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976 Berichte DOI: 10.1002/stab.201201644 Stahlbau 81 (2012), Heft 12 Industriebauten von Albert Kahn. Zum 70. Todestag Miron Mislin Diese Studie ist eine Reverenz an den Industriearchitekten Albert Kahn, der seit Beginn des 20. Jahrhundert bis zu seinem Tod am 8. Dezember 1942 über 2500 Fabriken geplant hat. Die Industrie-Architektur und der Industriebau standen am Ende des 19. Jahrhun- derts und Anfang des 20. Jahrhunderts noch unter dem Einfluss von eklektizistischen Stilen und von dem Historismus verpflichteten Baumeistern. Kahn gebührt das Verdienst, die Industriearchitektur an ihre technisch-rationale Aufgabenstellung zurückgeführt zu haben. Er hat sich dabei nicht nur auf die architektonisch-funktionalen Erfordernisse be- schränkt, sondern darüber hinaus neue konstruktive Lösungen für große Spannweiten und stützenfreie Innenräume entwickelt. 1 Biographische Skizze Albert Kahn wurde in Rhaunen, 35 km südwestlich von Mainz, am 21. März 1869 als erstes von sieben Kindern von Rosalie und Rabbi Joseph Kahn gebo- ren. Wirtschaftliche Probleme führten die Familie über Luxemburg nach De- troit/Michigan im Nordosten der USA, wo sie 1880 ankamen. Mit verschiede- nen Tätigkeiten als Obsthändler oder als Versicherungsvertreter konnte der Vater seine Familie kaum ernähren. Albert als ältestes Kind musste schon mit zwölf Jahren arbeiten und unter- brach damit seine normale Schulzeit. 1881 konnte er im angesehen Büro von Mason und Rice eine vierjährige Lehre als Bauzeichner beginnen. Zu- sätzlich hatte er Zeichenunterricht bei dem Bildhauer Julius Melcher, der Jahrzehnte früher bereits einen ande- ren Emigranten aus Deutschland un- terrichte hatte, Dankmar Adler, der später in Chicago das berühmte Büro Adler und Sullivan führte. 1890 gewann Kahn eine von der Zeitschrift „American Architect and Building News“ gestiftete einjährige Studienreise nach Europa, wo er Bau- werke zeichnete oder fotografierte. Nach seiner Rückkehr 1891 wurde er zum „Chief Designer“ im Büro von Mason und Rice ernannt. Nach zwölf Jahren Praxis als Bau- zeichner und Chefdesigner machte sich Kahn mit den Teilhabern A. Trow- bridge und G. Nettleton 1896 selbstän- dig. Die Partnerschaft war von kurzer Dauer. 1900 schieden die Teilhaber aus, so dass Kahn 1902 mit dem in England geborenen und dort ausgebil- deten Architekten Ernest Wilby eine neue Büropartnerschaft aufnahm, die bis 1918 dauerte. Von 1918 bis zu seinem Tod am 8. Dezember 1942 führte A. Kahn eins der größten Büros für Industriebau- planung mit über 400 Mitarbeitern in Amerika [1] (Bild 1). Die Bauwerke, die hier vorgestellt werden, sind die ersten Stahlbauten des neuen Indust- riestandortes der H. Ford Motor Car Company am River Rouge, bei denen die Raumkonzepte und die typischen Baukonstruktionen für alle späteren Fabrikanlagen entwickelt wurden. Bild 1. Albert Kahn mit Moritz und Louis Kahn, um 1938

Industriebauten von Albert Kahn. Zum 70. Todestag

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Page 1: Industriebauten von Albert Kahn. Zum 70. Todestag

