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In der Nebelzone

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Thorin Band 11

In der Nebelzone von Al Wallon & Marten Munsonius

Er betritt eine unfassbare Welt -

und viele Gefahren erwarten ihn...

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Es war eine Zeit des Grauens und des Schreckens für die vom Unheil gepeinigte Welt der Menschen. Die Mächte der Finsternis hatten die letzte, alles entscheidende Schlacht gewonnen - zusammen mit ihren unheimlichen Helfershelfern - den geheimnisvollen Skirr - herrschten sie von nun an über die Erde.

Nichts mehr war so wie einst. Große Teile der bekannten Konti-nente waren zerstört, viele prachtvolle Städte in Schutt und Asche versunken. Wo einst blühende Kulturen ganze Länder beherrscht hat-ten, blieben nur noch Trümmer von zahllosen verbrannten und zerstör-ten Städten zurück - und die Menschen lebten nicht mehr. In der grau-samen Schlacht waren unzählige von ihnen gestorben - und diejeni-gen, die das Gemetzel überlebt hatten, fristeten von nun an ein Schat-tendasein - jederzeit darauf gefasst, dass sie die Horden der Finsternis entdecken und töten würden. Denn die blutigen Schergen durchstreif-ten auf der Suche nach den letzten Überlebenden große Teile des Lan-des - und wenn sie jemanden aufspürten, dann töteten sie ihn.

Das war der Zeitpunkt, als eine noch höhere Macht in die Ereignis-se eingriff - es war der FÄHRMANN, ein unfassbares Wesen, das mit seiner Barke jenseits von Raum und Zeit existierte und Zeuge dieser namenlosen Schrecken wurde. Kraft seines Geistes befreite er Thorin, den Krieger aus den Eisländern des Nordens, der von den mächtigen dunklen Herrschern in einer Blase aus Raum und Zeit gefangen war - und als die dunklen Mächte von diesem Eingreifen erfuhren, war es bereits zu spät. Thorin war wieder zurück in der Welt der Menschen - und er war fest entschlossen, den Kampf fortzusetzen. Denn die Kräfte des FÄHRMANNS hatten Inseln des Lichts entstehen lassen - Schutz-zonen für die letzten Überlebenden, die selbst von den Mächten der Finsternis nicht zerstört werden konnten. Tag für Tag fanden sich mehr Überlebende, schlossen sich zu größeren Gemeinschaften zu-sammen, während Thorin die Schutzzone verließ und eindrang in ein Reich der unbeschreiblichen Schrecken...

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Er spürte den kalten Morgenwind, als er sein karges Lager abbrach und sich weiter dem Horizont näherte, wo das rötliche Leuchten jetzt immer stärker wurde und die letzten Schatten der Nacht allmählich vertrieb. Der Wind ließ ihn erschauern und Thorin sehnte sich für ei-nen kurzen Moment nach der Wärme in der Höhle, wo Lorys, Trondyr und all die anderen Überlebenden seines Volkes zurückgeblieben wa-ren. Trauer erfüllte ihn beim Gedanken an die ehemalige Fürstin von Samara, die so lange seine Wegbegleiterin gewesen war, denn nach dem unverhofften Wiedersehen hatten sie sich doch wieder trennen müssen.

Es war nicht die Zeit für Gefühle, Verständnis - oder für eine ge-meinsame Zukunft. Auch Thorin wusste nicht, ob es überhaupt eine Zukunft für ihn und die wenigen Überlebenden geben würde, die er irgendwo jenseits des schneebedeckten Horizontes zurückgelassen hatte. Erst wenn die dunklen Mächte von dieser Welt vertrieben wa-ren, würde es wieder Hoffnung geben - aber waren das nicht nur küh-ne Träume, die ihn in diesem Augenblick erfüllten und nachdenklich werden ließen? Denn er hatte ja selbst einen kurzen Einblick in die kosmischen Zusammenhänge bekommen und wusste deshalb, welche Schreckensherrschaft die beiden dunklen Götter Azach und R'Lyeh auf der Welt der Menschen jetzt ausübten - und sie waren nicht allein. Unfassbare Wesen aus einer noch unbekannteren Welt waren ihre Helfershelfer. Es waren die grausamen Skirr, die durch ihr Eingreifen die Schlacht zwischen Licht und Finsternis entschieden hatten...

Zögernd näherte sich Thorin den dichten Nebelschwaden, die jetzt schon greifbar nahe waren und ein geheimnisvolles rötliches Licht aus-strahlten. Dutzende von fremden Gerüchen drangen auf ihn ein, ließen ihn für einen winzigen Moment innehalten. Es schien, als wenn er förmlich die Gefahr roch, die irgendwo in diesen Nebelschleiern auf ihn lauerte - auch wenn er sich jetzt nicht erklären konnte, warum das so war. Aber je mehr er die Schutzzone des Lichts verließ und sich der Nebelbarriere näherte, die die Menschen von der Region der Finsternis trennte, um so mehr spürte er, dass dies nicht nur eine Grenze dar-stellte, die die dunklen Kräfte daran hinderte, auch diese letzten Basti-onen des Lichts zu erobern - nein, hier war buchstäblich das Ende der

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ihm vertrauten Welt. Und was sich jenseits dieser wabernden Nebel-schleier befand - darüber konnte er nur rätseln...

Der kalte Wind ließ nach, als die ersten rötlich schimmernden Ne-belschleier seine Füße berührten, unsichtbaren Fingern gleich, die ihn packen und festhalten wollten. In einem ersten abwehrenden Impuls zog Thorin die Götterklinge Sternfeuer aus der Scheide und erkannte, dass das Schwert ebenfalls in einem hellen Licht schwach aufzuleuch-ten begann. Wie es jedes mal geschah, wenn die Mächte der Finsternis ihre Hände im Spiel hatten.

Er fühlte eine wachsende Nervosität in sich und ertappte sich da-bei, dass er noch einmal kurz den Kopf wandte und zurückblickte. Aber dieses Gefühl hielt nicht lange an - denn er konnte jetzt nicht mehr umkehren. Nicht wenn er fest entschlossen war, den Kampf gegen die Mächte der Finsternis fortzusetzen und denen gegenüberzutreten, die ihn in das Gefängnis aus Raum und Zeit verbannt hatten! Sternfeuer würde diese grausamen Kreaturen, endgültig vernichten - von diesem Wunsch war der Nordlandwolf beseelt und deshalb setzte er jetzt sei-nen Weg in die Nebelschleier fort.

Er spürte, wie der Boden unter seinen Füßen seltsam feucht und glitschig zu werden begann und als sich die rötlichen Schleier für einen winzigen Moment lichteten (als wenn sie Thorin jetzt zeigen wollten, dass sich hier etwas auf grausame Weise verändert hatte), erkannte der Krieger aus den Eisländern des Nordens, dass Schnee und Eis plötzlich verschwunden waren. Die Felsen und Steine waren von einem fast tödlich wirkenden Schwarz und die Erde dazwischen hatte sich in einen stinkenden Schlick und Morast verwandelt, der an seinen Fell-stiefeln zog und zerrte - als wenn er von einem Atemzug zum anderen in einem Sumpf geraten war und erst jetzt begriff, welche Gefahr das unter Umständen bedeuten konnte.

Aber Thorin sank noch nicht einmal bis zu den Knöcheln ein - dann wurde der Boden wieder fester. Das Gefühl der Sorge und der Unsicherheit blieb dagegen, denn das war nicht mehr die Welt, die ihm einmal vertraut gewesen war!

Seine Nase wehrte sich gegen den durchdringenden Geruch, der erneut auf ihn eindrang, je weiter er die ihm bekannte Welt hinter sich

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ließ und eintauchte in eine Welt aus rötlichem Nebel und unbe-schreiblichen Geräuschen, die von ganz ferne zu hören waren. Tiere oder andere Wesen, die in dieser Nebelzone ihr Schattendasein friste-ten? Waren es vielleicht Wächter, die die dunklen Mächte hier postiert hatten und die jeden Eindringling sofort töten sollten? (mit ihren bluti-gen, scharfen Krallen...)

Thorin hielt für einen kurzen Moment inne und spähte vorsichtig nach allen Seiten. Die Götterklinge hielt er in der rechten Hand - jeder-zeit darauf gefasst, Sekunden später einem tödlichen Gegner ins Ge-sicht zu blicken und dann um sein Leben zu kämpfen. Aber dann ebb-ten die eigenartigen Geräusche doch wieder genauso schnell ab wie sie gekommen waren (vielleicht weil irgend jemand oder irgend etwas sich wieder von ihm entfernt hatte, ohne ihn zu sehen). Thorins Atem ging unwillkürlich schneller, denn für ihn war es eine neue Erfahrung, sich in dieser unwirklichen Zone überhaupt orientieren zu können. Es war etwas anderes, in einer vertrauten Umgebung den Gefahren zu trotzen - aber hier wusste er noch nicht einmal, welche Richtung er überhaupt einschlagen musste, um an sein Ziel zu kommen.

Nur für einige kurze Atemzüge dachte er daran, dass er womög-lich stundenlang auf der Stelle verharrte und es wahrscheinlich noch nicht einmal merkte. Vielleicht hatten die finsteren Mächte seine Anwe-senheit ja schon, längst mitbekommen und spielten jetzt ein tödliches Spiel mit ihm, dessen Ausgang schon von Anfang an feststand?

Er spürte den mit Juwelen geschmückten Knauf der Götterklinge in seiner Hand und das gab ihm wieder die Kraft, die er benötigte, um seinen Weg fortzusetzen.

Er dachte an die Götter des Lichts, an Odan, Thunor und Einar. Si-cherlich vertrauten sie darauf, dass er vor den zahlreichen Gefahren nicht zurückschreckte. Sonst war auch ihr Schicksal besiegelt, denn Thorin hatte die verwirrenden Bilder, die ihm der FÄHRMANN gezeigt hatte, noch deutlich vor Augen. Deshalb wusste er, dass er auf die Hilfe der Götter des Lichts jetzt nicht zählen konnte - sie waren besiegt worden von ihren schrecklichen Gegnern und konnten nicht mehr ein-greifen in das Schicksal dieser Welt. Diese Aufgabe hatte nun Thorin zu erfüllen und die Last der schweren Verantwortung ließ ihn in die-

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sem Moment seufzen. Denn er stand allein gegen die beiden Götter der Finsternis und ihre grausamen Helfershelfer, denen Thorin noch nicht einmal begegnet war. Aber das, was ihm der FÄHRMANN nur kurz gezeigt hatte, reichte aus, um ihm deutlich zu machen, welch eine gewaltige Hürde er zu überwinden hatte!

Seine Schritte wurden jetzt fester und er ignorierte das glucksende Geräusch in dem schwarzen Morast, in den seine Fellstiefel eindran-gen. Stattdessen richtete er seine Blicke nun auf das rötliche Licht, das den gesamten Nebel erhellte. Eine Lichtquelle, die nicht von dieser Welt war, denn dieses düstere Leuchten war ganz anders als die helle wärmende Sonne, die einst hier ihr Licht ausgestrahlt hatte. Und je tiefer Thorin in diese Region eindrang, um so mehr glaubte er irgend-wo jenseits der wabernden Schleier sehen zu können. Umrisse, fremde Konturen von merkwürdigen Wesen, die ihn dennoch nicht zu erken-nen schienen.

Immer wieder blickte er um sich, versuchte einen unsichtbaren Gegner rechtzeitig ausmachen zu können. Aber er sah nichts - obwohl er immer deutlicher spürte, dass etwas da war! Etwas, das ihn nicht greifen konnte. Thorin hörte ganz von fern ein leises Wimmern und flüsternde Stimmen irgendwo hoch über ihm. Jedoch verstand er die Worte nicht (waren es überhaupt Worte?), er erkannte nur, dass das Leuchten der Götterklinge jetzt an Intensität zunahm. Sternfeuer er-strahlte in einem hellen Licht, das den rötlichen Schimmer des dichten Nebels sogar noch überlagerte. Gleichzeitig verschwanden die seltsa-men Stimmen und machten einer Stille Platz, die endgültig war - zu-mindest in diesem Augenblick. Thorin glaubte seinen eigenen Herz-schlag unangenehm laut zu hören, ebenso wie seinen unregelmäßigen Atem. Er war jetzt allein in einer Oase der vollkommenen Stille.

Aber in Wirklichkeit ist es ganz anders, schoss es ihm durch den Kopf. Er wusste, dass hier etwas ganz entsetzlich falsch war - etwas, das er mit seinen normalen menschlichen Sinnen nicht erfassen konn-te. Er spürte die Präsenz des Bösen, die ihn von allen Seiten umgab. Es streckte seine klauenartigen Hände nach ihm aus, versuchte, dieses Eindringlings habhaft zu werden - und dennoch gelang es nicht!

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Als wenn mich erneut eine schützende Blase umgibt, dachte Tho-rin. Sie können nichts dagegen tun und das macht sie wütend, schlussfolgerte er. Wahrscheinlich hatten sie ihre Schergen ausge-schickt, um Thorin zu jagen und zu stellen, sobald sie bemerkt hatten, dass er in die Nebelzone eingedrungen war - oder besser gesagt in den Wall, der die Inseln des Lichts vom Einflussbereich der Mächte der Finsternis noch trennte...

Es waren eigenartige Momente, die Thorin durchlebte. Und je wei-ter er vordrang, um so gewisser wurde es, dass ihn die Aura des Bö-sen nicht erreichen konnte. Ohne Sternfeuer und dessen Kräfte wäre er wahrscheinlich den Kreaturen der Finsternis längst zum Opfer gefal-len. Aber die Götterklinge war so stark wie nie zuvor (vielleicht hatte der FÄHRMANN da etwas nachgeholfen - das konnte Thorin nicht mit Bestimmtheit sagen) und allein dieser Tatsache war es zu verdanken, dass die Aura der Klinge sich wie ein schützender Mantel um Thorin hüllte, der alle weiteren äußeren Einflüsse von ihm abhielt.

In den wabernden Nebelschleier entdeckte Thorin plötzlich etwas Dunkles, Konturenhaftes, das direkt auf ihn zukam. Rasch trat er eini-ge Sehnte zur Seite, duckte sich hinter einigen hervorragenden Fels-brocken, die eine unbestimmbare Laune der hier kaum nachzuvollzie-henden Natur an diesem Flecken schmutziger Erde ausgestreut hatte. Gleichzeitig hörte Thorin schwere stampfende Schritte, die sich ihren Weg durch den stinkenden Schlick bahnten - und das war auch der Augenblick, wo die Stille sich wieder in ein Konglomerat aus Dutzen-den unterschiedlicher, nicht näher zu bestimmender Geräusche ver-wandelte.

Er blieb ganz ruhig hinter seiner Deckung, hielt die Götterklinge mit beiden Händen umschlossen und war bereit, sich dem unbekann-ten Gegner zu stellen, falls ihn dieser nun doch noch entdecken sollte. Aber das Schicksal hielt auch jetzt seine schützende Hand über den Krieger aus den Eisländern des Nordens, der es wagte, sich ganz allein den dunklen Mächten entgegenzustellen.

Aus den rötlichen Nebelschleiern schälten sich die Umrisse eines Wesens, das eigentlich überhaupt nicht existieren durfte! Es besaß einen plumpen Körper, der Thorin gut um eine Mannslänge überragte.

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Die Haut war grün und auf der schuppenartigen Oberfläche hatten sich mehrere große, nässende Pusteln gebildet. Die Augen waren feuerrot und das maul der Kreatur war mit messerscharfen Zähnen besetzt.

Der suchende Blick des Ungeheuers ging auch in die Richtung, wo sich Thorin verborgen hatte und für einen winzigen Moment dachte der Nordlandwolf, dass er jetzt gleich seinen ersten Kampf gegen ei-nen Giganten ausfechten musste. Er erschauerte bei dem Gedanken, sich gegen ein solches Wesen stellen zu müssen - aber nichts geschah! Auch wenn sich die funkelnden Augen der Bestie auf Thorin hefteten und ihn eigentlich sehen musste, so entdeckte ihn die Kreatur dennoch nicht...

Thorin wartete einige bange Augenblicke ab, bis sich das Wesen schließlich wieder abwendete und mit einem unheilvollen Schnauben in den Nebelschleiern wieder verschwand - genauso rasch wie es auch aufgetaucht war. Dennoch wartete der Nordlandwolf noch etwas ab, bis er es wagte, seine karge Deckung wieder zu verlassen und den Weg ins Ungewisse fortzusetzen. Unglaublich - aber dennoch war es geschehen! Die Klinge, die er einst in den Ruinen der Tempelstadt Noh'nym gefunden hatte, entwickelte mit einem mal Kräfte, von deren Existenz ihm selbst die Götter des Lichts nichts gesagt hatten - viel-leicht weil sie selbst davon nichts gewusst hatten. Und das machte Thorin erneut klar, dass selbst solche mächtigen Wesenheiten Grenzen besaßen. Grenzen, die bis jetzt nur der FÄHRMANN überschreiten konnte, weil er als einziger das wahre Wissen um die kosmischen Zu-sammenhänge besaß.

Jetzt war er sicher, dass man ihm zumindest jetzt nichts anhaben konnte. Die Götterklinge schützte ihn vor dem Zugriff der dunklen Mächte. Aber wie lange dieser Zustand noch anhalten würde, das wusste Thorin nicht. Deshalb beeilte er sich jetzt, tiefer in die wabern-den Nebelschleier einzudringen - in der Hoffnung, dass er diesen trü-gerischen Bereich bald hinter sich gebracht hatte. Denn er wusste ja, dass diese Zone nur eine Trennlinie zwischen Licht und Finsternis dar-stellte - und dass es für die dunklen Mächte nicht möglich war, die andere Seite zu erreichen. Und wahrscheinlich ebenso wenig für nor-male Sterbliche, dachte er. Aber da er die Macht der Götterklinge

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Sternfeuer auf seiner Seite hatte, war er sicher vor Angriffen jeglicher Art und konnte demzufolge auch diesen Bereich gefahrlos durchschrei-ten.

Sekunden wurden zu Minuten - und Minuten zu Stunden. Wie viel Zeit genau vergangen war, seitdem Thorin seine vertraute Welt verlas-sen hatte, konnte er nicht sagen. Er merkte es nur daran, dass sich seine Beine allmählich schwer anfühlten und jeder Schritt immer an-strengender wurde. Aber das rötliche Leuchten trieb ihn voran - denn hier in dieser trügerischen Umgebung wollte und konnte er keine Ru-hepause einlegen. Das konnte unter Umständen zu einem verhängnis-vollen Fehler für ihn werden...

Deshalb war er mehr als erleichtert, als er schließlich irgendwo weiter vorn erkannte, dass die dichten Nebelschleier allmählich nach-zulassen begannen. Erste Konturen einer Landschaft schälten sich aus dem rötlichen Nebelwand. Zuerst waren es nur undeutliche Schemen - aber mit jedem Schritt, den Thorin weiterging, konnte er mehr erken-nen. Und das, was er dann Augenblicke später sah, war eine düstere dunkle Landschaft, die er sich selbst in seinen schlimmsten Alpträumen niemals so konkret vorzustellen gewagt hätte...

*

Schatten dunkler zerfetzter Bäume überragten das geschwärzte Land, das tief unter der Oberfläche immer noch zu brennen schien. Aus zahl-reichen Kratern und Felsspalten stieg stinkender, gelblicher Rauch an die Oberfläche, der nach Schwefel stank und unangenehm in die Nase des Mannes stieg, der jetzt aus einem todesähnlichen Schlaf ganz langsam erwachte.

Er roch die Veränderung, die allgegenwärtig war und spürte, dass alles anders geworden war - bevor er die Lider öffnete und mit schre-ckensbleicher Miene um sich sah.

»Was... was...?«, entfuhr es Correk, als er die sich ebenfalls schwach regenden Gestalten seiner Gefährten erkannte, die nur weni-ge Schritte von ihm entfernt lagen und jetzt genauso aus ihrer unna-türlichen Starre erwachten. Er spürte die eigenartige bleierne Schwere

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in seinem Schädel und hatte große Mühe, seine Arme und Beine zu bewegen - als wenn sie ihm nicht gehorchen wollten und einen eige-nen, nichtmenschlichen Willen besaßen.

Irgend jemand stöhnte, aber Correk konnte nicht erkennen, wer diese Laute ausgestoßen hatte. Der Krieger vom Volk der Aynok hatte in diesen Sekunden des unendlich langen Erwachens genug mit sich selbst zu tun. Er rappelte sich schließlich unter Aufbietung sämtlicher Kräfte auf und konnte auf eigenen Beinen stehen - auch wenn er noch sehr schwach war.

Tief in seiner Kehle spürte er den Geschmack von Rauch und A-sche - und von Blut, das über seine aufgesprungenen Lippen geflossen und jetzt zu einer schmutzigen Kruste erstarrt war. Seine linke Schulter pochte und dann erst fühlte er einen ziehenden Schmerz, blickte ver-wirrt auf die abgebrochene Speerspitze, die dort noch steckte und sich jetzt unangenehm bemerkbar machte.

»Correk!«, erklang nun eine verzweifelte Stimme weiter drüben bei den von erkalteter Lava überzogenen Felsen. »Bei allen Göttern... was ist nur geschehen? Wo sind wir... und was ist mit dem Rest des... Heeres?«

»Ich wünschte, ich wüsste es«, kam es zögernd über die Lippen des schwarzhaarigen Correk, der noch immer nicht wusste, was dies alles zu bedeuten hatte. Er wandte den Kopf und erkannte nun denje-nigen, der diese Frage gestellt hatte. Sein Name war Ajak und er kam aus demselben Dorf wie Correk. Irgendwo südlich dieses von rötlichem Nebel begrenzten Horizontes - aus einem Teil der menschlichen Welt, der ganz anders aussah wie dieser Ort hier!

Correk brauchte seinen Gefährten nur kurz anzusehen, um zu er-kennen, dass Ajak wahrscheinlich dieselben Gedanken durch den Kopf gingen. Gedanken, die sich alle im Kreis drehten und mit einer einzi-gen Frage beschäftigten: WO BEI ALLEN GÖTTERN SIND WIR???

Es waren noch nicht einmal ein Dutzend Männer, die dieses Chaos überlebt hatten. Die meisten hatten rauchgeschwärzte Gesichter und trugen an ihrem Körper die unauslöschlichen Spuren der gewaltigen Schlacht - eine Schlacht, die wahrscheinlich mehr Opfer gekostet hatte als sich es jeder von ihnen vorstellen konnte.

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»Dieser Ort hier...«, fuhr Ajak nun zögernd fort »Er wirkt so... fremd. Seht doch das rötliche Licht am Horizont - das ist der Unter-gang!«

Seine Stimme war so von Panik erfüllt, dass sich einige der ande-ren Überlebenden Krieger mitreißen ließen. Sie alle blickten hilfesu-chend zu Correk, der der Anführer dieser Männer gewesen waren, als sie auf Geheiß eines der Landesfürsten von Aynok in die Schlacht ge-zogen waren - in eine Schlacht, die jedem von ihnen einen hohen Preis abverlangt hatte.

»Ruhe!«, rief Correk nun mit so lauter und zorniger Stimme, dass die anderen Krieger sofort verstummten. Sie wussten, wie fremd und bedrohlich zugleich dieser Ort auf sie wirkte, aber Correk versuchte sie wieder zu beruhigen. Sie waren - zumindest sah es so aus - die letzten Überlebenden und da galt es Nerven zu bewahren.

Nicht unweit der Stelle, wo sich die Krieger befanden, schoss plötzliche eine Säule gelblich stinkenden Dampfes aus dem erwärmten Felsboden und sprühte wild umher. Einige der Krieger, die sich nicht rechtzeitig vor dem Dampf in Sicherheit hatten bringen können, wur-den nun mit dem heißen Atem der Erde schmerzhaft konfrontiert. Aber die große Dampfsäule zeigte sich nur wenige Atemzüge lang. Dann war sie auch schon wieder im Boden verschwunden und das dumpfe Grollen, das diesen schrecklichen Ort erfüllt hatte, verzog sich wieder - aber für wie lange?

»Das ist die Hölle!«, murmelte einer der Krieger, der dicht neben Ajak stand und misstrauisch auf die Stelle im steinigen Boden blickte, wo der Dampf ausgetreten war. »Ihr Götter - wir alle sind schon tot und das ist nun die Strafe für uns alle. Wir sind verdammt in diesem Reich...«

»Solange ich Schmerzen spüre, lebe ich!«, unterbrach ihn Correk und deutete auf die in seinem Fleisch steckende Speerspitze. »Nein, ihr denkt alle falsch. Ja, es ist etwas geschehen - etwas ganz Schreck-liches. Wir wissen nicht, was es ist - noch nicht! Aber wir werden es herausfinden, Männer!«

Mit diesen Worten wollte er den Kriegern Mut machen, aber das war keine leichte Aufgabe. Denn wohin sie auch blickten - nichts erin-

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nerte sie an die Welt, die ihnen einmal so vertraut gewesen war. Der Boden war fast schwarz, an vielen Stellen überzogen mit erkalteter Lava. Kein grüner Baum, kein blühender Strauch mehr - soweit das Auge sah. Hier war noch viel mehr gestorben als tapfere Soldaten in einer großen Schlacht. Mit jeder Sekunde wurde es für Correk immer deutlicher, wer diese Schlacht gewonnen hatte...

»Was sollen wir tun, Correk?«, erkundigte sich nun Ajak erneut bei dem Anführer der Aynok-Krieger. »Wir können doch nicht einfach hier bleiben und...«

»Natürlich werden wir das nicht«, fiel ihm Correk ins Wort und spürte erneut den stechenden Schmerz in seiner Schulter. Die Wunde musste rasch behandelt werden, sonst zog er sich womöglich noch eine Vergiftung zu - ganz zu schweigen von den anderen Kriegern, die ebenfalls verwundet waren. Es gab kaum einen unter ihnen, der nicht vom gnadenlosen Kampf gezeichnet worden war. Und dennoch waren sie die Verlierer dieser Schlacht!

»Das... das ist nicht der Himmel, den ich kenne«, murmelte einer der anderen Krieger und richtete seine Blicke hinüber zum rötlichen Horizont, wo die Nebelschwaden noch um einiges dichter waren als hier an diesem verlassenen, vom Tod gezeichneten Ort. »Und das ist auch nicht die Ebene von Caer, wo wir gekämpft haben, Correk«, füg-te er rasch hinzu, bevor ihn sein Anführer am Sprechen hindern konn-te.

»Butan hat recht«, meldete sich ein anderer Krieger zu Wort und deutete dabei auf die von Lava überzogenen Felsen. »Wo wir kämpf-ten, waren grüne Hügel und viele Bäume - hier ist alles anders. Wir sind nicht in der Ebene von Caer, Correk - aber wo dann?«

Seine Worte trugen auch nicht gerade dazu bei, um die Furcht in den Kriegern zu vertreiben. Jeder von ihnen wusste, dass etwas ge-schehen war, dessen Ausmaße sie noch nicht begriffen hatten. Und je länger sie auf die erkaltete Lava blickten, um so deutlicher nistete sich der Gedanke bei jedem von ihnen ein, dass weitaus mehr Zeit verstri-chen sein musste als nur die Zeit der Ohnmacht und des darauf fol-genden Erwachens.

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»Alles hat sich verändert«, nickte Correk nun mit einem tiefen Seufzer und musste kurz husten, als der schweflige Rauch in seiner Kehle kratzte. »Und wir müssen herausfinden, warum das so ist. Die Antwort darauf werden wir nur erfahren, wenn wir den Ort wieder finden, wo wir uns zuletzt aufhielten.«

Die letzten Worte, die über seine Lippen kamen, wurden erneut von einem dumpfen Grollen untermalt, das tief unter ihren Füßen sei-nen Ursprung hatte und jetzt den Erdboden leicht erzittern ließ. Einige der Krieger fuhren erschrocken zusammen, während der Boden erneut zu beben begann. Diesmal allerdings bedeutend stärker und das hatte sogar Auswirkungen auf die geschwärzten Reste der Ruinen, die in einiger Entfernung standen. Man konnte nur noch vermuten, wie das Gebäude einst ausgesehen hatte. Es war bis auf die Grundmauern zerstört und die Menschen, die hier einst gelebt hatten, waren ver-schwunden. Es gab keine Leichen und auch keine Gräber.

