1
nächsten Jahrzehnten verschwindet“, warnt der frühere Innenminister Hi- roya Masuda, der nun Berater eines Thinktanks ist. Er sieht die Hälfte aller Gemeinden in Japan bedroht. In manchen Präfekturen, die von den großen Verkehrsadern weit ent- fernt sind und nur wenig Industrie aufweisen, drohen sogar mehr als 80 oder gar 90 Prozent der Gemeinden zu verschwinden. Dazu gehört auch Shi- mane in Westjapan. „Wir erleben hier jetzt, was der Rest des Landes in zehn Jahren erleben wird“, sagt Satoru Aoki von der Präfekturverwaltung. „Wir können ohnehin nicht wirklich etwas gegen den Bevölkerungsschwund tun, also versuchen wir uns so gut wie mög- lich anzupassen.“ Aoki ist zuständig für die Bergregionen, die 87 Prozent der Präfektur ausmachen, und an der Einrichtung eines neuen Systems von Knotenpunkten beteiligt. Dort werden Funktionen und Dienstleistungen zu- sammengezogen, zum Beispiel die ärztliche Versorgung oder die Pflege alter Menschen. Die Knotenpunkte sollen für alle Bewohner in maximal 30 Autominuten erreichbar sein. In der nordjapanischen Präfektur Aki- ta könnten bis 2040 alle Gemeinden verschwinden – bis auf eine: das Dorf Ogatamura, das Anfang der 60er Jahre auf einem zugeschütteten See gegrün- det wurde. Da die örtliche Landwirt- schaft aus relativ großen Höfen be- steht, gibt es einen hohen Bedarf an Verwaltungsarbeiten im Büro, die häu- fig junge Frauen übernehmen. Sie ma- chen 15,2 Prozent der Dorfbevölke- rung aus. 3200 Einwohner leben in Ogatamura, Tendenz steigend. Und der Staat tut sein Bestes, um die Ge- burtenrate zu erhöhen. In Akita gibt es eine Eheanbahnungsstelle, die eine Datenbank für Heiratswillige führt. Sie lädt auch zu gemeinsamen Aktivi- täten wie Kochkursen oder Ausflügen ein – alles in der Hoffnung, dass sich das später einmal positiv in der Bevöl- kerungsstatistik niederschlägt. In der zentraljapanischen Stadt Toyama versucht man dagegen, sich an den Status quo anzupassen: die drama- tisch steigende Seniorenzahl. War Toyama früher eine Stadt, in der ohne Auto nichts ging, hat sie inzwischen ihren öffentlichen Nahverkehr massiv ausgebaut. Randsiedlungen werden schrittweise abgebaut; die Stadt soll kompakter werden. Toyama richtete zudem das erste nationale Präven- tionszentrum ein, eine Mischung aus Fitness- und Rehabilitationszentrum und Klinik. Toyama soll „die rentner- freundlichste Stadt Japans“ werden, sagt Bürgermeister Masashi Mori. Stärker als Deutschland hat Japan ein Umverteilungsproblem. Alles ist auf Tokio ausgerichtet, wo ein Viertel der Bevölkerung lebt, Tendenz stei- gend. Während es in Zukunft auf dem Land zu viele Betreuungseinrichtun- gen für Kinder wie alte Leute geben wird, werden es in Tokio zu wenige sein. Auch das wirkt sich negativ auf die Bevölkerungsstatistik aus. Denn in einem Land, das junge Frauen vor die Wahl zwischen Kindern oder Karriere stellt, verzichten viele mangels sozial- politischer Unterstützung gleich ganz auf Mann und Kinder. Da sind selbst den mächtigen Göttern des Izumo Taisha die Hände gebunden. Z wei junge Männer in Motorrad- jacken und Jeans schlendern unter dem großen Torii, dem traditionellen Tor am Eingang eines Shinto-Schreins, hindurch. Gerade ha- ben sie am Izumo Taisha, einem der wichtigsten Schreine Japans – für die Beziehungsanbahnung – zu den Göt- tern gebetet und Glücksbringer ge- kauft. Denn Masanori Oka will eine Freundin finden. Eine feste Vorstel- lung habe er nicht von seiner Zukünf- tigen, sagt der 26-Jährige. Er wünsche sich einfach eine Partnerin fürs Leben. Sein Kumpel Takahiro Kawakami ist bereits vergeben. Er betete dafür, dass die Beziehung zu seiner Liebsten hält und später in die Ehe münden wird. Junge Japaner sind ganz versessen darauf zu heiraten und eine Familie