Upload
others
View
0
Download
0
Embed Size (px)
Citation preview
nächsten Jahrzehnten verschwindet“,warnt der frühere Innenminister Hiroya Masuda, der nun Berater einesThinktanks ist. Er sieht die Hälfte allerGemeinden in Japan bedroht.
In manchen Präfekturen, die vonden großen Verkehrsadern weit entfernt sind und nur wenig Industrieaufweisen, drohen sogar mehr als 80oder gar 90 Prozent der Gemeinden zuverschwinden. Dazu gehört auch Shimane in Westjapan. „Wir erleben hierjetzt, was der Rest des Landes in zehnJahren erleben wird“, sagt Satoru Aokivon der Präfekturverwaltung. „Wirkönnen ohnehin nicht wirklich etwasgegen den Bevölkerungsschwund tun,also versuchen wir uns so gut wie möglich anzupassen.“ Aoki ist zuständigfür die Bergregionen, die 87 Prozentder Präfektur ausmachen, und an derEinrichtung eines neuen Systems vonKnotenpunkten beteiligt. Dort werdenFunktionen und Dienstleistungen zusammengezogen, zum Beispiel dieärztliche Versorgung oder die Pflege alter Menschen. Die Knotenpunktesollen für alle Bewohner in maximal30 Autominuten erreichbar sein.
In der nordjapanischen Präfektur Akita könnten bis 2040 alle Gemeindenverschwinden – bis auf eine: das DorfOgatamura, das Anfang der 60er Jahreauf einem zugeschütteten See gegründet wurde. Da die örtliche Landwirtschaft aus relativ großen Höfen besteht, gibt es einen hohen Bedarf an Verwaltungsarbeiten im Büro, die häufig junge Frauen übernehmen. Sie machen 15,2 Prozent der Dorfbevölkerung aus. 3200 Einwohner leben inOgatamura, Tendenz steigend. Undder Staat tut sein Bestes, um die Geburtenrate zu erhöhen. In Akita gibtes eine Eheanbahnungsstelle, die eineDatenbank für Heiratswillige führt.Sie lädt auch zu gemeinsamen Aktivitäten wie Kochkursen oder Ausflügenein – alles in der Hoffnung, dass sichdas später einmal positiv in der Bevölkerungsstatistik niederschlägt.
In der zentraljapanischen StadtToyama versucht man dagegen, sich anden Status quo anzupassen: die dramatisch steigende Seniorenzahl. WarToyama früher eine Stadt, in der ohneAuto nichts ging, hat sie inzwischenihren öffentlichen Nahverkehr massiv ausgebaut. Randsiedlungen werdenschrittweise abgebaut; die Stadt soll kompakter werden. Toyama richtete zudem das erste nationale Präventionszentrum ein, eine Mischung aus Fitness und Rehabilitationszentrum und Klinik. Toyama soll „die rentnerfreundlichste Stadt Japans“ werden, sagt Bürgermeister Masashi Mori.
Stärker als Deutschland hat Japanein Umverteilungsproblem. Alles istauf Tokio ausgerichtet, wo ein Viertel der Bevölkerung lebt, Tendenz steigend. Während es in Zukunft auf demLand zu viele Betreuungseinrichtungen für Kinder wie alte Leute gebenwird, werden es in Tokio zu wenige sein. Auch das wirkt sich negativ aufdie Bevölkerungsstatistik aus. Denn ineinem Land, das junge Frauen vor dieWahl zwischen Kindern oder Karriere stellt, verzichten viele mangels sozialpolitischer Unterstützung gleich ganz auf Mann und Kinder. Da sind selbst den mächtigen Göttern des IzumoTaisha die Hände gebunden.
Zwei junge Männer in Motorradjacken und Jeans schlendernunter dem großen Torii, dem
traditionellen Tor am Eingang einesShintoSchreins, hindurch. Gerade haben sie am Izumo Taisha, einem derwichtigsten Schreine Japans – für dieBeziehungsanbahnung – zu den Göttern gebetet und Glücksbringer gekauft. Denn Masanori Oka will eineFreundin finden. Eine feste Vorstellung habe er nicht von seiner Zukünftigen, sagt der 26Jährige. Er wünschesich einfach eine Partnerin fürs Leben.Sein Kumpel Takahiro Kawakami ist bereits vergeben. Er betete dafür, dass die Beziehung zu seiner Liebsten hält und später in die Ehe münden wird.