An mehreren Stellen brach die Erde auf und erneut schoss heißer Dampf heraus, spritzte unkontrolliert um sich.

»Lauft!«, rief Correk seinen Kriegern zu, als er begriff, dass sie an diesem Ort nicht mehr sicher waren. Die meisten der Krieger spurteten sofort los und etliche von ihnen taten das mehr schlecht als recht. Denn sie waren noch zu erschöpft von dem langen Schlaf, der sie ganz offensichtlich in seinen Klauen gefangen gehalten hatte (und wäh-renddessen hatte sich die Welt verändert).

Correk selbst stolperte mehr als er lief und er stieß einen Schrei der Furcht aus, als ihn ein heißer Dampfstrahl am rechten Unterschen-kel traf und seine Haut schmerzhaft rötete. Kleine Blasen bildeten sich sofort, aber Correk verbiss den Schmerz und hastete weiter.

Die Felsen wackelten und der ganze Erdboden geriet in Aufruhr - als wenn eine unbegreifliche Macht in der Tiefe des Gesteins mit aller Macht das rötliche Licht der sterbenden Welt erblicken wollte. Der Dampf verdichtete sich jetzt, während die Aynok-Krieger jetzt schon gut hundert Meter vom unmittelbaren Ort des Geschehens entfernt waren. Aber sie rannten noch immer mit keuchenden Lungen weiter, denn jeder von ihnen spürte, dass nun etwas Schlimmes geschehen würde - etwas, das sie einfach noch nicht verstehen konnten.

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Gestein barst auseinander, Geröllbrocken wurden weit beiseite ge-stoßen, als sich im selben Atemzug ein gigantischer Körper ins Freie wand. Ein Wesen von der Größe eines Hauses, dessen Kopf mit dich-ten Stacheln besetzt war und das nun einen ohrenbetäubenden Schrei ausstieß, als es seinen pestilenzartigen Atem versprühte.

»Ihr Götter...«, murmelte Correk und hob seine Hand schützend vors Gesicht, als das Ungeheuer eine große Flamme ausspuckte, deren züngelnde Hitze fast bis hinüber zu den zu Tode erschrockenen Krie-gern reichte.

Die furcht erregende Kreatur wiegte den Kopf hin und her, suchte mit funkelnden Augen das mit Lava überzogene Gelände ab, während die Söldner Schutz hinter einigen Felsen suchten.

Aber diese Steine bildeten nur ein klägliches Bollwerk, das dieses schreckliche Ungetüm mit seinem gewaltigen Körper im Nu zur Seite stoßen würde. Und dann würde es die Aynok-Krieger mit seinen schar-fen Klauen packen und mit den todbringenden Zähnen zerreißen!

Correk begriff, dass sie sich wehren mussten - und zwar jetzt! Sie hatten nur diese eine winzige Chance und wenn sie tapfer kämpften, würden einige von ihnen vielleicht überleben. Er war einer der ersten, die ihr Schwert aus der Scheide zogen und sich dem Ungeheuer ent-gegen stellten, das nun aus seiner tiefen Behausung fast vollends her-aus gekrochen war und noch größer wirkte als es ohnehin schon war.

Nicht nur der Kopf war mit hässlichen Stacheln besetzt - auch der peitschende Schwanz, der jetzt ein Eigenleben entwickelte und einen der Aynok-Krieger mit einem wuchtigen Schlag beiseite fegte. Der un-glückliche Krieger schrie mit lauter durchdringender Stimme, als er hochgerissen und dann mit vehementer Gewalt gegen einen zerklüfte-ten Felsen gestoßen wurde. Seine Wirbelsäule brach bei diesem Zu-sammenprall mit einem hässlichen Knacken und der Krieger starb von einem Atemzug zum anderen.

Correk drang als einer der ersten vor und stieß den Schlachtruf seines Volkes aus. Die Gefährten hatten nun ebenfalls begriffen, dass es für sie nur noch eine Flucht nach vorn gab. Sie folgten ihrem Anfüh-rer ohne weiteres Zögern und versuchten mit gezückten Schwertern von mehreren Seiten auf das Ungetüm einzudringen.

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Dennoch hätten die tapferen Aynok-Krieger nicht die geringste Chance gehabt - wenn nicht ein unergründlicher Wille des Schicksals eingegriffen hätte. In der Gestalt eines hünenhaften Mannes mit lan-gen blonden Haaren und einer blitzenden Klinge in der kräftigen Hand!

*

Thorin hörte das urwelthafte Brüllen und zuckte zusammen. Er regist-rierte die sterbende Landschaft nur noch ganz am Rande und be-schleunigte jetzt seine Schritte, als er laute ängstliche Stimmen ver-nahm, gefolgt von einem markerschütternden Todesschrei.

Menschen - das sind doch Menschen, wurde es ihm nun bewusst. Allein dieser Gedanke ließ ihn die Monotonie und die Bilder der Alp-traumlandschaft rings um ihn herum zumindest für einen Moment wie-der vergessen. Da waren Menschen in Not und sie bedurften seiner Hilfe!

Er rannte so schnell er konnte und wäre dabei beinahe über eine tückische Wurzel gestolpert, die an mehreren Stellen des mit Lava ü-berzogenen Bodens ein Hindernis bildete. Doch Thorin konnte dem gerade noch ausweichen, hastete weiter eine Hügelkuppe hinauf und spürte dann, wie sich die Erde unter seinen Füßen in, ruckartigen Stö-ßen zu bewegen begann. Gleichzeitig verstärkte sich das Grollen und erneut erklang das laute Brüllen.

Sekunden später erkannte er die grausame Wahrheit. Fassungslos richteten sich seine Blicke auf eine gewaltige, mit Stacheln besetzte Schlange, die aus dem Schlund der Unterwelt selbst zu kommen schien und es auf ein knappes Dutzend dunkelhäutiger Männer abge-sehen hatte, die ihre Schwerter gezückt hatten und sich mit Todesver-achtung dem Ungetüm entgegen stellten. Thorin sah, wie der Schwanz des Geschöpfes einen der Männer packte und tötete - und dann richte-te es das mit messerscharfen Zähnen besetzte, gewaltige Maul den anderen winzigen Angreifern entgegen!

Ein heller, durchdringender Ton ging auf einmal von Sternfeuer aus und das unregelmäßige Pulsieren der Götterklinge verwandelte sich nun in einen hellen Strahl, der im ersten Moment sogar Thorins

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Augen blendete. Mit hoch empor gereckter Waffe stürmte er hinunter in die Senke, direkt auf die gewaltige Schlange zu. Die verzweifelten Männer hatten Thorin gar nicht kommen sehen. Um so überraschter waren sie, als der Nordlandwolf plötzlich mitten unter ihnen war.

Seine kräftige Rechte zuckte vor und die scharfe Götterklinge biss sich in die Schuppenhaut der gewaltigen Schlange, stieß tiefer ins Fleisch des Ungeheuers. Das riesenhafte Reptil brüllte laut und durch-dringend und der große Schwanz peitschte unkontrolliert nach allen Seiten, erwischte dabei einen weiteren Krieger, der einige Mannslän-gen zur Seite geschleudert wurde. Allerdings hatte er mehr Glück als der andere Krieger, der dadurch zu Tode gekommen war. Er selbst landete ebenfalls recht unsanft auf dem Boden, brach sich aber nichts. Stattdessen blieb er nur kurz benommen liegen, bevor er sich wieder aufrappelte und mit wilder Entschlossenheit erneut in den Kampf ein-griff.

Thorin wich dem geifernden Haupt des Reptils aus, als die Schlan-ge ihn blitzschnell zu fassen versuchte. Er sprang hastig zur Seite, war-tete ab, bis der vorzuckende Kopf der Bestie ins Leere stieß und ver-setzte der Alptraumkreatur dann einen erneuten Hieb mit der Götter-klinge, erwischte eines der funkelnden Augen.

Das Ungetüm bäumte sich wild auf, spürte den heißen bohrenden Schmerz und war für eine winzige Zeitspanne hilflos. Thorin sah das und zögerte nicht mehr. Er nahm all seinen Mut zusammen und holte mit Sternfeuer zu einem alles vernichtenden Hieb aus. Das Schwert traf die große Schlange unterhalb des Bauchansatzes - dort wo es kaum Schuppen gab und die ansonsten eher lederhaft wirkende Haut weich und verletzlich war.

Bis zum Heft bohrte sich Sternfeuer in den Leib der Schlange. Se-kunden später riss Thorin die todbringende Klinge auch schon wieder zurück und brachte sich mit zwei Sprüngen hastig in Sicherheit - eben-so wie die dunkelhäutigen Soldaten, die begriffen hatten, dass nun der Todeskampf der Schlange begonnen hatte.

Ein durchdringendes Brüllen kam tief aus der Kehle der gewaltigen Schlange, deren tödlich verletzter Leib zu zittern begann. Dann brach

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das Reptil tot zusammen und der schuppige Leib zuckte ein letztes mal hin und her, bevor auch diese letzte Bewegung schließlich erstarb.

Während Thorin auf den gewaltigen Leib der getöteten Bestie blickte, die ihn mit ihrem schleimigen Blut gezeichnet hatte, hörte er hinter sich das bewundernde Murmeln der dunkelhäutigen Krieger, für die er wohl jetzt wie ein allmächtiger racheerfüllter Gott wirkte, der ihnen zu Hilfe gekommen war und mit seiner blitzenden Klinge jedem noch so gefährlichen Ungetüm trotzte, natürlich war dem nicht so - aber Thorin konnte die respektvollen Blicke der Männer gut verstehen. Auch er war einmal ein nach Abenteuern dürstender junger Mann ge-wesen, der nicht an Wunder und kosmische Ereignisse glaubte. Mitt-lerweile sah er das aber ganz anders...

Langsam ließ er Sternfeuer sinken, drehte sich aber erst zu den dunkelhäutigen Kriegern um, als er ganz sicher war, dass von der Schlange keinerlei Gefahr mehr ausging. Er bemerkte die fast schon an Ehrfurcht grenzenden Blicke der Krieger, die alle nur noch Teile einer einst stolzen Rüstung trugen. Der Rest eines aufgelösten und zer-schlagenen Heeres!

»Wir danken Euch, Herr«, murmelte einer der Krieger und trat ei-nen Schritt nach vorn, hielt sein Haupt demütig gesenkt. Er machte Anstalten, sich Thorin zu Füßen zu werfen, aber der Krieger aus den Eisländern des Nordens hinderte ihn daran, deutete ihm mit einer stummen Geste an, Haltung zu bewahren. »Wenn Ihr nicht eingegrif-fen hättet, dann...«

»Ich bin kein Gott, sondern ein Mensch wie ihr«, ergriff Thorin nun das Wort, während er seine Klinge vom schleimigen Blut der Schlange reinigte und dann wieder in die Scheide auf seinem Rücken steckte. »Mein Name ist Thorin - und wer bist du?«

»Ich heiße Correk«, erwiderte der dunkelhäutige Krieger darauf-hin. »Wir gehören zum Volk der Aynok - unsere Heimat sind die Re-genwälder des fernen Südens. Wir nahmen teil an der großen Schlacht in der Ebene von Caer, kämpften gegen die Mächte der Finsternis. Aber dann geschah etwas, das wir... etwas, das wir nicht begreifen können, Thorin. Wir erwachten an diesem Ort hier und wissen nicht, was das zu bedeuten hat. Weißt du, was in der Zwischenzeit gesche-

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hen ist? Die Finsternis - sie hat den Sieg errungen, nicht wahr? Wir alle fühlen, dass unsere vertraute Welt nicht mehr existiert.«

Thorin zögerte einen kürzen Moment, den Männern die brutale Wahrheit zu sagen, nickte aber dann doch.

»Die Finsternis hat den größten Teil der Welt vernichtet«, antwor-tete er und bemerkte dabei die schockierten Blicke der Aynok-Krieger. »Fünf Jahre ist es her, seit die Heere von Licht und Finsternis aufein-ander trafen und...«

»Fünf Jahre?«, unterbrach ihn nun Correk. »Bei den Göttern des Cayan-Tempels - du musst dich irren, Thorin. Wir kämpften doch noch heute morgen gegen den Gegner! Nein, das muss ein schlimmer Alp-traum sein - und ich möchte endlich daraus erwachen!«

Seine Stimme klang voller Bestürzung, aber er brauchte Thorin nur kurz anzusehen, um zu erkennen, dass der Nordlandwolf die Wahrheit sprach.

»Unsere Familien«, murmelte Ajak ergriffen und sprach damit das aus, was die meisten anderen seiner Gefährten jetzt dachten. »Ob sie überhaupt noch am Leben sind? Wir müssen aufbrechen und nach ihnen sehen. Vielleicht sind sie ja...«

»Eure Heimat ist vernichtet!«, zerstörte Thorin die letzten Hoff-nungen der Aynok-Krieger. »Es gibt nur noch wenige Flecken auf die-ser Welt, die von den Mächten der Finsternis bisher noch nicht ange-griffen wurden - ich selbst komme aus einer solchen Schutzzone. Sie liegt jenseits des rötlichen Nebels, der den Blick auf den Horizont ver-sperrt...«

Daraufhin schilderte er den Kriegern, wie die Inseln des Lichts zu-stande gekommen waren und erwähnte auch, welche Rolle er in den Auseinandersetzungen zwischen Licht und Finsternis spielte. Natürlich sah er die ungläubigen Blicke der Aynok-Krieger, denen sich jetzt buchstäblich eine neue Welt öffnete, von deren Existenz sie bisher noch nie etwas erfahren hatte. Wie gut konnte Thorin die Gedanken und Empfindungen der dunkelhäutigen Männer nachvollziehen! Er selbst hatte auch vor einiger Zeit die Erfahrung machen müssen, dass es mehr gab als nur die Götter des Lichts und deren finstere Gegner Azach, R'Lyeh und Modor - Thorin hatte sogar den schrecklichen Mo-

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dor in den Sümpfen von Cardhor besiegt. Seitdem war er der gefähr-lichste Gegner für die Brüder des toten Gottes - und bisher hatte er trotz aller Schwierigkeiten überleben können. Wenn diesmal auch nur durch das Eingreifen des unfassbaren FÄHRMANNS.

Von dem Wesen in der Barke erzählte er den Aynok-Kriegern al-lerdings nichts - das hätte ihre ohnehin schon in Mitleidenschaft gezo-genen Sinne nur noch mehr belastet. Schließlich mussten sie erst ein-mal mit der Tatsache fertig werden, dass sie durch unerklärliche Um-stände fünf Jahre nach der Schlacht erst wieder zu sich gekommen waren - aber wo waren sie in der Zwischenzeit gewesen? Keiner von ihnen konnte sich daran erinnern? Vielleicht auch in einem Stasisfeld, das sie selbst nicht hatte altern lassen, während draußen die Zeit förmlich verflogen war? Alles Fragen, auf die weder Thorin noch die Aynok-Krieger jetzt eine Antwort finden würden.

»Ihr habt die Wahl«, ergriff Thorin jetzt wieder das Wort. »Ihr könnt hier bleiben und mit eurem Schicksal hadern. Ihr könnt aber auch mit mir kommen und etwas dafür tun, dass diejenigen zur Re-chenschaft gezogen werden, die unsere Welt ins Chaos gestürzt ha-ben. Auch Götter sind sterblich und können besiegt werden...«

»Was hast du vor, Thorin?«, wollte jetzt Correk wissen. »Die Götter des Lichts waren bisher immer auf meiner Seite - bis

zum unheilvollen Ausgang der Schlacht«, antwortete Thorin. »Ich will sie befreien aus ihrem dunklen Gefängnis und damit das alte Gleich-gewicht wieder herstellen. Es wird eine lange und gefährliche Suche werden - denn keiner von uns weiß, was in dieser Alptraumlandschaft an Gefahren auf uns lauert. Aber zusammen sind wir stark.«

Er sah kurz in die Runde und erkannte, dass seine Worte bei den Aynok-Kriegern auf Gehör stießen. Sie konnten die verlorenen fünf Jahre sowieso nicht mehr zurückholen - also blieb nur die Flucht nach vorn. Und das bedeutete in diesem Fall, dass sie dem Mann folgten, dessen Schwert ein in ihren Augen kaum zu besiegendes Ungeheuer doch hatte vernichten können.

Ein winziger Funke Hoffnung hatte die Männer ergriffen und das war angesichts der Lage, in der sie sich befanden, schon eine ganze Menge. Denn niemand von ihnen - auch Thorin nicht - wusste, was

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jenseits der von schwärzlicher Lava überzogenen Felsen lauerte. Die Nebelzone hatte zumindest hier den Blick freigegeben auf eine schrecklich zerstörte Landschaft. Würde das alles sein, was sie von nun an von der einst vertrauten Welt sehen würden? Nur grässliche Wesen und finstere Kreaturen? Oder gab es auch in den anderen Schutzzonen des Lichts, die der FÄHRMANN errichtet hatte, noch Hoff-nung auf ein Überleben? Thorin hätte viel dafür gegeben, wenn er das jetzt gewusst hätte...

*

Zwischenspiel 1: Die Jahre vor Thorins Erwachen Zwei lange und harte Jahre waren vergangen, seit General Kang als Oberbefehlshaber der Streitkräfte des Lichts eine vernichtende Nieder-lage gegen die voranstürmenden Armeen der Finsternis hatte hinneh-men müssen. Zwei heiße Sommer und zwei kalte Winter - keiner war wie der andere gewesen. Überall auf der Welt gab es nur unsägliches Leid. Bis in die hintersten Winkel der entlegensten Bergdörfer hausten die Söldner der Finsternis. Sie schändeten, brandschatzten, mordeten und plünderten auf grausamste Weise.

Der einst so stolze General - jetzt aber ohne eine schlagkräftige Armee, mit der er sich den dunklen Mächten erneut hätte entgegen-stellen können - hatte in diesen Jahren den größten Teil seiner Hoff-nung aufgegeben. Er verfluchte sogar den Tag seiner Rettung.

Doch in der Folgezeit bildete sich ein winziger Funke der Hoff-nung. Irgendwann war er nicht mehr allein, sondern fand tapfere Mit-streiter, die genau wie er nicht akzeptieren wollten, dass die Erde dem Untergang geweiht war. Tapfere Männer wirkten im Geheimen. Ein Netz von Partisanen breitete sich aus über die zerstörten Länder. Vom Eisgebirge, über die Ruinen der Stadt der Bettler und Kaufleute, weiter über die verwüsteten Ländereien von Samorkand - bis zu den intakten Resten der Hafenstadt Gara, wo eine der unseligen Stahlburgen der Skirr verankert war.

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General Kang wusste nichts über die abgeschotteten Inseln des Lichts, in denen ebenfalls noch Menschen lebten. Für ihn waren die zerstörten Städte und verwüsteten Länder Wirklichkeit - ebenso wie die allgegenwärtigen Kräfte der Finsternis, die eine blutige Schre-ckensherrschaft ausübten und die letzten Überlebenden schlimmer knechteten als man es sich vorstellen konnte. Eigentlich Leid genug, um auch den letzten Funken Hoffnung verlieren zu können - aber der alte General glaubte trotzdem an eine Schicksalswende. Er, der selbst in der Schlacht viel Kraft verloren hatte, erstarkte wieder aufs Neue.

General Kang, der Befehlshaber ohne Armee, die letzte personifi-zierte Bastion einer gefallenen Welt, schwor sich noch einmal zu erhe-ben wie ein Phönix aus der Asche. Sein Plan nahm Gestalt an - er sammelte mehr und mehr Überlebende um sich, die auch den Schre-cken der Finsternis hatten entfliehen können. Sie alle sammelten sich um den alten Kämpfer und hofften, dass er derjenige war, der ihr aller Schicksal wieder zum Guten wandelte.

Der dritte Sommer brach an. General Kang und seine Getreuen versteckten sich in den zerklüfteten Bergen des unkartographierten Südens. Selbst hier waren die Mächte der Finsternis noch nicht weiter vorgedrungen, denn diese Berge zählten zu den einsamsten Landstri-chen der einst vertrauten Welt. Mehr als achthundert Menschen hatten zusammen mit dem alten General dieses Exil gewählt, fristeten hier ein kümmerliches Dasein, denn sie mussten oft hungern. Lebensmittel wa-ren knapp, die kleinen Quellen waren unrein und verursachten so manche Krankheit, die die Menschen zusätzlich knechtete. Es waren harte Zeiten, die von jedem große Opfer abverlangte, aber irgendwann würde auch diese Kraft einmal verbraucht sein.

Die nächste Stadt, in der nun langsam wieder so etwas wie Leben erblühte, war mehr als zwei Tagesritte entfernt General Kang ging das Risiko ein und entschied schließlich, sein Versteck zusammen mit einer kleinen Gefolgschaft zu verlassen. Er wusste, dass er niemandem mehr trauen konnte, denn die Mächte der Finsternis hatten überall ihre Spit-zel und treuen Gefolgsleute - selbst unter den Menschen. Es gab im-mer Abschaum, der sich einen Vorteil erhoffte - selbst wenn dadurch

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das Leben anderer gefährdet wurde. Zusammenhalt und Solidarität existierten in diesen dunklen Jahren nach der Schlacht nicht mehr...

Trotzdem musste General Kang diese Stadt aufsuchen - sonst wa-ren die anderen Menschen irgendwann dem Hungertod preisgegeben. Sie brauchten dringend Lebensmittel, sonst würden sie den kom-menden Winter nicht überstehen - und so brach der alte Kämpfer schließlich am nächsten Morgen auf.

Sie durchquerten eine Ebene, die von einer gewaltigen Sturmflut gezeichnet war. Ausgerissene, verfaulte Bäume reihten sich aneinan-der. Wo einst Gehöfte gestanden hatten, existierten nur noch Reste von brüchigen Mauern. Verweste Knochen von Tieren säumten das Bild - niemand störte sich mehr daran - selbst nicht nach solch einer langen Zeit. Aber es waren noch zu wenig Menschen, um ein ganzes Land wieder neu aufbauen zu können. Die Menschen in der Stadt, die noch keinen Namen trug, hatten viel zu viel mit sich selbst zu tun. Sie kümmerten sich nicht mehr um das, was außerhalb geschah.

Der alte General konnte jedoch zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, dass er schon sehr bald in Ereignisse verwickelt werden sollte, die von schicksalhafter Bedeutung waren. In dem Moment, als er und seine Getreuen durch das Stadttor ritten, begann alles. Das war näm-lich der Zeitpunkt, wo der alte graubärtige Kämpfer dem Tod begeg-nen sollte...

*

Dutzende unterschiedlicher Gerüche drangen an General Kangs Nase, als er seine Blicke über die engen Gassen schweifen ließ. Irgendwo in den Häusern erklang die keifende Stimme einer Frau und kurz darauf war ein lautes Scheppern zu hören, gefolgt von dem verzweifelten Fluchen eines Mannes. Das nahm er aber nur am Rande wahr, denn sein eigentliches Interesse galt den Händlern und Bauern, von denen er hoffte, genügend Lebensmittel kaufen zu können. Aber selbst nach-dem er und seine Leute ihre Pferde in einem Stall zurückgelassen hat-ten und sich dem Markt näherten, der sich inmitten der Stadt auf ei-nem offenen Platz befand, wurde ihnen klar, dass auch hier Hunger

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und Entbehrung die Gesichter der Menschen gekennzeichnet hatten. Die Bewohner hatten nicht viel, was sie verkaufen konnten - und noch weniger Geld, das sie ausgeben konnten.

Vielleicht war das die Chance für den General und seine Getreuen. Unter seinem Lederwams trug der alte Kämpfer einen Beutel, in dem sich ein gutes Dutzend Goldstücke befanden - der letzte Rest seines einst großen Vermögens, das er sich in den vielen Jahren seiner Feld-herrentätigkeit erworben hatte. Viele ferne Länder hatte der General gesehen - er war immer zur Stelle gewesen, wenn man ihn gerufen hatte und wenn ein starker Befehlshaber gebraucht wurde. Sonst hätte er sich nie an die Spitze der Heere des Lichts stellen können - denn dazu bedurfte es eines Befehlshabers mit klarem Verstand und gutem Weitblick...

»Kauft ein, was wir benötigen«, sagte Kang zu zweien seiner Männer und drückte ihnen zwei Münzen in die Hand. Er wollte sicher-gehen und verhindern, dass irgend jemand etwas davon mitbekam, dass hier Fremde eine größere Menge Lebensmittel kaufen wollten. Die Spitzel der dunklen Mächte waren überall und hatten immer ein waches Ohr für Unregelmäßigkeiten. Vorsicht war in diesen Tagen geboten!

Während seine Männer ans Werk gingen und sich auf einen Han-del mit den Marktleuten einließen, nutzte Kang die Gunst der Stunde, um als unauffälliger Beobachter durch die engen Gassen zu gehen und sich selbst ein Bild von der Situation der Stadtbewohner zu machen - sofern man bei einem hünenhaften Mann wie ihm überhaupt von un-auffällig sprechen konnte.

Der alte Kämpfer entdeckte die Reste der geschwärzten Mauern, auf denen jetzt neue Gebäude errichtet worden waren - aus Holzres-ten und zerbröckelten Felsen. Baumaterial existierte praktisch nicht mehr und die Menschen mussten das nehmen, was sie bekommen konnten. Überhaupt war diese Stadt ein Schmelztiegel unterschiedli-cher Völker. Viele von ihnen hatten ihre einstige Heimat verlassen müssen und waren - völlig mittellos - jetzt hier an diesem Ort gestran-det.

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Sie fristeten ein Leben, das man als solches eigentlich nicht mehr bezeichnen konnte und in jedem dieser Menschen steckte die Angst vor einem weiteren Angriff der dunklen Mächte. Denn eins war sicher - sie würden gewiss nicht zulassen, dass hier einmal wieder eine stolze prächtige Stadt entstand wie in den Jahren zuvor. Ratten können ihre Behausungen bauen, dachte General Kang. Aber nur so lange, wie sie keine Gefahr für die Menschen darstellen. So werden es wohl die fins-teren Mächte sehen...

Schließlich kamen seine Männer wieder zurück und der General konnte in ihren Gesichtern lesen, dass sie nicht so erfolgreich gewesen waren, wie er es eigentlich erhofft hatte. Von einem schmierigen Kornhändler hatten sie etliche Säcke Mehl kaufen können - dafür aber zu einem Preis, der unter anderen Umständen sicherlich unverschämt gewesen wäre. Aber Kang musste das akzeptieren, wenn er nicht das Misstrauen einiger Menschen erregen wollte. So war man mit dem Händler verblieben, dass dieser die Mehlsäcke am kommenden Morgen bereit stellen würde - früher ließ sich das angeblich nicht erledigen.

So blieb Kang und seinen Männern nichts anderes übrig, als die Nacht in den Mauern der Stadt zu verbringen. Der General fluchte lei-se, als ihm klar wurde, dass kein anderer Weg daran vorbeiführte, aber die Menschen in den einsamen Bergen waren auf seine Hilfe an-gewiesen - und noch viel mehr auf neue Lebensmittel!

Auch wenn es unter diesen Umständen gefährlich sein konnte, länger als nötig zu bleiben, ging der erfahrene Kämpfer dieses Wagnis ein. Die Männer gingen zurück zu ihren Pferde, die in einem geräumi-gen Stall untergebracht waren, wo es auch genügend Platz für die Männer gab, um hier die Nacht verbringen zu können. Keinen von ih-nen gelüstete es nach Freuden und Vergnügungen, die diese Stadt zweifelsohne jedem erlebnishungrigen Mann bot. Sie waren viel zu erschöpft von den Entbehrungen der letzten Wochen und Monate.

