Fertig!« erklärte ich ihr, nachdem ich sie beruhigt hatte. »Wir können losfahren. Die Waffen und Vorräte müssen nur noch festgebunden werden. Wasser schadet ihnen nicht.«

»Wir können überhaupt nichts sehen, Atlan.« »Das macht nichts. Der Fluß hat die Richtung auf Perkora zu, wir ver­

säumen also nichts, wenn wir uns ein Stück treiben lassen. Sobald es däm­mert, versuchen wir, das andere Ufer zu erreichen. Sollten wir schon vor­her antreiben, macht es auch nichts. Jedenfalls sind wir dann vor den Achtbeißern sicher. Sie sind gefährlicher als die Kralasenen, die uns viel­leicht erwarten.«

Sie schauderte zusammen. Ich spürte es, weil ich ihren Arm hielt, sehen konnte ich es nicht. Im Wald war es ruhig. Das tausendfache Kratzen mar­schierender Achtbeißer blieb aus.

Ich schob das Floß ins Wasser und ließ Farnathia Platz nehmen. Sie ver­schnürte den Beutel mit den Vorräten und drei Energiewaffen. Die vierte behielt ich im Gürtel – für alle Fälle.

Es wurde eine unheimliche Fahrt ins Ungewisse, und wenn ich gewisse Sorgen und Zweifel verspürte, so verriet ich sie Farnathia gegenüber nicht. Immerhin ließen wir den Urwald und die Raubinsekten hinter uns.

Der Himmel und die Sterne gaben ein wenig Licht, weil das abdichten­de Blätterdach fehlte. Wir konnten zumindest den Wasserlauf und die bei­den dunklen Ufer erkennen, die schnell vorbeiglitten.

Einen Augenblick lang dachte ich an einen Wasserfall oder an Strom­schnellen, aber dann sagte ich mir, daß derartige Hindernisse bei einem künstlich angelegten Graben überflüssig seien. Wenn sie von Natur aus nicht vorhanden waren, würde man sie sicherlich nicht extra eingebaut ha­ben.

Farnathia übernahm das primitive Ruder, das sie nur festzuhalten brauchte, als die Müdigkeit mich übermannte.

Das gleichmäßige Schaukeln schläferte mich ein. Farnathia weckte mich.

»Das andere Ufer – es kommt näher. Außerdem wird es hell.« In der Tat: Es dämmerte bereits. Ich mußte mindestens vier Stunden ge­

schlafen haben. Da ich mich entsprechend munter fühlte, war ich sofort wach. Ich warf einen Blick hinüber zum Urwald und konnte mir vorstel­len, wie die Achtbeißer ratlos vor dem Wasser standen, das die Spur aus­gelöscht hatte, der sie so lange gefolgt waren. Vielleicht fraßen sie sich vor Wut nun gegenseitig auf.

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Das neue Ufer war kahl und felsig. Selbst wenn es einem Achtbeißer gelang, es zu erreichen, würde er nur schwer Fuß fassen können. Der Gra­ben war eine vollkommene Sperre.

Aber nicht für mich und Farnathia. »Dort scheint eine Bucht zu sein«, machte Farnathia mich aufmerksam.

»Wenn wir sie erreichen könnten, kämen wir aus der Strömung heraus.« Ich übernahm das Ruder und bewegte es heftig hin und her, um dem

Floß einen eigenen Antrieb zu verleihen. Gleichzeitig konnte ich damit steuern. Die Bucht kam näher. Wir würden sie rechtzeitig erreichen, ehe die Strömung uns vorbeitrieb.

Das Wasser war klar und sauber, besonders in der Bucht, deren flache Ufer es uns ermöglichten, das Floß an Land zu ziehen. Wenn es herrenlos weitertrieb, konnte es uns verraten. Wir verbargen es unter den kärglichen Büschen, die weiter oben wuchsen.

»Perkora ist sicher nur wenige Meilen entfernt«, vermutete ich. »Wir werden die Ansiedlung noch heute erreichen – sobald es dunkel geworden ist.«

Sie erwiderte nichts. Ich konnte ihre Reaktion verstehen. Trotz der bisher gelungenen Flucht

waren wir noch längst nicht in Sicherheit. Der schwerste Teil lag noch vor uns. Auch wenn wir in Perkora einen Unterschlupf fanden, brachte uns das vorerst nicht weiter. Aber einen großen Vorteil hatte mein Plan: In der Siedlung der Kralasenen würde uns der Blinde Sofgart nicht vermuten, falls er wirklich unsere Spur verloren hatte.

Wir machten uns sofort auf den Weg. Bereits nach einer halben Stunde erreichten wir die erste Plateaustufe, das Gehen wurde leichter. Dann be­gannen wir mit dem Aufstieg zur zweiten.

Gegen Mittag, als die Hitze am größten war, krochen wir erschöpft über die letzte Terrasse und standen auf dem eigentlichen Plateau. Es war eben und flach, kaum bewachsen und sehr felsig.