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Berichte

DOI: 10.1002/stab.201201644

Stahlbau 81 (2012), Heft 12

Industriebauten von Albert Kahn. Zum 70. Todestag Miron Mislin

Diese Studie ist eine Reverenz an den Industriearchitekten Albert Kahn, der seit Beginn des 20. Jahrhundert bis zu seinem Tod am 8. Dezember 1942 über 2500 Fabriken geplant hat. Die Industrie-Architektur und der Industriebau standen am Ende des 19. Jahrhun-derts und Anfang des 20. Jahrhunderts noch unter dem Einfluss von eklektizistischen Stilen und von dem Historismus verpflichteten Baumeistern. Kahn gebührt das Verdienst, die Industriearchitektur an ihre technisch-rationale Aufgabenstellung zurückgeführt zu haben. Er hat sich dabei nicht nur auf die architektonisch-funktionalen Erfordernisse be-schränkt, sondern darüber hinaus neue konstruktive Lösungen für große Spannweiten und stützenfreie Innenräume entwickelt.

1 Biographische Skizze

Albert Kahn wurde in Rhaunen, 35 km südwestlich von Mainz, am 21. März 1869 als erstes von sieben Kindern von Rosalie und Rabbi Joseph Kahn gebo-ren. Wirtschaftliche Probleme führten die Familie über Luxemburg nach De-troit/Michigan im Nordosten der USA, wo sie 1880 ankamen. Mit verschiede-nen Tätigkeiten als Obsthändler oder als Versicherungsvertreter konnte der Vater seine Familie kaum ernähren. Albert als ältestes Kind musste schon mit zwölf Jahren arbeiten und unter-brach damit seine normale Schulzeit. 1881 konnte er im angesehen Büro von Mason und Rice eine vierjährige Lehre als Bauzeichner beginnen. Zu-sätzlich hatte er Zeichenunterricht bei dem Bildhauer Julius Melcher, der Jahrzehnte früher bereits einen ande-ren Emigranten aus Deutschland un-terrichte hatte, Dankmar Adler, der später in Chicago das berühmte Büro Adler und Sullivan führte.

1890 gewann Kahn eine von der Zeitschrift „American Architect and Building News“ gestiftete einjährige Studienreise nach Europa, wo er Bau-werke zeichnete oder fotografierte. Nach seiner Rückkehr 1891 wurde er zum „Chief Designer“ im Büro von Mason und Rice ernannt.

Nach zwölf Jahren Praxis als Bau-zeichner und Chefdesigner machte sich Kahn mit den Teilhabern A. Trow-bridge und G. Nettleton 1896 selbstän-dig. Die Partnerschaft war von kurzer Dauer. 1900 schieden die Teilhaber

aus, so dass Kahn 1902 mit dem in England geborenen und dort ausgebil-deten Architekten Ernest Wilby eine neue Büropartnerschaft aufnahm, die bis 1918 dauerte.

Von 1918 bis zu seinem Tod am 8. Dezember 1942 führte A. Kahn eins der größten Büros für Industriebau-planung mit über 400 Mitarbeitern in Amerika [1] (Bild 1). Die Bauwerke, die hier vorgestellt werden, sind die ersten Stahlbauten des neuen Indust-riestandortes der H. Ford Motor Car Company am River Rouge, bei denen die Raumkonzepte und die typischen Baukonstruktionen für alle späteren Fabrikanlagen entwickelt wurden.

Bild 1. Albert Kahn mit Moritz und Louis Kahn, um 1938

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profilen von ca. 8 × 2 Zoll (ca. 200 × 50 mm) vor. Darüber wurden flache Dachziegel aus Zement befestigt. Die niedrigen Seitengebäude wurden mit je fünf hölzernen Balken von ca. 2 × 12 Zoll (5 × 30,50 cm) pultförmig ge-deckt, auf denen hölzerne Pfetten la-gen (Bild 3).