zu gründen, könnte man nun denken. Doch die offiziellen Zahlen sprechen eine andere Sprache. Seit Jahren hei- raten immer weniger Paare; einer neu- en Studie zufolge will ein Viertel aller Japaner nie das Jawort sprechen. Der Hauptgrund ist bei den meisten ein Mangel an Perspektive. Gut bezahlte Festanstellungen werden immer rarer, und von einem Zeitarbeitsjob allein lässt sich kaum eine Familie ernähren. Allerdings suchen die meisten jungen Frauen, egal wie gut sie selbst ausgebil- det sind, weiter nach dem potenziellen Alleinernährer als Ehepartner. Da in Japan 98 Prozent der Kinder in der Ehe geboren werden, fehlt auch der Nachwuchs. Selbst wenn zuletzt die durchschnittliche Geburtenrate pro Frau leicht gestiegen ist, könnte 2015 das Jahr werden, indem in Japan die Zahl der geborenen Babys erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg unter einer Million liegt. Unterdessen steigt der Anteil der über 65-Jährigen an der Bevölkerung. Weil 2014 mehr Men- schen starben als geboren wurden, schrumpfte das Land im vergangenen Jahr um 270 000 Menschen, also um die Größe einer Stadt wie Augsburg. Japan ist unfreiwilliger Vorreiter eines demografischen Trends, der auch andere Industrienationen er- fasst: eine Kombination aus Überalte- rung und weniger Kindern. In Japan wie in Deutschland bringt eine Frau durchschnittlich 1,4 Kinder zur Welt. Damit Japan seine jetzige Bevölke- rung von 127 Millionen Menschen hal- ten kann, müsste diese Zahl aber bei zwei liegen. Anders als Deutschland will die Inselnation jedoch nicht auf Einwanderer setzen, um den Bevölke- rungsschwund abzufedern. Besonders extrem ist die Situation in der japanischen Provinz. Wer nicht in der Landwirtschaft, der Fischerei oder im Tourismus arbeiten will, dem bleibt kaum etwas anderes übrig, als in die Ballungsräume zu ziehen. „Nur in To- kio gibt es die guten Universitäten und großen Firmen“, sagt der 20-jährige Politikstudent Narukiyo Sasaki. Er könne es sich wie viele seiner Alters- genossen nicht vorstellen, einmal auf dem Land zu wohnen. Durch die Abwanderung der jungen Leute bleiben vielerorts nur Senioren zurück. Das hat nicht nur Auswirkun- gen auf das tägliche Leben, sondern auch auf die Überlebensfähigkeit eines Ortes. „Je weniger Frauen im gebärfä- higen Alter an einem Ort wohnen, des- to größer ist das Risiko, dass er in den Zur Familiengründung auf die Insel D ie japanischen Oki-Inseln im Westen Japans sind berühmt für 24-stündige Sumo-Turnie- re, Curry mit Turbanschnecken und die schöne Natur. Außerdem finden dort traditionelle Stierkämpfe statt, bei denen sich zwei Bullen mes- sen. Nichts davon reizte Mina Yamamoto, als sie vor neun Jahren eine Fähre bestieg, um die drei Stunden von der Hauptinsel gelegene Inselgruppe zu errei- chen. Und sie ist dort geblieben – „unter Tränen ein- gefangen“, sagt sie und lacht. Ein junger Mann in der lokalen Verwaltung sei dafür verantwortlich. Er wurde der Vater ihrer Kinder und die 243 Quadratki- lometer kleine Insel Dogo ihre neue Heimat. Yamamoto zählt zur wachsenden Gruppe junger Leute auf den Oki-Inseln, die der Bevöl- kerungsstatistik den lang erhofften Trend nach oben geben. Denn wie viele ländliche Gegenden kennt man dort das Gefühl, wenn nach und nach die Schu- len verkleinert, zusammengelegt und schließlich geschlossen werden, wenn immer mehr Firmen ihr Geschäft reduzieren und irgendwann aufgeben müssen, wenn immer mehr junge Leute mangels Zukunftsperspektive wegziehen. Doch dank einiger privater wie staatlicher Initia- tiven stehen die Oki-Inseln, auf denen 15 000 Men- schen leben, inzwischen für einen positiven Gegen- trend. In den vergangenen zehn Jahren zogen rund 300 Menschen zwischen 20 und 40 auf die Insel. Die einen besuchten