Ich sah Perkora. Die Ansiedlung bestand aus niedrigen Häusern und Hütten, die sich an

den Hang einer flachen Senke schmiegten. Die Zahl der Einwohner konnte kaum fünftausend übersteigen. Zum Glück, so stellte ich erleichtert fest, gab es in der Senke ein wenig Vegetation, die uns beim Einschleichen in die »Stadt« Schutz gewährte. Ich war davon überzeugt, daß niemand unser unbefugtes Eindringen bemerken würde.

»Das dürften ungefähr fünf Kilometer sein, nicht mehr«, sagte ich nach einigem Überlegen. »Wir werden hier Rast machen und warten, bis es dunkel geworden ist. Die Gefahr einer Entdeckung ist sonst zu groß.«

Wie gut meine Vorsichtsmaßnahme war, sollte sich bald erweisen. Kaum lagen wir ausgestreckt im Schatten einiger vertrockneter Sträu­

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cher, hörte ich über mir das summende Geräusch eines langsam fliegenden Gleiters. Ich blickte durch die Zweige und sah den silbern schimmernden Punkt hoch über mir dahinziehen. Er schien kein bestimmtes Ziel zu ha­ben, denn er flog nicht in Richtung der Stadt.

Aber er hielt auch nicht an, sondern flog weiter. Ein gutes Zeichen. Wir schliefen, bis die Abendkühle uns weckte. Wir packten unsere Sa­

chen zusammen und machten uns auf den Weg nach Perkora.

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7.

Als wir die ersten Häuser erreichten, war es bereits Mitternacht. Trotzdem herrschte in der Stadt noch reges Treiben. Ich hörte Musik und das Lärmen Betrunkener. Für einen Augenblick fühlte ich mich zurückversetzt in die Pionieransiedlungen der Kolonialplaneten, von denen Fartuloon mir er­zählt hatte. Dort mußte es ähnlich zugegangen sein. Ein Wunder, dachte ich, daß der Blinde Sofgart seinen Kralasenen diese Ausschweifungen gönnte, aber wahrscheinlich tat er es nicht ohne Grund. Zumindest sollten sie sich frei fühlen.

Farnathia schauderte zusammen. »Dorthin willst du? Dort sollen wir sicher sein? Wenn die eine Frau se­

hen …« »Niemand wird dich sehen«, unterbrach ich sie ein wenig ungehalten.

So sehr ich sie auch liebte, jetzt kam sie mir doch ein wenig mutlos und fast hinderlich vor. Warum vertraute sie mir nicht? Ich wußte genau, was ich tat. »Wir versuchen, ein Haus zu finden, in dem niemand lebt. Schließ­lich sind viele Kralasenen im Dienst, ihre Häuschen sind leer.«

»Und dann?« Ich packte ihren Arm fester. »Dann sehen wir weiter!« Ich verstand meine etwas heftige Reaktion selbst nicht ganz, und erst

viel später sollte ich begreifen, daß es abermals mein Extrahirn war, das mich zu warnen versuchte. Ich hatte es noch nicht verstanden, seine Im­pulse immer richtig zu deuten.

Ich war noch zu jung und unerfahren. Wir gingen durch die dunkleren Seitenstraßen und vermieden es, die

hell beleuchteten Viertel zu betreten. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, wie sich die Kralasenen dort vergnügten – und in gewisser Hinsicht konnte ich sie auch verstehen. Sie hatten sonst nichts von ihrem armseligen Leben und nutzten die wenigen Stunden, die ihnen blieben, ihren Neigungen nachzugehen.

Es gab genug unbeleuchtete Häuser, aber wie sollte ich wissen, welches bewohnt war und welches nicht?

Bis ich die Praxis des Arztes entdeckte. Ich sah das weiße Schild durch die Dunkelheit schimmern. Die Schrift

war undeutlich – eben die eines Arztes. Immerhin konnte ich die wenigen Worte entziffern, denn im gegenüberliegenden Haus brannte Licht, das aus den Fenstern fiel.

Die Mitteilung besagte, daß Dr. Sowieso in einer dringenden Angele­genheit ins Sepulkorvat abberufen worden sei. Ein Datum war nicht ange­

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geben. Damit blieb offen, wann er zurückkehrte. Uns blieb keine andere Wahl. »Das ist es!« flüsterte ich Farnathia zu, die sich ständig nach allen Sei­

ten umsah. »Warte, ich öffne das Schloß. Es ist nicht schwer.« Es war wirklich nicht schwer, in das Haus zu gelangen. Licht durften

wir nicht machen, das würde den Verdacht der Nachbarn erregen. Aber wir fanden uns auch so zurecht, und im Augenblick gab es ohnehin nicht mehr viel zu tun. Ich hatte die Haustür wieder sicher verschlossen und von innen den Riegel vorgeschoben. Nun würde selbst der verreiste Arzt nicht mehr in sein eigenes Haus können, wenn er unerwartet zurückkehrte.

Das Bett war breit und weich, doch noch ehe ich mich hinlegen konnte, war Farnathia bereits eingeschlafen.

Ich nahm meinen Energiestrahler fast liebevoll in den Arm und schloß ebenfalls die Augen. Wir genossen den lange entbehrten Luxus einer einfachen Wasserdusche und frühstückten, als es draußen längst hell geworden war. Dabei Verzehr­ten wir unsere letzten Vorräte.