Kang dagegen spürte eine eigenartige Unruhe tief in seinem Inne-ren, die er sich nicht erklären konnte. Ursprünglich hatte er ebenfalls bei seinen Getreuen bleiben wollen - aber etwas zog ihn hinaus in die nächtlichen Gassen der verwinkelten Stadt.

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»Wartet, General!«, rief ihm Albiron zu. »Ihr dürft nicht allein ge-hen - ich komme mit Euch...«

General Kang, der sich schon zum Gehen gewandt hatte, drehte sich jetzt zu dem Mann um und ein Lächeln schlich sich in seine grau-bärtigen Züge. Albiron war schon lange bei ihm - schon von dem Mo-ment an, wo er das Schlachtfeld verlassen hatte und untergetaucht war. Wenn auch nicht ganz freiwillig, so hatte er doch mittlerweile eingesehen, dass sein Offizier Vor-Kah damals doch richtig gehandelt hatte. Soviel hing an diesem wackeren General, der sein bestes Alter schon überschritten hatte und dennoch Kraft besaß wie ein Fels in der Brandung, der schon seit Ewigkeiten gegen die brechenden Wellen des Meeres ankämpft...

Kang brauchte nur kurz in Albirons Augen zu sehen, um sofort zu erkennen, dass dieser sich nicht abhalten lassen würde. Also nickte er nur und deutete ihm kurz an, ihm zu folgen. Beide verließen den Stall und näherten sich den Gassen, wo jetzt laute Stimmen erklangen. Ei-nes der Wirtshäuser hatte es Kang besonders angetan - oder lag es an dem Geruch von gebratenem Fleisch, das er nur noch selten hatte kosten dürfen? In den Bergen gab es kaum noch Hirsche und Hasen - hier dagegen schien man diese Kostbarkeiten noch bekommen zu kön-nen.

Der alte General erinnerte sich unwillkürlich in diesem Moment an die vergangenen Jahre seines Lebens, wo er nach einer erfolgreichen Schlacht in den Wirtshäusern eroberter Städte gezecht hatte bis zum Umfallen. Seitdem war zwar viel Zeit vergangen, aber der erfahrene Kämpfer besaß noch den Körper eines weitaus jüngeren Mannes und spürte deshalb die Lust nach Abwechslung, Alkohol - und vielleicht auch nach einer schönen Frau? Es schienen Ewigkeiten vergangen zu sein, seit er zum letzten mal eine Nacht in den Armen einer Frau ge-nossen und ihren warmen weichen Körper gespürt hatte. Ein unbe-schreibliches Verlangen packte ihn plötzlich, als er drinnen aus dem Wirtshaus das schrille Lachen einer Frau hörte, Kurz darauf ertönte heiseres Gelächter aus rauen Männerkehlen.

Wenn Albiron jetzt die Miene seines Generals richtig deutete, dann wusste er, an was Kang jetzt dachte. Aber er schwieg, denn Kang be-

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stimmte für sich selbst, was er tun und lassen konnte. Der wackere Albiron dagegen fühlte sich nicht gerade wohl angesichts der Tatsa-che, dass Kang nun diese Spelunke betreten wollte. Aber er war ein gehorsamer Untertan und folgte dem General.

Rauchgeschwängerte Luft hing unter der Decke, als Kang und Al-biron die Spelunke betraten. Es war noch früh am Abend, dennoch herrschte hier schon ziemlicher Betrieb. Der Wirt hatte alle Hände voll zu tun, um die Krüge mit gepanschtem Bier und Wein zu füllen und die beiden Schankmädchen rannten hastig von Tisch zu Tisch, um die Wünsche der zahlreichen Gäste zu erfüllen. Dabei kam es immer wie-der vor, dass einer der schon leicht angetrunkenen Kerle nach einer von ihnen griff und versuchte, sie auf seinen Schoß zu zerren. Aber die beiden Mädchen waren solcherlei ›Angriffe‹ gewohnt und entzogen sich rasch dem Zugriff.

Für einen kurzen Moment richteten sich etliche Augenpaare auf den graubärtigen Hünen, der in Albirons Begleitung kam und Kang kam es so vor, als wenn jetzt auch die zahlreichen Gespräche endeten. Das hielt aber nicht lange an - dann schienen die anderen Gäste Kang eingestuft zu haben und widmeten sich wieder ihren Bierkrügen. Auch wenn in der Stadt Lebensmittel knapp waren, galt auch in dieser Spe-lunke der oberste Grundsatz, dass der am besten lebte, der alles mit barer Münze bezahlen konnte. Und trotz der offensichtlichen Armut in den engen Gassen der Stadt schien es genügend Menschen zu geben, die sich darum überhaupt nicht kümmerten und das, was sie besaßen, ohne nachzudenken ausgaben. Alkohol ertränkte bekanntlich fast alle Sorgen - vor allen Dingen dann, wenn die Gefahr eines weiteren An-griffs der finsteren Mächte noch nicht gebannt war.

Kang bahnte sich einen Weg durch die Menge und fand in der E-cke noch einen kleinen wackligen Tisch, an dem er und Albiron sofort Platz nahmen. Eines der beiden Mädchen kam sofort zu ihnen und fragte nach ihren Wünschen. Kang holte wortlos eine Kupfermünze aus den Falten seines Umhanges und legte sie auf den Tisch (die Gold-münzen hielt er stattdessen verborgen).

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»Reicht das für zwei Krüge Wein?«, fragte er und als das Mädchen nickte, fügte er rasch hinzu. »Aber sieh zu, dass es guter Wein ist - verstanden?«

Ein einziger Blick in die Augen des Generals zeigte dem Mädchen, dass Kang keinen Spaß verstand, wenn ihn der Wirt mit gestrecktem Wein hereinzulegen versuchte. Dann würde es Ärger geben und das wollte Kang von Anfang an klarstellen. Das Mädchen ging zurück zum Wirt und der alte General sah vom Tisch aus, wie es hastig einige Wor-te wechselte. Der Wirt blickte daraufhin missmutig drein und füllte dann rasch einen Krug mit Wein - aber aus einem anderen Fass wie vorhin.

Kang und Albiron brauchten nicht lange zu warten, bis das Mäd-chen ihnen den Wein brachte. Die beiden Männer tranken in tiefen Zügen und stellten fest, dass es wirklich ein guter Tropfen war. Eine wohltuende Wärme breitete sich in Kangs Magen aus und die Anspan-nung der letzten tage wich allmählich von ihm.

»Ihr beiden seid fremd in der Stadt, nicht wahr?«, erklang auf einmal eine helle Stimme seitlich neben Kang. Überrascht wandte der alte General den Kopf und blickte in die grünen, faszinierenden Augen einer Frau, die einen Umhang trug und ihre rote Haarflut vor den Bli-cken der Gäste verborgen hatte.

Wahrscheinlich, weil sie ganz genau wusste, wie die meisten ›normalen‹ Männer reagierten, wenn sie eine Frau mit roten Haaren und solch leuchtenden grünen Augen sahen. Kang spürte sofort die große Anziehungskraft, die von diesen Augen ausgingen und er wand sich unruhig auf seinem Stuhl hin und her, bevor er zu einer Antwort ansetzte.

»Neugierig bist du gar nicht, wie?«, kam es stattdessen über seine Lippen. »Für eine Frau ist dies hier ein ziemlich ungewöhnlicher Auf-enthaltsort. Oder hat dich dein Begleiter im Stich gelassen? Das wäre eine Schande, die kaum zu verzeihen wäre...«

Hinterher konnte er selbst nicht sagen, was ihn zu dieser zweideu-tigen Bemerkung veranlasst hatte. Aber vielleicht lag es wirklich daran, dass ihn diese Frau an eine andere erinnerte, die er einmal vor vielen Jahren gekannt hatte. Diese Erinnerungen waren mittlerweile fast

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schon verblasst, aber ausgerechnet heute und an diesem Ort, traten sie wieder aus dem Schattenreich des Vergessens hervor.

»Vielleicht bin ich hier, um interessanten Männern zu begegnen«, antwortete die Frau, die ihm nun vollends ihr Gesicht zuwandte und Kang zuckte zusammen, als ihm bewusst wurde, wie sehr sie Kotoma ähnelte - der Frau, die schon lange tot war. Aber heute Abend schien sie zu neuem Leben erwacht zu sein und der schwere Wein in seinem Blut stachelte Kangs Phantasie noch mehr an, ließ ihn wieder an all die schönen Dinge denken, die sie damals gemeinsam erlebt hatten.

»Solchen Männern wie dir«, sprach die Rothaarige weiter, wäh-rend sich Kangs Gedanken förmlich überschlugen. »Wenn du mehr wissen willst, kannst du das ja herauszufinden versuchen - aber nicht hier unten...«

Sie blickte hinüber zur Treppe, die in die oberen Räume führte und es bedurfte keiner großen Phantasie, um sofort zu verstehen, worauf sie hinauswollte.

»Dann lass uns keine Zeit verlieren«, stieß General Kang mit rauer Stimme hervor und schüttete den Rest des würzigen Weins in einem Zug herunter.

»General Kang!«, ergriff nun der misstrauische Albiron das Wort. »Wartet - vielleicht solltet Ihr besser...«

»Albiron, es gibt Dinge, die ich auch ohne Begleiter und Beschüt-zer tun kann«, unterbrach er ihn mit einer abwinkenden Geste. »Hier-bei wärst du nun wirklich ein Hindernis...« Er grinste schelmisch, erhob sich rasch von seinem Stuhl und folgte dann der geheimnisvollen rot-haarigen Frau, die ihr Gesicht erneut unter einer weiten Kapuze ver-borgen gehalten hatte - ein weiter Umhang umschloss ihren Körper, so dass man nur ahnen konnte, welche Formen sich darunter abzeichne-ten.

Kang spürte eine Hitze in den Lenden, die immer stärker wurde. Er hatte viel gekämpft und Blut gesehen - ebenso wie unzählige ster-bende Menschen. Grausame Erinnerungen, die sein Herz beinahe hat-ten erkalten lassen. In dieser Nacht wollte er aber Tod und Sterben vergessen und sich anderen Dingen widmen.

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Keiner der anderen Gäste bekam mit, wie Kang und die Frau die Treppenstufen nach oben gingen. Der alte General drehte sich noch einmal um und deutete Albiron an, sich keine weiteren Gedanken zu machen. Er sah dessen besorgte Miene und schüttelte im Stillen den Kopf über soviel Misstrauen. Wenn es schon soweit war, dass man noch nicht einmal mit einer schönen Frau die Nacht verbringen konnte, ohne gleich an Mord und Totschlag zu denken, dann war es um diese verfluchte Welt wirklich nicht gut bestellt!

Der Lärm in der Schankstube ließ nach, als Kang und die Frau (er wusste noch nicht einmal ihren Namen - aber das war ihm gleich) die oberen Räumlichkeiten erreichten. Die Frau schien sich hier gut auszu-kennen, denn sie ging sofort auf eine der Türen zu und öffnete sie. Rasch ging sie in den Raum hinein, deutete Kang an, ihr zu folgen. Aber das musste sie ihm nicht zweimal sagen. Kang spürte auch so, dass er nun gleich das bekommen würde, wonach es ihn schon seit vielen Wochen und Monaten dürstete. Seltsam war nur, dass ihm das jetzt erst so richtig klar geworden war. Die Anwesenheit einer schönen Frau konnte manchmal alles ändern.

General Kang schloss die Tür des schlicht eingerichteten Raums hinter sich rasch wieder zu. Seine Blicke schweiften kurz umher, regist-rierten einen Tisch am Fenster, einen Stuhl und eine Tonschüssel mit Wasser. Sein eigentliches Interesse aber galt dem Bett an der gegen-über liegenden Wand - und genau darauf ging die rothaarige Frau jetzt zu. Erst dann drehte sie sich wieder zu ihm um und schlug die Kapuze des weiten Umhanges zurück.

Eine prächtige Flut wallender roter Haare kam hervor, die ein e-benmäßiges Gesicht einrahmten - ein Gesicht, das exotisch und faszi-nierend zugleich wirkte Ganz bestimmt lag das aber auch an den grü-nen Augen, die einen irisierenden Schimmer besaßen - einen Schim-mer, der selbst einen erfahrenen Mann wie Kang sofort in den Bann schlug.

»Warum kommst du nicht näher?«, fragte ihn die schöne Namen-lose mit einem Hauch von Wildheit in der Stimme. »Oder fürchtest du dich vor mir?«

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»Ich fürchte keine schöne Frau, Weib«, brummte Kang und muss-te unwillkürlich schlucken, als er sah, wie sich die Frau an den Knöpfen ihres Umhanges zu schaffen machte. Sekunden später warf sie ihn achtlos zur Seite und was Kang dann sah, ließ ihn im ersten Moment glauben, dass er einen Traum erlebte, der so intensiv war, dass er einfach nicht Wirklichkeit sein konnte!

»Ich bin alles, wonach du dich je gesehnt hast«, lockte ihn die Stimme der rothaarigen Frau, die sich jetzt auf dem breiten Bett aus-streckte. »Komm zu mir - ich sehe doch, dass du es willst...«

Ein wissendes Lächeln schlich sich in die graubärtigen Züge des al-ten Kämpfers, als er sich nun dem Bett näherte. Bei allen Göttern - das Schicksal ging manchmal wirklich wundersame Wege. Mit allem hatte er gerechnet in dieser Stadt - aber nicht mit der Tatsache, dass er hier den sehnlichsten Wünschen seiner Träume begegnen würde...

*

Albiron wollte der würzige Wein nicht so recht schmecken. Für ihn schien schon sehr viel Zeit vergangen zu sein, seit General Kang und diese eigenartige Frau zusammen die Treppe hinauf gegangen waren. Irgend etwas an der ganzen Sache gefiel ihm nicht und genau das hatte er Kang auch klarmachen wollen. Aber der alte General hatte nicht darauf gehört - in seinen Augen war das Verlangen nach dieser Frau zu erkennen gewesen. Und wer hörte schon auf gut gemeinte Warnungen oder Ratschläge, wenn sich ihm solch eine Gelegenheit bot?

Einer der Männer am Tisch gegenüber wollte mit Albiron ein Ge-spräch anfangen, doch dieser zeigte sich so wortkarg, dass der Mann schließlich begriff, dass er hier nicht weiterkam. Er ließ Albiron in Ruhe und schenkte stattdessen seine Aufmerksamkeit einem der Mädchen, die ihm mit einem aufreizenden Lächeln einen weiteren Krug Bier brachte.

Auf einmal geschah etwas, das Albiron im ersten Moment gar nicht begriff, weil die Geräusche in der Schankstube noch alles überla-gerten. Das hielt aber nicht lange an, denn mit einem mal änderte sich

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alles. Ein polterndes Lachen erklang aus den oberen Räumen - ein wildes unbeherrschtes Lachen! Zuerst hörte es nur Albiron, aber spä-testens dann, als es noch lauter wurde, begriffen auch die anderen Gäste in diesem Wirtshaus, dass dort oben etwas geschah, was keiner von ihnen so richtig verstehen konnte. Denn das war nicht das Lachen eines Mannes, der gerade die Zweisamkeit mit einer schönen Frau genoss - nein, dieses Lachen war anders und fremd zugleich.

Keiner der Anwesenden konnte später sagen, dass ihm nicht auch eine Gänsehaut über den Rücken und die Arme gekrochen war - es schien fast so, als hätten die Götter selbst einen ganzen See eiskalten Wassers über sie ausgeschüttet.

Schließlich erstarben sämtliche Geräusche im Wirtshaus und Albi-ron zuckte noch einmal deutlich zusammen. Verunsichert blickte er von der Treppe zu den anderen Gästen.

Der dicke Wirt mit den schmierigen Haaren hörte auf Bier nachzu-füllen - und die übrigen Gäste, Söldner und Kaufleute, Mörder und Denunzianten der Skirr schwiegen ebenfalls. Stille breitete sich im Wirtshaus aus. Diese Stille - wo sonst das Leben pulsierte, Lachen, wo viel getrunken wurde und derbe Sprüche die Runde machten - diese plötzliche Stille wirkte unerträglich. Einem gigantischen Leichentuch gleich senkte sie sich hernieder und erstickte jedes weitere Geräusch.

Was zur Folge hatte, dass das heftige Lachen des Generals jetzt noch deutlicher zu hören war und sich förmlich in die Sinne der Män-ner hinein brannte. Keiner rührte sich jetzt von der Stelle. Selbst sol-che, die in den schrecklich kalten Eiswüsten gekämpft und auch schon einmal Bekanntschaft mit den furchtbaren Gläsernen Menschen ge-schlossen hatten, verharrten jetzt schweigend und ängstlich zugleich. Alte Haudegen und Schlitzohren, die nach monatelangen Strapazen in dieser Stadt eine neue, wenn auch noch unsichere Heimat gefunden hatten, wirkten ratlos und eingeschüchtert und sahen ebenfalls hinauf zur Treppe. Nur das flackernde Feuer im Kamin gab ein leises, wohli-ges Knistern von sich.

Plötzlich - ein dumpfes Poltern war zu hören! Ein, zwei, drei hefti-ge Schläge folgten in rascher Reihenfolge. Gleichzeitig erfüllte ein un-heimliches Singen das gesamte Wirtshaus und peinigte die Ohren

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sämtlicher Gäste. Schwere Möbel wurden jenseits der Decke über den Fußboden gerückt. Ein lautes Knacken und Splittern erklang und dann folgten erneut donnernde Schläge, die die Decke erzittern ließen.

Flüche drangen von oben zu den Gästen des Wirtshauses. Albiron wurde leichenblass. Eine innere Stimme schrie ihm förmlich eine ein-deutige Warnung zu. Jetzt muss ich eingreifen, dachte er voller Hilflo-sigkeit. Etwas geschieht dort oben - ich habe ihn doch gewarnt, aber er wollte ja nicht hören. Und doch konnte er sich in diesem Moment nicht von der Stelle rühren. Auch wenn ihm immer klarer wurde, dass der alte General dort oben um sein Leben kämpfte. Lähmende Angst hatte seine Glieder ergriffen, machte sie träge.

Die beiden Mädchen suchten jetzt Hilfe bei einigen muskelbepack-ten Recken, schmiegten sich ängstlich an sie - und diesmal wichen sie den Händen der Männer nicht mehr aus. Denn auch ihnen war klar, dass hier und jetzt etwas geschah, was niemand verstand.

Das Krachen und Poltern in den oberen Räumen nahm jetzt sogar noch an Intensität zu. Erneut erschallte das laute Lachen des Generals, ein Lachen, das von beginnendem Irrsinn gekennzeichnet war. Was dann weiter geschah - darüber konnte Albiron nur vage Spekulationen anstellen. Selbst Kang konnte später nicht mehr genau sagen, was er erlebt hatte.

Erneut war dieses helle Klingen zu hören und in einer Ecke er-brach sich ein lendengeschürzter Jäger aus den Steppen Pertiaans - und das war immerhin ein Hüne, der alle anderen um eine Hauptes-länge überragte. Dicht neben ihn erfasste der helle Klang nun auch einen Händler aus Kortish - der Ton peinigte sein Gehör so sehr, dass ihn ihm eine Ader platzte und ein heftiger Blutschwall aus seiner Nase hervor schoss. Das geschah so unvermittelt, dass er voller Panik auf-schrie. Währenddessen klirrte oben Glas - und dann brachen sämtliche Kampfgeräusche auf einmal ab - Stille breitete sich aus! Eine Stille, die so gefährlich wirkte, dass sich in den Gesichtern der Männer erneut namenlose Furcht abzeichnete. Wahrscheinlich, weil die meisten von ihnen dachten, dass die finsteren Mächte jetzt über diese Stadt herge-fallen waren und der Kampf in den oberen Räumen des Wirtshauses nur der Beginn einer Unzahl von namenlosen Schrecken darstellte.

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Irgendwo draußen ertönte plötzlich ein dumpfes Poltern, dann er-klangen hastige Schritte, die rasch das Weite suchten. Spätestens jetzt löste sich die Lähmung von Albiron und er war einer der ersten, die sich rasch von den Tischen erhoben und nach dem rechten sehen woll-ten. Sonst war Albiron eher ein unscheinbar wirkender Mann, der auch nicht gerade zu den Kräftigsten gehörte. Aber sie Sorge um seinen General ließ ihn Dinge tun, die sonst eher untypisch für ihn waren. Er benutzte seine Ellenbogen, verschaffte sich Platz in der Menge und erreichte so zusammen mit dem Wirt als einer der ersten das Freie.

Im Licht der Petroleumlampen, deren Schein auch einen Teil der holprigen engen Straße erfasste, entdeckte Albiron die vertraute Ges-talt General Kangs, der leblos dort lag. Sofort eilte er auf ihn zu, beug-te sich rasch über ihn und stellte dann erleichtert fest, dass der alte Kämpfer noch lebte - auch wenn er einiges abbekommen hatte. Kangs Gesicht und Arme zeigten Spuren von Beulen, Prellungen und Blut-ergüssen, die rasch anschwollen.

»Los, hilf mir!«, herrschte er den fluchenden Wirt an, der von hier unten aus hinauf zu dem Fenster blickte, wo der ganze Schrecken sei-nen Ursprung genommen hatte. Der Holzrahmen war fast völlig aus seiner Verankerung gerissen worden. Holz und Glas lagen über dem Kopfsteinpflaster der engen Straße verstreut. Welche schrecklichen Kräfte mochten hier nur gehaust haben?

»Hast du nicht gehört?«, drängte Albiron den Wirt erneut. »Er braucht Hilfe - siehst du das denn nicht, du Hund?«

Etwas in Albirons Stimme sagte dem Wirt, dass er sich doch bes-ser fügte, denn dieser bewusstlose, geschundene Mann stand offen-sichtlich in Verbindung mit Kräften, die jenseits seines Horizontes la-gen. Da war es sicherlich besser, wenn er sich auch mit seinem Diener gut stellte. Deshalb bückte er sich rasch, hob Kang an den Beinen hoch, während Albiron die Arme des Generals ergriff. Gemeinsam tru-gen sie den alten Kämpfer in das Wirtshaus, fühlten die Blicke der an-deren Gäste auf sich gerichtet, spürten sie wie Nadeln, die sich in ihre Körper bohrten.

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»Diwina, Isa!«, herrschte der Wirt dann mit mürrischer Stimme die beiden Mädchen an. »Schenkt Bier an alle Gäste aus - es ist um-sonst. Worauf wartet ihr noch?«

Etwas Besseres hätte dem Wirt gar nicht einfallen können. Der Schrecken und die Furcht, die noch etliche der Männer in der Schenke erfasst hatten, legte sich nun bei diesen Worten rasch wieder. Der Gedanke an Bier, das nichts kostete, half ganz sicher, all dies zu ver-gessen, was gerade geschehen war. Manchmal war es besser, wenn man solch unerklärliche Dinge rasch wieder vergaß. Dann konnte man auch keine Fragen beantworten...

Der Wirt runzelte die Stirn, als er zusammen mit Albiron den be-wusstlosen Kang auf das Bett legte und dabei sah, welche Zerstörung dieser kurze, dafür aber um so heftigere Kampf in diesem Raum ange-richtet hatte. Albiron bemerkte das und holte deshalb rasch eine Mün-ze aus seinem Gewand, drückte sie dem Wirt in die Hand.

»Reicht das?«, fragte er ihn und sah, wie dieser heftig nickte. »Geh lieber nach unten zu deinen Gästen und sorge dafür, dass sie den Mund halten. Wenn du deine Sache gut machst, bekommst du noch einmal soviel...«

»Ja... ja«, murmelte der Wirt hastig, deutete eine knappe Verbeu-gung an und hastete dann zur Tür. »Ich schicke eines der Mädchen hoch«, stieß er aufgeregt hervor. »Es wird frische Tücher und warmes Wasser bringen...«

»Eine gute Idee«, stimmte ihm Albiron zu. Dann schlug der Wirt auch schon wieder die Tür hastig hinter sich zu. Polternde Schritte auf der Treppe zeigten, wie eilig er es hatte. Indes kümmerte sich Albiron um den alten General, inspizierte kurz die Ergüsse und Schrammen, die er sich bei diesem Kampf zugezogen hatte. Zum Glück kam nun eines der Mädchen herein. Eine Schüssel mit Wasser und frische Lei-nentücher wurden hastig in der Nähe des Bettes abgestellt - dann suchte das Mädchen auch schon wieder das Weite. Und das war auch gut so, denn genau in diesem Moment erwachte der General langsam wieder aus seiner Bewusstlosigkeit.

Albiron zuckte zusammen, als er hörte, wie merkwürdige Worte über die Lippen des alten Kämpfers kamen.

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»... Nyia... Loa... Toph, Kes-Te... Roaaam...« General Kangs Begleiter wurde eine Spur blasser. Er murmelte ein

leises Gebet zu seinen Göttern. Wenn ihn jetzt nicht alles täuschte, dann waren diese Worte ein Teil von der unheimlichen Legende der geflügelten Kristallkugeln, von der man bei den Leuten seines Volkes nur hinter vorgehaltener Hand zu erzählen wagte.

Zum Glück schlug Kang jetzt die Augen auf und das ließ Albiron seine Furcht vor der grausamen Legende wenigstens wieder in den Hintergrund geraten - die Gesundheit des Generals war jetzt viel wich-tiger!

»Albiron...«, ächzte Kang mühsam und versuchte die rechte Hand zu heben. »Du musst... du musst sofort die anderen... holen und...«

»Zuerst muss ich nach Euren Wunden sehen, mein Herr und Ge-neral«, wagte es Albiron, ihm ins Wort zu fallen. »Ihr seid schlimm zugerichtet worden...«

Er brach ab, weil ihn der Zorn angesichts solcher Heimtücke die Worte raubte. Wer traute solch einer schönen Frau schon solche Dinge (und vor allen Dinge solche Kräfte!) zu?

»Bleibt still liegen«, riet er Kang dann, während er die Tücher be-reit legte, sie ins Wasser tauchte und dann auf die erhitzte Haut des Generals presste, die fast schon wie im Fieber glühte. Sie brannte wie Feuer - auch eine Tatsache, auf die Albiron keine Erklärung fand.

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis er schließlich alle Abschürfungen und Risse versorgt hatte und am klaren Blick des Ge-nerals bemerkte, dass er das Schlimmste überstanden hatte.

»So«, sagte er mit einem kurzen, halbwegs zufrieden stellenden Blick. »Wenn Ihr wollt, hole ich jetzt die anderen. Ihr wollt wohl... die-se gemeine Schlampe verfolgen? Reicht es Euch immer noch nicht, was geschehen ist? Wollt Ihr wirklich, dass...«

»Schweige und führe endlich meinen Befehl aus!«, herrschte ihn Kang mit einer Strenge in der Stimme an, wie sie Albiron selten zu hören bekommen hatte. »Du begreifst nicht, was geschehen ist. Hole endlich die Männer - wir müssen versuchen, sie zu finden. Es hängt soviel davon ab - für alle von uns...«

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Geheimnisvolle Worte waren das, die Albiron normalerweise der Schwäche und dem abklingenden Fieber zugeschrieben hätte - wenn da nicht diese merkwürdige Klarheit und Sorge in den Augen des Ge-nerals zu sehen gewesen wären. In ihnen spiegelte sich das Wissen um Dinge wider, die Kang in den letzten Stunden am eigenen Leibe erfahren hatte. Ein Wissen, das ihn seine Verletzungen und die Schwä-che vergessen ließ und ihn stattdessen dazu brachte, sich ächzend von seinem Lager zu erheben.

»Bist du noch nicht weg?«, fuhr ihn Kang an, während er nach seinem Umhang und Schwert griff. »Ich sage das nicht noch einmal!«

Verflucht sei diese Stadt und das, was geschehen ist, dachte Albi-ron, während er hastig aus dem Zimmer eilte. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass es schon spät geworden war, denn die Zahl der Gäste unten im Wirtshaus hatte sich deutlich verringert. Der Wirt wich Albi-rons prüfenden Blicken aus und blickte ihm auch nicht nach, als dieser rasch das Haus verließ und dann zu dem Stall eilte, wo die restlichen Getreuen die Nacht verbrachten.