ursprünglich nur Freunde – kamen dann immer wieder und blieben irgendwann ganz. Andere wurden angelockt von überdurchschnittlich gut ausgestatteten Schulen sowie kleinen, aber er- folgreichen Firmen. Wieder andere lockte die schö- ne Natur: Sie arbeiten als Kajaklehrer oder Naturführer. Unter ihnen sind auch einige Rückkehrer, die auf der Insel geboren wurden, zur Ausbildung weggingen und später wiederkamen. Das nennt man auf Neujapanisch „U- Turn“, angelehnt an ihre Bewegung in U-Form vom Land in die Stadt und wieder zurück. Yamamoto fällt jedoch in die Kategorie „I-Turn“, von der Form des Buchstabens „I“, der für ihre direk- te Bewegung von der Millionenstadt Kobe aufs Land steht. „Turn“ bedeutet „Wende“ und steht nicht nur für den Ortswechsel, sondern auch für den dadurch bedingten neuen Lebensstil. Die meisten, die per „I- Turn“ nach Oki kommen, wechseln von einem Büro- job in der Stadt zu Tätigkeiten in der Landwirtschaft oder der Fischerei oder arbeiten im Tourismus. Yamamoto wurde Keksbäckerin in Teilzeit. Eine andere Wahl hatte sie nicht; es gab keinen anderen Job. Einige Frauen aus dem Ort haben 1996 die Keks- manufaktur „Kumi Tokusan“ in einer ehemaligen Grundschule aufgebaut. Dort backt Yamamoto seit neun Jahren Cracker aus Reis- und Buchweizen- mehl, Krabben und Tintenfisch. Inzwischen ist sie froh über ihre Arbeit und stolz auf den Erfolg ihrer Produkte. Gingen sie und ihre Kolleginnen anfangs von Haus zu Haus, werden ihre Kekse nun sogar als Souvenir an lokalen Flughäfen und sogar in Tokio verkauft. Yamamoto mag ihre Arbeit und schätzt die zeitliche Flexibilität sowie das Verständnis ihrer Kolleginnen: „Wenn eines meiner Kinder krank wird, kann ich auch recht kurzfristig absagen.“ Die junge Frau hat sich an das ruhige Leben auf der Insel gewöhnt. An einem Wintertag kann man schon mal kilometerweit fahren, ohne einem ande- ren Auto zu begegnen oder irgendeine Menschen- seele draußen zu sehen. Allzu viel Einsamkeit ist aber auch nicht gut: Yamamoto wünschte sich, dass es ein paar mehr Möglichkeiten gäbe, die anderen jungen Bewohner der Insel etwas besser kennenler- nen. Zwar organisiere die Gemeinde solche Treffen, aber nur einmal im Jahr. Das ist steigerungsfähig. Trendwende Weitab vom Festland hat es eine ländliche Gegend geschafft, dass sich dort wieder mehr junge Leute ansiedeln. Von Sonja Blaschke Nur in Tokio gibt es gute Universitäten und große Firmen Vor allem auf dem Land ist die Geburtenrate viel zu niedrig In Japan sterben ganze Dörfer aus Demografie Überalterung, Entvölkerung, weniger Kinder – Nippon ist davon so stark betroffen wie kaum eine andere Industrienation. Die drittgrößte Volkswirtschaft wird als unfreiwilliger Vorreiter eines Trends gesehen, der auch Deutschland erfassen wird. Von Sonja Blaschke Tagesthema Langes Leben: die Zahl der Hundertjährigen in Japan hat mit fast 59 000 einen neuen Rekord erreicht. Doch an Nachwuchs mangelt es in dem Land. Fotos: AFP Mangel Seit Jahren war- nen Demografen, dass Ja- pan ein massiver Arbeits- kräftemangel bevorsteht. Vor allem in der Baubran- che und in Pflegeberufen fehlt schon jetzt Personal im sechsstelligen Bereich. Aber nur zwölf Prozent der Bevölkerung sind laut einer aktuellen Regierungsum- frage der Meinung, dass mehr ausländische Arbeit- nehmer nach Japan kom- men sollten. Auswahl „Wie lange blei- ben Sie in Japan?