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information der ippnw internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung Bericht einer Reise von IPPNW-Mitgliedern in die Türkei vom 17. bis 29. März 2019 Manipulierte Wahlen und ungebrochener Widerstand ippnw akzente Foto: Sigrid Ebritsch Mit Beiträgen von: Johanna Adickes, Ernst-Ludwig Iskenius, Gisela Penteker, Elke Schrage und Marit Vahjen

information der ippnw akzente€¦ · DTK Demokratischer Gesellschaftskongress Egitim Sen Erziehungsgewerkschaft ... Imam-Hatip-Gymnasien. 2012/2013 ließ die türkische Regierung

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information der ippnwinternationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung

Bericht einer Reise von IPPNW-Mitgliedern in die Türkei vom 17. bis 29. März 2019

Manipulierte Wahlen und ungebrochener Widerstand

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Mit Beiträgen von: Johanna Adickes, Ernst-Ludwig Iskenius,

Gisela Penteker, Elke Schrageund Marit Vahjen

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Stationen unserer Reise

17. März Istanbul | Stadtbummel und Besuch beim Menschenrechtsverein IHD18. März Van | Anwaltskammer, SES19. MärzVan | IHDSolidaritätsaktion beim E-Typ GefängnisGespräch mit der HDP21. März DiyarbakirNewroz – kurdisches Neujahrsfest

22. März Sirnak | AnwaltskammerCizre | HDP23. März Mardin | Ahmet TürkKiziltepe | HDP24. März Mardin | Kommission für die Hungerstreikenden25. März Diyarbakir | AKP, IHD, Frauenverein Rosa

26. März Diyarbakir | HDP, SES, Ärztekammer27. März Diyarbakir | Frauenmarkt & SurGespräch mit dem Oberbürgermeisterkan-didaten Adnan Seldcuk Mizrakli29. März Ankara | Deutsche Botschaft, Menschen-rechtsvereine TIHV und IHD, Ärztekammer

FrauenpowerDrei Anfang Zwanzigjährige, die sich uns als Journalistinnen für eine kurdische Internetzeitung vorstellen. Sie gestehen etwas verschämt, dass sie keine Ausbildung gemacht, nicht einmal eine höhere Schule besucht haben. Sie haben ihr Handwerk von Kolleg*innen und by doing gelernt und machen ihre gefährliche Arbeit gut.Fatma, die stellvertretende Vorsitzende des „Hilfs- und Solidaritätsvereins der Marktfrauen in Baglar“ ist alleinerziehende Mut-ter von drei Kindern. Über ein Fernstudium holt sie zur Zeit den Schulabschluss nach und möchte dann studieren. Ihr Tag beginnt morgens um fünf auf dem Großmarkt und endet abends zwischen acht und neun Uhr.Eine junge Ärztin aus dem Vorstand der Ärztekammer lernt Deutsch. Wegen ihres politischen Engagements hat sie keine Chance, in der Türkei ihre Facharztausbildung zu machen.Eine junge Witwe kandidiert als Ko-Bürgermeisterin in Cizre. Kurz vor der Geburt ihres Sohnes starb ihr Mann in einem der Keller, ermordet vom türkischen Militär in einem der ungesühnten Kriegsverbrechen 2015/2016.

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INHALT

Editorial ........................................................................................................................... 4

Glossar ............................................................................................................................ 6

Themen und Berichte

Schwere Zeiten für Van ...................................................................................................... 7

Hungerstreik, nicht Todesfasten ........................................................................................... 8

Newroz in Diyarbakir ....................................................................................................... 10

„Die Erde hat ein Ohr“ ..................................................................................................... 12

Ungebrochener Widerstand in Cizre ................................................................................... 12

Wünscht sich Welt überhaupt einen stabileren Nahen Osten? ................................................. 13

„Wir strecken unsere Friedenshand aus“ ............................................................................. 14

Vom Rechts- zum Willkürstaat ........................................................................................... 15

Privatisierung und Private Public Partnership im Gesundheitswesen ....................................... 16

Ein Spaziergang durch Sur .................................................................................................17

Migranten, Geflüchtete und Binnenvertriebene ..................................................................... 19

Kinder als Opfer politischer Auseinandersetzungen ............................................................... 20

Kampf der Systeme, nicht der Ethnien ............................................................................... 22

Wie kann man die Zivilgesellschaft unterstützen? ................................................................. 23

Weiterführende Informationen, Spendenaufruf, Impressum und Heftbestellung ........................ 24

EIN TEIL DER REISETEILNEHMERINNEN IN DIYARBAKIR MOSCHEE IN NUSAYBIN

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TÜRKEI-KURDISTAN-REISE

Editorial

Der Repression trotzen

Groß waren die Bedenken von Angehörigen und Freunden, dass wir uns auch in diesem Jahr auf den Weg in den Südosten der Türkei machen wollten. Wir hielten das Risiko für überschaubar, schlimms-tenfalls würden wir, wie viele andere, schon an der Einreise gehin-dert oder später ausgewiesen. Wir sind keine Journalist*innen und die meisten der Teilnehmer*innen sind weißhaarige Alte, die die Verhältnisse in der Türkei kennen. Bei einer der vielen Polizeikont-rollen schaute ein Polizist in unseren Bus, sagte zu seinen Kollegen, „die sind ja alle alt“, und ließ uns passieren. Nicht alle Kontrollen verliefen so problemlos. Eine wirklich bedrohliche Situation erleb-ten wir aber nicht.