Die Außenwände der niedrigen Seitengebäude bestanden aus Glas und Mauerwerk. Die 4 Fuß 6 Zoll (1,37 m) und 22 cm dicken Brüstungen wurden mit Ziegeln vermauert. Die 9 Fuß 6 Zoll (2,90 m) hohen Fenster erhielten Holzrahmen. Die Einfassun-gen der Fensterflächen der fünf Hal-lenschiffe wurden dagegen als Stahl-rahmen hergestellt. Die Seiten des hö-heren Hallenschiffes wiesen eine Fens- terhöhe von 30 Fuß 10 Zoll (9,40 m) auf, die in drei Fensterteile unterteilt wurde. Da sich die tragende Konstruk-tion hinter den Fensterflächen befand, handelte es sich hier um eine „Curtain Wall“-Anordnung. Die offenen Giebel-fassaden wurden mit „Asbestos-Me-tall“ abgedeckt. An der Fassade der fünf Hallen fallen die großen, durch-gehenden Fensterbänder auf, die sich über vier Hallen mit einer Länge von über 62 m erstreckten. Über die fünf Toröffnungen mit Breiten von 32 Fuß (9,76 m), 16 Fuß (4,88 m), 24 Fuß (7,22 m) wurden die Torstürze mit ⟙⟘-⟙⟘-Profilen von ca. 18 Zoll × 55′′′ (ca. 450 × 140 mm) für die größeren Öff- nungen und 12 Zoll × 40′′′(ca. 300 × 140 mm) für die kleineren Öffnungen gestaltet. Die fotografischen Aufnah-men aus der Zeit von 1920–30 zeigen jedoch keine höheren und niedrigeren Hallenschiffe. Die Hallenschiffe mit den Pond-Oberlichtern („V“-förmig) wurden der Höhe der Satteldachhal-len angepasst [5].

3 Die Glasfabrik

Die spezifische Produktionsbedingun-gen und -prozesse verlangten nach einer angemessenen Gestaltung der Produktionsräume der Fabrik zur Glas-herstellung für die Automobile von Ford und eine entsprechende Konstruk-tion. Kahn fand eine neue interes-sante Lösung mit einem rechteckigen Grundriss von 280 × 750 Fuß (85,40 × 229 m) und einer neuen Bauweise mit flexiblen Räumen, die den Herstellungs- und Fertigungsgang ablesbar machte. Die Pläne lagen im Oktober 1922 vor. Die Konstruktion war sozusagen der

breit und 1700 Fuß (518,50 m) lang. Alle Hallenschiffe zusammen nahmen eine Breite von umgerechnet 77,75 m ein, ergänzt um die niedrigen Seiten-gebäude von je 51 Fuß (15,55 m) er-gibt sich eine Gesamtbreite von umge-rechnet 108,85 m. Das höhere Schiff wies in der Bauzeichnung eine Höhe von 68 Fuß 7 Zoll (19,38 m) auf, das niedrigere Schiff eine Höhe von 38 Fuß 11 Zoll (11,87 m) (Bild 2).

Die Dachkonstruktion setzte sich aus Dreieckfachwerkbindern zusam-men [4]. Beim zweiten niedrigeren Schiff führte Kahn das Oberlicht in „V“-Form ein, das als Pond-Truss be-kannt geworden ist und gegen Feuer-gefahr und für eine effektivere Luft-zirkulation entwickelt wurde [5]. Die Höhe des „V“-förmigen Oberlichts be-trug 6 Fuß 45 Zoll (2,98 m). Die Fach-werkbinder lagen auf Stützen mit (dop-pel T-) Stahlprofilen mit ca. 16 Zoll × 40,64′′′(ca. 300 × 100 mm). Es könnte sich auch um zusammengesetzte Stüt-zen aus vier Winkeleisen und ein mit-tiges Flacheisen handeln.