Farnathia hatte sich wieder auf das Bett gelegt. Ich hörte sie sagen: »Kommst du noch ein wenig zu mir? Wir hatten viel zu wenig Zeit für

uns, meinst du nicht auch?« Reglos blieb ich stehen. Ihr Vorschlag war nicht nur eine Überraschung

für mich, er war auch ungewohnt. Sicher hatten wir schon früher Zärtlich­keiten ausgetauscht, aber eine derart direkte Aufforderung hatte ich noch nicht von ihr vernommen, schon gar nicht in einer Situation wie dieser.

»Hast du mich gehört, Atlan?« »Ja, ich komme schon.« Arglos öffnete ich die Tür. Sie saß im Bett und

blickte mir aus großen Augen entgegen. Ihre Hände lagen unter der Decke. »Ich habe keine Lebensmittel finden können. Wir werden also versuchen müssen, anderswo welche zu besorgen.«

Ich ging zu ihr und setzte mich auf den Bettrand. So recht wußte ich nicht, was ich jetzt tun sollte. Außerdem war ihr Blick so merkwürdig, fast ein wenig fremd. In ihren Augen war etwas, das mich stutzig machte. Sie sahen durch mich hindurch.

»Fühlst du dich nicht wohl?« fragte ich besorgt und beugte mich über sie, um sie zu küssen.

In diesem Augenblick spürte ich den harten Lauf der Energiewaffe durch die Decke hindurch. Er preßte sich gegen meine Brust.

Ihre Stimme war plötzlich ganz kalt und gefühllos. »Atlan, ich werde dich töten. Steh auf und geh bis zur Wand zurück. Die anderen Strahler habe ich versteckt, du brauchst sie nicht erst zu suchen.«

Ich gehorchte und begriff noch immer nicht. »Farnathia …!«

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»Ich bin Farnathia, aber nicht mehr deine Farnathia. Ich gehöre Sofgart, und sein Wille ist auch der meine. Ich werde dich töten.«

Natürlich – das war es! Ihre Stimme klang mechanisch, so als wiederho­le sie eine einstudierte Rolle. Und ihre Augen zeigten es mir nur zu deut­lich, daß sie unter Hypnobeeinflussung stand. Blitzartig entsann ich mich der Sessel im verbotenen Teil des Sepulkorvats.

Der Blinde Sofgart hatte Farnathia hypnobehandelt und umfunktioniert – und ich hatte es in den ganzen vergangenen Tagen nicht bemerkt.

Warum aber? Welchen Sinn hatte das alles? Farnathia hätte mich noch vor Beginn der Flucht töten können. Warum erst jetzt?

Ich mußte Zeit gewinnen. »Was hat der Blinde Sofgart davon, wenn du mich tötest? Ich hatte an­

genommen, er wolle eine Menge von mir erfahren – zum Beispiel, wer ich bin. Du erweist ihm keinen Dienst, wenn du mich tötest.«

Das schien ihr einzuleuchten, denn sie zögerte, wenn sie die gefährliche Waffe auch bereits unter der Decke hervorgezogen hatte. Ich stand an der Wand, fast vier Meter von ihr entfernt. Es war unmöglich, ihr den Strahler abzunehmen, ohne eine entsprechende Gegenreaktion hervorzurufen.

Mit der linken Hand griff sie unter ihr Kopfkissen. Was sie darunter hervorholte, war nichts anderes als ein Minikom, ein Funkgerät mit be­schränkter Reichweite. Es arbeitete nur auf der eingestellten Frequenz.

»Das, was du liebst, wird dich töten«, sagte sie ohne Zusammenhang und drückte den Knopf des Geräts ein. »Sofgart hat kein Interesse mehr an dir. Er wird es dir selbst sagen.«

Ich verflachte die Tatsache, nicht auf die Warnungen meines Extrahirns gehört zu haben. Natürlich hätte ich damit rechnen müssen, daß mir der Blinde eine Falle stellte, und ich war auch prompt in sie hineingestolpert. Farnathia war der Köder gewesen, wenn auch noch immer die Frage blieb, warum ich nicht gleich wieder eingefangen worden war.

In dem Schlafzimmer des unbekannten Arztes war plötzlich die verhaß­te Stimme des Blinden Sofgart:

»Farnathia, mein Täubchen, hast du ihn endlich?« Ich hätte mich am liebsten auf den Minikom gestürzt und ihn mit dem

Absatz zertreten, aber Farnathias Waffe hielt mich davon ab. Ich wäre kei­ne zwei Schritt weit gekommen.

»Er steht vor mir und erwartet den Tod, wie du es befohlen hast, Sof­gart. Soll ich es jetzt tun?«

»Nein, warte noch«, erwiderte er. »Vielleicht möchte er noch wissen, warum er so lange leben durfte. Satago Werbet, oder wer du auch sein magst, ich habe das Interesse an deiner Person verloren. Wer sich von ei­nem Mädchen überwältigen läßt, kann nicht viel wert sein. Ich hatte dich für klüger gehalten, aber du bist dumm und leichtsinnig. Ein Bett hat dich

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zu Fall gebracht, und ich werde mit anhören, wie du stirbst. Farnathia, zu­erst seine Beine …«

Ich hatte das Gesicht des Mädchens nicht aus den Augen gelassen. Der ständige Wandel darin entging mir nicht. Es wurde mir klar, daß die Hyp­nobehandlung viel zu kurz gewesen sein mußte, um eine dauerhafte Wir­kung zu erzielen. Farnathia liebte mich noch immer, und sie schien all­mählich zu begreifen, daß sie gegen ihren eigenen Willen handelte. Aber noch waren die hypnotischen Befehle stärker.