“, werden Ausländer häufig gefragt, so, als würde man automa- tisch davon ausgehen, dass sie eines Tages das Land wieder verlassen. Das spiegelt auch die Einstellung der Regierung von Premierminister Shin- zo Abe wider. Der Grund- tenor lautet: Ausländer, vor allem gut ausgebildete, können gerne nach Japan kommen, um dort zu arbeiten – aber bitte nicht, um dort zu bleiben. Nicht- japaner machen aktuell lediglich 1,6 Prozent der Bevölkerung aus. bla RIGOROSE ZUWANDERUNGSPOLITIK Punk aus Oklahoma Tanz den Wilden Westen Red City Radio rollen wie eine Natur- gewalt durch den Stuttgarter Kellerclub . www.stuttgarter-zeitung.de Heute in der Zeitung Aus aller Welt Neustart nach der Krise Die von sexuellem Missbrauch erschüt- terte Odenwaldschule will sich mit einer anderen Struktur reformieren. SEITE 6 Streng geheime Handlung In dieser Woche beginnt die Ausstrahlung der dritten Staffel der gefeierten US-Serie „House of Cards“. SEITE 12 Politik Keine Panzer für Litauen Das baltische Land fühlt sich von Russland bedroht. Doch der Wunsch nach deutschen Waffen bleibt unerfüllt. SEITE 5 Wirtschaft Der Sozialplan bei Karstadt steht Der angeschlagene Warenhauskonzern wird deutlich weniger Kündigungen aussprechen als zunächst geplant. SEITE 8 Gabriel schlägt Ceta-Lösung vor Der Investitionsschutz im Freihandelsabkommen war umstritten. Der Wirtschaftsminister zeigt einen Weg. SEITE 8 Naturschützer üben Kritik an Gesetz Die geplante Beschleunigung von Verfahren, etwa beim Straßenbau, beschneidet Rechte zur Beteiligung. SEITE 20 Kultur Wer ist wer in den Wagenhallen? Die Stuttgarter Wagenhallen bieten Künstlern offenbar ein gutes Arbeitsklima. Wir stellen einige davon vor. SEITE 10 Gelungener Auftakt Mit herausragenden sängerischen Leistungen in der Oper „Teseo“ beginnen in Karlsruhe die Händel-Festspiele. SEITE 11 Sport Ludwigsburg schlägt Alba Der Basketball-Bundesligist zeigt gegen Berlin eine starke Leistung und gewinnt überraschend mit 67:55. SEITE 26 Kommentare Börsenwoche Die Aktienkurse steigen. Trotz unsicherer Zeiten findet Klaus Dieter Oehler Gründe dafür. SEITE 7 Rubriken Gewonnen? ___________ 6 Impressum ____________ 8 Fernsehprogramm ______ 12 Familienanzeigen ______ 13 Notfallnummern ____ 18, 19 Was Wann Wo ________ 28 Glosse Mathe- statt Schwimmstunden: die Idee ist nicht so schlecht wie sie klingt, meint Christine Bilger. SEITE 15 stuttgarter-zeitung.de Krisengipfel Skifahren im Libanon Die Bewohner Beiruts haben den Krieg satt und gehen auf die Piste. Und feiern am Abend am Mittelmeer. www.stuttgarter-zeitung.de Entdecken Abenteuer Kometenlandung Ein Vortrag im Stuttgarter Planetarium ließ die Landung auf Tschuri wieder aufleben – und blickte in die Zukunft. SEITE 14 Stuttgart & Baden-Württemberg Die neue Tribüne im Test Wie ist das Fußballerlebnis im umgebauten Gazi-Stadion auf der Waldau? StZ-Redakteure machen den Test. SEITE 15 Telefon Zentrale und Redaktion___________0711/72 05-0 Anzeigen_______________________07 11/72 05-21 Leserservice__________________0711/72 05-61 61 Probe-Abonnement____________080 00 14 14 14 Online www.stuttgarter-zeitung.de www.stuttgarter-zeitung.de/digital www.stuttgarter-zeitung.de/anzeigenbuchen Fax Redaktion_________07 11/72 05-12 34 Anzeigen________018 03/08 08 08* Leserservice_______07 11/72 05-61 62 *0 18 03: 0,09 Euro/Min., Preise aus dem dt. Festnetz, Mobilfunkhöchstpreis 0,42 Euro/Min. E-Mail Redaktion: [email protected] Anzeigen: [email protected] Leserservice: [email protected] Redaktion StuttgarterZeitung, Postfach 10 60 32, 70049 Stuttgart Leserservice StuttgarterZeitungVerlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 43 54, 70038Stuttgart Anzeigen StuttgarterZeitungWerbevermarktungGmbH, Postfach 10 44 26, 70039 Stuttgart Chiffre StuttgarterZeitungWerbevermarktungGmbH,Postfach 10 44 27, 70039 Stuttgart Ihr Kontakt zur Stuttgarter Zeitung Storl ist wieder der Chef im Ring Nach der Verletzungspause meldet sich der Weltmeister im Kugelstoßen in Karlsruhe stark zurück. SEITE 26 Manche locken die guten Schulen, andere die Natur. 2 Nr. 44 | Montag, 23. Februar 2015 STUTTGARTER ZEITUNG TAGESTHEMA