Unsere Reise führte von Istanbul zunächst per Flieger nach Van. Von dort ging es mit dem Kleinbus über Akhdamar nach Diyarbakir zum Newrozfest, von Diyarbakir nach Sirnak, Cizre, Midyat, Kizilte-pe, Nusaybin und Mardin, und zum Abschluss nach Ankara.

Wir hatten großes Glück mit unserer Dolmetscherin Serra aus Diyar-bakir, die nicht nur in Deutschland studiert hat, sondern sich als ehe-malige Stadtverordnete und HDP-Mitglied auch gut auskennt und viele Verbindungen hat. Unser langjähriger Dolmetscher Mehmet kann zurzeit nicht in die Türkei reisen. Er unterstützte uns aber von Deutschland aus mit seinen Kontakten und trug so zu einem reich-haltigen Programm mit vielen Begegnungen und Gesprächen bei.

Auffällig ist, dass wir zwar immer die gleichen Gruppen und Vereine besuchen, dort aber selten Menschen treffen, die wir von früheren Reisen kennen. Wer sich oppositionspolitisch oder menschenrecht-lich exponiert, wird unter Anklage gestellt, verschwindet im Ge-

fängnis oder flieht ins Ausland, solange er seinen Pass noch hat. So treffen wir zum Beispiel in der Ärztekammer Diyarbakir auf einen sehr jungen Vorstand, der sich im Internet über die IPPNW infor-miert hat, aber von unserer langjährigen gemeinsamen Geschichte nichts zu wissen scheint. Eine junge Kollegin lernt Deutsch, will in Deutschland ihre Facharztausbildung machen, weil sie in der Türkei wegen ihres politischen Engagements keine Chance hat. Eine ande-re junge Ärztin kennen wir durch die Prozessbeobachtung von Dr. Necdet Ippekyüz von der Menschenrechtsstiftung TIHV, der inzwi-schen Parlamentsabgeordneter für Batman geworden ist. Sein Pro-zess läuft weiter. Dr. Mahmut Ortakaya, eine der prägenden Figu-ren der Ärztekammer, konnte uns aus gesundheitlichen Gründen diesmal nicht begrüßen. Später treffen wir Dr. Adnan Seldcuk Miz-rakli, den HDP-Kandidaten für das Amt des Oberbürgermeisters.

Wichtigstes Thema bei all unseren Gesprächen war nicht die da-mals kurz bevorstehende Kommunalwahl und die Repressionen im Wahlkampf. Das Thema, das allen auf den Nägeln brannte, waren die hungerstreikenden politischen Häftlinge in den Gefängnissen. Etwa 7.000 waren es seit dem 1. März 2019. Sie forderten die Auf-hebung der Isolation des PKK-Mitbegründers und politischen Ge-fangenen Abdullah Öcalan und die Wiederaufnahme der Friedens-verhandlungen.

Als die Anwälte von Abdullah Öcalan im Mai 2019 zweimal die Ge-legenheit hatten, mit ihm zu sprechen, bedankte er sich – wie schon 2012 – bei den Hungerstreikenden für ihre Solidarität und forderte sie auf, den Hungerstreik zu beenden. Sein Ansehen in der kurdischen Bevölkerung ist so groß, dass sie auch dieses Mal sei-

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BERICHT 2019

nem Aufruf folgten – Tausende kurdische Häftlinge beendeten ih-ren Hungerstreik. Hinweise, dass die Friedensverhandlungen wie-der aufgenommen werden, gibt es jedoch nicht.

Über die Situation der Hungerstreikenden war vorher nur wenig nach außen gedrungen – Ärzt*innen und Menschenrechtler*innen hatten keinen Zugang zu den Gefängnissen. Gelegentlich gab es Informationen von den Anwälten, den Angehörigen oder aus Brie-fen der Gefangenen. Danach war die Situation bedrohlich. Die Streikenden erhielten nicht die notwendigen Vitamine und Elekt-rolyte. Sie wurden durch Einzelhaft, durch Entzug der sozialen Kon-takte, zum Beispiel beim Sport, bestraft – zum Teil wurden sie auch in weit entfernte Haftanstalten verlegt, um den Kontakt zu Ange-hörigen und Anwälten zu erschweren. Hungerstreiks haben eine lange Tradition in der politischen Auseinandersetzung in der Türkei. In dem mehrfach preisgekrönten Film „Simurgh“ von Ruhi Karadag werden die gesundheitlichen Folgen der langen Hungerstreiks 1996 und 2000 in der Türkei eindrücklich beschrieben. In unseren Dis-kussionen fanden wir bei Mediziner*innen und Menschenrecht-ler*innen eine kritische Haltung gegenüber den Hungerstreiks, nicht aber gegenüber den Forderungen der Hungerstreikenden: die Aufhebung der Isolation des Kurdenführers Abdullah Öcalan und die Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen.