Seine Schritte klangen seltsam hohl auf dem harten Pflaster und sein Atem ging keuchend, weil er sich so sehr beeilte, keine unnötige Zeit zu verlieren. Immer wieder sah er das erzürnte Gesicht des Gene-rals vor seinen Augen. Sein Herr und Gebieter musste Zeuge von Er-eignissen geworden sein, die alles andere als unbedeutend erscheinen ließen - und Albiron hätte viel dafür gegeben, wenn er nur gewusst hätte, um was es hier eigentlich ging. Aber vielleicht würde er es ja schon sehr bald erfahren, denn sein Instinkt sagte ihm, dass General Kang nicht eher ruhen würde, bis er die schöne unbekannte Frau wie-der gefunden hatte. Diese rothaarige Hexe (anders konnte es Albiron nicht sehen) hatte seinen Herrn beinahe das Leben gekostet! Ob es vielleicht ein Dämon gewesen war, den die Herrscher der Finsternis auf Kang angesetzt hatten?

Auch wenn Albiron sich jetzt hundert mal den Kopf über die rät-selhaften Ereignisse in den oberen Räumen des Wirtshauses zerbrach, so fand er dennoch keine Antwort auf die vielen Fragen. Jetzt galt es erst einmal die anderen Gefährten herbei zu holen und dann die weite-

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ren Befehle des Generals abzuwarten. Aber egal was noch kommen mochte - in dieser Nacht würden sie alle keinen Schlaf mehr finden...

*

Auch wenn schon einige Stunden Fußmarsch hinter Thorin und den Aynok-Kriegern lagen, so brauchte der Nordlandwolf nur einen kurzen Blick in die Gesichter der dunkelhäutigen Männer zu werfen, um zu erkennen, dass sie den Schock immer noch nicht überwunden hatten, dass fünf Jahre verstrichen waren. Fünf lange Jahre, in denen sie merkwürdigerweise (genau wie Thorin in der Lichtblase) nicht gealtert waren - im Gegensatz zu der anderen Welt. Keiner von ihnen wusste, ob Familien und Angehörige überhaupt noch am Leben waren. Zwar hatte ihnen Thorin mehr als nur einmal geschildert, dass die Welt nicht mehr so war wie sie sie einst gekannt hatten - aber etwas so Bitteres zu akzeptieren, war eine ganz andere Sache.

Die Krieger hatten zwischenzeitlich ihre Wunden versorgt und Cor-rek trug jetzt einen Verband um seine verletzte Schulter, aus den Fet-zen seines ohnehin arg in Mitleidenschaft gezogenen Hemdes gerissen.

Die Krieger erinnerten mehr an Gestrandete ohne Hoffnung als an Menschen, die fest entschlossen waren, das Beste aus ihrer Situation zu machen.

Auf Correk und Ajak konnte Thorin zählen - aber unter den Aynok-Kriegern gab es immer noch einige, die ihm immer dann misstrauische Blicke zuwarfen, wenn sie glaubten, dass er es nicht bemerkte. Wahr-scheinlich trauten sie ihm immer noch nicht und hielten ihn für einen Boten der Finsternis, der sie alle in eine grausame Falle locken wollte. Thorin machte sich nichts daraus - er konnte die Männer gut verstehen und hoffte, dass sich das letzte Misstrauen bald legen würde. Denn wenn sie nicht alle auf Gedeih und Verderb zusammenhielten, dann würden sie es nicht schaffen, ihr Ziel zu erreichen. Was für ein Ziel war das überhaupt? Die vage Hoffnung, dass diese öde Welt aus Sumpf, Gestank und rötlichem Nebel irgendwann ein Ende hatte. Thorin erin-nerte sich wieder an all das, was ihm der FÄHRMANN kraft seines Geistes gezeigt hatte. Deshalb wusste er, dass sein Weg weiter nach

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Norden führte - denn irgendwo dort jenseits des nebelhaften Horizon-tes musste sich eine der furchtbaren Stahlburgen befinden. Dort hiel-ten die Skirr die Götter des Lichts gefangen - falls dies überhaupt noch stimmte. Genauso gut konnten die dunklen Mächte aber auch Odan, Thunor und Einar längst getötet haben. Götter waren nicht mehr un-besiegbar - in dieser Hinsicht hatte sich Thorins Glauben mittlerweile stark geändert. Ebenso wie sein gesamtes Weltbild, das ihm vor einer Ewigkeit einmal so vertraut gewesen war.

Leichter Wind kam auf und wehte den Gestank von dunklem Schlick und verfaultem Wasser heran. Correk musste husten und murmelte einen leisen Fluch, als er neben Thorin ging und ihn dann ansah.

»Dieses Land ist die Hölle selbst«, sagte er. »Wie lange wird das noch dauern, bis wir das hinter uns haben? Es kann doch nicht überall auf der Welt so aussehen...«

»In den Schutzzonen zumindest nicht«, sagte Thorin daraufhin und ignorierte den Gestank eines brodelnden Tümpels dicht neben seinen Füßen. Schlammblasen zerplatzten an der Oberfläche und ein dumpfes Glucksen ertönte von irgendwo tief unten. »Ich kann nur hoffen, dass es noch andere außer uns gibt, die den dunklen Mächten trotzen wollen. Allein wäre das kaum zu schaffen, denn unsere Gegner sind heimtückisch und sehr gefährlich.«

Während er das sagte, versuchte er sich an die Worte des FÄHR-MANNS zu erinnern. Hatte das unfassbare Wesen nicht auch noch von einem fast unerforschten Teil der Welt gesprochen, wo selbst die Men-schen bisher kaum Fuß gefasst hatten? Hatte sich dort das Leben in den letzten fünf Jahren normal entwickeln können? Oder gab es außer den Schutzzonen nirgendwo mehr etwas, was einmal vertraut gewe-sen war? Die Ungewissheit nagte an Thorin und er bemühte sich, sei-ne widersprüchlichen Empfindungen nicht allzu deutlich zu zeigen. Schließlich hatten die Aynok-Krieger den letzten Rest ihrer Hoffnung auf den Krieger aus den Eisländern gesetzt - er konnte und durfte sie nicht enttäuschen, denn sonst wurde es einer zerstörten Hoffnung bloße Lethargie. Und das war dann der Zeitpunkt, wo die Krieger sich selbst aufgeben würden...

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»Vergiss jetzt deine trüben Gedanken«, riet ihm Thorin. »Es bringt ohnehin nichts. Wir müssen uns mit dieser neuen Welt auseinander-setzen. Sieh doch - da vorn lichtet sich der Nebel wieder etwas!«

Seine Worte veranlassten die dunkelhäutigen Aynok-Krieger, ihre Schritte zu beschleunigen. Der permanente faule Gestank und die um ihre Füße tanzenden rötlichen Nebelschleier hatten ihre Gemüter arg gepeinigt. Es war, als wenn sich eine gewaltige unsichtbare Glocke über sie gestülpt hätte und sie am normalen Atmen hinderte.

Die schwärzliche Landschaft veränderte sich jetzt ein wenig. Der Boden wurde wieder etwas fester, dafür aber um so zerklüfteter und von zahlreichen Spalten durchwachsen. Diejenigen, die nur noch un-vollständiges Schuhwerk an ihren Füßen trugen, stöhnten angesichts dieses jetzt immer beschwerlicher werdenden Marsches.

Seltsame Gesteinsbrocken säumten das Land, das sie jetzt durch-querten. Manche von ihnen hatten einen gigantischen Durchmesser und andere wiederum sahen so aus, als wenn ein riesenhaftes Wesen sie mit seinen gewaltigen Pranken auf geradezu schauerliche Weise geformt hatte. Das Gestein bildete bizarre Formen, wies sogar etliche große Löcher auf, durch die sich ein Mann ohne Mühe hätte hindurch-zwängen können.

Wind kam auf, verstärkte sich zusehends, aber er vertrieb den restlichen Nebel dennoch nicht. Das rötliche Leuchten war permanent vorhanden und der Horizont war immer noch nicht genau zu erkennen. Es sah so aus, als wenn diese Welt ganz bestimmte Grenzen hatte - Grenzen, bei denen es nicht ratsam war, sie erneut zu überschreiten (auch wenn Thorin beim ersten mal vom Schicksal verschont worden war). Der Wind blies durch die Löcher und erzeugte auf diese Weise ein schaurig klingendes Heulen, das mal leiser und mal lauter klang - fast wie das einsame Klagen eines Wolfes, der auf der Suche nach frischer, ahnungsloser Jagdbeute war!

»Kommt weiter!«, rief Thorin den Männern zu, als er sah, dass ei-nige von ihnen die Köpfe zusammenzustecken begannen und aufge-regt flüsterten. »Ihr könnt natürlich auch hier bleiben, wenn ihr euch nicht traut. Aber Correk, Ajak und ich werden nicht auf euch warten. Was ist?«

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Es waren harte Worte, die über seine Lippen kamen. Natürlich hätten sie keinen zurückgelassen, aber zwei Aynok blickten so furcht-sam drein, dass Thorin keine andere Möglichkeit mehr blieb, als sie mit dieser Tatsache zu konfrontieren. Schließlich nickten die beiden stumm und achteten nicht mehr auf das Heulen des Windes. Der Gedanke, hier ganz allein zurück zu bleiben, mobilisierte zusätzliche Kräfte. Der Wind war jetzt stärker geworden, zerrte an Thorins Haaren. Er musste sein Haupt senken und sich gegen den Wind beugen. Unwillkürlich tastete seine linke Hand nach einem Stück Felsen, um dort zusätzli-chen Halt zu finden. Dann aber zog er die Hand rasch zurück, als bei der Berührung mit dem porösen Gestein plötzlich ein Brennen die Haut überzog. Als wenn er ins Feuer gegriffen hätte!

»Passt auf!«, rief er den Aynok zu. »Die Felsen - ihr dürft sie nicht berühren!«

Für einen der zehn Männer kam Thorins Warnung jedoch zu spät. Er war ein kleiner, etwas hager wirkender Krieger, dessen Beinwunde ihn beim Marschieren viel Kraft kostete. Als der Weg nun etwas steiler anstieg, lehnte er sich gegen einen der Felsen, um so wenigstens für einen kurzen Moment neuen Atem schöpfen zu können.

In dieser Sekunde erklang ein lautes Zischen, gefolgt von dem markerschütternden Schrei des unglücklichen Aynok-Kriegers. Dort, wo sein Rücken den Felsen berührt hatte, hatte sich das Gestein auf uner-klärliche Weise so stark in kürzester Zeit erhitzt, dass der Mann buch-stäblich bei lebendigem Leib geröstet wurde. Die Hitze fraß sich durch die Lumpen, die er am Leibe trug, verkohlte die Haut und bohrte sich noch tiefer - bis in die Knochen und zerstörte dabei in Sekunden-schnelle das Herz.

Ein penetranter Gestank von verbranntem Fleisch hing in der Luft, als der Felsen jetzt den Aynok-Krieger wieder losließ. Wie eine hilflose Puppe hatte er an dem Gestein geklebt, während ihn die entsetzliche feuerlose Hitze getötet hatte.

Mit schreckensbleichen Gesichtern blickten die Aynok-Krieger auf ihren toten Gefährten, der auf so schreckliche Weise ums Leben ge-kommen war.

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»Gehen wir rasch weiter«, riet Thorin nun den dunkelhäutigen Männern. »Wir können nichts mehr für ihn tun...« Er spürte, wie das mulmige Gefühl in seinem Magen angesichts der Tatsache wuchs, dass die Felsen an dieser Stelle des Geländes ziemlich dicht beieinander standen.

Ein falscher Schritt, ein Stolpern - und schon würde ihnen das gleiche Schicksal blühen wie dem hageren Krieger!

Schweren Herzens ließen sie den Toten hinter sich zurück, folgten wortlos Thorin, der mutig weiter voranschritt. Auch wenn er es bereits geahnt hatte, so fluchte er dennoch leise, als er erkannte, dass der Pfad nun noch steiler wurde als zuvor. Die tödlichen Felsen hatten sich jetzt in einen schmalen Einschnitt verwandelt, der in eine Art Schlucht führte, die noch nicht einmal drei Mannslängen breit war. Wie der Ein-gang in die sprichwörtliche Hölle sah das aus und von dieser Stelle aus konnte man noch nicht einmal erkennen, ob diese Schlucht überhaupt einen zweiten Ausgang besaß. Vielleicht führte dieser Weg ja auch gar nicht weiter - aber sie mussten es zumindest versuchen. Denn einen Weg zurück gab es nicht...

Irgendwo weiter entfernt stiegen zischende Dampfsäulen empor, verbreiteten einen unangenehmen stechenden Geruch. Thorin bemerk-te, dass die Männer zögerten und wollte etwas sagen, aber Correk kam ihm jetzt schon zuvor. Er war es, der nun das Wort an seine Män-ner richtete und ihnen klarmachte, dass sie diesen Weg gehen muss-ten. Egal, was in dieser engen Schlucht auf sie wartete - sie mussten sich ihm stellen und notfalls erneut um ihr Leben kämpfen. Sie waren Soldaten, die das Kämpfen gelernt hatten!

Erneut ging Thorin voran, betrat die enge Schlucht, deren rissige Felswände zu beiden Seiten so hoch emporragten, dass selbst das rötliche Licht des geheimnisvollen Nebels den Boden der Schlucht nur spärlich erreichte.

Ein eigenartiges Zwielicht herrschte hier unten - man konnte das mit den Stunden zwischen Mitternacht und Morgengrauen vergleichen.

Er bemühte sich, immer in der Mitte des Pfades zu gehen und den Felswänden nicht zu nahe zu kommen. Die anderen Krieger taten es ihm gleich. Ihre Sinne waren aufs höchste angespannt und immer

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wieder huschten ihre Blicke nach rechts und links, nach oben und nach unten - jederzeit darauf gefasst, einer weiteren Gefahr ins Antlitz zu schauen.

Der Boden unter ihren Füßen zeigte jetzt plötzlich leichte Spuren von Erschütterung, als ein dumpfes Grollen die Stille zerriss. Dann war es aber auch schon wieder vorbei. Irgend etwas tief unter der Erde war in permanenter Unruhe - ein deutlicher Beweis dafür, dass die gesamte Region brodelte und kochte. Thorin beschleunigte jetzt seine Schritte, denn von hier aus konnte er immer noch nicht sehen, ob und wo die Schlucht ein Ende hatte. Sie waren jetzt aber schon so weit eingedrungen, dass es Gefahr für Leib und Leben bedeutete, wenn sich aufgrund des Bebens Gestein aus den Wänden der Schlucht zu lösen begann.

»Da vorn!«, rief Correk plötzlich. »Da wird es heller - sehr doch!« Der Aynok-Krieger hatte recht, wie Thorin jetzt ebenfalls feststel-

len konnte. Die Schlucht hatte tatsächlich einen Ausgang und große Erleichterung ergriff ihn bei dem Gedanken, dieser bedrückenden Enge bald entronnen zu sein. Ausgerechnet in diesem Moment begann die Erde erneut zu beben - aber es blieb nicht nur bei dem einen Erdstoß.

Es folgten mehrere in immer kürzeren Intervallen und die ersten kleinen Gesteinsbrocken begannen auf den Boden der Schlucht zu pol-tern. Die Männer konnten ihnen gerade noch ausweichen - aber das bedeutete gar nichts. Solange sie nicht aus dieser engen Hölle heraus-gekommen waren, so lange waren sie auch nicht sicher vor dem Auf-begehren dieser heimtückischen Natur.

Dann erfasste ein Erschüttern auch die beiden Felswände und al-les geriet in Bewegung. Der Boden bebte, erfasste auch die Wände der Schlucht und Thorin wusste, dass sie jetzt nur noch eine einzige Chan-ce hatten - sie mussten förmlich um ihr Leben rennen, sonst war es zu spät.

Sie stolperten mehr als sie rannten, spürten immer wieder die be-bende Erde unter ihren Füßen, die sie aus dem Gleichgewicht brachte. Dennoch schien eine unsichtbare Macht ihre schützende Hand über sie zu halten, denn sie erreichten das Ende der Schlucht, bevor sich eine

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gewaltige Gesteinslawine aus den Wänden löste und mit einem ohren-betäubenden Lärm in die Tiefe stürzte.

Thorin, Correk und Ajak waren völlig außer Atem, ebenso der Rest der Gefährten. Sie wagten es, erst in sicherer Entfernung stehen zu bleiben und sahen dann von dort aus, wie der Ausgang der Schlucht von den Gesteinsmassen förmlich verschüttet wurde. Wären sie jetzt doch dort gewesen, so hätte das den sicheren Tod bedeutet. Sie wä-ren von den Felsbrocken zuerst zerquetscht und dann verglüht worden - ein schrecklicher Tod!

Thorin spürte den kalten Schweiß auf seiner Stirn und fühlte den hämmernden Herzschlag in seiner Brust. Er hatte sich vollkommen verausgabt und musste erst einmal tief Luft holen.

»Das war knapp...«, murmelte Ajak. »Wir können den Göttern nur danken...«

»Falls sie uns überhaupt noch hören können«, fügte Correk hinzu, der sich angesichts Thorins Schilderungen bereits seine eigenen Ge-danken darüber gemacht hatte. »Hauptsache ist, dass keiner von uns zu Schaden gekommen ist.«

Erst jetzt konnten sie sich umschauen. Die Felsenwildnis schien ein Ende zu haben - und damit auch die Gefahr durch die gefährlichen, glühenden Steinen. Vor ihren Augen breitete sich nun eine Hochebene aus, die fast bis zum Horizont führte - dort, wo sich die rötlichen wa-bernden Nebelschleier befanden und die Sicht auf größere Entfernun-gen versperrten. Falls Thorin gehofft hatte, dass diese gefährliche Zo-ne jenseits der Schlucht ein Ende gefunden hatte, so hatten sich diese Hoffnungen noch nicht erfüllt. Zwar konnte er jetzt keine unmittelba-ren Gefahren entdecken - aber das musste gar nichts bedeuten. In dieser eigenartigen Nebelzone war nichts so wie es schien - da konnte selbst eine weite Ebene, die nur von kargem, bräunlichen Gras und einigen verdorrten Büschen bewachsen war, unter Umständen eine tödliche Falle bedeuten...

*

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Sie hausten tief unter der Erde und ihre Welt waren die engen, laby-rinthartigen Schächte unterhalb der weiten Hochebene. Sie waren zweibeinige Wesen mit heller, fast unangenehm weißer Haut.

Das Tageslicht scheuten sie und sie verließen nur bei Nacht ihre Behausungen. Dann durchstreiften sie die einsame Ebene, immer auf der Suche nach einer ahnungslosen Beute. Viel fanden sie jedoch nicht mehr und deshalb hatten sich ihre Gewohnheiten im Lauf der Zeit ver-ändert. Alte, Kranke und Schwache gab es unter ihnen nicht mehr - sie dienten den Stärkeren als Nahrungsquelle, hielten sie somit am Leben.

Dieses ›Leben‹ war gekennzeichnet von primitiven Instinkten, die sich einzig und allein auf Töten, Vernichten, Sättigung und Kämpfen ausgerichtet hatten. Durch diese Zwangsselektion hatte sich die Zahl der ihren im Laufe der Jahre drastisch vermindert - aber sie waren immer noch genug, um sich auf diese Weise behaupten zu können. Sie stellten eine Gefahr für jedes Lebewesen dar, das ihren Weg kreuzte und erst zu spät bemerkte, dass die Hochebene nicht einsam und ver-lassen war - eher das Gegenteil war der Fall...

Sie spürten die Aura der Anderen, als diese die Hochebene noch nicht einmal betreten hatten. Unruhe erfasste sie, gemischt mit anima-lischer Gier nach frischem Leben, nach Blut und nach Knochen. Und von ihren Höhlen aus warteten sie ungeduldig ab, bis die Anderen im-mer näher kamen. Sie mussten nur noch warten - und dann würden sie erbarmungslos über sie herfallen und sie mit ihren scharfen Klauen zerreißen...

*

Sobald die Dunkelheit über die einsame Hochebene hereinbrach, wur-de es unangenehm kalt. Der Nebel, der jetzt wieder näher kam und in immer dichteren Schleiern die Sicht zusehends einengte, gefror an der Stelle, wo er den Boden berührte.

Keiner der Männer wagte es, ein Feuer zu entzünden - denn sie wussten nicht, ob hier in der Nähe weitere Gefahren auf sie lauerten. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Nacht auf der Hochebene zu verbringen - selbst in dem Bewusstsein, dass es hier keinerlei De-

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ckung gab, die sie im Ernstfall ausnutzen konnten. Deckung gab es nur drüben bei der verschütteten Schlucht. Aber dorthin wollte keiner mehr zurück. Schließlich hatten sie den Tod des unglücklichen Gefähr-ten noch gut vor Augen - das würden sie bis zum Ende ihres Lebens nicht mehr vergessen.

Tabok und Jesek waren zwei Aynok-Krieger, die zuerst als Wach-posten eingeteilt waren. Die anderen hatten sich zwischenzeitlich auf dem harten Boden ausgestreckt und versuchten, die Strapazen und Gefahren der letzten Stunden wenigstens im Schlaf vergessen zu kön-nen. Aber es war kein tiefer und erholsamer Schlaf, denn der Boden war nicht nur hart und unbequem, sondern auch kalt. Die Männer wälzten sich unruhig hin und her, aber schlafen konnte man das ei-gentlich nicht nennen. Ganz sicher würden sie gegen Anbruch des nächsten Tages kaum Ruhe gefunden haben. Tabok und Jesek wuss-ten das - deshalb hatten sie sich auch bereit erklärt, als erste die Wa-che zu übernehmen. Spät in der Nacht würde man sie dann ablösen.

Die beiden hatten also Zeit genug, um das zu tun, was sie sich schon längst vorgenommen hatten - nämlich im Schütze der Nacht so rasch wie möglich das Weite zu suchen. Wenn sie sicher waren, dass keiner der anderen etwas davon mitbekam, würden sie sich still und heimlich absetzen. Aber noch war es nicht soweit - noch mussten sie ihre Aufgabe zum Schein erfüllen...

Die beiden Aynok-Krieger gehörten zu denjenigen, denen der gro-ße Krieger mit dem prächtigen Schwert immer noch nicht ganz geheu-er war. Sie hatten ihn kämpfen sehen - die Klinge schien ihm unerklär-liche Kräfte zu verleihen, denen selbst diese furcht erregende Schlange nicht hatte trotzen können. Jetzt lag der blonde Hüne ausgestreckt im bräunlichen Gras und er schien zu schlafen - aber irgendwie fühlten sich die beiden Krieger immer noch eingeschüchtert. Die bloße Anwe-senheit des Nordlandwolfes reichte dafür aus!

»Wie lange sollen wir noch warten?«, flüsterte der kleinere Jesek dem untersetzten Tabok zu. »Jetzt ist doch die richtige Gelegenheit. Los, lass uns verschwinden!«

»Nein«, entschied Tabok. »Wir müssen noch warten - ich will ganz sicher gehen, dass keiner von ihnen etwas bemerkt. Sie dürfen uns

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nicht einholen - sonst...« Er brach ab, aber Jesek hatte auch so begrif-fen, was sein Gefährte ihm zu verstehen geben wollte. Er nickte nur und übte sich weiterhin in Geduld - auch wenn das gar nicht so einfach war.

Die beiden Krieger hatten Zeit genug gehabt, um sich ihren Ent-schluss in aller Ruhe zu überlegen. Sie waren die einzigen, die sich lieber allein durchschlagen wollten als auf diesen unheimlichen Mann mit der gefährlichen Klinge zu vertrauen. Er war etwas zu plötzlich aufgetaucht und hatte sich dann das Vertrauen der anderen sehr schnell erschleichen können. Dämonen tauchen manchmal auch in menschlicher Gestalt auf, erinnerte sich Tabok an die Worte seines längst verstorbenen Großvaters, der sich in solchen Dingen sehr gut ausgekannt hatte. Du musst dich immer vor ihnen hüten, sonst ist dein Leben in Gefahr...

Nichts anderes hatten Tabok und Jesek im Sinn, als sie für sich entschieden hatten, alles aufs Spiel zu setzen und sich von den ande-ren unbemerkt abzusetzen. Jetzt bot sich ihnen bald eine solche Gele-genheit und die würden sie nutzen.

Der wabernde Nebel wurde jetzt immer dichter, bildete seltsame Formen und bizarre Konturen, die sich dann auch schon wieder rasch verflüchtigten - wie von Geisterhand!

Auch wenn Tabok und Jesek nur wenige Schritte von den unruhig schlafenden Gefährten entfernt Wachposten bezogen hatten, so wurde die Sicht dennoch immer schwerer. Bereits jetzt schon sahen sie die Gestalten der anderen nur als verschwommene Schemen, weil sich der Nebel immer dichter über die Hochebene zu legen begann - wie ein gigantisches Leichentuch!

»Jetzt«, nickte Tabok dem kleineren Jesek zu. »Komm...« Jesek beeilte sich, dem untersetzten Gefährten zu folgen. Keiner

blickte mehr zurück zu den schlafenden Kriegern - jetzt dachten sie nur noch an sich selbst.

Ganz leise und vorsichtig setzten sie einen Fuß vor den anderen und beschleunigten ihre Schritte erst wieder, als sie glaubten, ein gu-tes Stück Entfernung zwischen sich und die anderen gebracht zu ha-ben.

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Dieser elende Nebel, schoss es Tabok durch den Kopf. Er verfluch-te die Tatsache, dass ausgerechnet in dieser Nacht diese weißen Schleier so dicht geworden waren. Als wenn sie uns daran hindern wollen, dass wir uns von den anderen trennen, kam ihm ein beängsti-gender Gedanke. Aber er hütete sich davor, das Jesek mitzuteilen, sonst wäre dieser noch ängstlicher als dies jetzt schon der Fall war. Aber Jesek war der einzige gewesen, den Tabok für seine Idee hatte begeistern können und deshalb nahm er das in Kauf, dass sein Gefähr-te nicht gerade zu den Tapfersten gehörte.

Das vom Nebel feuchte Gras bog sich unter den schweren Schrit-ten der Männer, als sie weiter marschierten. Die ungefähre Richtung konnten sie nur ahnen, denn den Horizont konnten sie schon lange nicht mehr erkennen. Die Sicht war jetzt so eingeschränkt, dass die Gefahr bestand, dass sie sich womöglich verirrten und im Kreis liefen. Nur das nicht, sagte sich Tabok und nahm all seinen Mut zusammen. Sie hatten sich entschieden, es auf eigene Faust zu versuchen - für eine Umkehr war es jetzt schon zu spät...

Plötzlich hörten sie irgendwo weiter vor sich ein eigenartiges Ra-scheln im Gras, das nur wenige Atemzüge später schon wieder ver-stummte. Dennoch hielt Jesek sofort inne und zuckte zusammen.

»Da vorn...«, flüsterte er, während er sofort sein Schwert aus der Scheide zog. »Hast du es auch gehört, Tabok?«

»Ja«, antwortete dieser. »Aber vielleicht war das nur ein aufge-schrecktes Tier - das muss nichts zu bedeuten haben.«

»Ich weiß nicht«, fügte Jesek rasch hinzu. »Das klang nicht wie ein Tier... das war irgendwie größer.«

»Jetzt hör aber endlich auf«, versuchte Tabok seinen Gefährten zu beruhigen - obwohl er selbst in diesem Moment ein mulmiges Gefühl in seinem Magen verspürte, das er sich nicht erklären konnte. Es ver-stärkte sich, als dieses seltsame Rascheln nun auch seitlich von ihnen erklang und dann ebenso rasch wieder verstummte.

Stille - nur das heftige Atmen der beiden Männer war jetzt zu hö-ren.