In Japan sterben ganze Dr fer aus - sonjablaschke.desonjablaschke.de/wp-content/uploads/2015/03/2015_02_23_In-Japan-sterben... · ansiedeln. Von Sonja Blaschke Nur in Tokio gibt es

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: In Japan sterben ganze Dr fer aus - sonjablaschke.desonjablaschke.de/wp-content/uploads/2015/03/2015_02_23_In-Japan-sterben... · ansiedeln. Von Sonja Blaschke Nur in Tokio gibt es

nächsten Jahrzehnten verschwindet“,warnt der frühere Innenminister Hi­roya Masuda, der nun Berater einesThinktanks ist. Er sieht die Hälfte allerGemeinden in Japan bedroht.

In manchen Präfekturen, die vonden großen Verkehrsadern weit ent­fernt sind und nur wenig Industrieaufweisen, drohen sogar mehr als 80oder gar 90 Prozent der Gemeinden zuverschwinden. Dazu gehört auch Shi­mane in Westjapan. „Wir erleben hierjetzt, was der Rest des Landes in zehnJahren erleben wird“, sagt Satoru Aokivon der Präfekturverwaltung. „Wirkönnen ohnehin nicht wirklich etwasgegen den Bevölkerungsschwund tun,also versuchen wir uns so gut wie mög­lich anzupassen.“ Aoki ist zuständigfür die Bergregionen, die 87 Prozentder Präfektur ausmachen, und an derEinrichtung eines neuen Systems vonKnotenpunkten beteiligt. Dort werdenFunktionen und Dienstleistungen zu­sammengezogen, zum Beispiel dieärztliche Versorgung oder die Pflege alter Menschen. Die Knotenpunktesollen für alle Bewohner in maximal30 Autominuten erreichbar sein.

In der nordjapanischen Präfektur Aki­ta könnten bis 2040 alle Gemeindenverschwinden – bis auf eine: das DorfOgatamura, das Anfang der 60er Jahreauf einem zugeschütteten See gegrün­det wurde. Da die örtliche Landwirt­schaft aus relativ großen Höfen be­steht, gibt es einen hohen Bedarf an Verwaltungsarbeiten im Büro, die häu­fig junge Frauen übernehmen. Sie ma­chen 15,2 Prozent der Dorfbevölke­rung aus. 3200 Einwohner leben inOgatamura, Tendenz steigend. Undder Staat tut sein Bestes, um die Ge­burtenrate zu erhöhen. In Akita gibtes eine Eheanbahnungsstelle, die eineDatenbank für Heiratswillige führt.Sie lädt auch zu gemeinsamen Aktivi­täten wie Kochkursen oder Ausflügenein – alles in der Hoffnung, dass sichdas später einmal positiv in der Bevöl­kerungsstatistik niederschlägt.

In der zentraljapanischen StadtToyama versucht man dagegen, sich anden Status quo anzupassen: die drama­tisch steigende Seniorenzahl. WarToyama früher eine Stadt, in der ohneAuto nichts ging, hat sie inzwischenihren öffentlichen Nahverkehr massiv ausgebaut. Randsiedlungen werdenschrittweise abgebaut; die Stadt soll kompakter werden. Toyama richtete zudem das erste nationale Präven­tionszentrum ein, eine Mischung aus Fitness­ und Rehabilitationszentrum und Klinik. Toyama soll „die rentner­freundlichste Stadt Japans“ werden, sagt Bürgermeister Masashi Mori.

Stärker als Deutschland hat Japanein Umverteilungsproblem. Alles istauf Tokio ausgerichtet, wo ein Viertel der Bevölkerung lebt, Tendenz stei­gend. Während es in Zukunft auf demLand zu viele Betreuungseinrichtun­gen für Kinder wie alte Leute gebenwird, werden es in Tokio zu wenige sein. Auch das wirkt sich negativ aufdie Bevölkerungsstatistik aus. Denn ineinem Land, das junge Frauen vor dieWahl zwischen Kindern oder Karriere stellt, verzichten viele mangels sozial­politischer Unterstützung gleich ganz auf Mann und Kinder. Da sind selbst den mächtigen Göttern des IzumoTaisha die Hände gebunden.

Zwei junge Männer in Motorrad­jacken und Jeans schlendernunter dem großen Torii, dem

traditionellen Tor am Eingang einesShinto­Schreins, hindurch. Gerade ha­ben sie am Izumo Taisha, einem derwichtigsten Schreine Japans – für dieBeziehungsanbahnung – zu den Göt­tern gebetet und Glücksbringer ge­kauft. Denn Masanori Oka will eineFreundin finden. Eine feste Vorstel­lung habe er nicht von seiner Zukünf­tigen, sagt der 26­Jährige. Er wünschesich einfach eine Partnerin fürs Leben.Sein Kumpel Takahiro Kawakami ist bereits vergeben. Er betete dafür, dass die Beziehung zu seiner Liebsten hält und später in die Ehe münden wird.