Zur Kommunalwahl Ende März 2019 waren wir nicht mehr im Land. Der Wahlkampf begleitete uns aber auf der gesamten Reise. In Is-tanbul grüßte das Konterfei des Präsidenten und seiner AKP-Kan-didaten im Großformat von jedem der zahlreichen Bauzäune und von vielen Hochhausfassaden. Plakate der Oppositionspartei CHP

waren kleiner und seltener, die der kleinen Parteien fielen nicht auf. Im Fernsehen liefen rund um die Uhr Wahlspots der AKP, ganz selten der CHP und nie der HDP. Die HDP hatte darauf verzichtet, eigene Kandidat*innen im Westen aufzustellen. Sie forderte ihre Wähler*innen auf, die CHP zu wählen. Auch im Südosten sahen wir überall riesige Wahlplakate und Bilder des Präsidenten. Allerdings fanden sich hier auch Wahlplakate der prokurdischen HDP, die sich diesmal zu einem Bündnis mit sieben kleineren kurdischen und lin-ken Parteien zusammengeschlossen hatte.

Die Wahlbeteiligung lag im Frühjahr 2019 landesweit bei 84 Pro-zent. Trotz der Wahlmanipulationen durch die AKP hat die kemalis-tische CHP alle großen Städte im Westen für sich gewinnen können. In Istanbul endete die Wahlwiederholung im Juni 2019 mit einem deutlichen Sieg des Oppositionspolitikers Ekrem Imamoglu von der CHP. Die prokurdische Partei HDP hat im Südosten die meisten der zwangsverwalteten Städte zurückgewonnen. Einigen der siegrei-chen Kandidat*innen erkannte die zentrale Wahlkommission den Sieg ab – und ernannte stattdessen den zweitplatzierten Kandida-ten der AKP.

Dr. Adnan Seldcuk Mizrakli und seine Ko-Bürgermeisterin Hülya Alokmen Uyanik haben inzwischen ihr Amt im großen Rathaus von Diyarbakir angetreten und beim ersten Rundgang ungläubig die luxuriöse Ausstattung des Zwangsverwalters mit Kandelabern und einem Marmorbad betrachtet. Sie müssen nun mit den hinterlas-senen Schulden und dem Verlust vieler öffentlicher Gebäude und Liegenschaften einen schweren Neuanfang stemmen. Wir hoffen, sie im kommenden Jahr im Rathaus zu besuchen.

HINTER DER ROTEN ABSPERRUNG ENTSTEHT DAS „NEUE“ SUR

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TÜRKEI-KURDISTAN-REISE

Afrin Afrin ist eine Stadt und Sitz des von ihr verwalteten Distrikts Afrin im Nordwesten Syriens, der überwiegend von Kurden be-wohnt wird. Afrin steht unter türkischer Be-satzung und soll der türkischen Provinz Ga-ziantep eingegliedert werden. Am 20. Januar 2018 bombardierte die türkische Armee mehr als 100 Ziele in Afrin. Vor der Besetzung der Stadt durch türkische Trup-pen und ihre Verbündeten im März 2018 flohen nach UN-Angaben 137.000 Men-schen aus der Stadt und der Umgebung. An-fang August 2019 drohte Recep Tayyip Erdo-gan mit einem weiteren Einmarsch in den Norden Syriens/nach Rojava auch östlich des Euphrat.

AKP Adalet ve Kalkinma Partisi, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung

Amed kurdischer Name der Stadt Diyarbakir

Ausgangssperren Die Ausgangssperren Ende 2015/Anfang 2016 waren eine Strafmaßnah-me gegen widerständige kurdische Dörfer und Städte. Hunderte Zivilist*innen wurden getötet, Wohngebiete durch das Militär pla-niert. Bis heute werden die Ausgangssper-ren fortgesetzt, wenn auch in geringerem Ausmaß.

CHP Republikanische Volkspartei, kemalisti-sche und seit den 1960er Jahren sozialde-mokratische Partei, 1923 durch Kemal Ata-türk gegründet.

DTK Demokratischer Gesellschaftskongress

Egitim Sen Erziehungsgewerkschaft

HDP Demokratische Partei der Völker – Kur-denpartei, Nachfolgerin der BDP

IHD Insan Haklari Dernegi, der Menschen-rechtsverein, ist in vielen Städten aktiv

Imam-Hatip-Schulen staatliche Berufsfach-gymnasien für die Ausbildung zum Imam und Prediger in der Türkei. Der Abschluss berechtigt nach der Studienberechtigungs-prüfung ÖSS auch zum Studium an einer Hochschule. Bis 2012 existierten lediglich Imam-Hatip-Gymnasien. 2012/2013 ließ die türkische Regierung die religiösen Schulen auch für die Mittelstufe zu. In den letzten Jahren wurden viele Schulen der Mittelstufe in Imam-Hatip-Schulen umgewandelt. Schu-le und Berufsausbildung werden so immer stärker auf ein religiöses Weltbild einge-schränkt.

KESK Gewerkschaft Öffentlicher Dienst

Newroz kurdisches und persisches Neujahrs-fest am 21. März

PKK Partiya Karkeren Kurdistan, Arbeiter-partei Kurdistans

Rojava kurdische Bezeichnung für die kurdi-schen Gebiete in Nordsyrien

SES Gewerkschaft der Angestellten im Ge-sundheits- und Sozialwesen

Sinjar = Schengal Dschabal Sinjar im Irak ist ein ca. 50 Kilometer langer Höhenzug von Ost nach West, an dessen südlichem Ende die Stadt Sinjar im gleichnamigen Distrikt liegt. Sinjar ist Stammland der Eziden (Jezi-den).