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»Komm weiter!«, forderte Tabok seinen Gefährten mit zusehends ungeduldig werdender Stimme auf. »Da ist nichts - wir müssen uns getäuscht haben...«

»Hoffentlich«, meinte Jesek und dieses Wort beinhaltete all die stillen Wünsche, dass es wirklich richtig gewesen war, sich von den anderen zu trennen, bereits jetzt schon kamen ihm erste Zweifel - a-ber das wollte er nur nicht eingestehen.

Die beiden Aynok-Krieger setzten ihren Weg fort, spähten dabei aber immer wieder vorsichtig nach allen Seiten. Aber zunächst blieb alles wieder still und das ließ sie aufatmen - aber nur bis zu dem Mo-ment, wo sie ein deutliches Kratzen und Schaben hörten. Es kam ganz aus ihrer Nähe, hielt für eine Atemzüge lang an und verwandelte sich dann in ein Rascheln.

»Da ist doch was!«, entfuhr es nun dem aufgeregten Jesek. »Bei allen Göttern - wir hätten besser bei den anderen Gefährten

bleiben sollen, Tabok. Jetzt...« »Wenn du nicht endlich dein feiges Mundwerk hältst, brate ich dir

mit der Klinge eins über!«, fuhr ihn der gereizte Tabok an und hob drohend sein Schwert. »Du machst dir noch vor Angst in die Hosen, weißt du das eigentlich? Mann, wenn ich gewusst hätte, dass du solch eine Memme bist, dann wäre ich besser allein losgegangen und...«

Er wollte noch mehr sagen - aber seine Stimme brach jäh ab, als urplötzlich dicht neben Jeseks Beinen eine konturenhafte Gestalt aus dem Nebel auftauchte. Gleichzeitig packte eine haarige muskulöse Faust nach dem hageren Gefährten und riss ihn mit grausamer Gewalt nach vorn.

»Was...?«, entfuhr es Jesek, als er spürte, dass da etwas nach ihm griff und hart an ihm zerrte. Noch im selben Atemzug biss sich auf einmal etwas unbeschreiblich Schmerzhaftes in seine Wade. Ein grau-enhafter Schrei kam über Jeseks Lippen, während er instinktiv noch den Schwertarm vorstoßen wollte, um den unbekannten Gegner ab-wehren zu können. Aber dann wurde ihm die Klinge mit ebensolcher Wucht aus den Händen gerissen und er verlor das Gleichgewicht.

»Tabok!«, brüllte er verzweifelt, als er hart auf dem gefrorenen Boden aufkam und dann die haarige Hand noch etwas deutlicher zu

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sehen bekam, die sein Bein fest umschlossen hielt und es nie mehr loslassen wollte. »Neeeeiiiinnn!«, schrie er, als die Nebelschwaden ein entstelltes Gesicht freigaben, das so schrecklich war, dass Jesek nicht glauben wollte was er da sah. Er hielt den missgestalteten behaarten Körper und die rot glühenden Augen für ein Wesen seiner ohnehin schon überreizten Phantasie, aber als dann sein Unterschenkelknochen mit einem schrecklichen Bersten brach, wurde ihm bewusst, dass er nicht träumte. Das hier war die schreckliche Wahrheit - die Hochebene steckte voll tödlicher Gefahren - und Tabok und Jesek waren diesen Kreaturen jetzt ausgeliefert!

Bunte Kreise tanzten vor Jeseks Augen, so dass er mehr am Ran-de einer Ohnmacht schwebte als bei vollem Bewusstsein alles mitzu-bekommen. Er spürte, wie er unsanft über den Boden geschleift wurde und dann auf einmal vornüber kippte. Jesek stürzte in ein tiefes dunk-les Loch und als er nach einer halben Ewigkeit von einem aus der Tiefe ragenden Felsen förmlich aufgespießt wurde, endete sein Leben. Ein entsetzlicher Schmerz überlagerte alles andere, dann explodierte alles in einem hellen Licht - und dann war nur noch Schwärze...

Mit Tabok dagegen verfuhr das Schicksal nicht ganz so gnädig. Der untersetzte Aynok-Krieger hörte seinen Gefährten schreien und erkannte dann voller Entsetzen, wie sich eine haarige Kreatur auf ihn stürzte und einfach in den Nebel mitriss. Tabok riss das Schwert vor, wollte dem Wesen folgen, denn er hörte, wie sein Gefährte verzweifelt schrie - er war außer sich vor Angst. Aber dann griffen ihn ebenfalls zwei der hässlichen Wesen an - von vorn und von hinten. All dies ge-schah so plötzlich, dass selbst ein erfahrener Mann wie Tabok nur kur-ze Zeit Gegenwehr leisten konnte (sofern man das überhaupt so nen-nen konnte).

Es gelang ihm noch nicht einmal, mit der ansonsten treffsicheren Klinge eines der hässlichen Ungeheuer zu verwunden. Das Wesen duckte sich unter seinem gezielten Hieb, sprang rasch zur Seite, wäh-rend die zweite Beste Tabok von hinten ansprang und ihn mit seinen gewaltigen behaarten Armen ganz fest umschloss. Es war wie ein Mühlstein, der Tabok immer weiter nach hinten zog und er spürte, dass er kaum noch atmen konnte. Er trat und schlug wie ein Besesse-

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ner - aber all dies nützte nichts. Das fremdartige Wesen, das ihn ganz fest hielt wie ein hilfloses Kind, war stärker als der Aynok-Krieger.

Tabok hörte den Todesschrei seines Gefährten und etwas zer-brach in ihm. Der letzte Rest von Gegenwehr verlosch in ihm und er ließ alles geschehen. Eine behaarte Faust schwang einen dicken Holz-knüppel und Taboks Schädel machte damit Bekanntschaft. Von einem Atemzug zum anderen stürzte der Aynok-Krieger in tiefe Bewusstlosig-keit. Das war auch besser so, denn er sah nicht mehr, wie die beiden Kreaturen ihn packten und mit hinab zogen in ihre dunkle Welt, die nur von einem bläulichen Leuchten erhellt wurde, das seinen Ursprung in dem Gestein selbst hatte. Die beiden Wesen trugen den Bewusstlo-sen weiter hinab in ein verzweigtes System aus Gängen, Schächten und Labyrinthen - und den Toten nahmen sie ebenfalls mit...

Zurück an der Oberfläche des Schachtes blieb das Schwert eines der beiden Männer. Aber das war den behaarten Wesen vollkommen gleichgültig. Sie brauchten keine Waffen, um das zu tun, was getan werden musste - sie brauchten ohnehin niemanden zu fürchten, denn sie waren die alleinigen Herren dieser Hochebene. Und diese schreckli-che Herrschaft sollte der noch bewusstlose Tabok sehr bald am eige-nen Leibe zu spüren bekommen...

*

Thorin erwachte von einem Augenblick zum anderen aus seinem oh-nehin unruhigen Schlaf. Es war mehr ein kurzes Dämmern gewesen, das dann von einem lauten und durchdringenden Schrei ganz abrupt beendet wurde. Sofort erhob sich Thorin, blickte sich in den wabern-den Nebelschleiern um und hörte dann wieder diesen durchdringenden Schrei. Das war ein Mensch in Todesnot!

Seine Blicke huschten umher, suchten die beiden Wächter. Aber der Nebel war mittlerweile so dicht geworden, dass man nicht viel er-kennen konnte. Auch die übrigen Aynok-Krieger waren jetzt wach ge-worden, weil einige von ihnen - genau wie Thorin - den lauten Schrei gehört hatten.

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»Die Wachen... wo sind Tabok und Jesek?«, rief nun Correk, der ebenfalls die beiden Männer suchte und sie nicht sah. Spätestens jetzt begriff er, dass hier etwas Schlimmes geschehen war. Aber Correk zeigte keine Furcht, sondern packte entschlossen sein Schwert, kam zu Thorin geeilt. Ajak und die anderen Männer taten es ihm gleich, nach-dem nun feststand, dass Tabok und Jesek buchstäblich vom Erdboden verschwunden waren (wie sehr dieser Vergleich stimmte, sollte sich noch zeigen).

»Bleibt zusammen!«, warnte Thorin die dunkelhäutigen Krieger. Längst hatte er Sternfeuer aus der Scheide gezogen. Nur wenige A-temzüge später begann die Klinge auch schon hell zu pulsieren. Einen eindeutigeren Beweis hätte es nicht mehr geben können. Thorin wuss-te zwar nicht, auf welche Weise Tabok und Jesek verschwunden wa-ren, aber dass auf sie alle eine große Gefahr lauerte, das zeigte ihm die pulsierende Klinge des Götterschwertes. »Schaut nach allen Seiten - keiner von uns darf jetzt einen Fehler machen.«

Er ging jetzt einige Schritte nach vorn und die Aynok-Krieger folg-ten ihm sofort. Jeder hatte sein Schwert weit von sich gestreckt, um einen plötzlich angreifenden Gegner auf Abstand halten zu können - aber wahrscheinlich hatten Tabok und Jesek nicht so viel Glück gehabt Thorin hörte irgendwo weiter vorn im Nebel ein lautes Raschen, ge-folgt von einem unangenehmen Schaben, das seine Sinne förmlich alarmierte.

»Aufpassen!«, befahl er den Männern. »Ich weiß nicht, was es ist - aber es wird gleich da sein!«

Als wenn er damit das Unheil heraufbeschworen hätte, erfolgte dann auch schon der Angriff. Mehrere behaarte schreckliche Gestalten erschienen plötzlich vor ihnen, stürzten sich mit einem grauenhaften Fauchen auf die Aynok-Krieger, packten mit ihren krallenbewehrten haarigen Armen nach ihnen.

Thorin zuckte nur einen winzigen Moment zusammen, als er die schrecklichen Wesen sah - dann handelte er aber auch schon. Er holte mit der Götterklinge zu einem heftigen Schlag aus und traf eine der Kreaturen, als diese ihn anspringen wollte. Sternfeuer bohrte sich in die Brust des Wesens und richtete dort ein Werk der Zerstörung an.

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Dunkles Blut quoll in dichten Stößen aus der Wunde, während der Nordlandwolf die Klinge hastig wieder zurückriss und dem Wesen noch einen harten Tritt gab, der es nach hinten schleuderte.

Er konnte nur aus den Augenwinkeln erkennen, dass diese Bestie keine unmittelbare Gefahr mehr darstellte. Stattdessen musste er sich einem weiteren Gegner widmen. Die haarige Bestie war ihm schon gefährlich nahe gekommen und hätte es beinahe auch noch geschafft, seinen Arm mit den Krallen aufzureißen. Im letzten Moment konnte Thorin noch eine Drehung machen und die scharfen Krallen glitten ins Leere - Sternfeuer jedoch nicht. Das Götterschwert wurde von Thorin zielsicher geführt und enthauptete die Bestie schon einen Moment später.

Blut spritzte hoch auf, besudelte den blonden Krieger, aber der ig-norierte das unangenehme Kleben und den Gestank - stattdessen kämpfte er noch verbissener, als er sah, dass einige der Aynok-Krieger zwischenzeitlich in arge Bedrängnis geraten waren. Denn sie hatten nicht so schnell reagiert wie der Nordlandwolf.

Aber sie hatten bisher ja auch noch nur wenig Bekanntschaft schließen können mit Wesen, die aus einem Alptraum zu stammen schienen. Thorin besaß da mehr Erfahrung. Deshalb ließ er sich nicht von dem Anblick der Wesen einschüchtern. Wer ihn töten wollte, der schloss rasch Bekanntschaft mit der Götterklinge!

Correk musste sich gegen zwei der Bestien wehren. Eines der We-sen konnte ihm eine Wunde am Bein beibringen, die ganz sicher das Aus für ihn bedeutet hätte, wenn Thorin nicht eingegriffen und dem Ungeheuer den Todesstoß versetzt hätte. Das haarige Wesen verende-te mit einem schrillen Schrei und das gab schließlich den Ausschlag für die anderen, sich zurückzuziehen. Noch ehe Thorin und die Aynok-Krieger so richtig begriffen hatten, was gerade geschehen war, waren die Bestien plötzlich in den wabernden Nebelschleiern untergetaucht. Keine Schritte, kein Tappen von schweren Füßen war mehr zu hören - eine grausame Stille breitete sich aus. Als wenn es kurz zuvor gar kei-nen heftigen Kampf gegeben hätte!

»Bei allen...«, murmelte Correk kopfschüttelnd, als er mit bluttrie-fender Klinge eines der getöteten Wesen sah. »Was sind das für Bes-

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tien, Thorin? So etwas dürfte doch gar nicht leben - Kreaturen der Hölle sind das...«

»Dass sie leben, haben wir alle bemerkt«, erwiderte dieser mit ei-nem kurzen Seitenblick zu den anderen Männern, die die Klauen zu spüren bekommen hatten. Aber nicht so schlimm, dass das ernsthaft gewesen wäre. Ihre Schwerter hatten den Wesen ordentlich Paroli geboten - dennoch wäre dieser Kampf schlecht ausgegangen, wenn sich Thorin nicht mit solcher Todesverachtung dazwischen geworfen hätte. Er war das Zünglein an der Waage gewesen - wie auch bei dem Kampf gegen die gigantische Schlange.

»Hier drüben!«, erklang nun Ajaks Stimme. »Kommt schnell her!« Die Männer und Thorin eilten zu ihm und erkannten dann das

Loch in der Erdoberfläche. Aber zunächst galt ihr Interesse dem Schwert, das direkt daneben lag und das Ajak jetzt aufgehoben hatte.

»Das ist Taboks Klinge!«, stieß er aufgeregt hervor. »Und hier ist Blut -schaut doch hin... Das bedeutet, dass sie tot sind...«

»Das wissen wir erst, wenn wir die Leichen gefunden haben«, er-widerte Thorin. Er bückte sich ganz nahe beim Rand der dunklen Öff-nung und erkannte, dass das Gras dunkel und nass war. Das war kein gutes Zeichen. Weder Tabok noch Jesek waren weit und breit zu se-hen und daraus konnte man nur schlussfolgern, dass die haarigen Kreaturen sie mitgenommen hatten - hinunter in den dunklen Schacht!

»Es bleibt uns keine andere Möglichkeit«, entschied Thorin. »Wenn wir sie noch retten wollen, müssen wir dort hinunter. Oder wollt ihr eure Gefährten einfach aufgeben?«

»Erst wenn wir ganz sicher sind, dass sie nicht mehr leben«, sprach Ajak das aus, was alle anderen dachten. Natürlich gefiel ihm der Gedanke ganz und gar nicht, sich in dieses enge Loch hindurchzu-zwängen - ohne zu wissen, was in diesem Schacht noch an Gefahren lauerte. Dass die haarigen Wesen von hier unten gekommen waren und sich auf diese Weise an Thorin und die Aynok-Krieger herange-schlichen hatten, lag auf der Hand. Wesen, die unter der Erde leben, dachte Ajak. Was für eine unnatürliche Existenz!

»Ich gehe als erster«, entschied Thorin ohne zu zögern. »Seid vorsichtig, wenn ihr mir folgt. Wir müssen mit allem rechnen.«

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Dann zwang er sich auch schon durch die enge Öffnung. Bei sei-nen breiten Schultern war das eine ziemliche Mühe, aber Thorin schaffte es. Genau wie Correk, Ajak und die anderen dunkelhäutigen Krieger. Und dann begann ihr Weg ins Ungewisse...

*

Zuerst hatte Thorin geglaubt, es sei stockfinster in diesem Schacht, der nach unten führte. Aber erst als er die enge Öffnung hinter sich gelassen hatte, sah er, dass bläulich leuchtende Adern das Felsgestein durchzogen und somit eine gewisse Helligkeit verbreiteten - es reichte aus, dass Thorin seine unmittelbare Umgebung erkennen konnte.

Dennoch war es nicht einfach, tiefer in den Schacht zu gelangen, denn die Risse und Vorsprünge im Gestein boten nur einem erfahre-nen Kletterer genügend Halt. Es verging einige Zeit, bis er weiter nach unten kam. Dann zuckte er zusammen, als er in dem unwirklichen bläulichen Licht den blutigen Körper (oder besser gesagt die zerfetzten Reste davon) entdeckte, der von einem spitzen Felsen förmlich aufge-spießt worden war. Es schauderte ihn bei dem Gedanken, auf welche Weise der Aynok-Krieger gestorben war - insbesondere deshalb, als er die Leiche näher betrachtete. Einer der Arme fehlte vollständig und das linke Bein war nur ein blutiger Stumpf - genauso wie der Torso des Mannes, durch den die Felsspitze ragte.

Thorin war erleichtert, als er schließlich kurz darauf sicheren Bo-den unter den Füßen hatte - aber er konnte immer noch nicht seinen Blick von dem schrecklich zugerichteten Toten abwenden, weil ihm jetzt klar wurde, dass die haarigen Ungeheuer Kannibalen waren - denn nur das erklärte das Verschwinden von Arm und Bein des Un-glücklichen!

Er war so in seinen eigenen Gedanken versunken, dass er erst durch einen zornigen Ruf Correks wieder herausgerissen wurde. Der Anführer der dunkelhäutigen Krieger hatte jetzt ebenfalls den Leich-nam erspäht, als er nach unten kletterte und ein anderer der Männer musste sich bei diesem Anblick sogar würgend übergeben. Ein penet-ranter Geruch breitete sich daraufhin in dem engen Schacht aus, der

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sich mit dem Gestank von geronnenem Blut und entleertem Gedärm mischte. Kaum einer der Männer war nicht erzürnt angesichts des to-ten Gefährten, der auf so schreckliche Weise den Tod gefunden hatte - das zeigte ihnen allen ganz deutlich, welches Schicksal auf sie wartete, wenn sie nicht vorsichtig genug ans Werk gingen.

»Jesek ist tot«, murmelte einer der Krieger. »Aber wo ist Tabok? Da oben lag nur... sein Schwert...«

»Sie werden ihn weiter in die dunklen Schächte geschafft haben«, erwiderte Thorin mit raunender Stimme. »Was ihn erwartet - das kann sich jeder von euch denken. Wenn wir ihn noch retten wollen, dann müssen wir uns beeilen.«

Sein Blick ging dorthin, wo sich ein Gang vor ihren Augen öffnete, dessen Ende sie nicht absehen konnten. Das bläuliche Licht, das von dem Felsgestein ausging, ließ dort wieder etwas nach, so dass der weitere Weg einem Ungewissen Marsch in den Schlund der Dunkelheit gleich kam. Es gab keinen unter den Aynok-Kriegern, der jetzt nicht von einem gewissen Zögern gepackt wurde, denn dieser Schacht schien sie förmlich zu ersticken, drohte ihnen mit seiner Dunkelheit und den namenlosen Gefahren, die dort unter Umständen lauerten.

Thorin ging voran, musste den Kopf gesenkt halten, weil der Schacht nicht die Höhe für einen normalen Menschen besaß. Für die haarigen Bestien war das hoch genug und Thorin stellte sich in diesem Augenblick vor, wie flink diese Kreaturen durch die engen Schächte und Gänge krochen - immer auf der Jagd nach blutiger Beute, die sie mit ihren scharfen Krallen zerreißen konnten. Er selbst hatte noch nie zuvor von der Existenz solcher Wesen gehört - aber das musste nichts bedeuten, denn sein eigenes Weltbild hatte sich ja ebenfalls im Laufe der letzten Jahre stark gewandelt (wobei gewisse höher stehende Mächte nicht ganz unschuldig daran gewesen waren...).

Einer der Männer fluchte leise, als er sich den Kopf an der rauen Felswand anstieß und deshalb unvermittelt anhielt. Ein zweiter Krieger prallte gegen ihn. Thorin selbst atmete heftiger als sonst, weil der Gang immer niedriger wurde. Aus dem gebückten Gehen wurde für endlose Augenblicke ein unangenehmes Kriechen und das Gefühl einer unbeschreiblichen Enge erfasste die Männer. Wenn der Gang jetzt ein-

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stürzte, würden sie unter Massen von Felsgestein für immer und ewig begraben sein - niemand würde wissen, welches Ende sie gefunden hatten. Ein Gedanke, der bei manchem erneut Panik aufkommen ließ.

Dann aber weitete sich der enge Schacht wieder - und die Dun-kelheit verwandelte sich allmählich wieder in das bläuliche Leuchten, das die Männer beim Eindringen in die Unterwelt bemerkt hatten. Das Gestein schien von Dutzenden pulsierender Adern durchzogen zu sein und das ließ Thorin und die Aynok-Krieger erkennen, dass der Schacht nur wenige Meter weiter vorn endete und in eine Art Höhle mündete.

Gleichzeitig erfüllte plötzlich ein dumpfes Trommeln die eigenarti-ge Unterwelt - ein Trommeln, das in unregelmäßigem Rhythmus im-mer wieder auf- und abklang. Thorin bemerkte die Blicke der dunkel-häutigen Krieger, die dieses Trommeln jetzt richtig deuteten. Egal wer oder was irgendwo jenseits des Schachtes jetzt lebte - er war nahe!

Die Männer zogen ihre Schwerter und verließen die Enge des düs-teren Schachtes, ließen ihre Blicke in die Runde schweifen. Vor ihren Augen breitete sich ein gigantischer Kuppeldom aus, dessen Decke sie von hier unten aus gar nicht erkennen konnten. Von weißem Kalk ü-berzogene Felsen hingen von den Wänden herab und ragten auch aus dem Boden hervor. Es war unangenehm kalt in der Höhle - eine Kälte, die die Männer bis ins Knochenmark erschauern ließ. Thorin nickte den Aynok-Kriegern wortlos zu und ging weiter. Er schritt in die Richtung, aus der das Trommeln zu hören gewesen war und er gab den Kriegern ein Zeichen, sich geduckt zu halten.

Schließlich konnte keiner von ihnen wissen, ob nicht irgendwo zwischen den Kalksteinfelsen die Gegner bereits auf sie lauerten und nur noch auf die passende Gelegenheit warteten, um dann um so schneller aus dem Hinterhalt zuschlagen zu können.

Aber nichts dergleichen geschah. Die Männer unter Thorins Füh-rung schlichen sich durch das Labyrinth aus eigenartig geformten Fel-sen, ohne bemerkt zu werden. Währenddessen verstärkte sich der Trommelschlag - und dann hörten die Männer auch die kehligen krächzenden Laute von Wesen, die nicht menschlichen Ursprungs sein konnten. Das klang so nervenzerfetzend, dass manchem der Aynok-Krieger ein unbeschreiblicher Schauer über den Rücken jagte. Jenseits

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ihres Blickfeldes schienen die haarigen Kreaturen ein schreckliches Fest zu feiern - und jedem der Männer war klar, in welcher Gefahr ihr Gefährte schwebte (falls ihn nicht schon ein schrecklicher Tod ereilt hatte).

Thorin spürte die Ungeduld angesichts der Ungewissen Lage. Er schlich sich jetzt ganz vorsichtig weiter, je lauter das Trommeln wurde - und dann erfassten seine Augen eine unwirkliche Szene. Nur wenige hundert Meter vor ihm sah er einen Teil der Höhle, der von fünf gro-ßen flackernden Feuern erhellt wurde. Am anderen Ende befanden sich etliche Löcher und dunkle Öffnungen in den Felsen - dunklen Mündern gleich. Das sind ihre Behausungen, schoss es ihm durch den Kopf. Sie leben dort wie Schlangen, die das Licht meiden...

Auf dem Mittelpunkt einer weiten Fläche hatten die Ungeheuer zwei solide Holzstämme aufgestellt, die durch ein starkes Seil mitein-ander verbunden waren. Und von diesem Seil baumelte der Körper Taboks herab, der sich nur noch schwach bewegte. Die flackernden Flammen des Feuers erhellten den von zahlreichen Wunden in Mitlei-denschaft gezogenen Aynok-Krieger - und immer wieder stieß eine der Bestien mit einem glühenden Holzscheit nach dem nackten Oberkörper des Unglücklichen. Aber Tabok war schon zu schwach, um noch vor Schmerz aufzuschreien. Sein Körper befand sich mittlerweile in einem Zustand der Gleichgültigkeit Seine Sinne waren schon jenseits des Empfindens von Schmerzen. Zumindest dachte das Thorin, als er Zeu-ge dieser schrecklichen Szene wurde.

Jetzt galt es keine Zeit mehr zu verlieren, denn das war genau der richtige Augenblick, um einen Angriff zu wagen - und der musste rasch erfolgen, wenn sie Tabok noch retten wollten. Denn Thorin sah einige der Wesen, die am Feuer saßen und dort ein schreckliches Mahl hiel-ten. Und wenn sie dieses Mahl beendet hatten, würde ihnen Tabok als weitere Nahrung dienen! Jetzt quälten sie ihn noch und weideten sich an seiner Hilflosigkeit - aber das musste nicht mehr lange anhalten. Solch entsetzliche Kreaturen konnten von einem Augenblick zum ande-ren über ihr Opfer herfallen und es zerreißen!

Jeder der Männer wusste jetzt, auf was es ankam. Sie verteilten sich unbemerkt an mehreren Stellen außerhalb der Helligkeit der fla-

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ckernden Feuer, um ihre verhassten Gegner plötzlich und unerwartet von unterschiedlichen Seiten anzugreifen.

Thorin sah zu, wie sich die Männer bereit hielten und sah dann ein letztes mal hinüber zu dem gepeinigten Tabok. Dann handelte er!

Mit einem lauten Schrei erhob er sich aus seiner Deckung, stürmte mit hoch empor gerechtem Schwert auf die haarigen Ungeheuer zu, gefolgt von Correk und Ajak. In diesem Moment griffen auch die ande-ren Aynok-Krieger an, die sich zwischenzeitlich seitlich nahe herange-schlichen hatten und mit lauten Schlachtrufen ihre Gegner völlig über-raschten. Thorin sah die bleichen Gesichter der Wesen, die angesichts des plötzlichen Auftauchens weiterer Gegner für einen winzigen Mo-ment völlig erstarrten und erst dann aus ihrer Lethargie erwachten. Mit ihren grauenhaften Gesängen hatten sich viele von ihren schon in ei-nen Trancezustand versetzt - angesichts der sicheren Beute, die hilflos am Seil hing und auf den Tod wartete. Das wurde ihnen jetzt zum Verhängnis, denn der Mut der Verzweifelten trieb die Aynok-Krieger voran. Einer von ihnen war bereits grausam gestorben und ein zweiter war dem Tode nahe - nun war der Augenblick der Rache gekommen...

Schwerter sangen ein tödliches Lied, Klingen blitzten im Schein der flackernden Flammen auf und trafen die unmenschlichen Kreatu-ren. Drei von ihnen fielen auf der Stelle, bevor sie überhaupt begriffen, dass der Tod nun nach ihnen seine Finger ausgestreckt hatte. Ein blei-ches Haupt wurde vom Rumpf getrennt, als Sternfeuer vorzuckte. Schwärzliches Blut schoss in einem großen Schwall aus dem Rumpf des Ungeheuers, dessen Körper im Fallen noch heftig zuckle und dann schließlich liegen blieb.

Thorin würgte es in der Kehle, als der Geruch des schwärzlichen Blutes in seine Nase drang - es war ein Gestank, der kaum zum Aus-halten war. Dennoch ignorierte er das und kämpfte weiter wie ein Be-sessener, den nichts und niemand mehr stoppen konnte. Genauso wie ihm erging es auch den Aynok-Kriegern. Jeder war zu einer menschli-chen Kampfmaschine geworden, der nur noch nach Rache und Tod verlangte. Zwar warfen sich ihnen die bleichen, haarigen Ungeheuer entgegen und setzten einigen der Aynok-Krieger auch blutige Wunden zu, aber die Männer schienen das gar nicht wahrzunehmen. Für eine

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zugefügte Verletzung fand eines der schrecklichen Wesen wenig später den Tod.