Junge Japaner sind ganz versessendarauf zu heiraten und eine Familie zugründen, könnte man nun denken.Doch die offiziellen Zahlen sprecheneine andere Sprache. Seit Jahren hei­raten immer weniger Paare; einer neu­en Studie zufolge will ein Viertel allerJapaner nie das Jawort sprechen. DerHauptgrund ist bei den meisten einMangel an Perspektive. Gut bezahlteFestanstellungen werden immer rarer,und von einem Zeitarbeitsjob alleinlässt sich kaum eine Familie ernähren.Allerdings suchen die meisten jungenFrauen, egal wie gut sie selbst ausgebil­det sind, weiter nach dem potenziellenAlleinernährer als Ehepartner.

Da in Japan 98 Prozent der Kinderin der Ehe geboren werden, fehlt auch der Nachwuchs. Selbst wenn zuletztdie durchschnittliche Geburtenratepro Frau leicht gestiegen ist, könnte 2015 das Jahr werden, indem in Japan die Zahl der geborenen Babys erstmalsseit dem Zweiten Weltkrieg untereiner Million liegt. Unterdessen steigtder Anteil der über 65­Jährigen an derBevölkerung. Weil 2014 mehr Men­schen starben als geboren wurden,schrumpfte das Land im vergangenenJahr um 270 000 Menschen, also umdie Größe einer Stadt wie Augsburg.

Japan ist unfreiwilliger Vorreitereines demografischen Trends, derauch andere Industrienationen er­fasst: eine Kombination aus Überalte­rung und weniger Kindern. In Japan wie in Deutschland bringt eine Fraudurchschnittlich 1,4 Kinder zur Welt.Damit Japan seine jetzige Bevölke­rung von 127 Millionen Menschen hal­ten kann, müsste diese Zahl aber beizwei liegen. Anders als Deutschlandwill die Inselnation jedoch nicht aufEinwanderer setzen, um den Bevölke­rungsschwund abzufedern.

Besonders extrem ist die Situation in der japanischen Provinz. Wer nicht in der Landwirtschaft, der Fischerei oderim Tourismus arbeiten will, dem bleibtkaum etwas anderes übrig, als in dieBallungsräume zu ziehen. „Nur in To­kio gibt es die guten Universitäten undgroßen Firmen“, sagt der 20­jährige Politikstudent Narukiyo Sasaki. Erkönne es sich wie viele seiner Alters­genossen nicht vorstellen, einmal aufdem Land zu wohnen.

Durch die Abwanderung der jungenLeute bleiben vielerorts nur Seniorenzurück. Das hat nicht nur Auswirkun­gen auf das tägliche Leben, sondernauch auf die Überlebensfähigkeit einesOrtes. „Je weniger Frauen im gebärfä­higen Alter an einem Ort wohnen, des­to größer ist das Risiko, dass er in den

Zur Familiengründung auf die Insel

Die japanischen Oki­Inseln im Westen Japanssind berühmt für 24­stündige Sumo­Turnie­re, Curry mit Turbanschnecken und die

schöne Natur. Außerdem finden dort traditionelleStierkämpfe statt, bei denen sich zwei Bullen mes­sen. Nichts davon reizte Mina Yamamoto, als sie vorneun Jahren eine Fähre bestieg, um die drei Stundenvon der Hauptinsel gelegene Inselgruppe zu errei­chen. Und sie ist dort geblieben – „unter Tränen ein­gefangen“, sagt sie und lacht. Ein junger Mann in derlokalen Verwaltung sei dafür verantwortlich. Erwurde der Vater ihrer Kinder und die 243 Quadratki­lometer kleine Insel Dogo ihre neue Heimat.

Yamamoto zählt zur wachsenden Gruppe jungerLeute auf den Oki­Inseln, die der Bevöl­kerungsstatistik den lang erhofftenTrend nach oben geben. Denn wie vieleländliche Gegenden kennt man dort dasGefühl, wenn nach und nach die Schu­len verkleinert, zusammengelegt undschließlich geschlossen werden, wenn immer mehrFirmen ihr Geschäft reduzieren und irgendwannaufgeben müssen, wenn immer mehr junge Leutemangels Zukunftsperspektive wegziehen.

Doch dank einiger privater wie staatlicher Initia­tiven stehen die Oki­Inseln, auf denen 15 000 Men­schen leben, inzwischen für einen positiven Gegen­trend. In den vergangenen zehn Jahren zogen rund

300 Menschen zwischen 20 und 40 auf die Insel. Dieeinen besuchten ursprünglich nur Freunde – kamendann immer wieder und blieben irgendwann ganz. Andere wurden angelockt von überdurchschnittlichgut ausgestatteten Schulen sowie kleinen, aber er­folgreichen Firmen. Wieder andere lockte die schö­

ne Natur: Sie arbeiten als Kajaklehreroder Naturführer. Unter ihnen sindauch einige Rückkehrer, die auf derInsel geboren wurden, zur Ausbildungweggingen und später wiederkamen.Das nennt man auf Neujapanisch „U­

Turn“, angelehnt an ihre Bewegung in U­Form vomLand in die Stadt und wieder zurück.