Junge Japaner sind ganz versessendarauf zu heiraten und eine Familie zugründen, könnte man nun denken.Doch die offiziellen Zahlen sprecheneine andere Sprache. Seit Jahren heiraten immer weniger Paare; einer neuen Studie zufolge will ein Viertel allerJapaner nie das Jawort sprechen. DerHauptgrund ist bei den meisten einMangel an Perspektive. Gut bezahlteFestanstellungen werden immer rarer,und von einem Zeitarbeitsjob alleinlässt sich kaum eine Familie ernähren.Allerdings suchen die meisten jungenFrauen, egal wie gut sie selbst ausgebildet sind, weiter nach dem potenziellenAlleinernährer als Ehepartner.
Da in Japan 98 Prozent der Kinderin der Ehe geboren werden, fehlt auch der Nachwuchs. Selbst wenn zuletztdie durchschnittliche Geburtenratepro Frau leicht gestiegen ist, könnte 2015 das Jahr werden, indem in Japan die Zahl der geborenen Babys erstmalsseit dem Zweiten Weltkrieg untereiner Million liegt. Unterdessen steigtder Anteil der über 65Jährigen an derBevölkerung. Weil 2014 mehr Menschen starben als geboren wurden,schrumpfte das Land im vergangenenJahr um 270 000 Menschen, also umdie Größe einer Stadt wie Augsburg.
Japan ist unfreiwilliger Vorreitereines demografischen Trends, derauch andere Industrienationen erfasst: eine Kombination aus Überalterung und weniger Kindern. In Japan wie in Deutschland bringt eine Fraudurchschnittlich 1,4 Kinder zur Welt.Damit Japan seine jetzige Bevölkerung von 127 Millionen Menschen halten kann, müsste diese Zahl aber beizwei liegen. Anders als Deutschlandwill die Inselnation jedoch nicht aufEinwanderer setzen, um den Bevölkerungsschwund abzufedern.
Besonders extrem ist die Situation in der japanischen Provinz. Wer nicht in der Landwirtschaft, der Fischerei oderim Tourismus arbeiten will, dem bleibtkaum etwas anderes übrig, als in dieBallungsräume zu ziehen. „Nur in Tokio gibt es die guten Universitäten undgroßen Firmen“, sagt der 20jährige Politikstudent Narukiyo Sasaki. Erkönne es sich wie viele seiner Altersgenossen nicht vorstellen, einmal aufdem Land zu wohnen.
Durch die Abwanderung der jungenLeute bleiben vielerorts nur Seniorenzurück. Das hat nicht nur Auswirkungen auf das tägliche Leben, sondernauch auf die Überlebensfähigkeit einesOrtes. „Je weniger Frauen im gebärfähigen Alter an einem Ort wohnen, desto größer ist das Risiko, dass er in den
Zur Familiengründung auf die Insel
Die japanischen OkiInseln im Westen Japanssind berühmt für 24stündige SumoTurniere, Curry mit Turbanschnecken und die
schöne Natur. Außerdem finden dort traditionelleStierkämpfe statt, bei denen sich zwei Bullen messen. Nichts davon reizte Mina Yamamoto, als sie vorneun Jahren eine Fähre bestieg, um die drei Stundenvon der Hauptinsel gelegene Inselgruppe zu erreichen. Und sie ist dort geblieben – „unter Tränen eingefangen“, sagt sie und lacht. Ein junger Mann in derlokalen Verwaltung sei dafür verantwortlich. Erwurde der Vater ihrer Kinder und die 243 Quadratkilometer kleine Insel Dogo ihre neue Heimat.
Yamamoto zählt zur wachsenden Gruppe jungerLeute auf den OkiInseln, die der Bevölkerungsstatistik den lang erhofftenTrend nach oben geben. Denn wie vieleländliche Gegenden kennt man dort dasGefühl, wenn nach und nach die Schulen verkleinert, zusammengelegt undschließlich geschlossen werden, wenn immer mehrFirmen ihr Geschäft reduzieren und irgendwannaufgeben müssen, wenn immer mehr junge Leutemangels Zukunftsperspektive wegziehen.
Doch dank einiger privater wie staatlicher Initiativen stehen die OkiInseln, auf denen 15 000 Menschen leben, inzwischen für einen positiven Gegentrend. In den vergangenen zehn Jahren zogen rund
300 Menschen zwischen 20 und 40 auf die Insel. Dieeinen besuchten ursprünglich nur Freunde – kamendann immer wieder und blieben irgendwann ganz. Andere wurden angelockt von überdurchschnittlichgut ausgestatteten Schulen sowie kleinen, aber erfolgreichen Firmen. Wieder andere lockte die schö
ne Natur: Sie arbeiten als Kajaklehreroder Naturführer. Unter ihnen sindauch einige Rückkehrer, die auf derInsel geboren wurden, zur Ausbildungweggingen und später wiederkamen.Das nennt man auf Neujapanisch „U
Turn“, angelehnt an ihre Bewegung in UForm vomLand in die Stadt und wieder zurück.