Schwieriger gestaltet sich die Frage nach der konstruktiven Ausbildung des Fachwerkbinders, da die vorhan-denen Bauzeichnungen darüber keine Auskünfte geben. Die Bauzeichnungen legen den Schluss nahe, dass Ober- und Untergurt aus „∟“-Winkeleisen-profilen von ca. 3 × 2 Zoll (ca. 75 × 50 mm) gebildet wurden. Wie die in-neren Stäbe oder Glieder, die Druck- und Zugspannungen erhalten, beschaf-fen waren, lässt sich den Bauzeichnun-gen nicht entnehmen. Einige Angaben liegen über die Dachdeckung der Fach-werkbinder mit Pfetten aus „⊏“-Stahl-

2 River Rouge 1917–1928

Bereits vor 1916, nach einer drei- bzw. vierjährigen Erfahrung mit der Fließ-bandproduktion in mehrgeschossigen Fabrikbauten am Highland Park, hatte sich gezeigt, dass die Mehrgeschossig-keit aufwendige technische Ergänzun-gen erforderte, wie Treppenhäuser, Fahrstühle und Transportbänder aller Art. Die Fertigung von Automobilen ging langsamer voran als in einem erdgeschossigen Bau [2]. Zu den Vor-teilen der ebenerdigen Produktions-hallen gehörte auch die Baukonstruk-tion. An Stelle der aufwendig konstru-ierten Gießformen und Schalungen für den Stahlbeton bot der Stahlbau die Vorteile des schnellen Aufbaus. Die Erkenntnisse des Ersten Weltkrie-ges und der Bedarf u. a. an U-Booten für die US-Navy veranlassten Henry Ford, ein neues Gelände in Dearborn/ Michigan entlang des Rouge Rivers zu kaufen.

1917 war es so weit, ein 1,5 Mei-len (2,4 km) breites und eine Meile (1,6 km) langes Areal stand für die Pla-nung eines neuen Fabrikkomplexes bereit. Das erste Fabrikgebäude war „The Eagle Plant“, auch als „B“-Build-ing bekannt, das 1918 fertiggestellt wurde. The Eagle Plant wurde von Kahn als Stahlbauskelett 1917 geplant und 1918 ausgeführt [3]. Es handelt sich um eine fünfschiffige Montage-halle, bei der ein Schiff höher als die anderen geplant war, aber nicht so ausgeführt wurde. An jeder Gebäude-seite befand sich ein niedriger Bau mit Pultdach, der später aufgestockt wurde. Jedes Hallenschiff war 51 Fuß (15,55 m)

Bild 2. River Rouge, Eagle Plant, Foto um 1919

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133 mm) zusammen. Für die Stützen ergeben sich je nach Belastung drei Grundtypen: – T 8 × 8 Zoll (ca. 244 × 244 mm) für

„Balcony Wall“ – T 10½ × 10½ Zoll (317 × 317 mm)

für den Raum mit den Kühlungska-nälen und

heit und Dimension der Diagonalstre-ben und Hilfspfosten. Aber in späte-ren Bauten von 1929 setzen sich die Streben aus zwei Winkeleisen zusam-men. Immerhin wurden Angaben über den Ober- und Untergurt gemacht: Sie setzten sich jeweils aus zwei „L“-Pro-filen von 5¼ × 5¼ Zoll (ca. 133 ×

Schlüssel für den Bau der Glasfabrik. Sie bestand aus einem Stahlskelett aus Stahlstützen und Fachwerkträgern (Bild 4). Die Fachwerkträger für De-cken und Dächer waren Strebenfach-werke mit Diagonalstreben mit Hilfs-pfosten. Die Bauzeichnungen machen keine Angaben über die Beschaffen-

Bild 3. Eagle Plant, Bauzeichnung, 1918

Bild 4. Glasfabrik, Bauzeichnung 1922

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kanisch-russischen Gesellschaft von „Amtorg Trading Corporation“ sowie zur „Autotrust Corporation“und „Stal-most“ beitrug. A. Kahn schickte seinen Bruder Moritz, ein studierter Bauinge-nieur, zusammen mit fünfundzwanzig Mitarbeitern nach Moskau, um eine Bürofiliale zu eröffnen. In dieser Filiale wurden russische Ingenieure und Tech-niker in einem „on-the-job training pro-gram“ in Industriebauplanung unter-richtet. In Abendklassen wurden wei-tere Techniker und Ingenieure in der Planung und Ausführung von Anlagen geschult. Insgesamt haben ca. 4000 russische Techniker an dem Unterricht von 1929 bis 1932 teilgenommen [7].