TIHV Türkische Menschenrechtsstiftung

TOKI Toplu Konut İdaresi Başkanlığı, die staatliche Wohnungsbaubehörde ist im gan-zen Land aktiv, vergibt Aufträge, plant und baut oft ohne Rücksicht auf lokale Belange. Sie reißt traditionelle Wohnviertel ab und baut dort uniforme Hochhaussiedlungen. Eventuelle Entschädigungen decken niemals die Kosten für Mieten oder Kauf.

YPG Volksverteidigungseinheiten bzw. kur-dische Selbstverteidigungskräfte in Syrien

Zwangsverwalter Viele der Kommunen mit gewählten HDP-Bürgermeister*innen wur-den von der AKP-Regierung während der bewaf fneten Auseinandersetzungen 2015/16 unter Zwangsverwaltung gestellt.

Elazığ Arıcak

Muş Varto

Hakkâri Yüksekova

Şırnak Cizre, Silopi, İdil, MerkezBatman

Sason, Kozluk

Mardin: Nusaybin, Dargeçit, Derik

Diyarbakır Lice, Silvan, Sur, Bismil, Hani, Yenişehir,

Dicle, Kocaköy, Hazro, Bağlar

Von Ausgangssperren betroffene Provinzen in der Türkei

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2016

Glossar

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BERICHT 2019

Im Gegensatz zum frühlingshaften Wetter bei der Ankunft in Istanbul erwartete uns am östlichen Ende der Türkei im 1.500 Meter hoch gelegenen Van eine Landschaft mit tief verschneiten Bergen und un-angenehmem Schneeregen. Doch ab und zu bohrten sich erste Son-nenstrahlen durch die graue Wolkendecke. So ähnlich lässt sich auch die politische Atmosphäre in dieser Millionenstadt beschreiben. Van hat, wie andere kurdische Städte, schwere Zeiten hinter sich. 2011 wurden weite Teile durch ein Erdbeben zerstört. Noch heute sieht man an einigen Stellen die Spuren der Zerstörung.

Der Wiederaufbau und alle Ideen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Kommune wurden nach der Entlassung der Bürgermeister*innen und der Einsetzung eines Zwangsverwalters von Ankara abrupt ge-stoppt. Die Folgen waren immense Verschuldung, der Abbruch von regionalen Infrastrukturprogrammen, hohe Jugendarbeitslosigkeit von bis zu 70 Prozent, Abwanderung, Ausverkauf kommunaler Ge-meingüter wie Gebäuden, Grundstücken und Versorgungsdienstleis-tungen. Ein Großteil des Personals wurde entlassen und durch frem-des, häufig unqualifiziertes ersetzt. Das ist eine schwere Hypothek, die die neugewählten Bürgermeister*innen von Van übernehmen müssen.

Nach Aussage des Vorsitzenden der Anwaltskammer Van, Mahmut Kasan, war die Situation für Anwälte und Menschenrechtler*innen noch nie so schwierig wie heute. Allein in Van sind 40 Anwälte wegen einer mutmaßlichen Verbindung zu einer terroristischen Vereinigung angeklagt, warten auf ihren Prozess oder sitzen schon im Gefängnis.

Für uns ist es erstaunlich, dass sich trotz aller Repression und Gefahr bei den vielen Wahlen (sieben seit 2015) immer wieder genügend Kandidat*innen finden. Das bleibt ein Geheimnis, das nur mit dem hohen Grad der Politisierung und dem Rückhalt in der kurdischen Gesellschaft zu erklären ist.

Schwere Zeiten für Van

Dr. Gisela Penteker

BEI DER HDP IN VAN (DEMOKRATISCHE PARTEI DER VÖLKER)

BEIM IHD (MENSCHENRECHTSVEREIN) IN VAN

BEIM IHD (MENSCHENRECHTSVEREIN) IN VAN

BEI DER ANWALTSKAMMER IN VAN

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TÜRKEI-KURDISTAN-REISE

Die Hungerstreiks gegen Isolationshaft in der Türkei, denen sich im März 2019 mehr als 5.000 Menschen angeschlossen hatten, waren das vorherrschende Thema bei allen Gesprächen. Nicht nur in den Gefängnissen, auch außerhalb sowie in anderen Ländern Europas war die Beteiligung groß. Der Hungerstreik hat insgesamt 8 Tote ge-fordert.

Alle zivilen Organisationen, mit denen wir sprachen, halten die Hun-gerstreiks für eine natürliche Folge der 40-jährigen systematischen Unterdrückung kurdischer Identität und demokratischer Rechte, die mit zahllosen Morden, Vernichtung und Demütigung einherging. Dass die türkische Regierung seit den Wahlen 2015 den Südosten des Landes wieder offen mit einer solchen – auch militärischen – Brutalität überzieht, sei die Ursache für „das letzte Mittel – Hunger-streik“, bekommen wir zu hören. Die Einschätzungen gehen von rückhaltloser Zustimmung und Verherrlichung bis zur Einstufung als Verzweiflungstat. Eine Ablehnung der Hungerstreiks finden wir nir-gends – zu stark ist das kollektive Bewusstsein für die erlittenen Schmerzen, das Unrecht und die Entwürdigungen.