Yamamoto fällt jedoch in die Kategorie „I­Turn“,von der Form des Buchstabens „I“, der für ihre direk­te Bewegung von der Millionenstadt Kobe aufs Landsteht. „Turn“ bedeutet „Wende“ und steht nicht nurfür den Ortswechsel, sondern auch für den dadurchbedingten neuen Lebensstil. Die meisten, die per „I­

Turn“ nach Oki kommen, wechseln von einem Büro­job in der Stadt zu Tätigkeiten in der Landwirtschaftoder der Fischerei oder arbeiten im Tourismus.

Yamamoto wurde Keksbäckerin in Teilzeit. Eineandere Wahl hatte sie nicht; es gab keinen anderenJob. Einige Frauen aus dem Ort haben 1996 die Keks­manufaktur „Kumi Tokusan“ in einer ehemaligen Grundschule aufgebaut. Dort backt Yamamoto seitneun Jahren Cracker aus Reis­ und Buchweizen­mehl, Krabben und Tintenfisch. Inzwischen ist sie froh über ihre Arbeit und stolz auf den Erfolg ihrerProdukte. Gingen sie und ihre Kolleginnen anfangsvon Haus zu Haus, werden ihre Kekse nun sogar als Souvenir an lokalen Flughäfen und sogar in Tokioverkauft. Yamamoto mag ihre Arbeit und schätzt diezeitliche Flexibilität sowie das Verständnis ihrerKolleginnen: „Wenn eines meiner Kinder krankwird, kann ich auch recht kurzfristig absagen.“

Die junge Frau hat sich an das ruhige Leben aufder Insel gewöhnt. An einem Wintertag kann man schon mal kilometerweit fahren, ohne einem ande­ren Auto zu begegnen oder irgendeine Menschen­seele draußen zu sehen. Allzu viel Einsamkeit istaber auch nicht gut: Yamamoto wünschte sich, dass es ein paar mehr Möglichkeiten gäbe, die anderenjungen Bewohner der Insel etwas besser kennenler­nen. Zwar organisiere die Gemeinde solche Treffen, aber nur einmal im Jahr. Das ist steigerungsfähig.

Trendwende Weitab vom Festland hates eine ländliche Gegend geschafft,

dass sich dort wieder mehr junge Leute ansiedeln. Von Sonja Blaschke

Nur in Tokio gibt es guteUniversitäten und große Firmen

Vor allem auf dem Land ist die Geburtenrate viel zu niedrig

In Japan sterben ganze Dörfer aus

Demografie Überalterung, Entvölkerung, weniger Kinder – Nippon ist davon so stark betroffen wie kaum eine andere Industrienation. Die drittgrößte Volkswirtschaft wird als unfreiwilliger Vorreiter eines Trends gesehen, der auch

Deutschland erfassen wird. Von Sonja Blaschke

Tagesthema

Langes Leben: die Zahl der Hundertjährigen in Japan hat mit fast 59 000 einenneuen Rekord erreicht. Doch an Nachwuchs mangelt es in dem Land. Fotos: AFP

Mangel Seit Jahren war­nen Demografen, dass Ja­pan ein massiver Arbeits­kräftemangel bevorsteht. Vor allem in der Baubran­che und in Pflegeberufen fehlt schon jetzt Personal im sechsstelligen Bereich. Aber nur zwölf Prozent der Bevölkerung sind laut einer aktuellen Regierungsum­frage der Meinung, dass

mehr ausländische Arbeit­nehmer nach Japan kom­men sollten.

Auswahl „Wie lange blei­ben Sie in Japan?“, werden Ausländer häufig gefragt, so, als würde man automa­tisch davon ausgehen, dass sie eines Tages das Land wieder verlassen. Das spiegelt auch die

Einstellung der Regierung von Premierminister Shin­zo Abe wider. Der Grund­tenor lautet: Ausländer,vor allem gut ausgebildete, können gerne nach Japan kommen, um dort zuarbeiten – aber bitte nicht, um dort zu bleiben. Nicht­japaner machen aktuelllediglich 1,6 Prozent der Bevölkerung aus. bla