Im März 1932 endete der Vertrag und konnte trotz der Bemühungen von A. Kahn nicht verlängert werden. Die Sowjets mussten Devisen sparen; die Amerikaner wurden mit Dollars bezahlt und waren nicht an einer Be-zahlung mit Rubeln interessiert [8]. Die Bauzeichnungen des Traktoren-werks in Stalingrad von 1929 und der Montagehalle der Automobilfabrik in Moskau von 1930 vermitteln einen Eindruck der sowjetischen Vorhaben. Die Traktorenfabrik war eine lang-gestreckte Anlage von 71,50 × 364 m, die in der Breite sechs Schiffe von je 12,30 m und ein Schiff 10 m breit wa-ren [9]. Der Querschnitt zeigt ein Stahl-skelett aus Stahlstützen ⟙⟘-⟙⟘ 10 × 8 Zoll (254 × 200 × 76 mm) und Strebenfach-werke mit Hilfspfosten in den zwei mittigen Feldern und einen dreiecki-gen Obergurt. Die Streben und die Ober- und Untergurte setzten sich aus zwei L-Profilen 2½ × 2 × ¼ Zoll (63 × 50 × 7 mm) zusammen. Die Dachde-ckung aus Holzbrettern ruhte auf ⟙⟘-⟙⟘ Profilen von 11 × 8 Zoll (280 × 200 × 43 mm). Die Seitenwände der Ober-lichter bestanden aus 2 L 3 × 2½ × ¼ Zoll (ca. 75 × 64 × 6 mm). An der Ostseite gegenüber den oben beschrie-benen Oberlichtern der Westseite er-streckte sich ein großes „V“-förmiges Oberlicht, das 17,48 m lang war, jede lange Seite des Oberlichtes 8,74 m. Die Höhe des Fensters im Oberlicht lag bei 5,79 m. Dabei waren die Hö-hen der Hallenschiffe unterschiedlich: zur Westseite 4,25 m und zur Ostseite 6 m.

Während die „V“-Langseiten aus einem „⊏“-8 Zoll (ca. 203 × 75 × 8 mm) Stab bestand, waren die Fens-terrahmen des Oberlichts mit 2 L 4 × 4 × ¼ Zoll (ca. 101 × 101 × 63 mm)

Bemerkenswert ist auch, dass A. Kahn bei fast all seinen eingeschossi-gen Hallen keine Sheddächer gebaut hat, um nicht an die Nordrichtung ge-bunden zu sein. Wie sehen die Fassa-den aus? Der Sockel bis zu einer Höhe von 6 Fuß 2½ Zoll (1,89 m) wurde mit Backsteinen vermauert. Die höheren Gebäude wurden über die gesamte Breite und Höhe mit Glas bedeckt, die in vorgefertigte Stahlrahmen ein-gefasst waren und in vier übereinan-der liegenden Reihen mit Klappfens-tern unterteilt wurden. Der Effekt der mit Glas bedeckten 286 m langen Fas-saden, z. B. in der Ostrichtung, ist über-wältigend. Auch die kürzeren Fassa-denteile zum Norden und Süden mit den nun für Kahn typischen „V“-för-migen Dächern und mit den gleichför-migen Oberlichtern ist großartig und optisch prägnant. Die nicht mit Glas bedeckten Fassadenteile wurden mit 6,25 cm dickem wasserabweisendem Beton abgedeckt.