Gerade, weil die Türkei und die Welt schweigen, bekämen die Hun-gerstreiks als „letztes Mittel“ eine solche Bedeutung. Als Symbol und letzte Möglichkeit der Selbstermächtigung haben sie vor diesem Hintergrund einen vorübergehenden therapeutischen Effekt. In ih-rem menschlichen Preis und ihrer Mobilisierungsrichtung sind sie aber völlig unvorhersehbar und riskant. Die Toten, die in diesem Zu-sammenhang seit dem 17. März 2019 appellativ in ein kurdisches Kollektivbewusstsein aufgenommen werden und zu betrauern sind, sind bisher nur eine indirekte Folge der Hungerstreiks, denn diese Menschen haben sich aus Verzweiflung und Solidarität das Leben

genommen – angefangen mit dem Aktivisten Ugur Sakar, der sich vor dem Amtsgericht Krefeld aus Protest selbst verbrannte. „Weil die Gesellschaft nicht mehr protestieren kann, machen das die Häftlinge, die sowieso nichts mehr zu verlieren haben. Es ist auch eine Anklage gegen die Gesellschaft“, meinen unsere Gesprächspartner. „Die Sui-zide sind Individualentscheidungen. Die PKK hat das nicht gutgehei-ßen.“

Wir sind als Ärzt*innen und sozial Arbeitende froh, dass bei den Ge-sundheitsgewerkschaften, den Ärzte- und Anwaltskammern, den Menschenrechtsvereinen auch eine kritische Auseinandersetzung möglich ist: „Wir Gesundheitsarbeiter*innen unterstützen den Hun-gerstreik nicht, aber wir unterstützen die Forderungen der Hunger-streikenden.“ Wir erfahren hier, dass in der Türkei nach türkischem Recht und den von der Türkei ratifizierten internationalen Konven-tionen Isolationshaft illegal ist. Auch ist es illegal, Hungerstreikende zu isolieren, ihnen gezielt den Austausch mit anderen Gefangenen oder den Brief- und Telefonkontakt zu verwehren. Häftlinge haben das Recht, von mindestens drei Personen außerhalb ihrer Familie besucht zu werden. Darüber hinaus ist es illegal, Menschenrechts-organisationen grundsätzlich den Zugang zu Gefängnissen zu ver-weigern – so etwa dem IHD (Insan Haklari Dernegi, Menschenrechts-verein Türkei), der jeweils nur Anwälte schicken kann. Dies ist für Hungerstreikende besonders kritisch, weil so der Zugang zu Vitami-nen, Säften und andere Substitutionsmitteln nicht ausreichend ge-sichert werden kann. Selbst den Ärzte- und Gesundheitsorganisatio-nen wurden diese angebotenen humanitären Hilfsleistungen an allen Orten untersagt. Mit anderen Organisationen gründen sie jetzt Plattformen, um konkrete Hilfeleistungen und Protest zu koordinie-ren und zu verstärken. So trafen wir in Mardin Vertreter*innen von

Hungerstreik, nicht Todesfasten

Dr. Elke Schrage und Dr. Gisela Penteker

ZU BESUCH BEI DER HUNGERSTREIKENDEN LEYLA GÜVEN

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BERICHT 2019

IHD, der Gesundheitsgewerkschaft KESK, der Ärztekammer, der Ge-fängniskommission der Anwaltskammer und den „Jurist*innen für Freiheit“. Sie suchen Wege, mit den 142 Hungerstreikenden vor Ort in Kontakt zu kommen. Vereinzelt konnten Anwält*innen und Ärzt*innen Mineralien und Vitaminpräparate zu den Gefangenen bringen und Informationen austauschen.

Gefängnisleitungen gäben die Nahrungsersatzmittel nach eigenem Gutdünken und nur gegen Geld heraus. Ohne Substitution führen Hungerstreiks zu irreparablen Hirnschäden (Wernicke-Korsakoff-Syndrom) – mit Substitution auch, aber langsamer. Da die Hunger-streiks aber explizit nicht als Todesfasten intendiert sind, sondern als politisches Druckmittel spielt Zeitgewinn und damit die Gesundheit der Streikenden eine große Rolle. Damit sollte nicht gespielt werden, wie es bei Zülküf Gezen der Fall war. Zülküf Gezen, der seit zwölf Jahren inhaftiert war, hatte Mitte März 2019 im Gefängnis von Tekirdağ Selbstmord begangen. Er war zuvor durch Aufnahmen bloß-gestellt worden, die ins Netz gestellt und propagandistisch miss-braucht wurden. Sie zeigen die Übergabe von Fruchtsäften durch Freunde, mit dem Vorwurf, die Häftlinge würden nicht tatsächlich fasten. Dabei sind Fruchtsäfte der wesentlich billigere Ersatz für wir-kungsvollere, medizinisch indizierte Substitutionsmittel.