Yamamoto fällt jedoch in die Kategorie „ITurn“,von der Form des Buchstabens „I“, der für ihre direkte Bewegung von der Millionenstadt Kobe aufs Landsteht. „Turn“ bedeutet „Wende“ und steht nicht nurfür den Ortswechsel, sondern auch für den dadurchbedingten neuen Lebensstil. Die meisten, die per „I
Turn“ nach Oki kommen, wechseln von einem Bürojob in der Stadt zu Tätigkeiten in der Landwirtschaftoder der Fischerei oder arbeiten im Tourismus.
Yamamoto wurde Keksbäckerin in Teilzeit. Eineandere Wahl hatte sie nicht; es gab keinen anderenJob. Einige Frauen aus dem Ort haben 1996 die Keksmanufaktur „Kumi Tokusan“ in einer ehemaligen Grundschule aufgebaut. Dort backt Yamamoto seitneun Jahren Cracker aus Reis und Buchweizenmehl, Krabben und Tintenfisch. Inzwischen ist sie froh über ihre Arbeit und stolz auf den Erfolg ihrerProdukte. Gingen sie und ihre Kolleginnen anfangsvon Haus zu Haus, werden ihre Kekse nun sogar als Souvenir an lokalen Flughäfen und sogar in Tokioverkauft. Yamamoto mag ihre Arbeit und schätzt diezeitliche Flexibilität sowie das Verständnis ihrerKolleginnen: „Wenn eines meiner Kinder krankwird, kann ich auch recht kurzfristig absagen.“
Die junge Frau hat sich an das ruhige Leben aufder Insel gewöhnt. An einem Wintertag kann man schon mal kilometerweit fahren, ohne einem anderen Auto zu begegnen oder irgendeine Menschenseele draußen zu sehen. Allzu viel Einsamkeit istaber auch nicht gut: Yamamoto wünschte sich, dass es ein paar mehr Möglichkeiten gäbe, die anderenjungen Bewohner der Insel etwas besser kennenlernen. Zwar organisiere die Gemeinde solche Treffen, aber nur einmal im Jahr. Das ist steigerungsfähig.
Trendwende Weitab vom Festland hates eine ländliche Gegend geschafft,
dass sich dort wieder mehr junge Leute ansiedeln. Von Sonja Blaschke
Nur in Tokio gibt es guteUniversitäten und große Firmen
Vor allem auf dem Land ist die Geburtenrate viel zu niedrig
In Japan sterben ganze Dörfer aus
Demografie Überalterung, Entvölkerung, weniger Kinder – Nippon ist davon so stark betroffen wie kaum eine andere Industrienation. Die drittgrößte Volkswirtschaft wird als unfreiwilliger Vorreiter eines Trends gesehen, der auch
Deutschland erfassen wird. Von Sonja Blaschke
Tagesthema
Langes Leben: die Zahl der Hundertjährigen in Japan hat mit fast 59 000 einenneuen Rekord erreicht. Doch an Nachwuchs mangelt es in dem Land. Fotos: AFP
Mangel Seit Jahren warnen Demografen, dass Japan ein massiver Arbeitskräftemangel bevorsteht. Vor allem in der Baubranche und in Pflegeberufen fehlt schon jetzt Personal im sechsstelligen Bereich. Aber nur zwölf Prozent der Bevölkerung sind laut einer aktuellen Regierungsumfrage der Meinung, dass
mehr ausländische Arbeitnehmer nach Japan kommen sollten.