RIGOROSE ZUWANDERUNGSPOLITIK

Punk aus Oklahoma

Tanz den Wilden WestenRed City Radio rollen wie eine Natur­gewalt durch den Stuttgarter Kellerclub .www.stuttgarter­zeitung.de

Heute in der Zeitung

Aus aller Welt

Neustart nach der KriseDie von sexuellem Missbrauch erschüt­terte Odenwaldschule will sich mit eineranderen Struktur reformieren. SEITE 6

Streng geheime HandlungIn dieser Woche beginnt die Ausstrahlung der dritten Staffel der gefeierten US­Serie „House of Cards“. SEITE 12

Politik

Keine Panzer für LitauenDas baltische Land fühlt sich von Russland bedroht. Doch der Wunsch nach deutschen Waffen bleibt unerfüllt. SEITE 5

Wirtschaft

Der Sozialplan bei Karstadt steht Der angeschlagene Warenhauskonzern wird deutlich weniger Kündigungen aussprechen als zunächst geplant. SEITE 8

Gabriel schlägt Ceta­Lösung vor Der Investitionsschutz im Freihandelsabkommen war umstritten. Der Wirtschaftsminister zeigt einen Weg. SEITE 8

Naturschützer üben Kritik an GesetzDie geplante Beschleunigung von Verfahren, etwa beim Straßenbau, beschneidet Rechte zur Beteiligung. SEITE 20

Kultur

Wer ist wer in den Wagenhallen? Die Stuttgarter Wagenhallen bieten Künstlern offenbarein gutes Arbeitsklima. Wir stellen einige davon vor. SEITE 10

Gelungener AuftaktMit herausragenden sängerischen Leistungen in der Oper „Teseo“ beginnen in Karlsruhe die Händel­Festspiele. SEITE 11

Sport

Ludwigsburg schlägt AlbaDer Basketball­Bundesligist zeigt gegenBerlin eine starke Leistung und gewinntüberraschend mit 67:55. SEITE 26

Kommentare

Börsenwoche Die Aktienkurse steigen. Trotz unsicherer Zeiten findet Klaus Dieter Oehler Gründe dafür. SEITE 7

Rubriken

Gewonnen? ___________ 6Impressum ____________ 8Fernsehprogramm ______ 12

Familienanzeigen ______ 13Notfallnummern ____ 18, 19Was Wann Wo ________ 28

Glosse Mathe­ statt Schwimmstunden: die Idee ist nichtso schlecht wie sie klingt, meint Christine Bilger. SEITE 15

stuttgarter­zeitung.deKrisengipfel

Skifahren im LibanonDie Bewohner Beiruts haben den Krieg satt und gehen auf die Piste. Und feiern am Abend am Mittelmeer.www.stuttgarter­zeitung.de

Entdecken

Abenteuer KometenlandungEin Vortrag im Stuttgarter Planetarium ließ die Landung auf Tschuri wieder aufleben – und blickte in die Zukunft. SEITE 14

Stuttgart & Baden­Württemberg

Die neue Tribüne im TestWie ist das Fußballerlebnis im umgebauten Gazi­Stadion auf der Waldau? StZ­Redakteure machen den Test. SEITE 15

Telefon

Zentrale und Redaktion___________0711/72 05­0

Anzeigen_______________________07 11/72 05­21

Leserservice__________________0711/72 05­61 61

Probe­Abonnement____________080 00 14 14 14

Online

www.stuttgarter­zeitung.de

www.stuttgarter­zeitung.de/digital

www.stuttgarter­zeitung.de/anzeigenbuchen

FaxRedaktion_________07 11/72 05­12 34Anzeigen________018 03/08 08 08*Leserservice_______07 11/72 05­61 62*0 18 03: 0,09 Euro/Min.,

Preise aus dem dt. Festnetz,

Mobilfunkhöchstpreis 0,42 Euro/Min.

E­MailRedaktion: [email protected]: [email protected]: [email protected]

Redaktion StuttgarterZeitung, Postfach 10 60 32, 70049 Stuttgart

Leserservice StuttgarterZeitungVerlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 43 54, 70038Stuttgart

Anzeigen StuttgarterZeitungWerbevermarktungGmbH, Postfach 10 44 26, 70039 Stuttgart

Chiffre StuttgarterZeitungWerbevermarktungGmbH,Postfach 10 44 27, 70039 Stuttgart

Ihr Kontakt zur Stuttgarter Zeitung

Storl ist wieder der Chef im RingNach der Verletzungspause meldet sich der Weltmeisterim Kugelstoßen in Karlsruhe stark zurück. SEITE 26

Manche lockendie guten Schulen, andere die Natur.

2 Nr. 44 | Montag, 23. Februar 2015STUTTGARTER ZEITUNGTAGESTHEMA