Wenn ich weiterleben wollte, mußte ich ihre Zweifel nähren und den Winkel in ihrem Unterbewußtsein finden, der noch nicht völlig unter dem Einfluß des blinden Gauners stand.

»Hast du Gortavor vergessen?« fragte ich sie, während sie die Waffe wie befohlen auf meine Beine richtete. »Und deinen Vater, den Tatos von Gortavor, Armanck Declanter …«

»Hör nicht auf seine Reden!« ordnete der Blinde Sofgart wütend an. »Schieß endlich!«

»Ich bin allein in Perkora, Sofgart«, jammerte sie unentschlossen. »Wirst du mich abholen, wie du es mir versprochen hast?«

»Sobald Satago Werbot gestorben ist, komme ich mit dem Gleiter und hole dich. Ich habe nicht vergessen, was ich dir als Belohnung verspro­chen habe. Ich vergesse niemals etwas.«

Sie nickte und ließ mich für eine Sekunde aus den Augen. Das genügte mir. Mit einem Satz war ich bei ihr und entriß ihr den Strahler. Mit der ande­

ren Hand nahm ich ihr den Minikom fort und schaltete ihn ab. Dann erst setzte ich mich wieder auf den Bettrand. »Farnathia, nun hör mir gut zu: Der Blinde Sofgart hat dich mit Hilfe

von Hypnomechanik unter seine Kontrolle gebracht, aber wenn du dich konzentrierst, kannst du seinen Einfluß brechen. Du mußt es versuchen, oder du wirst deine Heimatwelt Gortavor niemals mehr wiedersehen.«

»Mein Vater – der Tatos von Gortavor …« Es wirkte bereits. »Und ich bin Atlan, der Mann, der dich liebt und den du liebst. Willst

du mich noch immer töten?« »Der Blinde Sofgart hat es befohlen …« »Und was hat er dir dafür versprochen? Die Freiheit?« »Die Freiheit«, erwiderte sie und nickte automatisch. »Und eine schöne

Belohnung – seine Liebe.« Fast hätte ich den Minikom mit der Hand zerquetscht, aber ich benötigte

das Funkgerät noch. Zuerst jedoch mußte ich sicher sein, daß Farnathia mir gehorchte.

»Die Liebe eines Scheusals!« schrie ich sie an, um ihr einen neuerlichen

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Schock zu versetzen. »Dein Vater würde dich verachten. Und Atlan würde es auch tun.«

»Atlan …!« Der hypnotische Zwang schwächte sich weiter ab. Ihre Augen sahen

mich klarer und bewußter an. Ich konnte nicht verstehen, daß sie mich ta­gelang hatte täuschen können. Ein ganz bestimmtes Ereignis mußte den Hypnobefehl ausgelöst haben, bis dahin hatte sie selbst nichts von ihrer Aufgabe gewußt.

Mein Kuß vielleicht? »Du wirst tun, was ich dir sage?« vergewisserte ich mich. Sie nickte. »Natürlich, Atlan. Ich liebe dich doch …« War das nun Verstellung oder echt? Ich würde es bald wissen. »Gut, dann nimm den Minikom und sage Sofgart, daß du mich getötet

hast. Du hast auf meine Beine gezielt, aber ich sprang dich an. Du warst gezwungen, mich zu erschießen. Sage ihm das und bitte ihn, dich hier in diesem Haus abzuholen. Behaupte, daß du dich nicht auf die Straße wagst. Hast du alles verstanden und behalten?«

Sie wiederholte meine Anordnung. Und dann, zum ersten Mal wieder, lächelte sie mir ermunternd zu. Ich gab ihr das Funkgerät, behielt aber den Strahler in der Hand. »Nun?« fragte der Blinde Sofgart, als die Verbindung hergestellt war.

»Warum hast du den Funkkontakt unterbrochen?« Sie berichtete, was angeblich geschehen war, ohne seine Frage zu beant­

worten. Er mußte glauben, daß sich das Gerät während meiner Hinrich­tung versehentlich selbst ausgeschaltet hatte, weil Farnathia den Knopf be­rührte. Aber was immer er auch vermutete, er ging sofort auf ihre Forde­rung ein.

»Ich werde in einer Stunde dort sein und dich abholen. Und ich werde dich belohnen – mit meiner Liebe.«

Ich hätte ihm den Hals umgedreht, wenn er jetzt vor mir gestanden wä­re.

Farnathia schaltete den Minikom wieder ab und gab ihn mir. Sie war wieder völlig in Ordnung. »Wir haben noch eine Stunde Zeit, alles für seinen Empfang vorzuberei­

ten«, sagte ich und schob den Strahler in meinen Gürtel. »Wo hast du die anderen versteckt?«

Um sie nicht zu kränken, gab ich ihr einen, nachdem ich unbemerkt die Energiepatrone entfernt hatte. Ich wollte kein Risiko mehr eingehen. Es konnte gut sein, daß der Anblick des Blinden Sofgart die Hypnobehand­lung wieder aktivierte.