Thorin hieb um sich, traf eine brüllende Kreatur, die von Sternfeu-er förmlich aufgespießt wurde. Er zog die Klinge rasch zurück, die schwarz vom stinkenden Blut war und versetzte der taumelnden Krea-tur einen heftigen Tritt, der sie direkt in die Flammen eines der Feuer schleuderte. Funken stoben hoch empor, als die züngelnden Flammen nach dem haarigen Fell der Bestie griffen und dort rasch Nahrung fan-den. Das Wesen starb wenig später mit grässlichen Schreien, während es dann ein Opfer der Flammen wurde.

Wie lange der Kampf gedauert hatte, konnte später keiner der Männer mehr genau sagen. Aber als schließlich die letzten der Wesen getötet waren, ruhte der Kampfeslärm. Nur noch das heftige Atmen und Stöhnen einiger Verletzter erfüllte die große Höhle. Bleiche Leiber lagen reglos auf dem steinigen Boden.

Zwei Krieger töteten die mit raschen Schwertstreichen, die sich noch schwach bewegten. Correk und Ajak dagegen eilten nun zu dem stöhnenden Tabok, der hilflos am Seil hing und dennoch mitbe-kommen haben musste, dass die Gefährten gekommen waren, um ihn zu retten.

»Deinen Dolch!«, verlangte Correk und Ajak und dieser nickte rasch. Er zog die Klinge aus dem Gürtel, gab sie Correk und dieser schnitt das dicke Seil durch, das Tabok wenige Handbreit über dem Boden hatten schweben lassen. Ajak hielt den zusammenbrechenden Gefährten fest und ließ ihn dann ganz sanft zu Boden gleiten. Tobak war völlig entkräftet und hatte viel Blut verloren - ob er diese Qualen überhaupt noch überstehen würde, wusste keiner der Männer.

»Bleib ganz ruhig, Tabok«, sagte Ajak nun zu ihm. »Die Bestien sind vernichtet - es besteht keine Gefahr mehr...«

»Das glaube ich erst, wenn wir wieder oben an der Erdoberfläche sind«, ergriff Thorin das Wort, als er hörte, was Ajak gesagt hatte. Dabei nickte er Correk und einem anderen Aynok-Krieger rasch zu, während er selbst sein eigenes Schwert immer noch Kampf- und ab-wehrbereit in der starken Hand hielt. »Wir sollten rasch von hier ver-

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schwinden«, riet er den übrigen Männern. »Los, nehmt den Verletzten - und dann weg von hier!«

Die bleichen Bestien waren zwar besiegt - aber schließlich konnte niemand ahnen, ob in diesen zahllosen dunklen Gängen und Schäch-ten noch weitere gefährliche Kreaturen lebten. Hier in diesem un-durchdringlichen Labyrinth war keiner sicher! Besser sie zogen sich jetzt zurück, solange sie das noch konnten!

Zwei der Krieger packten den Verletzten und hoben ihn vorsichtig hoch, trugen ihn dann vom Kampfplatz. Thorin und Correk blieben bis zuletzt zurück, hielten immer noch Ausschau nach weiteren Angreifern, die sich womöglich noch in einem dieser dunklen Schlünde versteckt hielten und sich angesichts der scharfen Schwerter nicht trauten, einen erneuten Angriff zu wagen. Trotzig hielt Thorin den Knauf der Götter-klinge umschlossen, auf der immer noch Reste des schwarzen stinken-den Blutes hafteten. Sie sollen wissen, dass sie hier der Tod erwartet, dachte Thorin und sah grimmig hinüber zu den dunklen Öffnungen - aber nach wie vor rührte sich dort nichts.

Schließlich zogen sich auch Thorin und Correk langsam wieder zu-rück, erreichten den engen und dunklen Schacht, der sie an diesen blutigen Ort geführt hatte. Bange Minuten verstrichen, reihten sich zu Ewigkeiten, bis sie schließlich wieder den Ort erreicht hatten, wo ihr Einstieg ins Reich der Finsternis ihren Anfang genommen hatte.

Thorin hielt überrascht inne, als er sah, dass der aufgespießte Leichnam Jeseks auf einmal verschwunden war. Blut klebte noch an den Felszacken, aber sonst war nichts mehr zu erkennen, dass sich beim Einstieg in den Schacht hier den mutigen Männern ein Bild des Schreckens geboten hatte.

»Es gibt noch mehr von ihnen...«, murmelte Thorin, als er daraus die richtigen Schlussfolgerungen zog. »Sie haben wieder neue Nah-rung geholt - und das wird ihnen reichen, bis...«

Er brach ab, als ihm bewusst wurde, welche schrecklichen Gedan-ken ihm jetzt durch den Kopf gingen - und doch war es die Wahrheit!

Die Männer beeilten sich jetzt mit dem Aufstieg in die vertraute Welt, die sie vor einer Ewigkeit - zumindest erschien es jedem so - das letzte mal gesehen hatten. Mit dem verletzten Tabok war das gar nicht

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so einfach, die Wand zu erklimmen, aber mit vereinten Kräften gelang es ihnen schließlich doch, das Ende des Schachtes zu erreichen.

Thorin rollte sich als letzter ins Freie, holte keuchend Atem. Der harte Kampf hatte ihn viel Kraft gekostet - und dennoch durfte er sich jetzt nicht ausruhen. Er und die Aynok-Krieger - sie mussten so rasch wie möglich weg von hier! Diese einsame weite Hochebene - sie spie-gelte Ruhe und Frieden nur vor. Wer weiß, wie weit sich die Gänge und Labyrinthe noch unter der Erde erstrecken, dachte Thorin. Sie können uns wieder überfallen und dann haben wir vielleicht nicht mehr so viel Glück wie dieses mal...

Seufzend erhob sich der Krieger aus den Eisländern des Nordens, während sich am fernen Horizont bereits die ersten hellen Schimmer des anbrechenden Morgens zeigten. Sofern man in dieser eigenartigen Zwielichtzone überhaupt von einem Morgen sprechen konnte.

Dutzende unterschiedlicher Gedanken strömten in diesem Moment auf ihn ein und er wünschte sich insgeheim, dass der Weg durch diese Alptraumlandschaft bald ein Ende hatte. Aber das wussten wahr-scheinlich nur die, die diese schreckliche Zone erschaffen hatten!

*

Zwischenspiel 2: Die Jahre vor Thorins Erwachen Er löste sich aus den bizarren Schatten, während die Nervosität ihn wie eine Schlange überfiel, die ganz plötzlich und unerwartet zubiss. Er wusste, dass er zuviel Zeit verloren hatte und die Chance nicht gerade groß war, so schnell die Spur dieser elenden Hure wieder aufzuneh-men.

Seit diesem mysteriösen Zwischenfall in dem schäbigen Wirtshaus war schon ein ganzer Tag verstrichen und General Kang hatte unge-duldig bis zum Mittag ausgeharrt. Dieses Warten kam einem furchtba-ren Zwang gleich, der ihn fast verrückt machte. Aber dann war doch noch die erlösende Nachricht gekommen - sie hatten die Spur der rot-haarigen Hexe gefunden!

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Das war der Zeitpunkt, wo es den alten Kämpfer nicht mehr in seiner Kammer im Wirtshaus gehalten hatte. Er war rasch nach unten gegangen, als ihm einer der Getreuen die gute Nachricht gebracht hatte und drückte dann dem Wirt einige Münzen in die schmierigen Hände. Er sah das gierige Aufleuchten in den Augen des Mannes, der Zeuge von merkwürdigen Ereignissen geworden war und sich natürlich insgeheim darüber den Kopf zerbrach.

»Es soll dein Schaden nicht sein«, hatte Kang dem Wirt ins Ohr geflüstert, während er ihm das Geld gab. »Betrachte das als kleine Entschädigung für all das, was geschehen ist. Du wärst über all das hier schweigen - hast du verstanden?«

Während er das sagte, drückte er die Hand des Wirtes kräftig. Einen Moment tauchten ihre Blicke ineinander und der General

drückte so fest zu, dass die Adern an seinen muskulösen Oberarmen hervortraten. Der Wirt, der zwar jeden Tag Unmengen an Bier und Wein in schweren tönernen Krügen stemmte und Fässer zur Theke walzte, hatte dieser Kraft dennoch nichts entgegen zu setzen. Schließ-lich konnte er dem Blick Kangs nicht länger standhalten und schlug die Augen nieder. Der alte Mann, den er für einen vermögenden Kauf-mann aus einem fremden Land hielt, hatte gewonnen und sich somit sein Schweigen erkauft (vorerst!).

»Ihr seid in meinem Haus stets willkommen, werter Herr«, fügte er rasch hinzu, während er seine schmerzenden Finger aus dem Griff Kangs löste. »Ich bin es, der sich entschuldigen muss - schließlich hät-te ich besser darauf achten sollen, welche Frauen ich hier dulde und welche nicht...«

Dabei dachte er an die Goldmünzen, die er in der anderen Hand hielt und wog im stillen mehrmals ab, ob er den Statthalter der Skirr benachrichtigen sollte oder nicht. Schließlich entschied er sich dage-gen, denn ihm gefiel der stechende und zugleich prüfende Blick des alten Mannes nicht (als wenn dieser die Gedanken des Wirtes erraten könnte). Er wusste nicht, wie nahe er mit seiner Vermutung lag, denn Kang hätte gewiss nicht gezögert, einen solch unliebsamen Zeugen sofort zu beseitigen, wenn er dadurch weitere Gefahr von sich und seinen Getreuen hätte abwenden können.

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An all das musste er jetzt denken, während er und drei weitere seiner Männer in den engen Gassen der noch namenlosen Hafenstadt standen und aus den Schatten der Mauern die Straße hinunterspähten. Kang beobachtete voller Unruhe die Fenster und Balkone der brüchi-gen Häuser. Hoch über ihm am Himmel türmten sich Wolken - fett, schwer und grau an der Unterseite und die stürmischen Seewinde schafften es nicht mehr, sie wieder auseinander zu treiben.

Bald wird es anfangen zu regnen, dachte Kang, während er un-willkürlich seinen Mantel fester um sich zog. Das machte das Bild der Stadt noch trüber als es ohnehin schon war. Denn viele Gebäude wa-ren noch rußgeschwärzt und selbst die rege Bautätigkeit hatte die Spu-ren der Vernichtung nicht vollends beseitigen können.

Die Gasse vor ihm mündete in die ehemalige Altstadt, wo fliegen-de Händler und durchreisende Kaufleute bereits vor dem großen Krieg eine Fülle von Waren feilgeboten hatten. Jetzt bot sich ihm und den Männern ein anderes Bild, denn die Jahrmarktsstände wirkten noch ziemlich dürftig und die Menschen auf dem Platz sahen ausgemergelt aus - gezeichnet von langen Entbehrungen, Hunger, Durst und der strengen Kälte mehrerer lang andauernder Winter. Die letzte Schlacht zwischen Licht und Finsternis hatte sogar das Klima verändert. Alles war anders, fremd und irgendwie - endgültig...

»Ihr müsst Euch an Sha-rip aus Quanlampoor wenden, mein Herr und General«, riss ihn die Stimme des kleineren Mannes neben ihm aus seinen trüben Gedanken. »Er hat behauptet, eine Frau zu kennen, auf die diese Beschreibung passt und...«

»Du Narr!«, fuhr ihn General Kang an, als ihn der Mann mit sei-nem Titel anredete. »Willst du uns mit deiner Unachtsamkeit in Gefahr bringen? Hier haben die Wände Ohren - also vergiss das nicht!«

Waalang, der Angesprochene, zuckte bei diesen Worten schuld-bewusst zusammen. Natürlich - keiner konnte wissen, ob nicht hinter der nächsten Ecke Feinde lauerten. Schließlich waren sie Fremde in dieser Stadt und fielen deshalb um so mehr auf.

»Berichte weiter«, forderte ihn Kang auf, als er sah, dass Waalang reumütig dreinblickte.

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»Wir gaben vor, Händler zu sein«, sagte Waalang. »Daran ist hier fast jeder interessiert. Es war deshalb auch nicht schwer, den Leuten glaubhaft zu machen, dass wir auch einige Frauen suchen. Sha-rip bot mir sofort seine Hilfe an. Man konnte schon den Gewinn in seinen Au-gen erkennen, als er uns das sagte. Ich machte ihm klar, dass es eine besondere Frau sein müsste - eine mit roten Haaren. Sha-rip hat nur kurz überlegt - anscheinend kennt er fast jeden hier. Deshalb sagte er mir auch gleich, dass er bis zum nächsten Morgen etwas für mich tun könne...«

Kang überdachte langsamen Schritten die Situation, während er und seine Männer schließlich das Ende der schmalen Gasse erreichten. Waalang wies jetzt auf ein heruntergekommenes Gebäude zwischen den Zeltständen, das ebenfalls noch etliche Spuren des Krieges trug und noch nicht ganz wiederhergestellt war. In dem am besten erhalte-nen Teil hatte sich der Händler Sha-rip eingenistet. Von draußen konn-te man zwar nicht viel erkennen, aber Sha-rip war ein gerissener Händler - und als Mittler für alle möglichen Dienste noch viel geschick-ter.

Kang nahm einen tiefen Atemzug, ehe er schließlich in die Däm-merung des Ladens trat. Fenster gab es keine, der Kaufmann hatte alle Löcher mit Decken verhängt. Als wenn er verhindern wollte, dass der eine oder andere Neugierige hier einen Blick riskierte. Die Geräu-sche des Platzes wurden nun zu einem sanften Gemurmel. Ein letzter Windhauch, der über den Platz strich, trug den Duft gerösteter Nüsse mit sich. Dann schlug der Vorhang ganz zurück und Kang sowie seine Männer befanden sich nun im Inneren des Ladens.

Aus dem Schatten gestapelter Waren löste sich ein dicker Mann. Kangs Augen gewöhnten sich als erste an den verdunkelten Raum. Er hatte misstrauisch seine Hand in der Nähe des Schwertes, jederzeit bereit zuzustoßen, wenn etwas hier nicht stimmen sollte. Dabei blickte er sich mehrmals um und verzog rümpfend die Nase. Die Warenberge wirkten alt, schienen teilweise noch aus der Zeit vor dem schrecklichen Krieg zu stammen. Es roch muffig und alt - überall lag eine Patina aus Staub. Kangs Nervosität steigerte sich noch.

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»Bist du Sha-rip?«, wandte sich Kang nun an den Dicken, dessen schmieriges Lächeln ihm ganz und gar nicht gefiel.

»Nein, ich arbeite nur für ihn", kam es nun etwas zu rasch über die Lippen des Mannes, dessen Augen wie die einer hinterhältigen Rat-te unstet hin- und herflackerten.

»Was soll das?«, entfuhr es dem alten General. »Ich denke, wir sind mit ihm zu dieser Stunde verabredet?«

Dabei blickte er auch zu Waalang, aber dieser zuckte nur hilflos mit den Schultern...

»Mein Herr lässt ausrichten, dass es ihm sehr leid tut, nicht selbst mit Euch sprechen zu können, werter Fremder«, ergriff nun der Dicke wieder das Wort. »Aber er fühlt sich nicht wohl. Ein plötzlich aufge-tretenes Fieber zwingt ihn, im Bett zu bleiben...«

Während er das sagte, kam der Dicke näher. Er war fast zwei Köpfe kleiner als General Kang. Seine Hände waren ineinander gefal-tet, als würde er beten. Seine trüben, rattenhaften Augen blieben aber ruhig und kalt. »Er hat mich gebeten, Euch zu sagen, dass er fündig geworden ist. Gegen eine entsprechende Bezahlung werde ich Euch zu dem Ort führen, wo...«

Er hielt inne, vollführte mit den Händen eine viel sagende Geste. »Was verlangst du?«, wollte der ungeduldige General jetzt wissen.

»Rede endlich - wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!« »Es war schwer, alles in Erfahrung zu bringen«, sprach der Dicke

weiter. »Es hat einige Mühe und auch etwas Geld gekostet. In dieser Stadt hat alles seinen Preis, versteht Ihr?...«

Kangs Hand zuckte zum Schwertknauf und er sah, wie der Dicke erschrocken zusammenfuhr. Er hatte wohl begriffen, dass er etwas zu vorlaut gewesen war.

Dennoch - seiner Meinung nach verloren sie hier nur unnötige Zeit, wenn dieser verschlagene Kerl nicht endlich mit der Wahrheit herausrückte. Kangs Leute wurden auch schon ziemlich nervös und blickten sich unsicher im Laden um.

»Also - was weiß dein Herr über die Hure mit den feuerroten Haa-ren?«, richtete Kang erneut das Wort an den Dicken. »Wenn du jetzt nicht redest, gehen wir wieder...«

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Der schmierige Kerl lächelte jetzt - und das gefiel dem alten Gene-ral überhaupt nicht. Irgendwie roch er eine Falle - auch wenn er sich das nicht erklären konnte. Trotzdem musste er hier weiter ausharren, denn eine weitere Spur als die vagen Andeutungen des Dicken gab es nicht!

»Keine Sorge, werter Herr«, grinste der Ladenbesitzer. »Ich bin nur ein unwürdiger nichtsnutziger Arbeiter - ich soll Euch aber zu dem Mann führen, der weiß, wo sich diese Frau genau aufhält. Wenn man Euch dann alles gesagt hat und ich Euch bis dorthin geführt habe, dann soll ich das Gold nehmen...«

Eine innere Stimme schrie Kang förmlich eine Warnung zu - hier stimmte eine ganze Menge nicht! Dennoch entschied sich Kang gegen die Warnung, sondern nickte dem Dicken auffordernd zu. Dieser ver-beugte sich kurz und um seine Mundwinkel zuckte es flüchtig. Dann wandte er sich zum Gehen und der General mitsamt seinen Getreuen folgte ihm. Als Kang schon in der Tür stand, drehte er sich noch ein-mal kurz um, weil er geglaubt hatte, irgendwo weiter hinten ein leises Husten gehört zu haben. Aber dann schüttelte er den Kopf und ging weiter, folgte dem dicken Mann, der mit schnellen Schritten voranging.

*

Das Kopfsteinpflaster der Gassen war zum Teil ausgerissen. Der Krieg hatte allgegenwärtige Spuren hinterlassen.

Kang und seine Männer blieben weiter misstrauisch, weil es der Dicke auf einmal so eilig hatte. Schließlich wollten sie nicht doch noch im letzten Moment die Aufmerksamkeit der Stadtwachen oder son-stiger Soldaten auf sich ziehen.

Der Ladenbesitzer lief behäbigen Schrittes an den notdürftig er-richteten Zelten vieler mittelloser Menschen vorbei. Kang registrierte aus den Augenwinkeln, wie selbst hier in diesem dunklen Stadtviertel geschäftstüchtige Händler Sklaven aus den untergegangenen Städten von Samara und Cardhor anzubieten versuchten. Doch die erbar-mungswürdigen Frauen und Männer, die eine unergründliche Laune des schreckliches Krieges bis heute am Leben gelassen hatte, waren

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kaum zu den kräftezehrenden Arbeiten zu gebrauchen, für die man sie vorgesehen hatte.

Kang fluchte leise. Er schwor denjenigen, die für all dieses ent-setzliche Leid verantwortlich waren, irgendwann Rache.

Bettler und Diebe säumten dieses Elendsviertel. Der dicke Mann blieb jetzt plötzlich stehen, drehte sich zu Kang um und packte ihn am Arm.

»Ganz ruhig«, stieß er eilig hervor. »Schaut Euch jetzt die Waren an - handelt ein wenig...«

Kang lag eine heftige Erwiderung angesichts dieses eigenartigen Verhaltens auf der Zunge, aber dann ließ er es sein, als er die Solda-ten der Stadtwachen vom anderen Ende der schmalen Gasse kommen sah. Aufmerksam beobachteten die bewaffneten Männer mit den blit-zenden Rüstungen das Treiben zu beiden Seiten der Gasse. Deshalb befolgte Kang den Rat des Dicken und ließ sich auf einen Handel an einem der Stände ein, wo Stoff aus dem untergegangenen Reich von Samara angeboten wurden.

Nun mischte sich der Dicke, dessen Namen Kang eigentlich gar nicht kannte, in das Gespräch mit ein. Er flüsterte dem Straßenhändler einige Worte ins Ohr, drückte ihm etwas in die Hand - und dies ver-schwand blitzschnell in den Falten der schmutzigen Kleidung.

Der Dicke grinste dabei wissend und winkte dem General zu, wei-ter ruhig zu bleiben. Erst als die Stadtwachen ihre Patrouille schließlich fortsetzten, ergriff er wieder das Wort.

»Jetzt können wir weiter. Wenn es dennoch zu Schwierigkeiten kommen sollte oder wir uns womöglich verlieren, dann betretet ein-fach einen dieser Basare hier. Sagt, dass Ihr von Sha-rip kommt - man wird Euch dann sofort weiterhelfen...«

Mit diesen Worten setzte er seinen Weg fort und Kang blieb nichts anderes übrig, als sich ihm anzuschließen - egal, was noch geschehen mochte. Dieser Gehilfe des Kaufmanns Sha-rip war ein ziemlich un-durchsichtiger Bursche, aber er war auch der einzige, der ihnen wei-terhelfen konnte. Also mussten sie mit ihm gehen!

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»Wie heißt du eigentlich?«, wollte Kang nun von ihm wissen, wäh-rend sie allmählich ein Viertel der Stadt erreichten, das noch nicht wieder aufgebaut worden war.

»Oh, verzeiht meine Torheit«, kam es rasch über die Lippen des Dicken. »Mein Name ist Tarion. Tarion aus Samorkand. Der Krieg hat mich hierher verschlagen - wie so viele andere ebenfalls. Der groß-herzige Kaufmann Sha-rip nahm mich auf und lehrte mich das Han-deln. Kommt jetzt... hier herum...«

Der dicke Tarion wedelte heftig mit der linken Hand. Kang folgte ihm, registrierte zu beiden Seiten der engen Gasse die zerbrochenen Säulen der einst altherrschaftlichen Häuser. Die Giebel einiger Gebäu-de waren wie Strohhalme abgeknickt.

Einer von Kangs Männern stolperte plötzlich. »Verdammt!«, fluchte er, wahrend er aus Versehen in einen der

zahlreichen Geröllhaufen trat, die die Straße säumten und das spärli-che Licht des Mondes hier unten nur konturenweise erfasste. Der Himmel verfinsterte sich noch weiter und der Wind nahm jetzt an Stär-ke zu. Als dann dichte graue Wolken das letzte Licht des Mondes schluckten, öffneten sich wenig später die Schleusen und es fing zu regnen an.

Kang kniff die Augen zusammen, als der Wind die ersten Tropfen in sein Gesicht wehte. Aus dem Schutthaufen ragte eine mumifizierte Hand sowie Teile einer Rüstung hervor. Ein grausames Bild, aber ge-gen solche Eindrücke schienen die Bewohner mittlerweile abgestumpft zu sein - hier kämpfte jeder nur noch ums eigene Überleben.

»Ja...«, flüsterte Tarion, als er bemerkt hatte, wohin Kang blickte. »Hier in den unbewohnten Ruinen dürfte das nicht das einzige Skelett sein. Der Krieg hat in der Stadt - und insbesondere im Hafenviertel schrecklich gewütet. Wer diese Gräueltaten überlebte, zog es lieber vor, an einer anderen Stelle neue Häuser zu bauen als auf den Mauern dieser Bluttaten.«

»Herr«, sagte nun einer von Kangs Getreuen - es war Albiron. »Es sieht nach einem schlimmen Unwetter aus. Wir sollten uns beeilen, sonst...« Er brach ab und auch die anderen Männer nickten zu-stimmend. Kang wusste, dass sich die Männer hier nicht wohl fühlten.

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Die Enge der Gassen wirkte irgendwie bedrückend und in ihrer Rolle als angebliche Kaufleute spürten sie immer mehr wachsendes Unbe-hagen. Und das alles wegen dieser geheimnisvollen rothaarigen Frau, über die ihnen Kang gar nicht viel erzählt hatte - beschrieben hatte er lediglich die jadegrünen Augen und die Tatsache, dass sie von einem Geheimnis wisse. Ein großes Geheimnis, das für die Freiheit aller Men-schen von Bedeutung sein könnte. Mehr hatte der General seinen Männern nicht gesagt - aber dennoch blieb die wachsende Unsicher-heit hier in den engen Gassen. Kang versuchte in dem ausdruckslosen Gesicht Tarions etwas zu erkennen - etwas, das ihn womöglich davon abhielt, ihm weiter zu folgen. Aber solch ein gewiefter Bursche war nur schwer einzuschätzen.

»Du hast gehört, was meine Männer sagen, Tarion«, wandte er sich jetzt an den Dicken. »Wir haben nur wenig Zeit. Wie weit ist es noch? Vielleicht kannst du uns ja doch schon sagen, was dein Herr über die Frau herausgefunden hat. Wenn es mir angemessen er-scheint, sollst du eine gute Belohnung bekommen...«

Bei den folgenden Worten sah er Tarion besonders lange und in-tensiv an.

»Versuche keine faulen Tricks mit uns. Es würde dir und deinen Herren verdammt schlecht bekommen. Wir sind eine große Gilde und meine Mission ist vielen Männern bekannt. Also sprich jetzt - was weißt du von der roten Hexe?«

Kang pokerte hoch - aber seine Worte lösten bei dem dicken Kerl eine gehörige Menge Respekt aus. Nichts anderes hatte er erreichen wollen.

»Es ist nicht mehr weit«, kam es nun hastig über Tarions Lippen, um seine Begleiter zufrieden zu stellen. »Gut, ich erzähle Euch, was mein Herr herausgefunden hat. Nicht weit von hier beginnt ein Teil der Hafenanlagen, von wo aus vor dem Krieg die Schiffe über das Große Salzmeer in alle Länder der Erde aufbrachen...«

Bei diesen Worten überstieg er wieselflink eine Holzbarrikade, die bereits teilweise in sich zusammengestürzt war. Kang spürte, wie seine Muskeln erwachten. Er überwand die Schutthaufen und zerrte Holz-bohlen beiseite, die seine Männer nur zu zweit hätten bewegen kön-

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nen. Er spürte förmlich eine Welle der Energie in seinem Körper, als ihm Tarion immer wieder verdeutlichte, dass der Irrweg durch die en-gen Gassen bald ein Ende gefunden hatte.

»Jetzt sind wir gleich da«, fuhr Tarion fort, musste aber einen kurzen Moment innehalten. Jetzt rächte sich die Tatsache, dass das schwere Gewicht seines Dicken Körpers ihn viel Kraft gekostet hatte. Der Marsch durch die engen Gassen hatte ihn in Schweiß ausbrechen lassen. Er hatte sich doch wohl zuviel zugemutet. »Einige wenige Ha-fenanlagen werden hier zur Zeit wieder instand gesetzt«, berichtete er mit keuchender Stimme. »Der Hafenmeister ist in dem Gebäude mit dem erleuchteten Fenster. Dahinter erstrecken sich die Kaianlagen - und genau dort haben zwei Schiffe angelegt, die noch in dieser Nacht wieder in See stechen werden...«

Kang wusste nicht so recht, was die Worte Tarions zu bedeuten hatten. Der Dicke hatte viel zu ausschweifend erzählt. Was hatte das alles mit der rothaarigen Hexe zu tun, die ihn auf solch heimtückische Weise hereingelegt hatte?

»Die Informanten meines Herrn sind ganz sicher, dass die Frau auf einem der beiden Schiffe die Stadt verlassen wird«, rückte Tarion nun mit der eigentlichen Wahrheit heraus. »Man munkelt, dass sie es sehr eilig haben soll, von hier wegzukommen. Warum wohl?...«

Der Mann aus Samorkand grinste breit und hielt nun Kang die ausgestreckte offene Hand hin - und was er damit andeuten wollte, war klar. Er hatte die Fremden hierher geführt und nun war es Zeit für die versprochene Belohnung!

Kangs Männer hingegen blieben nun besonders wachsam. Ihre Hände hatten unter den Mänteln die Waffen fest umschlossen, hielten sie einsatzbereit im Falle einer Gefahr. Sie waren bereit, damit zu zu-stechen, wenn es ihnen ihr Herr und General befahl.