Ein Pressestatement der HDP-Parlamentsabgeordneten von Van, Muazzez Orhan, vor dem T-Typ-Gefängnis von Van wurde von schwer bewaffneten Sicherheitskräften mit gepanzerten Fahrzeugen und Wasserwerfern verhindert. Wir hatten uns zusammen mit Angehö-rigen der Gefangenen, Abgeordneten, anderen Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und einigen jungen Journalist*innen auf dem Weg zum Gefängnis versammelt. Die dort einsitzenden politischen Gefan-genen hatten sich im März 2019 dem Hungerstreik gegen die Isolati-onshaft angeschlossen. Die Sicherheitskräfte drohten zu schießen und drängten die versammelten Menschen zurück. Sie bestanden auf dem vom Gouverneur festgelegten Abstand von einem Kilome-ter zum Gefängnis.

Dort forderte die Parlamentsabgeordnete dann den türkischen Jus-tizminister Abdülhamit Gül auf, weitere Todesfälle von Hungerstrei-kenden zu vermeiden. Die türkische Regierung solle ihre Kriegspoli-tik und die Isolationshaft von Abdullah Öcalan beenden. „Wir hoffen auf ein friedliches Zusammenleben in diesem Land.“

„Hungerstreik ist das letzte Mittel. Es ist eine Verzweiflungstat, die letzte Chance des Widerstandes, zu der man greift, wenn auf alles andere keine Antwort kommt,“ verdeutlichte ein Vorstandsmitglied der KESK in Mardin. Diese Verzweiflung ist ganz deutlich nicht nur ein

Ergebnis der Isolationshaft. Sie ist ein Ergebnis all der Repressionen und politischen Verfolgung der kurdischen Opposition. Die Verteidi-gung des Friedens und der Demokratie werde in der Türkei bestraft.

Viele Streikende haben durch den langen Nahrungsentzug einen ge-sundheitlich kritischen Punkt erreicht. Um die Wirkung des Protestes zu steigern, gab es acht Selbstmorde, so etwa die von Zehra Sağlam, Ayten Beçet and Zülküf Gezen, die sich in türkischen Gefängnissen das Leben nahmen.

Zu Besuch bei Leyla Güven

Die HDP-Abgeordnete Leyla Güven hatte den Hungerstreik im No-vember 2018 im Gefängnis von Diyarbakir initiiert, aus Protest gegen die langjährige Isolationshaft des PKK-Mitbegründers und politschen Gefangenen Abdullah Öcalan. Später wurde sie in kritischem Zu-stand nach Hause entlassen. Unser Besuch bei ihr am 138. Tag ihres Hungerstreiks zu zweit in ihrer Wohnung im Stadtteil Baglar war durch die Vermittlung einer Freundin und mit Zustimmung ihrer Tochter zustande gekommen. Uns erwartet ein ruhiger Wohnblock. An diesem Tag besteht die Bewachung nur aus zwei unauffälligen Zivilautos. In der Wohnung herrscht Ruhe und Entspannung. Leyla Güvens Tochter umsorgt ihre Mutter liebevoll. Wir werden mit un-serer Dolmetscherin in das Krankenzimmer geführt. Leyla Güven spricht klar. Aber ihre Gesten sind langsam und haltsuchend.

Sie betont, dass die Streikenden ein demokratisches Recht einklagen und mit gewaltfreien Mitteln gegen eine Rechtsverletzung protestie-ren. Die Radikalität und den Zeitpunkt ihres Schrittes erklärt sie mit der Vernichtung alternativer demokratischer Möglichkeiten durch die Repressionspolitik der türkischen Regierung. Sie fühlt sich ver-antwortlich für die vielen Gefangenen, die ihrem Beispiel gefolgt sind. Stärker allerdings sei die Verpflichtung, ihren Hungerstreik fort-zuführen, um Freiheit und Demokratie eine Stimme zu verleihen. Sie habe dazu aufgerufen, keine Suizide aus Verzweiflung zu begehen Ihr Widerstandswille ist ungebrochen. Sie verweist auf historische Hun-gerstreiks wie auf den des IRA-Aktivisten Bobby Sands 1981.

Nach unserem Besuch und nach den Wahlen hatte Abdullah Öcalan nach acht Jahren erstmals Besuch von seinen Anwälten bekommen, über die er zur Beendigung des Hungerstreiks aufrief. Nach 200 Ta-gen ist der Hungerstreik beendet, ein Umdenken der türkischen Re-gierung ist aber nicht zu erkennen. Der Ruf nach neuen Friedensver-handlungen scheint unbeantwortet zu bleiben. Leyla Güven und viele andere haben den Hungerstreik beendet, stehen aber weiter vor Gericht und haben lange Haftstrafen zu erwarten.

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TÜRKEI-KURDISTAN-REISE

Morgens vor unserem Hotel in Diyarbakir strahlt die Sonne über die hohen Häuser in unsere Gesichter. Schnell reichen wir noch die Tube mit der Sonnencreme Faktor 50 herum. Wir sind auf dem Weg zum Newroz-Fest.

Zu unserer Freude erleben wir bereits im Bus eine fröhliche und kämpferische Stimmung. Eine Gruppe junger Menschen steht dicht gedrängt und singt ein Lied nach dem anderen. Der Fußweg von der Bushaltestelle zum Festplatz ist an den Seiten von kleinen Verkaufs-ständen gesäumt. Da, wo letztes Jahr ein fast leerer Korridor zu den Polizeiabsperrungen führte, gibt es jetzt Cay-Stände, kunstvoll auf-getürmte Sesamkringel, würzig duftende Köfte, Obststände – und auch kurdische Festkleidung sowie Tücher und geflochtene Bänder in den kurdischen Farben zu kaufen.