Ich öffnete die Tür, damit der Blinde jederzeit eintreten konnte. Wir

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konnten sicher sein, daß er ohne Begleitung kam, denn schließlich wollte er Farnathia ja »belohnen«, und dazu benötigte er keine Zeugen. Die eine Stunde verstrich in quälender Langsamkeit.

Ich sah immer wieder durch die Vorhänge hinaus auf die fast unbelebte Straße. Die Bewohner von Perkora schienen entweder noch zu schlafen, oder sie hatten ihren Dienst im Sepulkorvat angetreten.

Dann erblickte ich den Gleiter. Er schwebte in geringer Höhe über die Häuserdächer dahin und landete

in zweihundert Meter Entfernung auf dem runden Platz, den ich gerade noch sehen konnte, wenn ich ziemlich nahe ans Fenster ging.

Eine einzelne Person stieg aus, und ich erkannte sie auf den ersten Blick.

Der Blinde Sofgart! Er ging schleppend die Straße herunter, auf unser Haus zu. Er benötigte

auch keine Begleitung, denn wer ihn rechtzeitig erkannte, der verschwand mit auffälliger Eile in irgendeinem Haus, nur um ihm nicht zu begegnen.

Farnathia stand neben mir, und sie zitterte am ganzen Körper. »Beruhige dich, Liebes, ich werde schon mit ihm fertig – diesmal be­

stimmt. Du darfst dich nur nicht frühzeitig verraten. Geh ihm bis zur Tür entgegen, empfange ihn wie einen langerwarteten Freund. Er muß das Haus ahnungslos betreten und die Tür hinter sich schließen. Alles weitere kannst du dann mir überlassen.«

»Ich habe Furcht«, bekannte sie. »Wer hat die nicht? Wohl fühle ich mich auch nicht gerade in meiner

Haut.« Auf Farnathia war nun Verlaß, aber in ihrem Unterbewußtsein waren

die Hypnobefehle noch nicht endgültig gelöscht worden. Sie wurden ein­fach vom Bewußtsein überlagert, und das geringste Kodeereignis konnte sie erneut aktivieren und mich in größte Schwierigkeiten bringen.

Sie ging unbewaffnet zur Tür, öffnete sie einen Spalt und sah dem Blin­den Sofgart entgegen, der arglos quer über die Straße ging und ihr beide Hände entgegenstreckte.

»Ich will ihn sehen«, sagte er und schloß die Tür hinter sich. »Wo ist er?«

Ich trat vor, den Strahler auf ihn gerichtet. »Hier, Blinder Sofgart. Hier bin ich.« Er starrte mich an wie einen Geist, dann wollte er nach Farnathia grei­

fen, wahrscheinlich, um sie als Geisel zu benutzen. »Keine Bewegung!« warnte ich und rief Farnathia zu: »Komm her,

schnell!« »Sie wird dafür büßen«, murmelte der Blinde Sofgart ergrimmt. Farnathia war nun neben mir. Sie zuckte zusammen.

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»Gehen Sie vor!« befahl ich. »Ich töte Sie bei der geringsten verdächti­gen Bewegung.«

»Ich bin unbewaffnet.« Er mußte sich gegen die Wand stellen, während ich ihn nach Waffen

untersuchte. Natürlich hatte er abermals gelogen, und ich fand einen klei­nen Nadler in seiner Tasche.

»Sie können sich setzen«, erlaubte ich ihm dann. »Wenn Sie am Leben bleiben wollen, haben Sie zwei oder drei Bedingungen zu erfüllen.«

Er maß mich mit wütenden Blicken. »Sie wissen nicht, was Sie da tun. Selbst wenn Ihnen die Flucht von

Ganberaan gelingen sollte, wird das gesamte Imperium Sie jagen, finden und zu mir zurückbringen. Es wäre dann besser, man brächte Sie gleich tot zu mir.«

Es fiel mir auf, daß der Ton unserer Unterhaltung fast höflich geworden war.

»Sie werden Farnathia und mich zu Ihrem Gleiter bringen und zum Raumhafen fliegen. Dort besorgen Sie mir ein kleines Schiff mit Besat­zung – aber keine Kralasenen, sondern freigelassene Arkoniden mit der nötigen Erfahrung. Wenn das geschehen ist, können Sie gehen, vorher nicht.«

Sein Blick durchbohrte mich förmlich. »Und wenn ich es nicht tue?« »Dann töte ich Sie. Es gehört nicht viel Überwindung dazu, ein Unge­

heuer unschädlich zu machen.« Er sah Farnathia an. »Du hättest die Königin von Ganberaan werden können.« Sie gab keine Antwort. »Also?« fragte ich kategorisch. »Und wer garantiert mir, daß Sie Ihr Wort halten und mich freilassen?« »Ich.« »Soll ich das glauben?« »Schließen Sie nicht von sich auf andere«, warnte ich ihn. »Es gibt noch

immer Arkoniden, die ihr Wort halten.« Ich überlegte einen Augenblick und fügte hinzu: »Und noch etwas: Das Schiff muß bewaffnet sein, damit ich Sie nach dem Start jederzeit vernichten kann, falls Sie die planetari­sche Abwehr alarmieren.«