»Du bekommst dein Geld, wenn du uns zum Hafenmeister ge-bracht hast«, entschied der weise General, der nichts davon hielt, Ta-rion jetzt schon zu bezahlen. »Wenn du uns ihm vorgestellt hast, dann kannst du zurück und deinem Herrn den Lohn für seine Hilfe überbrin-gen.«

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»Wie Ihr wollt, mein Herr«, sagte er und verbeugte sich kurz. Dann drehte er sich um und schlüpfte durch ein Loch in der Hafenbe-festigungsmauer.

Außer dem Prasseln des Regens und den fernen Lauten vom Marktplatz war nur die schwache Seebrandung an der Kaimauer zu hören. Erst jetzt nahm Kang das erste mal wieder wahr, wie salzig die Luft roch.

Längst war die Sonne hinter dem fernen Horizont untergegangen und die Schatten der Nacht hatten sich in der Stadt ausgebreitet. Die schweren Regenwolken schienen direkt über den Köpfen Kangs und seiner Männer zu hängen.

Tarion schien es jetzt um so eiliger zu haben. »Kommt, wir müssen uns beeilen!«, forderte er die Männer auf,

ihm zu folgen. »Die Schiffe stechen bald in See. Hoffentlich habt ihr genügend Geld bei Euch, um dem Hafenmeister die gewünschten In-formationen zu entlocken...«

Mit diesen Worten schlug Tarion die Kapuze seines weiten Mantels zurück und öffnete eine schwere Holztür. Kang war zwar etwas miss-trauisch, als ihm der Gedanke kam, wie gut sich der dicke Mann aus Samorkand hier auskannte - aber dann schrieb er das doch seiner ei-genen Nervosität zu. Schließlich trug das miese Wetter auch nicht ge-rade dazu bei, die Stimmung der Männer zu heben. Es goss mittlerwei-le wie aus Kübeln und Kang war froh, dass sie das Haus des Hafenmei-sters betreten und sich so vor dem prasselnden Regen schützen konn-ten.

Zu spät bemerkte der alte General die Schatten mehrerer Männer. Er wirbelte herum, wollte seinen Leuten noch eine Warnung zurufen, während er gleichzeitig das Schwert unter dem Mantel hervorzog. Aber die Waffe einsetzen - das konnte er nicht mehr. Denn nur wenige Se-kunden später erhielt er einen schweren Schlag gegen den Kopf. Ein jäher Schmerz zuckte durch sein Gehirn und die Waffe entglitt seinen Fingern, fiel mit einem scheppernden Geräusch auf den kalten Stein-fußboden. Kangs Sinne begannen zu taumeln. Ganz aus weiter Ferne hörte er ein unterdrücktes Stöhnen und einen wütenden Schrei, dann

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aber fiel er hinab in einen tiefen Schacht, der sein Bewusstsein von einem Atemzug zum anderen auslöschte.

Er sah nicht mehr, wie mehrere gedrungene Gestalten seine Män-ner überwältigten und sie ebenfalls bewusstlos schlugen. Dieser An-griff war so plötzlich und unerwartet gekommen, dass selbst erfahrene Kämpfer wie Kangs Getreue überrumpelt wurden. Die Männer beugten sich nun über die Besiegten, durchwühlten ihre Taschen und waren nicht schlecht erstaunt, als sich schließlich herausstellte, dass die an-geblichen fremden Händler eigenartig viele Waffen besaßen.

Noch einmal wechselte etwas Gold den Besitzer. Eine krächzende Stimme begann voller Schadenfreude zu lachen - es war ein widerwär-tiges Lachen!

»Jetzt ist die Mannschaft vollzählig. Wir können endlich in See ste-chen...«

Dann entwickelten die feigen Schergen eine ziemliche Eile. Sie packten die Bewusstlosen und schleppten sie hinaus ins Freie. Das Haus hatte einen hinteren Ausgang, der in eine schmale Gasse münde-te - und die führte direkt zum Hafen. Und dort wartete schon eines der Schiffe...

*

Tabok fieberte - sein ganzer Körper war von einem unheimlichen Schüttelfrost erfasst worden, gegen den er verzweifelt ankämpfte. Aber weder Thorin noch die übrigen Aynok-Krieger konnten ihrem Ge-fährten jetzt helfen. Keiner von ihnen war ein Heilkundiger, der dieses Fieber hätte senken können. Der Körper des dunkelhäutigen Mannes, dem die schrecklichen Wesen aus der Unterwelt so sehr zugesetzt hat-ten, war in Schweiß gebadet. Tabok wälzte sich auf seinem kargen Lager hin und her, stieß immer wieder ein lautes Stöhnen aus, mur-melte auch bisweilen einige unverständliche Worte, die die anderen nachdenklich stimmten.

Für den Schwerverletzten war hier das Ende des Weges erreicht. Er war viel zu schwach, konnte nicht mehr weiter - aber einfach lie-genlassen und ihn seinem Schicksal überlassen wollten sie ihn auch

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nicht Also warteten sie ab, bis es zu Ende war - und das dauerte noch einige Stunden. Taboks Geist war in unbekannte Regionen entrückt. Seine Augen hatten einen seltsamen Schimmer angenommen und er schien keinen seiner Gefährten mehr zu erkennen, wenn sich einer über ihn beugte und den Schweiß von der Stirn des Sterbenden wisch-te.

Thorin und Correk standen etwas abseits, während nun Ajak an der Reihe war, sich um Tabok zu kümmern. Der blonde Krieger aus den fernen Eisländern des Nordens hatte schon viele Menschen ster-ben sehen - und doch ließ ihn dieses qualvolle Sterben nicht kalt. Es war endgültig - und nichts dagegen tun zu können, erzürnte ihn.

»Es wird bald vorbei sein«, sagte Correk mit leiser Stimme zu Tho-rin, als ein weiteres Stöhnen die Luft des kalten Morgens erfüllte. »Für ihn wird es eine Gnade sein...«

Noch während er das sagte, bäumte sich der geschundene Körper des Schwerverletzten urplötzlich auf und ein erstickender Laut kam aus seiner Kehle. Dann fiel Tobak zurück und blickte mit stumpf ge-wordenen Augen in den Morgenhimmel, der auch jetzt fast vollständig von einer dichten Wolkendecke verborgen wurde.

Stumm vor Trauer sahen die Männer auf ihren toten Gefährten. Innerhalb kürzester Zeit hatten sie zwei aus ihrer Mitte verloren und keiner von ihnen wusste, wer der nächste sein würde. Denn diese un-heimliche Nebelzone hatte noch kein Ende gefunden - und es konnten noch Dutzende weiterer Gefahren auf sie alle lauern.

Auf Thorins Geheiß bedeckten die Krieger den toten Tabok mit Steinen, um ihm so wenigstens ein Grab zu bereiten. Es war ein kurzer Abschied, dann ging es auch schon weiter. Zurück blieb ein einsames Grab in einer unwirklichen Landschaft, die weder einen Anfang noch ein Ende zu haben schien...

*

Draußen vor den bizarr geformten Korallenfelsen türmten sich Reste von Maueranlagen, die einst von einer Stadt gezeugt hatten. Schwarze Lavaschlacke bedeckte den Boden an dieser Stelle des tiefen Meeres -

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ein Zeichen dafür, dass vor Äonen hier einst ein gewaltiges Natur-schauspiel alles Leben vernichtet hatte.

Nun standen nur noch Reste von korallenüberwucherten Ruinen. Ihre Farbe konnte man nur noch erahnen, denn der südliche Ozean war an dieser Stelle so tief, dass das Licht der Sonne den Meeresbo-den nicht mehr erreichte. Hier unten herrschte eine stetige Finsternis von einer unbeschreiblichen Dichte, die jeden in den Wahnsinn getrie-ben hätte, wenn er jemals einen Blick in diese unwirkliche Welt hätte erhaschen können.

Im Inneren des gewaltigen Korallenmassivs erstreckte sich eine Höhle von gigantischem Ausmaß. Ein Licht, dessen Ursprung nur der dunkle Herrscher dieses unterirdischen Reiches kannte, erhellte den mittleren Teil der Höhle. Die Flut des Meeres und die gewaltigen Wel-len - in dieser Höhle gab es sie nicht. Geheimnisvolle Kräfte hielten die Wassermassen davon ab, in das Korallenmassiv einzudringen und es zu überfluten - aber selbst wenn es so gewesen wäre, hätte dies dem dunklen Herrscher nichts ausgemacht. Denn ein Gott wie er konnte auch im Wasser existieren. Nur R'Lyehs Launen und Empfindungen war es zu verdanken, dass dies noch nicht geschehen war. Stumm und in Gedanken versunken hatte er sich in sein unterirdisches Reich zu-rückgezogen und wartete darauf, dass sein Götterbruder Azach er-schien.

Gelblicher Rauch entstand plötzlich aus dem Nichts, waberte wie ein dünner feiner Schleier über den Korallenboden der Höhle, wurde immer dichter und ließ die konturenhafte Gestalt inmitten des Nebels nur erahnen. Dann aber wurden die Umrisse klarer, nahmen schließlich die Gestalt des Eisherrschers im Norden der zerstörten Welt an - Azach war gekommen. Dennoch aber umgab die Gestalt des dunklen Gottes nach wie vor ein irisierender Schimmer. R'Lyeh sah das und er wun-derte sich darüber.

WAS HAT DAS ZU BEDEUTEN?, richtete er seine geistige Stimme an seinen Götterbruder. WARUM MANIFESTIERST DU NICHT?

ETWAS... ETWAS HINDERT MICH DARAN, hörte R'Lyeh nun die Stimme Azachs, die seltsam fern klang - als wenn er sich gar nicht hier in seiner Nähe befand. ICH WEISS NICHT, WAS ES IST. WIR MÜSSEN

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SEHR VORSICHTIG SEIN, R'LYEH. ES IST ALLES ANDERS GEWORDEN, SEIT WIR DIE SKIRR GERUFEN HABEN...

Was die mentale Stimme seines Götterbruders an schrecklichen Verdachtsmomenten in sein dunkles Hirn einbrannte, wollte der Herr-scher der Finsternis und der südlichen Meere zunächst gar nicht wahr-haben. Aber dann wurde ihm bewusst, dass es einen guten Grund geben musste, warum Azach nur seinen Astralkörper zu ihm geschickt hatte - und selbst dies geschah ganz offensichtlich unter unerklärlichen Schwierigkeiten.

WAS WILLST DU DAMIT SAGEN?, fragte R'Lyeh. GEMEINSAM MIT DEN SKIRR HABEN WIR UNSERE PLÄNE VERWIRKLICHT UND HERR-SCHEN NUN ÜBER DIE ERDE ZUMINDEST ÜBER DEN GRÖSSTEN TEIL DAVON. DAS WIRST DU DOCH WOHL NICHT ANZWEIFELN?

NEIN, drang die Stimme Azachs in sein Gehirn. ABER BIST DU WIRKLICH GANZ SICHER, DASS WIR NOCH DIE EIGENTLICHEN HERRSCHER DER WELT SIND? DIE SKIRR ENTWICKELN GEWISSE KRÄFTE, DIE MIR NICHT GEFALLEN. ES IST ETWAS, DAS MIT IHREN STAHLBURGEN ZU TUN HABEN MUSS - ABER ICH WEISS NICHTS GE-NAUES.

WIR HABEN SIE GERUFEN - UND SIE HABEN SICH UNSEREM WILLEN ZU FÜGEN, hielt ihm R'Lyeh entgegen.

SEI VORSICHTIG, erklang nun die drängende Stimme seines fins-teren Bruders, die sich im selben Moment abzuschwächen begann wie die Konturen der Gestalt Azachs im gelblichen Rauch. WENN WIR NICHT AUFPASSEN, DANN WERDEN WIR AUCH EINES TAGES UNTER IHNEN ZU LEIDEN HABEN. WIR HÄTTEN SIE NICHT RUFEN DÜRFEN, R'LYEH. ICH MUSS JETZT AUFHÖREN - HIER IST ES NICHT SICHER, WO ICH ZU DIR SPRECHE. ICH MUSS ABWARTEN, BIS SIE WIEDER IHRE EXPERIMENTE FORTSETZEN - DANN IST DER ZEITPUNKT GE-KOMMEN, WO WIR EINE ENTSCHEIDUNG TREFFEN MÜSSEN.

Er wollte zwar noch mehr sagen, aber seine geistige Präsenz war mittlerweile so schwach geworden, dass das, was Azach seinem Göt-terbruder zu sagen hatte, diesen nicht mehr erreichte. Die Nebel ver-blassten allmählich und lösten sich schließlich ganz auf - als hätte es

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nie eine geistige Verbindung über Tausende von Meilen hinweg zwi-schen Azach und R'Lyeh gegeben.

Der Herrscher der südlichen Meere geriet ins Grübeln. Azach wür-de ihm mehr sagen müssen, warum er auf einmal zweifelte. Was war nur geschehen, dass sein Bruder auf einmal so misstrauisch geworden war? R'Lyeh kannte die näheren Umstände nicht, denn er hatte sein dunkles Reich tief auf dem Grund des stürmischen Ozeans lange nicht mehr verlassen und Azach war es gewesen, der den Kontakt zu den Skirr aufrechterhalten und ihnen Befehle erteilt hatte. Befehle, die of-fensichtlich keine Wirkung zeigen, dachte der finstere Herrscher. Er würde sich selbst darum kümmern müssen, wenn sich die Vermutun-gen seines Götterbruders bestätigten - einen Gott betrog man nicht. Selbst wenn es sich dabei um solch mächtige Wesenheiten wie die Skirr handelte, die in relativ kurzer Zeit die letzte Schlacht zwischen Licht und Finsternis zum Vorteil der dunklen Mächte entschieden hat-ten.

Natürlich war viel geschehen in diesen Jahren (wenn das auch nur für einen Gott wie R'Lyeh eine verhältnismäßig kurze Zeitspanne war). Auch Dinge, deren Bedeutung R'Lyeh und seinen Bruder deutlich über-rascht hatten. Vielleicht wussten die Skirr mehr darüber als sie zugeben wollten - auf jeden Fall hatten sie sehr gereizt reagiert, als sich plötzlich Inseln des Lichts auf der fast vollständig unterworfenen Erde gebildet hatten. Schutzzonen, hervorgerufen durch eine Kraft, von der auch R'Lyeh und Azach bisher noch nichts gewusst hatten, aber die Skirr schienen sie um so besser zu kennen!

R'Lyeh wusste nur, dass es sich bei dieser Wesenheit um eine ge-heimnisvolle Erscheinung namens FÄHRMANN gehandelt hatte - aber mehr auch nicht. Und als diese Macht in die Ereignisse eingegriffen hatte, waren die Skirr zum ersten mal deutlich ins Wanken geraten und hatten deshalb nicht verhindern können, was kurz darauf gesche-hen war. Jetzt hatten sich vieles wieder geändert auf dieser Welt - die Inseln des Lichts waren sicher vor dem Zugriff der dunklen Mächte und auch vor den Skirr. Und was dort auf der anderen Seite in den vergangenen Jahren geschehen war, dass wusste niemand.

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Je länger R'Lyeh darüber nachdachte, um so mehr kam er zu dem Entschluss, dass es vielleicht doch besser gewesen wäre, nach der entscheidenden Schlacht nicht alles den Skirr zu überlassen. Ein Herr-scher kann sich nur so lange halten, wie er den Überblick behält und über alles Kenntnis hat, sinnierte er. Der unerforschte Kontinent, dem selbst er und Azach schon vor der großen Schlacht wenig Beachtung geschenkt hatten - was war, wenn sich jetzt dort bei den letzten Über-lebenden allmählich Widerstand gebildet hatte? Sie hätten das längst verhindern müssen - aber die Skirr hatten bisher alles vernichtet, was sich ihnen in den Weg gestellt hatte. Und genau darauf hatten sich die dunklen Götter verlassen und ihnen deshalb Teile ihres Einflussbe-reichs übertragen. War das womöglich ein Fehler gewesen, den sie noch bereuen würden?

Unruhe ergriff den finsteren Gott, die ihn nur mühsam seine Ge-danken unter Kontrolle halten ließ. Erneut musste er wieder daran denken, dass die Skirr schon einmal einen verhängnisvollen Fehler begangen hatten - indem sie diesen elenden Sterblichen Thorin nicht gleich getötet hatten. Stattdessen hatten sie ihn in eine Lichtblase aus Raum und Zeit verbannt, wo er ewig gefangen bleiben sollte - wenn eben nicht der geheimnisvolle FÄHRMANN eingegriffen und Thorin daraus befreit hätte. Und das hatte er so geschickt vollendet, dass auch Azach und R'Lyeh das Unheil nicht mehr hatten verhindern kön-nen. Mittlerweile war Thorin in einer der Schutzzonen des Lichts un-tergetaucht und seitdem war seine Spur verloschen...

R'Lyeh beschloss seine Zurückhaltung aufzugeben und sein unter-irdisches Reich zu verlassen. Wenn Azach seiner Hilfe bedurfte und er nicht mit den Skirr fertig wurde, dann bedurfte es nun der Hilfe seines Götterbruders!

*

Einblick in das Chaos 1 Zuckende violette Blitze erhellten den finsteren Schacht, in dem die gewaltige MASCHINE stand, die mit ihren unerklärlichen Kräften auch einen Teil der dicken Mauern der Stahlburg zittern ließ. Es war ein

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gleißendes Licht, das ein menschliches Augenlicht innerhalb weniger Atemzüge vollends zerstört hätte - ein Licht, das nicht von dieser Welt kam, sondern seine Heimat in unfassbaren Regionen hatte, die nur diejenigen mit ihren Sinnen erfassen konnten, die selbst dort lebten. Wesen wie die Skirr!

Zu den unregelmäßig zuckenden Blitzen gesellte sich nun ein dumpfes Rumoren von weiter unten, in den Gewölben weit unter den drohenden Mauern der unheimlichen Festung, die diesen Teil der Welt überragte und mit skrupelloser Härte beherrschte. Die MASCHINE, die die Skirr unter großem Zeitaufwand gebaut hatten - sie begann sich allmählich zu regen und die spinnenhaften Wesen, die sich jetzt in der Stahlburg versammelt hatten, begingen diesen Moment wie ein gewal-tiges Fest. Ihre Körper zuckten vor Freude, helle Stimmen wisperten, fast ehrfürchtig, weil sie wussten, die sie ihrem großen Plan näher gekommen waren. Ein Plan, der so alt war wie die Flammenbarriere und die Regionen dahinter - ein Plan, der es zum Ziel hatte, die gültige Ordnung des Universums völlig zu zerstören und die Macht des Chaos neu erstarken zu lassen.

Auch die Götter des Lichts, die in ihrem von magischen Kräften verriegelten Gefängnis schon seit Jahren einsam ausharrten, spürten die Veränderung, die von den Mauern der Stahlburg ausging - aber sie wussten nicht, was die Ursache des dumpfen Dröhnens war, das sich irgendwo tief unter dem Erdboden abspielte (dabei hatten sie ur-sprünglich geglaubt, am tiefsten Punkt der Stahlburg eingesperrt wor-den zu sein - jetzt mussten sie erkennen, dass die Anlagen der gewal-tigen Festung noch weitaus verzweigter waren als sie vermutet hat-ten). Stumm hockten sie in ihrem Verlies, an starke Ketten geschmie-det, die selbst ihre Kräfte nicht mehr zu zerreißen vermochten. Die andere, die dritte Kraft war mächtiger!

Azach und R'Lyeh, ihre beiden einstigen Gegner, waren nur weni-ge male in das dunkle Verlies der schrecklichen Stahlburg persönlich gekommen. Was wahrscheinlich bedeutete, dass die Götter der Fins-ternis und die Geschöpfe von jenseits der Flammenbarriere wohl ein Abkommen getroffen hatten. Jetzt waren die Skirr verantwortlich für das weitere Schicksal von Odan, Thunor und Einar - aber selbst die

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spinnenhaften Wesen sahen kaum noch nach ihnen (außer dass man sie regelmäßig mit kargen Mahlzeiten versorgte). Es sah alles danach aus, als wenn die Skirr mit wichtigeren Dingen zu tun hatten als sich mit geschlagenen Göttern abzugeben, die in ihren Augen doch nur unvollkommen waren.

»Hört ihr das?«, flüsterte Thunor, als er erneut das dumpfe Dröh-nen tief unter der Erde registrierte. »Es geschieht etwas...«

Einar murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Der Gott mit dem milchigen Auge hatte sich schon seit Stunden in Trance versetzt und nahm kaum noch etwas wahr, was um ihn herum geschah. Selbst die Geräusche aus der Tiefe der Erde vermochten ihn jetzt nicht in die Wirklichkeit zurück zu holen - eher das Gegenteil war der Fall. Sein Körper begann leicht zu zucken und seine Haut wurde noch etwas blasser.

Thunor blickte hilfesuchend zu seinem Götterbruder, musste aber dann erkennen, dass es zwecklos war. Einar hörte ihn nicht - sein Geist befand sich in unbekannten Regionen - und das schon seit ge-raumer Zeit.

»Es macht mich wahnsinnig«, murmelte Odan, der einstige Wel-tenzerstörer und Herrscher über eine Welt, die nun längst von anderen regiert wurde. »Sie tun etwas, was uns alle vernichten wird, wenn wir es nicht verhindern...«

Unzählige male schon hatte er versucht, kraft seines Geistes die magischen Fesseln zu sprengen, die ihn und seine Brüder an das raue Gestein schmiedeten. Aber bisher war jeder Versuch schon von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen - nur hatte das Odan nicht einse-hen wollen (und ganz sicher wollte er sich auch jetzt noch nicht damit abfinden). Sie hatten ihn geschlagen und eingesperrt, seinen Willen hatten die Spinnenwesen jedoch noch nicht zerstören können - genau so wenig wie den seines Bruders Thunor. Nur bei Einar war sich Odan nicht mehr so ganz sicher. Seit ihn die Skirr gebissen und gequält hat-ten, verdunkelte sich der Geist Einars manchmal, tauchte lange ab in Regionen, zu denen auch seine Brüder keinen Zugang mehr hatten. Genau wie jetzt!

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Die neuen Herren der menschlichen Welt hielten sie wie Tiere in diesem Verlies, weideten sich an ihrer Hilflosigkeit und an ihrem Zorn. Odan zuckte zusammen, als er erneut durch die feuchten Wände des Verlieses dumpfe Schwingungen spürte. Schwingungen, die er sich nicht erklären konnte - selbst mit dem Wissen eines Gottes nicht.

Hätte er jetzt den Ort seiner Gefangenschaft verlassen können und einen Blick auf das geworfen, was irgendwo dort unten geschah, so wäre er wahrscheinlich erschüttert gewesen beim Anblick von turmhohen Kolben und Gestängen aus fremdartigem, glänzenden Stahl, angetrieben von einer unbekannten Kraft. Odan wusste demzu-folge auch nichts von den schiffsgroßen Schildantrieben, die sich tiefer und tiefer in das felsige Gestein der Berge bohrten und alles ringsum mit der Pestilenz des Bösen vergifteten. Und dazwischen wuselten die spinnenähnlichen Skirr aufgeregt hin und her, bedienten unbegreifliche Gerätschaften, regulierten damit die stickigen Dämpfe aus den heißen Kesseln, die eine ganze Stadt einen Monat lang mit Wärme hätten ver-sorgen können.

Odans Gedanken brachen ab, als plötzlich Einar ein irres Lachen ausstieß, das ihn das dumpfe Dröhnen zumindest für einige Atemzüge lang vergessen ließ. Schaum bildete sich vor seinem Mund und das milchige Auge des Gottes begann in einem seltsamen Licht zu schim-mern. Ein Licht, das die Dämmerung des Gefängnisses zumindest für kurze Zeit wieder erhellte - dann verschwand es aber auch schon wie-der, als habe es nie existiert. Odan und Thunor warfen sich nachdenk-liche Blicke zu und schauten immer wieder zur Tür des Verlieses - als wenn sie fürchteten, dass die Skirr Zeugen von Einars Anfall wurden.

Irgend etwas schien Einars merkwürdiges Lachen doch bewirkt zu haben - denn in den Katakomben der Stahlburg hielten die Skirr in ihrem Treiben plötzlich inne. Während die gewaltigen MASCHINEN weiter liefen und mit ihrem dumpfen Dröhnen für eine stetige Ge-räuschkulisse sorgten, wirkten die Skirr ziemlich ratlos und verwirrt (vielleicht auch erschrocken darüber, dass etwas geschehen war, das ihnen Sorgen bereitete). Die Giftdrüsen unter den Panzerungen der Halswülste schwollen bedrohlich an.

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Als wenn sich die Spinnenwesen kurz vor einem Angriff befanden. Ihre Augen flackerten in einem unheiligen roten Licht. Behaarte Beine zuckten und ihre Körper verkrallten sich, als wenn sie sich mitten im Kampf mit einem unsichtbaren Gegner befanden. Mit ihren messer-scharfen Zangen durchschlugen sie die Luft, trafen dann aber nur auf die Wände der gewaltigen KAMMER, in der die MASCHINE arbeitete. Es war wie ein Zeichen - als wenn ganz plötzlich eine Gefahr drohte, der sie sich vorher nicht bewusst gewesen waren - oder zumindest in dem Umfang. Die dämonischen Hirne der Spinnenwesen tasteten mit ihren Sinne hinaus ins öde Land, das sie beherrschten. Ob es der An-fall Einars war, der dieses Vorgehen bewirkt hatte - das ließ sich nicht mehr feststellen. Auf jeden Fall spürten sie plötzlich, dass sich in einer der Nebelzonen etwas tat. Etwas Folgenschweres, das sie mit ihnen Sinnen dennoch nicht genau erfassen konnten - und doch ahnten sie die Gefahr, die sich dort zu lokalisieren begann. Eine Gefahr, die ei-gentlich überhaupt nicht existieren durfte - denn die Nebelzone war ein undurchdringlicher Streifen Land, der sowohl für die Mächte des Lichts als auch die der Finsternis eine Grenze darstellte. Jemand war dabei, diese Grenze zu überwinden!

Einar sah das mit seinen Sinnen, die die geistigen Fesseln der Stahlburg zumindest in den Augenblicken seiner tranceähnlichen Star-re überwunden hatten - er bekam einen kurzen Einblick in die Welt außerhalb des Gefängnisses und er sah die Schrecken, die die Skirr über die Erde gebracht hatten. Aber Einar spürte auch den winzigen Funken Hoffnung, der wie ein kleines Licht in der Dunkelheit unstet leuchtete und aus diesem Funkeln wurde allmählich ein kleines Licht...

»Er kommt...«, murmelte Einar mit einer Stimme, die ihm gar nicht zu gehören schien. Fremd und seltsam abgehackt kamen diese Worte über seine Lippen. Sein Blick war in unendliche Fernen gerichtet und ein winziges Lächeln deutete sich in seinen faltigen Zügen an. »Er kommt, um für uns zu kämpfen...«

Zuerst wussten Odan und Thunor nicht, wovon ihr Götterbruder sprach, aber als der Gott mit dem milchig-trüben Auge leise den Na-men des Nordlandwolfes flüsterte, weiteten sich ihre Augen voller Er-staunen.

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»Thorin?« Zuerst klang es ganz ungläubig, was Odan sagte. »Bist du ganz sicher, Einar?«

»Ja«, nickte dieser. »Aber die Skirr ahnen es auch. Wir müssen unsere Gedanken jetzt noch mehr abschirmen, Brüder. Sie dürfen es nicht zu früh erfahren - sonst wäre alles umsonst, was Thorin...«

Er brach ab, aber Odan und Thunor hatten auch so begriffen, was Einar hatte sagen wollen. Die langen Jahre der Gefangenschaft - wür-den sie bald ein Ende haben? Eine Frage, auf die er gerne eine Ant-wort gewusst hätte - aber das war unmöglich.