4 Fabrikhallen 1929–1932 in der Sowjetunion

Die Zeit von 1929 bis 1932 war in Amerika eine Zeit der wirtschaftli-chen Rezession. In dieser Zeit war die junge Sowjetunion bestrebt, techni-sches Know-how aus Amerika zu kau-fen. Der Technologietransfer sollte zur Erfüllung des ersten Fünfjahres-plans beitragen und darüber hinaus die Industrialisierung des Landes an-kurbeln. Dazu gehörte z. B. der Bau von Traktorenfabriken durch Ford Motor Company. Seit 1919 gab es die ersten Kontakte zwischen Henry Ford und der Sowjetunion, die bereits da-mals einige tausend Traktoren und Autos gekauft hatte.

Ford sollte neben den Maschinen auch Planungs- und Baumethoden lie-fern und beratend zur Seite stehen. A. Kahn wurde von Ford für die Planung und Konstruktion der Fabriken vorge-schlagen. Im April 1929 kam es zum Vertragsabschluss. Es blieb aber nicht nur bei der Planung von Traktoren- und Automobilfabriken, sondern Kahn lieferte detaillierte Pläne auch für Stahl-werke, Gießereien, Schmiedewerkstät-ten, Flugzeughallen, Zement- und Hei-zungswerke für mehr als 22 Städte mit einem Planungsoutput für 521 Fabrik-anlagen. Der Auftrag an Kahn wurde durch einen Vertrag bis 1932 festge-schrieben, der zur Bildung der ameri-

– T 14½ × 14½ Zoll (ca. 360 × 360 mm) für den Raum, genannt „Balcony“ [6].

Über den ca. 39 Fuß (11,90 m) breiten und 31 Fuß (9, 45 m) hohen „Balcony“-Raum spannte sich ein Strebenfach-werk von 4 Fuß (1,22 m) Höhe, darü-ber lagen die Dachpfetten als T-Profile 8 Zoll (244 mm). Das Dach wurde mit flachen Dachziegeln aus Zement ab-gedeckt. Zwei gleichartige konisch-för-mige Oberlichter von 8 Fuß (2,44 m) Höhe und 12 Fuß (3,66 m) Breite hat-ten zu beiden Seiten zwei Klappfens-ter.

Der nächste Raum weist zwei kleine Galerien von je ca. 14 Fuß (4, 30 m) Breite auf, die mit Rohrleitun-gen und Kühlungsbehältern versehen waren. Zwischen den Galerieräumen war der Raum mit dem Laufkran ge-nauso breit wie der zuvor beschrie-bene, nämlich 11 m. Das Dach war nicht mehr flach, sondern erhielt die „V“-Form, aber nicht nur als Ober-licht, sondern über das ganze Dach. Der Dachwinkel zeigt eine Neigung von je 35° mit einem Öffnungswinkel der beiden Seitenlängen von 110° bei einer Dachlänge von 31 Fuß 4 Zoll (12 m). Die größeren Dachoberlichter wurden dort angebracht, wo die höchs-ten Temperaturen herrschten, nämlich dort, wo die heiße Glasmasse die Hoch-öfen verlässt, um über verschiedene Röhren und Aggregate in weiteren Pro-duktionsschritten zu Trassen geführt zu werden, wo das Glas geschliffen und poliert wurde.

In dem „Balcony“-Raum liefen vier Abkühlungskanäle. Die Materia-lien wurden mit Laufkränen transpor-tiert. Die hohen Temperaturen konn-ten einerseits durch die enorm großen Fensteröffnungen in allen Fassaden abgemildert werden, zusätzlich wur-den die Decken noch mit verschieden großen Oberlichtern versehen. Um eine noch größere Luftzirkulation zu ermöglichen und auch Tageslicht in allen Produktionsbereichen zu gewin-nen, wurden die bereits beim Vorgän-gerbau, beim „B“-Building ausgeführ-ten „V“-förmigen Oberlichtbänder, die als „Pond-Truss“ ursprünglich auch gegen die Feuergefahr entworfen wor-den waren, hier zu riesigen Dächern weiter entwickelt, die Kahn später bei fast all seinen Fabrikbauten mit ent-sprechenden Variationen angewendet hat.