Auswahl „Wie lange bleiben Sie in Japan?“, werden Ausländer häufig gefragt, so, als würde man automatisch davon ausgehen, dass sie eines Tages das Land wieder verlassen. Das spiegelt auch die
Einstellung der Regierung von Premierminister Shinzo Abe wider. Der Grundtenor lautet: Ausländer,vor allem gut ausgebildete, können gerne nach Japan kommen, um dort zuarbeiten – aber bitte nicht, um dort zu bleiben. Nichtjapaner machen aktuelllediglich 1,6 Prozent der Bevölkerung aus. bla
RIGOROSE ZUWANDERUNGSPOLITIK
Punk aus Oklahoma
Tanz den Wilden WestenRed City Radio rollen wie eine Naturgewalt durch den Stuttgarter Kellerclub .www.stuttgarterzeitung.de
Heute in der Zeitung
Aus aller Welt
Neustart nach der KriseDie von sexuellem Missbrauch erschütterte Odenwaldschule will sich mit eineranderen Struktur reformieren. SEITE 6
Streng geheime HandlungIn dieser Woche beginnt die Ausstrahlung der dritten Staffel der gefeierten USSerie „House of Cards“. SEITE 12
Politik
Keine Panzer für LitauenDas baltische Land fühlt sich von Russland bedroht. Doch der Wunsch nach deutschen Waffen bleibt unerfüllt. SEITE 5
Wirtschaft
Der Sozialplan bei Karstadt steht Der angeschlagene Warenhauskonzern wird deutlich weniger Kündigungen aussprechen als zunächst geplant. SEITE 8
Gabriel schlägt CetaLösung vor Der Investitionsschutz im Freihandelsabkommen war umstritten. Der Wirtschaftsminister zeigt einen Weg. SEITE 8
Naturschützer üben Kritik an GesetzDie geplante Beschleunigung von Verfahren, etwa beim Straßenbau, beschneidet Rechte zur Beteiligung. SEITE 20
Kultur
Wer ist wer in den Wagenhallen? Die Stuttgarter Wagenhallen bieten Künstlern offenbarein gutes Arbeitsklima. Wir stellen einige davon vor. SEITE 10
Gelungener AuftaktMit herausragenden sängerischen Leistungen in der Oper „Teseo“ beginnen in Karlsruhe die HändelFestspiele. SEITE 11
Sport
Ludwigsburg schlägt AlbaDer BasketballBundesligist zeigt gegenBerlin eine starke Leistung und gewinntüberraschend mit 67:55. SEITE 26
Kommentare
Börsenwoche Die Aktienkurse steigen. Trotz unsicherer Zeiten findet Klaus Dieter Oehler Gründe dafür. SEITE 7
Rubriken
Gewonnen? ___________ 6Impressum ____________ 8Fernsehprogramm ______ 12
Familienanzeigen ______ 13Notfallnummern ____ 18, 19Was Wann Wo ________ 28
Glosse Mathe statt Schwimmstunden: die Idee ist nichtso schlecht wie sie klingt, meint Christine Bilger. SEITE 15
stuttgarterzeitung.deKrisengipfel
Skifahren im LibanonDie Bewohner Beiruts haben den Krieg satt und gehen auf die Piste. Und feiern am Abend am Mittelmeer.www.stuttgarterzeitung.de
Entdecken
Abenteuer KometenlandungEin Vortrag im Stuttgarter Planetarium ließ die Landung auf Tschuri wieder aufleben – und blickte in die Zukunft. SEITE 14
Stuttgart & BadenWürttemberg
Die neue Tribüne im TestWie ist das Fußballerlebnis im umgebauten GaziStadion auf der Waldau? StZRedakteure machen den Test. SEITE 15
Telefon
Zentrale und Redaktion___________0711/72 050
Anzeigen_______________________07 11/72 0521
Leserservice__________________0711/72 0561 61
ProbeAbonnement____________080 00 14 14 14
Online
www.stuttgarterzeitung.de
www.stuttgarterzeitung.de/digital
www.stuttgarterzeitung.de/anzeigenbuchen
FaxRedaktion_________07 11/72 0512 34Anzeigen________018 03/08 08 08*Leserservice_______07 11/72 0561 62*0 18 03: 0,09 Euro/Min.,
Preise aus dem dt. Festnetz,
Mobilfunkhöchstpreis 0,42 Euro/Min.
EMailRedaktion: [email protected]: [email protected]: [email protected]
Redaktion StuttgarterZeitung, Postfach 10 60 32, 70049 Stuttgart
Leserservice StuttgarterZeitungVerlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 43 54, 70038Stuttgart
Anzeigen StuttgarterZeitungWerbevermarktungGmbH, Postfach 10 44 26, 70039 Stuttgart
Chiffre StuttgarterZeitungWerbevermarktungGmbH,Postfach 10 44 27, 70039 Stuttgart
Ihr Kontakt zur Stuttgarter Zeitung
Storl ist wieder der Chef im RingNach der Verletzungspause meldet sich der Weltmeisterim Kugelstoßen in Karlsruhe stark zurück. SEITE 26
Manche lockendie guten Schulen, andere die Natur.
2 Nr. 44 | Montag, 23. Februar 2015STUTTGARTER ZEITUNGTAGESTHEMA