Aber selbst Einar konnte in diesem Moment nicht wissen, dass die Skirr nicht nur zu ahnen begannen, dass sich außerhalb der gewaltigen Stahlburg Ereignisse von gefährlicher Größe abzeichneten. Nein, sie waren sich durchaus der Tatsache bewusst, dass sie durch das stetige Arbeiten mit der MASCHINE eine winzige Zeitspanne unaufmerksam gewesen waren - eine Zeitspanne, die der Gegner für sich genutzt hatte. Aber der Plan durfte nicht mehr verändert werden, denn die MASCHINE bildete das Bindeglied zwischen den Sphären, die bald mit-einander verwoben sein würden. Nichts und niemand durfte sie jetzt mehr aufhalten - und deshalb handelten die Spinnenwesen unver-züglich. Der- oder diejenigen, die sich von der Nebelzone aus dem toten Land näherten, mussten aufgehalten werden. Und die teufli-schen Sinne der Skirr schufen eine solche Möglichkeit...

*

Sie wussten nicht, wie viel Entfernung sie zwischenzeitlich hinter sich gebracht hatten. Nach wie vor nahm die eigenartige Zone aus tanzen-den Nebelschleiern und düsterem rötlichen Licht kein Ende. Der Hori-zont war praktisch nicht mehr zu erkennen und Thorin konnte nur va-ge Vermutungen darüber anstellen, wie weit sich die Zone noch erstrecken mochte - auf jeden Fall war sie deutlich größer als er es bisher vermutet hatte.

Und genau das war es auch, was ihn in Gedanken jetzt um so mehr beschäftigte. Allein von der Zeit her mussten sie längst das an-dere Ende erreicht haben - und dennoch irrten sie durch den Nebel,

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der einfach nicht aufhören wollte. Bedeutete das unter Umständen, dass in dieser von Geistesmacht geschaffener Region andere Räume galten als in der ihm vertrauten Welt? Ein Schritt in der Nebelzone konnte somit auch tausend Schritte in der Wirklichkeit bedeuten. Oder genau das Gegenteil konnte der Fall sein. Etwas stimmte nicht mit Zeit und Raum - die auf unerklärliche Weise hierher verschlagenen Aynok-Krieger waren ein deutlicher Beweis dafür...

Thorin spürte allmählich, dass sich sein Magen auf unüberhörbare Weise mit einem leichten Knurren meldete und sich darüber beschwer-te, dass er schon seit einer halben Ewigkeit nichts mehr zu essen be-kommen hatte. Aber so oft sich Thorin auch in den letzten Stunden bemüht hatte - weder er noch die Aynok-Krieger hatten nirgendwo Spuren entdecken können, die auf das Vorhandensein von Wild oder sonstigen Tieren hinwiesen. Eine einsame monotone Landschaft, von der keiner wusste, welche Gefahren sie noch erwarteten.

Die Mienen der dunkelhäutigen Krieger waren Spiegelbilder ihrer Seelen. Jeder von ihnen wünschte sich sehnlichst, endlich aus diesem nicht enden wollenden Alptraum zu erwachen - mancher von ihnen hätte es sogar vorgezogen, in der Schlacht den Heldentod zu sterben. Alles war besser als das Umherirren in einer fremden Landschaft, die keinen Anfang und kein Ende zu haben schien. Es war ein beunruhi-gender Gedanke, sich vorzustellen, dass womöglich irgend jemand von oben zusah, wie sie sich mühsam vorankämpften und dabei ihre letz-ten Kräfte mobilisieren mussten.

Sie folgten einem holprigen Pfad, der die letzten Meter steil an-stieg - dann hörten die Männer plötzlich etwas, das das Pfeifen des stetigen Windes übertönte.

»Wasser!«, stieß Correk aufgeregt hervor. »Das ist das Plätschern eines Baches. Thorin«, wandte er sich ganz aufgeregt an den Nord-landwolf. »Es kommt von dort vorn!«

Noch während er das sagte, beschleunigte er seine Schritte und die anderen taten es ihm gleich. Das Verlangen nach frischem klaren Wasser überlagerte jede weitere Vorsicht. Die Männer stolperten vor-wärts und erblickten kurz darauf einen kleinen Gebirgsbach, der aus

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einer unscheinbaren Stelle im Felsgestein hervortrat und sich dann sein Bett weiter abwärts in einer Mulde grub.

»Den Göttern sei Dank«, murmelte Ajak und dann beugte er sich hastig nieder, formte beide Hände zu einem hohlen Trichter, um das frische Wasser herauszuschöpfen und es an seine ausgetrockneten Lippen zu führen.

»Wartet noch!«, ließ ihn dann Thorins Stimme innehalten, der im Gegensatz zu den um die Quelle knienden Kriegern sein Misstrauen noch nicht aufgeben wollte. »Wir wissen alle mittlerweile, dass hier der Schein trügen kann. Wartet noch - ich will ganz sicher gehen...«

Er wusste, wie schwer es den Männern fiel, sich jetzt noch zurück-zuhalten, aber seine Erfahrung als Krieger hatte ihn manches gelehrt. Unter anderem auch die Tatsache, dass man zuerst einmal die unmit-telbare Umgebung bei einer Quelle oder einem Wasserloch absuchte. So konnte man sehr rasch herausfinden, ob das Wasser überhaupt genießbar war. Er kannte Geschichten von Männern, die diese War-nungen in den Wind geschlagen hatten und deren Knochen jetzt in der Sonne bleichten, weil sie schlechtes Wasser getrunken hatten, an dem sie dann auf schreckliche Weise gestorben waren.

»Was soll das?«, kam es nun mürrisch über die Lippen eines der dunkelhäutigen Krieger, dessen Gesicht von den Entbehrungen und Schrecken der letzten Stunden gezeichnet war. »Ich verdurste fast - und hier ist Wasser! Fängst du jetzt schon an, überall Dämonen und Geister zu sehen, Thorin?«

Er sprach damit genau das aus, was einige der Krieger insgeheim dachten. Sie waren fast verrückt nach dem kühlen frischen Wasser - und es bedurfte jetzt nur eines winzigen Funkens, um ihren Zorn zu entfachen.

»Die Männer sind erschöpft, Thorin«, ergriff nun Correk das Wort. »Mir geht es nicht anders. Wenn du an etwas zweifelst, dann sag es uns - aber jetzt gleich!«

Währenddessen hatte Thorin seine Blicke über die Felsen in un-mittelbarer Nähe des kleinen Baches schweifen lassen - aber er konnte nichts erkennen, was ihn warnte. Also nickte er schließlich und das war das Zeichen für die Männer, endlich zu trinken. Mit einem Freudenge-

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heul tauchten sie ihre Hände in das kristallklare Wasser, schöpften es und schluckten es gierig hinunter. Auch Thorin gab nun seine Skepsis auf und gesellte sich zu den Aynok-Kriegern.

Das Wasser war kalt und schmeckte eine winzige Spur irgendwie metallisch - aber das mochte sicher mit dem Felsgestein zusammen-hängen, aus dem es hervortrat. Auch Thorin spürte jetzt, wie sein Körper die Flüssigkeit begierig in sich aufnahm. Eine Wohltat nach diesem langen Weg!

Auf Nahrung konnte man unter Umständen ein oder zwei Tage verzichten - aber nicht auf das lebensrettende Wasser! Thorin trank so lange, bis auch er genug hatte, lehnte sich dann wieder zurück und beobachtete die Aynok-Krieger, die sich aufführten, als beginne gerade ein lang herbei gesehntes Freudenfest. Auch wenn Thorin anderer Meinung war, so hielt er sich zurück, wollte den Männern ihre Freude und Hoffnung jetzt nicht nehmen. Denn nach wie vor waren sie nicht in Sicherheit und dieser kleine Bach war nur ein winziger Tropfen auf den heißen Stein - mehr aber auch nicht...

Schließlich hatten sie sich soweit gestärkt, dass sie ihren Marsch ins Ungewisse fortsetzen konnten. Einige der Krieger blickten sehn-süchtig zurück zu dem kleinen Bach, dessen Lauf in eine ganz andere Richtung führte - nämlich in einigen Windungen wieder zurück in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren. Aber das bedeutete, dass sie dann wieder in die Nähe der Hochebene kamen, wo die blei-chen, haarigen Wesen lauerten - und das wollte keiner von ihnen. Also ließen sie den Lauf des kleinen Baches hinter sich und gingen in die Richtung, die Thorin eingeschlagen hatte - eine Richtung, von der sie hofften, dass sie in die Freiheit führte...

Der Horizont schien nun andere Konturen anzunehmen - die all-gegenwärtige Nebelwand lichtete sich sogar an einigen Stellen und gab hin und wieder den Blick auf eine weit entfernte Landschaft frei, von der sie aber nicht viel erkennen konnte. Vielleicht täuschte das auch - Thorin hatte in der Todeswüste von Esh selbst erlebt, dass der Horizont manchmal nicht das war als er vorgab. Das vermutliche Ende der Nebelzone schien greifbar nahe - womöglich dauerte es aber auch noch einen oder zwei Tage, bis sie diesen Punkt erreicht hatten. Und

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dann stellte sich die Frage, ob es auch den Aynok-Kriegern gelingen würde, diese Zone ohne Gefahr verlassen zu können. Schließlich hatte er selbst bemerkt, dass er es nur den Kräften der Götterklinge zu ver-danken hatte, dass er beim Eintritt in die Nebelzone nicht gleich den Tod gefunden hatte. Bestimmt war es auch kein gefahrloser Übergang auf der anderen Seite!

Die Männer schritten weiter voran, waren ganz in ihren eigenen Gedanken versunken, als plötzlich einer der Krieger einen kurzen Hus-tenanfall bekam. Er hielt inne, rang kurz nach Luft - und dann war es auch wieder schon vorbei. Aber nur so lange, bis auch Ajak und zwei andere Krieger plötzlich ebenfalls husten mussten. Sofort hielt Thorin inne und erschrak, als er selbst auf einmal in seiner Kehle ein unerklär-liches Kratzen fühlte, das einen leisen Hustenreiz auslöste - den er aber wieder unterdrücken konnte. Aber nicht für lange, denn schon wenige Minuten später verstärkte sich dieses unangenehme Gefühl in seinem Hals und nun musste auch Thorin heftig husten - ebenso wie Correk und alle anderen Aynok-Krieger. Der Marsch zum Horizont ge-riet ins Stocken und die Männer blickten sich alle verwirrt und besorgt zugleich an.

»Bei allen Göttern!«, kam es krächzend über Correks Lippen. »Was, was ist das?«

Er brach ab, weil er erneut husten musste und dann wurde der Reiz in seiner Kehle so stark, dass er große Schwierigkeiten hatte, Luft zu holen.

Auch Thorin spürte die unheimlichen Vorgänge und er verfluchte sich jetzt für seine eigene Leichtsinnigkeit. Er hatte genau um die Ge-fahren in dieser Nebelzone gewusst - und doch hatte er sich von ei-nem scheinbar friedlichen Bild täuschen lassen. Das Wasser, schoss es ihm durch den Kopf. Es ist das Wasser, das uns jetzt...

Erneut wurde auch er von einen heftigen Hustenanfall geschüttelt, der ihn in die Knie zwang. Gleichzeitig spürte er, wie sich sein Blickfeld auf unerklärliche Weise einzuschränken begann. Es war so, als schaue er plötzlich durch einen dunklen Schacht und erkannte erst in einiger Entfernung ein helles Bild. Sein Magen wurde von einem heftigen Ste-chen erfasst und er hörte sich selbst laut stöhnen, als er in die Knie

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brach und sich auf dem harten Boden zu wälzen begann. Ganz aus weiter Ferne hörte er ebenfalls die Stimmen der anderen, die die glei-chen Probleme hatten wie er - aber er konnte sie nicht mehr sehen, denn vor seinen Augen tanzten bunte Kreise, die Sekunden später in schillernden Farben zu explodieren begannen.

»Die dunklen Horden!«, schrie jemand mit durchdringender Stim-me und kurz darauf war ein hartes Schaben auf dem Erdboden zu hö-ren. War es Correks Stimme gewesen? Thorin wusste es nicht, denn auch sein Gehörsinn war auf merkwürdige Art und Weise einge-schränkt, nahm die Laute um sich herum nur ganz gedämpft wahr - als wenn sich eine unsichtbare Decke über alles gelegt hatte.

Unwillkürlich tasteten Thorins Hände nach dem Knauf von Stern-feuer, umfassten den mit Juwelen geschmückten Griff. Eine leichte Wärme ging von der Götterklinge aus, die Thorins Finger spürten und die explodierenden Bilder vor seinen Augen für einen kurzen Moment vertrieben. Er sah, wie sich die Männer am Boden wälzten und unarti-kulierte Laute von sich gaben - seltsamerweise erblickte er diese Sze-nen mit den Augen eines unbeteiligten Beobachters, der verständnislos aus weiter Ferne etwas sah, was er nicht begriff.

Du musst dagegen ankämpfen, schrie ihm eine innere Stimme zu. Und zwar jetzt, sonst ist es zu spät!

Thorin spürte, wie von Sternfeuer immer mehr Hitze ausging. Als sich seine Blicke wieder klärten und der Hustenreiz für einen kurzen Moment nachließ, sah er, wie die Klinge in einem hellen Licht erstrahl-te. Sein Kehle wurde frei von dem bohrenden Hustenreiz und auch das unerklärliche Brennen in seinem Magen ließ wieder nach. Nicht aber bei den Aynok-Kriegern, die nach wie vor stöhnten und sich am Boden vor Schmerzen krümmten.

Dann zog plötzlich einer der Krieger seinen scharfen Krummdolch aus dem Gürtel und warf dem Gefährten, der nur wenige Schritte ne-ben ihm lag, einen hasserfüllten Blick zu.

»Du Ausgeburt der Finsternis!«, schrie er voller Zorn. »Jetzt wirst du sterben!«

Und noch ehe seine letzten Worte verhallt waren, stürzte er sich auch schon auf den vermeintlichen Gegner. Auch dieser Krieger hatte

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bereits sein Schwert gezogen und versuchte, den tödlichen Hieb des Angreifers abzuwehren.

Thorin spürte plötzlich eine schnelle Bewegung hinter sich und warf sich geistesgegenwärtig im letzten Moment zur Seite. So entging er der scharfen Klinge Ajaks, der sich unbemerkt in Thorins Rücken geschlichen hatte und ihn mit einem durchdringenden Schrei angriff. In Ajaks Augen funkelte der Wahnsinn, als er mit der Klinge zu einem alles vernichtenden Hieb ausholte. Aber dieser Hieb ging dank Thorins schneller Reaktion ins Leere. Das scharfe Schwert prallte auf einen Felsen.

»Ajak - halt ein!«, rief ihm Thorin zu und hoffte, dass der Aynok-Krieger nun endlich zu sich kam. Aber das Gegenteil war der Fall. Als Ajak sah, dass der Gegner sich zur Seite geworfen hatte, setzte er seinen ungestümen Angriff ohne Gnade fort Er erkennt mich nicht, dachte Thorin. Sie sind alle wahnsinnig geworden! Er wusste, dass ihm nun keine andere Möglichkeit mehr blieb, als um sein Leben zu kämp-fen - auch wenn ihm Freunde gegenüber standen.

Die Aynok-Krieger waren von einem seltsamen Fieber ergriffen worden - genau wie Thorin auch. Nur zeigte es bei ihm nicht ganz die-selben Auswirkungen. Er spürte eine bleierne Schwere, die sich auf seine Gedanken legte und ihn Wurzeln unbeschreiblichen Hasses füh-len ließ. Wahrscheinlich hatte er es nur Sternfeuers Kräften zu verdan-ken, dass dieser Hass ihn nicht gänzlich übermannte und sein weiteres Handeln bestimmte. Stattdessen musste er jetzt um sein Leben kämp-fen, denn Ajak und seine übrigen Gefährten waren nicht mehr in der Lage, klar zu denken.

Während er einen weiteren Schwerthieb Ajaks parieren konnte, sah er aus den Augenwinkeln voller Entsetzen, dass die Aynok-Krieger übereinander herfielen. Jeder kämpfte gegen jeden - es gab keine Freunde mehr. Hier kämpften zu allem entschlossene Krieger um ihr eigenes Überleben und sie nahmen auf absolut nichts Rücksicht.

Thorin konnte jetzt nicht mehr anders handeln - er musste harte Schläge austeilen, denn Ajak drang immer weiter vor. Er schlug wie ein Berserker um sich, achtete auch nicht darauf, dass ihn Thorins

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Schwert kurz an der Hüfte streifte und dort eine kleine Wunde verur-sachte.

Erschlag diesen Bastard, wisperte eine Stimme in Thorins Hirn. Zerfetze ihn mit der Klinge - wate in seinem Blut. Und wenn du ihn erledigt hast, dann bringe die anderen um. Die bist allein - sie sind alle gefährliche Feinde. Wenn du überleben willst, musst du sie alle töten, sonst...

»Nein!«, rief Thorin und wehrte sich gegen den mentalen Ansturm fremder Gedanken in seinem Kopf. Gleichzeitig riss er Sternfeuer hoch - genau in dem Moment, als Ajak einen Satz nach vorn machte. Die scharfe Götterklinge bohrte sich in die Brust des Aynok-Kriegers und verletzte ihn tödlich. Ajaks hasserfüllte Miene wandelte sich genau in diesem Augenblick in eine Fratze des Schmerzes, gepaart von Erstau-nen und Fassungslosigkeit. Er wollte noch etwas sagen, aber ein Blut-schwall trat über seine Lippen. Sekunden später brach er tot zusam-men und das Schwert entglitt seinen leblosen Fingern.

Du hast ihn umgebracht, wisperte dieselbe Stimme von eben wie-der. Gut hast du das gemacht - und jetzt kämpfe weiter!

Thorin schüttelte benommen den Kopf, umfasste mit beiden Hän-den den Knauf der Götterklinge und spürte dann zu seiner großen Er-leichterung, wie der Druck in seinem Hirn nachzulassen begann. Es hätte ganz sicher nicht mehr lange gedauert und die fremde Macht hätte es doch noch geschafft, sein weiteres Handeln zu lenken.

Über weitere Dinge konnte er sich nicht mehr den Kopf zerbre-chen, denn in diesem Moment griffen ihn zwei weitere Aynok-Krieger mit bluttriefenden Klingen an. Sie hatten zwei ihrer Gefährten er-barmungslos abgeschlachtet - und nun hatten sie Thorin als Opfer auserkoren. Correk selbst drosch auch wie ein Besessener auf einen anderen Aynok ein und es kümmerte ihn nicht im geringsten, dass sie einmal Freunde gewesen waren. Alles hatte sich verändert, unbe-schreiblicher Hass überlagerte jeden Gedanken an Vernunft bei den dunkelhäutigen Männern.

Thorin gab einem der beiden Krieger einen Tritt, der ihn nach hin-ten schleuderte - genau in die Klinge eines Aynok hinein, der sich un-bemerkt von der Seite genähert hatte. Die Augen des dunkelhäutigen

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Aynok-Kriegers leuchteten voller Triumph auf, als sich seine Klinge in das Fleisch des Gegners bohrte und dort eine tiefe blutige Wunde riss.

Der Nordlandwolf wehrte unterdessen einen Hieb des zweiten An-greifers ab, teilte kurz darauf selbst einige harte Schläge aus, die den Mann einige Schritte zurück trieben. Diese winzige Zeitspanne reichte aus, um sich auf den Aynok-Krieger einzustellen, der bereits einen seiner Gefährten von hinten getötet hatte und der nun ebenfalls auf Thorin losstürmte.

Er kam aber nicht mehr dazu, seine Klinge einzusetzen, denn das Götterschwert ließ es nicht zu, dass ihrem Besitzer ernsthafter Scha-den zugefügt wurde. Sternfeuer erstrahlte in einem hellen Licht und vertrieb die Aura des Bösen, die sich in Thorins Gedanken hatte einnis-ten wollen. Die Mächte des Lichts waren stärker als die fremden Kräf-te, die durch den Genuss des Wassers aufgetreten waren. Hier ist nichts wie es scheint, dachte Thorin, während er sich heftig wehrte und gegen die Schwertstreiche der Gegner ankämpfte.

Der zweite Gegner fiel ebenfalls durch einen gezielten Schwerthieb des Nordlandwolfs, hauchte nur wenige Schritte von Thorin entfernt sein Leben aus.

Dann biss sich etwas Schmerzhaftes in Thorins Schulter. So plötz-lich kam das, dass Thorin den Angriff zu spät bemerkte. Der Aynok schrie wie ein tollwütiges Tier, als er auf Thorin zusprang und ihm mit einem weiteren Hieb das Leben nehmen wollte.

Thorin erkannte den Wahnsinn in den flackernden Augen des Kriegers und er begann zu taumeln. Geistesgegenwärtig riss er das Schwert hoch und der angreifende Krieger stürzte genau in die scharfe Klinge hinein. Er stöhnte, während Blut über seine Lippen trat - dann starb er.

Thorin hob den Kopf, erkannte Correk, der in seiner Hand eine bluttriefende Klinge hielt und jetzt allmählich aus einem furchtbaren Alptraum erwachte. Voller Entsetzen blickte er um sich und sah die toten Leiber seiner Gefährten. Er sah auf das Blut an der eigenen Klin-ge und dann schien er zu begreifen.

Angewidert warf er das Schwert weit von sich und barg sein Ge-sicht in beide Hände, während ein trockenes Schluchzen seinen Körper

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erfasste und ihn schüttelte. Da wusste Thorin, dass von Correk zumin-dest jetzt keine Gefahr mehr drohte.

Er erhob sich ebenfalls, während er auf die Leichen der getöteten Krieger blickte. Nur noch Correk war am Leben - alle anderen hatten sich in diesem wahnsinnigen Kampf gegenseitig umgebracht!

Correk hob den Kopf, als er die schweren Schritte Thorins hinter sich hörte. Seine Miene war dunkel vor Kummer und er suchte ver-zweifelt nach passenden Worten.

»Warum, Thorin?«, murmelte er immer wieder, während er zu den blutigen Leichen der Aynok-Krieger blickte. »Es muss ein Dämon über uns alle gekommen sein, der dann...«

»Es war das Wasser, Correk«, unterbrach ihn Thorin. »Ich weiß nicht genau, was es war, das diesen Wahnsinn verursacht hat - viel-leicht ein unbekanntes Gift...«

»Thorin... es ist alles umsonst«, ergriff nun Correk wieder das Wort. »Die ganzen Gefahren und diese furchtbaren Strapazen -und jetzt sind nur noch wir am Leben!«

Der Nordlandwolf nickte stumm. Correk war viel zu stark von sei-nen Emotionen geschüttelt. Was hätte er ihm jetzt noch an tröstenden Worten sagen können? Auch das hätte nichts mehr daran geändert, dass Correk der einzige Überlebende eines ehemals starken Krieger-trupps war. Nur noch Thorin war bei ihm - ein geheimnisvoller Kämp-fer, der bestimmt noch mehr über die dunklen Mächte wusste als er ihm gesagt hatte.

»Ich weiß, was du empfindest, Correk«, meinte Thorin nach einer kleinen Weile des Schweigens. »Aber das macht die anderen auch nicht wieder lebendig. Wir können nur noch eins tun - nämlich ihren Tod rächen. Sie sollen nicht umsonst gestorben sein...«

»Bei den Göttern des Lichts, Thorin!«, kam es nun zornig über Correks Lippen. »Selbst wenn ich dabei den Tod finden sollte - aber ich werde alles tun, um diese finsteren Kreaturen zu vernichten, die die Welt in den Abgrund gestürzt haben.«

Um seinen Worten einen nachhaltigen Ausdruck zu geben, reckte er die Klinge hoch, mit der er selbst zum Mörder gegen seinen Willen geworden war. Schwer war die Schuld, die auf ihm lastete - und des-

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halb war er um so mehr von dem Wunsch beseelt, das wieder gut zu machen.

Thorin und Correk erfüllten nun eine traurige Aufgabe - und eine schwere zugleich. Sie trugen die Toten hinüber in eine Felsmulde, leg-ten sie dort ab und häuften dann einige Steine über sie. Es war kein schönes Grab, in dem die Aynok-Krieger ihre letzte Ruhe fanden - so fern von der Heimat an diesem unwirklichen Ort. Aber weder Thorin noch Correk wollten die Leichen einfach so liegenlassen.

Schließlich verließen sie den Ort des Todes. Keiner von ihnen blickte mehr zurück - jeder von ihnen hing seinen eigenen Gedanken nach. Gedanken, die sich mit den Mächten der Finsternis beschäftigten - und mit dem Erreichen des Endes dieser zwielichtigen Zone, die so viele namenlose Schrecken aufzuweisen hatte. Sie waren nur noch zwei Krieger - aber der Wunsch nach Rache trieb sie voran...

*

Das dumpfe Dröhnen der gewaltigen stählernen MASCHINE in den tiefen Kammern der Stahlburg nahm an Intensität zu. Der ausstoßende Rauch wurde immer dichter und eine drückende Wärme legte sich über die weit verzweigten Gewölbe. Das Experiment war jetzt in eine entscheidende Phase getreten - und es erforderte deshalb die gesamte Aufmerksamkeit der spinnenhaften Wesen, die mit jeder verstreichen-den Stunde ihrem Ziel immer näher kamen. Die Herrschaft über die verwüstete Erde - was bedeutete sie im Vergleich zu dem, was nun sehr bald eintreten würde? Wenn sich das Tor zwischen den Dimensi-onen öffnete, dann war auch die Flammenbarriere kein Hindernis mehr...

Die Skirr waren Wesen mit einem scharfen und klaren Verstand - seit Äonen lebten und arbeiteten sie nur für diese Aufgabe - und diese Mächte, die sich stolz Götter der Finsternis nannten, begriffen gar nicht, was hier in Wirklichkeit geschah. Es würde ohnehin ihre geisti-gen Kräfte bei weitem überfordern - also hatten die Skirr beschlossen, sie von Anfang an im Unklaren darüber zu lassen, dass selbst die Macht Azachs und R'Lyehs nur von ganz kurzer Dauer sein würde.

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Aufregung erfasste die bepelzten Leiber der Skirr, als die MA-SCHINE immer stärkere Kräfte entwickelte. Die Kolben arbeiteten un-aufhörlich - blaue Flüssigkeit schoss durch die zahlreichen Rohre und vermischte sich mit einem Konglomerat aus erdhaften Farben - was dann zur Folge hatte, dass der Dampf gelb wurde und sich ein penet-ranter Geruch in der gewaltigen Höhle auszubreiten begann. Die Skirr handelten rasch, betätigten einige verborgene Hebel an der MASCHI-NE und der gelbe Rauch ließ schließlich wieder etwas nach.

Viel Zeit war nicht vergangen, seit die Skirr diesen unheimlichen Prozess beobachteten und schließlich eingriffen. Aber es reichte im-merhin aus, um sie für einen kurzen Augenblick (wenn man nach dem Zeitempfinden der Skirr ging) von den Ereignissen in der Nebelzone abzulenken. Als sie schließlich die MASCHINE wieder voll unter Kontrol-le hatten und sich den Gegnern in der Nebelzone widmeten, mussten sie zu ihrer Verwunderung erkennen, dass sie sie nicht mehr orten konnten. Es war, als wenn sich eine schützende Wand über sie gelegt hätte und verhinderte, dass sie jetzt entdeckt wurden - auch wenn der Feind gewaltige Kräfte besaß.

Unruhe erfasste die spinnenhaften Wesen, als ihnen bewusst wur-de, dass etwas falsch gelaufen war. Etwas, das noch schwere Folgen haben konnte, wenn sie nicht dagegen mit allen Mitteln ankämpften. Sie spürten zwar, dass einige der Gegner den Tod gefunden hatten - aber eben nicht alle!

Sollten es diese Narren doch wagen, sich der Stahlburg zu nähern - hier wartete nur ein schrecklicher und grauenhafter Tod auf sie - auf jeden, der die Skirr daran hindern würde, das zu tun, was getan wer-den musste...

Ende