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werkbindern und Stahlstützen, wobei die Nordseite zur Cafeteria hin durch kräftige Verbundstützen gekennzeich-net ist (Bild 6). Die 95 m langen Fach-werkbinder, eigentlich Ständerfach-werke mit vertikalen Stäben, waren 30 Fuß (9, 15 m) hoch. Zusätzlich wur-den weitere Füllstäbe für die vier mit-tigen Felder zur Aussteifung ange-bracht, ähnlich einem Brückenträger.

nen neue architektonische und inge-nieurästhetische Möglichkeiten von stützenlosen Hallen mit großen Spann-weiten erprobt wurden, stellt die 1937 erbaute Montagehalle für Flugzeuge von Glenn L. Martin in Baltimore/Maryland dar. Glenn L. Martin ver-langte von A. Kahn eine stützenfreie Halle von 95 × 128 m. So entstand ein interessantes Stahlbauskelett aus Fach-

kon struiert. Überwältigend wirken die 837 m langen Fassaden mit durch-gehenden Glasfronten zur Nordseite und ebenso prägnant die Ostfassade mit dem „V“-Oberlicht. Die Seitenflä-chen ohne Fenster wurden durch dünne Betonplatten abgedeckt (Bild 5).

Eine interessante Stahlkonstruk-tion stellte die Montagehalle der Auto-mobilfabrik der „Autotrust Corpora-tion“ in Moskau von 1930 dar. Die Montagewerkstätten setzen sich aus sechs niedrigen Schiffen von je 4,29 m Höhe und 13,11 m Breite und einer 26,22 m breiten und 13,02 m hohen Halle mit Laufkran zusammen. Insge-samt war die Montagehalle 81,77 m breit. Das Stahlskelett zeigt eine ähn-liche Typisierung der Stahlglieder aus I-I-Stützen und Strebenfachwerken mit Hilfspfosten und „C“-Pfetten, ähn-lich der Traktorenfabrik in Stalingrad. Die Halle weist hier aber ca. 8 m lange und 2,36 m hohe Oberlichter in Form eines umgekehrten „U“ auf, deren Fensteröffnungen 3,30 m lang waren. Die hohe Montagehalle wurde einmal von dem 3,60 m hohen Fenster zur Seite der niedrigeren Hallenschiffe und von dem 5,13 m hohen Fenster zur Straßenseite belichtet [10].

5 Spätere Bauten 1936–38

Einen der Marksteine in der Entwick-lung der flexiblen Großhallen, mit de-

Bild 5. Montagehalle, Stalingrad, Bauzeichnung, 1929

Bild 6. Glen L. Martin, Flugzeughalle (1937–39), Foto

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Literatur

[1] Nevin, A., Hill, F. E.: Ford Expansion and Challenge: 1915–1922. New York 1957, pp. 60–63.

[2] Huxtable, A. L.: River Rouge for Ford Motor Company 1917. Progressive Ar-chitecture 39 (1958), No. 12, pp. 19–22.

[3] Bauzeichnung, Building “B”, Bentley Library Ann Arbor/MI, Job No. 847, revised 15. Febr. 1918.

[4] Bochmann, F.: Statik im Bauwesen I. Berlin: Verlag für Bauwesen 1962, S. 265–266.

[5] Bauzeichnung vom 15. Februar 1918, Bentley Library Ann Arbor/MI, Job 847.

[6] Bauzeichnung vom 9. Oktober 1922, Bentley Library Ann Arbor/MI.

[7] Nelson, G.: Industrial Architecture of Albert Kahn. New York 1939.

[8] The Architectural Forum, August 1938, pp. 89–90.

[9] Bauzeichnung vom 10. September 1929, Bentley Library Ann Arbor/MI, Job 1503 A, Sheet 7, 10 M.

[10] Bauzeichnung vom 15. Juni 1929, Bentley Library Ann Arbor/MI, Job 1563, Sheet 3, 4, 3-S.