In der Hoffnung, die Bänder dieses Jahr durch die zwei Kontrollen zu schleusen, kaufen wir einige davon. Und tatsächlich nehmen uns nach dem großen Gedränge an den schikanösen Einlasskontrollen die zumeist sehr jungen Polizist*innen zwar Stifte, Notizbücher und Labellos ab – nicht aber die bunten Bänder. Der Umgang der Polizei mit der Masse der Besuchenden ist allgemein gelassener als im letz-ten Jahr.

Auf der Bühne wechseln sich stimmungsvolle Musik und politische Redebeiträge ab. Von allen sieben kurdischen Parteien und Plattfor-men, die für die Kommunalwahl am 31.3.2019 erstmals ein Wahl-bündnis mit der HDP gebildet haben, sprechen Vertreter*innen – die Bedeutung dieses Bündnisses ist bei vielen Reden zentrales Thema. Noch bei der letzten Wahl war ein solches Bündnis nicht möglich, da die Differenzen zwischen den kurdischen Gruppierungen zu groß waren.

Andere Sprecher*innen wie Ayse Gülkan von der Bewegung der Frei-en Frauen nehmen direkten Bezug auf den seit 130 Tagen andauern-den Hungerstreik von Leyla Güven. Die türkische Regierung wird aufgefordert, die Isolationshaft von Öcalan und allen anderen Gefan-genen zu beenden. Denn das türkische Strafgesetz benenne Isolati-onshaft als menschenunwürdige Behandlung und sähe vor, dass Gefangenen Zugang zu ihren Familien und juristischen Beiständen gewährt würde. Wenn die türkische Regierung ihre eigenen Gesetze anwenden würde, wären Frieden und Demokratisierung für die Tür-kei möglich.

Mehrfach stimmen Redner*innen den Ruf „Es lebe Apo – es lebe Kurdistan“ an („Apo“ ist der Spitzname des Kurdenführers Öcalan). Die Moderator*innen weisen immer wieder auf die Auflagen der Polizei für diese Veranstaltung und die Verbote von bestimmten Symbolen und Gegenständen hin. Die Besucher*innen haben sich augenscheinlich an die Verbote gehalten: Wir sehen keine Bilder von Abdullah Öcalan, kaum große Fahnen, kaum YPG-Uniformen. Die Stimmung bleibt insgesamt friedlich und entspannt.

Gegen 14 Uhr wird das große Newrozfeuer auf dem Platz angezün-det. Etwa 800.000 Menschen haben sich versammelt. Selbst als wir gehen, strömen noch junge und alte Menschen auf den Platz. Jetzt nach Feierabend kommen auch viele der Angestellten des Öffentli-chen Dienstes, die wie jedes Jahr schriftlich versichern mussten, dass sie an Newroz arbeiten. Und es kommen die Jugendlichen, die als Schikane die grade heute in der Schule Prüfungen schreiben muss-ten. Zurück im Hotel erfuhren wir abends von unserer Übersetzerin, dass es eine größere Anzahl an Festnahmen gegeben hatte.

Newroz in Diyarbakir

Dr. Elke Schrage und Dr. Gisela Penteker

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BERICHT 2019

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TÜRKEI-KURDISTAN-REISE

Heute geht es weiter nach Süden, in Richtung der syrischen Grenze. Unser erstes Ziel ist Sirnak. In dieser Stadt in den Bergen wehrten sich 2016 viele junge Menschen gegen die monatelangen Ausgangs-sperren – unter anderem, indem sie Verteidigungsgräben um die Stadt zogen. Die Reaktion des türkischen Militärs war verheerend: Fast 70 Prozent der Stadt wurden zerstört. Hunderte Menschen star-ben bei den Auseinandersetzungen. Der Großteil der Bevölkerung musste fliehen, viele sind bis heute psychisch schwer belastet und traumatisiert.

Die Menschen in Sirnak leben in permanenter Konfrontation mit der Polizei, dem Militär und den Vertreter*innen der Regierung, sagt unser Gesprächspartner in der Anwaltskammer, mit dem wir uns im Gerichtsgebäude treffen. Er sehe in seiner Arbeit als Anwalt deutlich, dass Leute, die sich früher getraut hätten, ihre Rechte einzufordern, heute nicht mehr den Mut dazu hätten. „Die Erde hat ein Ohr“ sei ein geflügeltes Wort geworden. Auch im Privaten steigen das Misstrau-en und die Angst vor Spitzeln. Für unseren Gesprächspartner ist klar: Die türkische Regierung hat große Rückschritte gemacht, was Men-schenrechte und Rechtsstaatlichkeit angeht. Er stellt die Theorie auf: Würden die Kurd*innen nicht in der Türkei leben, gäbe es vielleicht mehr Demokratie. Da Erdogan den Kurd*innen keine Zugeständnisse machen will, wird der Demokratisierungsprozess nicht vorangetrie-ben. Polizeiliche und militärische Mittel sowie die Unterdrückung der kurdischen Kultur würden immer stärker. Dass diese Strategie fehl-schlägt, zeigt sich deutlich daran, dass die Konflikte in den kurdi-schen Regionen weiter zunehmen. „Der Druck auf uns ist wieder so stark wie in den 90er Jahren – sogar noch schlimmer“. Damals ver-steckten die Menschen ihre Kassetten mit kurdischer Musik, „noch bevor sie ihre Waffen versteckten“.