»Wer sind Sie?« Ich lächelte kalt. »Das werden Sie genau in dem Augenblick erfahren, in dem ich das

Schiff habe und Sie laufenlasse. Keine Sekunde früher. Auch das ist ein Versprechen.«

Er sah mich schief an. »Sie kommen mir bekannt vor, wir sind uns schon einmal begegnet.«

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»Ja, beim Garrabo.« »Nein, vorher – wenn ich wüßte …« Ich wollte keine Zeit verlieren. »Wir gehen jetzt, Sofgart. Zwar werde ich den Strahler im Gürtel tra­

gen, aber da Sie vorangehen, können Sie gewiß sein, daß ich ihn schneller in der Hand habe, als Sie sich umdrehen können. Gehen Sie das Risiko lie­ber nicht ein. Auch ein Satan hängt am Leben.«

»Verräter auch!« knirschte er hilflos und wütend. »Wer ein Verräter ist, wird die Zukunft zeigen.« Er ging vor uns her. Ich nahm nur zwei Strahler mit, die anderen beiden

blieben in der Wohnung des Arztes zurück. Farnathia brauchte nun keine Waffe mehr. Es war besser so.

Es war niemand im Gleiter, wie ich erwartet hatte. Der Blinde Sofgart ließ sich hinter den Kontrollen nieder, und ich konnte seine Gedanken er­raten. Langsam schüttelte ich den Kopf.

»Kein Funkgerät! Es bleibt ausgeschaltet.« »Aber die Abwehrkontrollen verlangen das Kodesignal …« »Dieser Gleiter trägt Ihr persönliches Kennzeichen, niemand wird wa­

gen, ihn aufzuhalten. Versuchen Sie nicht, mich zu hintergehen.« Er gehorchte und ließ das Funkgerät ausgeschaltet. Perkora wurde zu einer Ansammlung unordentlich hingestreuter Häu­

ser, als wir schnell an Höhe gewannen und östlichen Kurs einschlugen. Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich das Sepulkorvat wiedersah.

Ich mußte an all das Leid denken, das der Tafelberg in sich verschloß, aber ich konnte jetzt keinem helfen. Wenn ich die Freilassung der Gefan­genen forderte, setzte ich zuviel aufs Spiel. Aber ich war fest entschlossen, eines Tages nach Ganberaan zurückzukehren, dann allerdings nicht allein und nicht mit nur einem Schiff.

Wir ließen den Tafelberg links liegen und näherten uns dem eigentli­chen Raumhafen. Ich konnte mindestens dreißig Schiffe unterschiedlicher Bauart erkennen. Darunter auch kleine Kurierschiffe, die mir für die Flucht am besten geeignet schienen.

»Landen Sie am Rand des Feldes. Ja, dort, wo keine Gebäude sind. Se­hen Sie das Kurierschiff dort? Ich benötige vier Mann Besatzung dafür, ausgebildete Raumfahrer, Arkoniden.«

»Soll ich sie vielleicht holen gehen?« erkundigte sich der Blinde höh­nisch. »Gern, wenn Sie es wünschen.«

»Sie werden einen entsprechenden schriftlichen Befehl ausstellen, den Farnathia dem Diensthabenden Offizier des Raumhafens überbringt. Hin­zu kommt eine Tonbildkassette mit dem gleichen Text, falls Zweifel auf­kommen sollten. So, und nun landen Sie endlich!«

Der Gleiter setzte unsanft auf.

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Der Blinde Sofgart wurde sichtlich nervös. Als Farnathia wenig später, ausgerüstet mit Schriftstück und Bandauf­

zeichnung, quer über das freie Feld ging, blickte ich ihr mit Zweifein und Hoffnung nach. Würde der Hypnoblock ihr Unterbewußtsein erneut über­winden und das Bewußtsein zu beherrschen versuchen?

Wir warteten. Der Blinde Sofgart sagte in das Schweigen hinein: »Jetzt schwitzen Sie, nicht wahr? Glauben Sie wirklich, damit durchzu­

kommen? Aber wenn Sie Ihr Wort halten wollen, dürfen Sie mich nicht tö­ten, denn ich habe alle Ihre Bedingungen erfüllt.«

»Ich halte mich an unsere Abmachung«, gab ich voll innerer Zweifel zurück. Er hatte recht: Ich mußte mein Wort halten, ob ich wollte oder nicht. Erst recht dann, wenn er erfuhr, wer ich war.

Ich sah durch das transparente Dach des Gleiters, als ich vier Männer auf uns zukommen sah. Sie trugen zerlumpte Uniformen der arkonidi­schen Flotte. Gleichzeitig schleppte ein Zugfahrzeug das von mir ge­wünschte Kurierschiff auf den benachbarten Startplatz, keine fünfzig Me­ter vom Gleiter entfernt. Farnathia folgte den vier Arkoniden in geringem Abstand.