[11] The Architectural Forum, August 1938, pp. 88–134.

[12] Albert Kahn Associated Architects & Engineers Inc., Catalogue New York 1948.

Drawings Courtesy of The Albert Kahn Family of Companies

Ich bedanke mich bei der Bentley Library für die großzügige Hilfe und Bereitstellung des Bildmaterials.

Autor dieses Beitrages:Prof. Dr.-Ing. habil. Miron MislinDüsseldorfer Straße 1, 10719 Berlin

eine transparente Fabrik, ein von al-len Seiten mit Glas bedeckter Stahl-bau, der 118 m lang und 18,84 m hoch ist [12].

6 Zusammenfassung

Die Einführung der Fließbandproduk-tion erfolgte 1913–14 in den mehrge-schossigen Montagefabriken von H. Ford am Highland Park. Es zeigte sich aber, dass sich eingeschossige Hallen besser für die Fertigungstechnik mit dem Fließband eignen. Durch den Ver-zicht auf Zwischen- und Trennwände wurde die Flexibilität der Innenräume für jede beliebige Änderung der Pro-duktion erhöht.

1929 bis 1932 plante A. Kahn mit seinem Büro in Detroit 521 In-dustrieanlagen für die damalige Sow-jetunion. Neben diesen Planungen bildeten seine Mitarbeiter mehrere tausend russische Techniker teilweise „on-the-job“ oder in Abendklassen aus. Seine fast futuristisch anmuten-den Stahlkonstruktionen von über 500 bis 700 m Länge mit riesigen Glasflächen fanden wegen der sich neu herausbildenden Bauideologie ab 1933 unter Stalin keine Nachfol-ger.

Die späteren Bauten von A. Kahn, wie z. B. die Flugzeughalle in Balti-more von 1937 oder die Stanzfabrik für De Soto-Chrysler in Detroit, de-monstrieren eindrucksvoll die großen stützenfreien Spannweiten und die Transparenz seiner Anlagen durch die Perfektionierung der Vorhangfassa-den.

Unterhalb der Binder blieb die Halle in einer Höhe von 13,30 m für die Un-terbringung von Flugzeugen frei. Die Gesamthöhe der Halle betrug 74 Fuß (22,57 m). Der Raum zwischen den Parallelfachwerkbindern von 50 Fuß (15,55 m) wurde in der Längsrichtung der Halle mit kleineren Fachwerken von 1,52 m Höhe getragen. Um ein maximales Licht zu gewähren, wur-den alle 50 Fuß (23 m) rinnenähnli-che qua dratförmige Vertiefungen ge-schaffen, die zu jeder Seite je zwei Oberlichtfenster erhielten. Für die Einfahrt der Flugzeuge wurde eine 98 m lange und 15,30 m hohe Toröff-nung geschaffen [11].

Nicht nur die frühen Bauten von Kahn demonstrieren eindrucksvoll die Möglichkeiten der Tageslichtbe-leuchtung, sondern besonders die spä-teren Hallen und andere Industriege-bäude aus den späten dreißiger Jah-ren, wie z. B. der Press Shop von Ford auf dem Fabrikgelände am River Rouge, Dearborn/Michigan von 1936–37, der Chrysler-De Soto Press Shop in Detroit von 1936, die Chrysler-Dodge LKW-Fabrik von 1937, General Motors in Indianapolis/Indiana von 1937–38 als ein perfektes Curtain-Wall Gebäude, bei dem die Außenseiten bis zu 85 Pro-zent aus Glas bestanden haben. Die Einbeziehung des gleichmäßigen Ta-geslichts in den Produktionshallen ohne Schattenecken zeigt insbeson-dere die Halle der Stanzwerkstatt von De Soto-Chrysler in Detroit/Michigan von 1937–38. Die Stanzwerkstatt der Ford Motor Co. in River Rouge, Dear-born von 1938 präsentiert sich als