Es schien alles nach Plan zu laufen. Ohne den Blinden Sofgart aus den Augen zu lassen, öffnete ich die Tür

des Gleiters und rief den vier Männern zu: »Seid ihr bereit, dem wahren Imperator zu dienen?« Sie blickten mich verständnislos an, dann meinte einer von ihnen verbit­

tert: »Der Teufel soll Orbanaschol holen – oder noch besser: Der verdammte

Blinde Sofgart soll ihn höchstpersönlich in der Pfanne schmoren!« Sie waren richtig, diese Männer. Ich nickte ihnen zu: »Macht das Kurierschiff startklar. Wir werden Ganberaan verlassen. Ich

werde in einer halben Stunde an Bord kommen.« Sie gehorchten ohne Widerspruch, obwohl sie keine Ahnung von dem

hatten, was eigentlich geschah. Daß alles gegen den Willen des Blinden Sofgart verlief, auf den Gedanken wären sie wohl nie gekommen.

Farnathia berichtete, daß alles glattgegangen sei. Die Befehle des Blin­den, betonte sie ausdrücklich, wären sofort akzeptiert worden. Selbst den höheren Offizieren der Kralasenen steckte die Angst vor dem Scheusal zu sehr in den Knochen.

Ich schickte sie zu dem Kurierschiff, um die Startvorbereitungen der vier Arkoniden zu überwachen.

Der Blinde Sofgart sah mich erwartungsvoll an. »Wird es nun nicht allmählich Zeit, die geheimnisvolle Maske zu lüf­

ten?«

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Ich zögerte noch. »Bevor wir starten, nicht eher!« Ich zwang ihn, auf einem der hinteren Sitze Platz zu nehmen, während

ich das Funkgerät einschaltete und Kontakt mit Farnathia im Kurierschiff aufnahm. Sie bestätigte, daß die vier Männer ausgebildete Raumfahrer sei­en und keine Fragen stellten. Wenn sie die Wahrheit erfuhren, hatte ich neue Freunde gewonnen.

Der Blinde Sofgart betrachtete mich düster, als Farnathia mir versicher­te, das Raumschiff sei in zehn Minuten startbereit.

»Ob ich den Befehl dazu gebe oder nicht, der Alarm wird automatisch ausgelöst. Kein Schiff darf ohne Kodesignal starten.«

»Dann geben Sie mir das Kodesignal!« »Der Hafenkommandant gibt es vor dem Start dem Piloten bekannt.« Es hatte wenig Sinn, Verbindung zu dem Hafenkommandanten aufzu­

nehmen. Ich konnte froh sein, daß er bisher noch keinen Verdacht ge­schöpft hatte. Aber ich kannte den Typ des Schiffes, das zur Flucht bereit­stand. Ich wußte, daß es bereits wenige Minuten nach dem Start in Transi­tion gehen konnte, dann würde uns niemand mehr verfolgen können.

Zehn Minuten … Wir sprachen kein Wort mehr miteinander, der Blinde Sofgart und ich,

während wir warteten. Dann gab ich ihm einen Wink mit dem Strahler. »Es ist soweit, Sofgart. Gehen Sie voran, aber langsam. Und vergessen

Sie nicht: Wenn wir gestartet sind, müssen Sie fünfhundert Meter laufen, bis Sie den nächsten Kontrollpunkt erreichen. Das ist Zeit genug für uns. Jeder Alarm kommt zu spät.«

»Wir werden uns wiedersehen«, versprach er grimmig. Ich nickte. »Ja, das hoffe ich auch. Aber ich glaube nicht, daß Sie sich besonders

darüber freuen werden.« Wir verließen den Gleiter. Nun gingen wir neben­einander, als wären wir Freunde. In der rechten Hand hielt ich den schuß­bereiten Strahler. »Sie werden sich damit abfinden müssen, noch einige Überraschungen zu erleben.«

»Überraschungen …?« Wir hatten die Einstiegluke erreicht. Farnathia blickte zu uns herab. »Fertig!« sagte sie. »Wir können starten.« »Der Pilot soll sich sehen lassen«, bat ich sie. Der Arkonide erschien nur Sekunden später. »Was ist?« fragte er, und aus seiner Stimme glaubte ich Respekt heraus­

zuhören. »Startbereit?« »Absolut, Herr! Schiff überprüft und startklar. Vorräte überprüft und

ausreichend.« Er hielt plötzlich inne und beugte sich vor. Er hatte den

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Blinden Sofgart erkannt. Sein Gesicht verriet Enttäuschung. »Das ist doch …!«

»Wir starten in genau fünf Minuten!« rief ich ihm zu. »Kümmern Sie sich um nichts, was hier geschieht. Fünf Minuten! Klar?«

Er nickte fassungslos und verschwand. Farnathia nahm wieder seinen Platz ein.

Ich wandte mich dem Blinden Sofgart zu: »Fünf Minuten, Sofgart! So lange werden wir warten müssen. Aber Sie

sollen die Wahrheit schon jetzt erfahren, damit Sie wissen, wer von Gan­beraan floh. Farnathia kennen Sie bereits. Sie ist die Tochter des Tatos Ar­manck Declanter von Gorvator. Sie ist gleichzeitig meine Verlobte und künftige Gattin des Imperators von Arkon, der allerdings nicht Orbana­schol heißen wird.«

Er starrte mich an. Und abermals fragte er: »Wer sind Sie …?« Ich gab den Blick mit überlegener Ruhe zurück.

Noch drei Minuten bis zum Start. »Ich bin Atlan, der einzige Sohn des von Orbanaschol ermordeten Gonozal VII und damit sein rechtmäßiger Nachfolger. Sie werden nun meinen Wunsch verstehen, Sie eines Tages wiederzusehen.«

Diesmal war er keiner Entgegnung mehr fähig. Er starrte mich entgei­stert an.

Ich sprach weiter: »Das ganze Imperium sucht mich, und ich kenne den Wert meines Kopfes, Sie sicherlich auch. Bestellen Sie dem Mörder mei­nes Vaters, daß ich um mein rechtmäßiges Erbe kämpfen werde, bis aus dem Kristallprinzen der Imperator geworden ist. Und sagen Sie ihm noch, daß er den Tod verdient hat und auch bekommen wird. Seine eigene Schuld wird ihn vernichten.«

»Atlan!« stieß der Blinde Sofgart mühsam hervor. »Orbanaschol er­wähnte den Namen …«

»Ich bin das Kind, das er sucht, um es zu töten.« »Gonozal VIII …« »So wird man mich nennen, Sofgart! Und dann wehe dir! Du wirst für

deine Verbrechen büßen müssen, doch heute bist du frei. Ich halte mein Wort.« Ich stieg rückwärts die Einstiegsleiter empor. Farnathia zog mich in die Luftschleuse, deren Luke langsam zuschwang. »Hör zu, Blinder Sofgart: Das nächstemal, wenn wir uns begegnen, gilt unsere Abmachung nicht mehr.«

Er antwortete mir, aber ich konnte ihn nicht mehr verstehen. Das Dröh­nen der sich schließenden Luke verschlang jedes Außengeräusch. Im In­nern des Schiffes heulten die Antriebsmaschinen auf. So schnell ich konn­te, eilte ich in die kleine Kommandozentrale. Die Sichtluke war geöffnet.

Der Blinde Sofgart stand abseits des Startplatzes und unternahm nicht

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den Versuch, die fünfhundert Meter entfernte Kontrollstation zu erreichen. Ich sah, wie es in seinem Gesicht arbeitete. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Sicherlich hatte er sich noch nie in seinem Leben so hilflos ge­fühlt.

Er hatte seine größte Chance vertan. Er mußte in diesen Sekunden vol­ler Haß sein, denn alle seine Pläne waren mißglückt. Der Mann, den er seit fast zwei Jahrzehnten suchte, war ihm in die Falle gegangen – und er hatte ihn entkommen lassen.

Wenn Orbanaschol das erfuhr, konnte er in Ungnade fallen. Dann war seine Herrschaft zu Ende.

Die Triebwerke heulten auf, das Schiff startete. Der Blinde Sofgart sprang zurück, und noch während er kleiner wurde

und sich in einen winzigen Punkt verwandelte, der verloren auf dem riesi­gen Raumfeld stand, ballte er die Fäuste und schüttelte sie gen Himmel.

Ich war sicher, daß er mir fürchterliche Rache schwor, denn ich war der erste Gefangene, der seinem Kerker entronnen war.

Und ich war Atlan, der Kristallprinz. Das würde nun auch bald Orbana­schol wissen, und ich konnte nur hoffen, daß künftig seine Nächte sehr un­ruhig sein würden. Der Geist meines ermordeten Vaters sollte ihn verfol­gen und ihm keinen Frieden mehr lassen.

Ich legte dem Piloten die Hand auf die Schulter. »Transition?« »In zwei Minuten, Herr.« Ich wußte nicht, ob er gehört hatte, was ich dem Blinden Sofgart gesagt

hatte, aber in seiner Stimme schwangen Hochachtung und Respekt mit. Ich würde mich auf ihn verlassen können – hoffte ich.

»Blind?« »Blind, Herr!« Das spielte keine Rolle. Wir würden uns schon zurechtfinden, wenn wir

in den Normalraum zurückfielen. Die Hauptsache war jetzt, daß wir aus diesem Sektor verschwanden, und zwar spurlos.

Farnathia zog mich aus der Kommandozentrale, als der ziehende Schmerz der Entmaterialisation einsetzte.

»Du mußt dich hinlegen, Atlan«, erinnerte sie mich. Ich tat es mit einiger Skepsis, aber als ich nach geraumer Zeit die Augen

wieder öffnete und wir uns in einem anderen Teil unserer Galaxis befan­den, begegnete ich ihrem freien und ruhigen Blick.

Der Hypnoblock des Blinden Sofgart war endlich gebrochen. Ich nahm sie in die Arme und überließ es meinen neuen Gefährten, die

Position des Schiffes zu bestimmen. Und wenn das geschehen war, konnten wir auch die Koordinaten von

Ganberaan zurückberechnen.

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Doch das waren Sorgen, für die später Zeit blieb. Jetzt gab es nur noch Farnathia für mich … ENDE

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