Eine weitere Beeinflussung des Wahlergebnisses sieht unser Ge-sprächspartner in der Drohung Erdogans, Sirnak vom Status der Stadt zu einem Bezirk herabzustufen, sollte die HDP bei den Wahlen am 31. März 2019 wieder gewinnen. Dann würden dringend benö-tigte Arbeitsplätze und kommunale Fördergelder wegfallen. Offen-sichtlich ist der Verteilungsschlüssel von Zuschüssen für Kommunen willkürlich und ein wichtiges politisches Machtinstrument. In Sirnak hat die AKP die Wahlen gewonnen, da die meisten der zuvor Vertrie-benen Bewohner noch nicht wieder in die Wahllisten eingetragen waren. Ein Protest der HDP gegen das Ergebnis wurde von der zent-ralen Wahlkommission nicht angenommen.

Es sei als Kurd*in so schon schwer genug, einen Job im öffentlichen Sektor zu bekommen oder zu behalten. Werde ein Mitglied einer Familie auch nur einmal als staatskritisch auffällig – reiche das aus, um andere aus der Familie von ihren Berufen auszuschließen. Dies führe nicht nur zu Misstrauen untereinander – sondern der Druck auf die Leute, sich regierungskonform zu verhalten, steige damit in dieser wirtschaftlich schwachen Region enorm.

Diese „Sippenhaft“ ist gesetzwidrig. Es wäre die Aufgabe der Jurist*innen, solche Praktiken anzuklagen und zu verurteilen. „Aber das können sie nicht, denn sie stehen noch stärker unter Druck als die Bevölkerung.“ Immer mehr Entscheidungen sind willkürlich, set-zen sich über Gesetze hinweg und dienen einer pluralitätsfeindlichen Ideologie. Richter*innen und Staatsanwält*innen, die sich trotzdem an die Gesetze halten, sind schnell verhaftet, versetzt oder entlas-sen.

Trotz dieser Lebensumstände sind nach Schätzungen des Anwalts ungefähr zwei Drittel aller aus der Stadt geflüchteten Menschen wie-der nach Sirnak zurückgekehrt. Noch hausen sie überwiegend in im-provisierten Wohnungen, in Ruinen und in Zelten. Aber in ein paar Monaten soll nun endlich die Zuteilung der neuen Wohnungen be-ginnen. Auf den zerstörten Gebieten wurden in den letzten zwei Jahren dicht an dicht mehrstöckige neue Wohnhäuser errichtet. Hier sollen die Menschen einziehen, die ihre Wohnungen und Häuser ver-loren haben. Ein Gesetz regelt die Schadensersatzansprüche aller Familien, die nachweisen können, dass sie offiziell im Besitz einer Wohnung, eines Hauses, eines Ladens oder eines Stück Landes wa-ren und dieses „von den Terroristen“ (gemeint ist die PKK) zerstört wurde. Mit ihrer Unterschrift bestätigen sie also das Narrativ der Regierung, dass die Kämpfe in der Stadt von der PKK zu verantwor-ten seien. Ungefähr 40.000 Anträge wurden dennoch gestellt. Statt Wohnraum gab es allerdings bisher nur die Forderungen an alle An-tragstellenden, jeweils 62.000 Lira für Fahrstühle und Nebenkosten zu bezahlen. Die Anwaltskammer rät allen davon ab, dieser Forde-rung nachzukommen. Verloren sind in jedem Fall die Gärten und damit auch die Grundlage für die Selbstversorgung.

„Die Erde hat ein Ohr“

Marit Vahjen und Dr. Elke Schrage

Im Büro der HDP in Cizre begrüßen uns wie in den letzten Jahren viele versammelte Aktivist*innen. Die Co-Vorsitzende der Partei Gü-ler Tunc berichtet, dass die Partei seit drei Jahren „nichts mehr auf der Straße machen kann. Doch die Menschen seien sehr interessiert am Programm der Partei.“ Schnell wird klar, dass wie in Sirnak auch in Cizre die Konfrontation zwischen Staat und Gesellschaft unerbitt-lich geführt wird. Güler Tunc schildert uns, dass während der Aus-gangssperre viele Bürger*innen Cizres nur bis in die umliegenden Dörfer geflohen sind und darum vielfach Zeug*innen der Angriffe und Zerstörungen wurden.

Die Parlamentsabgeordnete von Sirnak, Nuran Imir, die auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, berichtet, dass viele entlassene Lehrer*innen in der Gewerkschaft Egitim Sen organisiert waren und vor ihrer endgültigen Entlassung aus anderen Landesteilen in den Osten strafversetzt wurden. Sicherheitskräfte dürfen jederzeit Schu-len und Klassenräume betreten. Obwohl in den hiesigen Haushalten „ausschließlich Kurdisch gesprochen“ werde, gebe es für kurdische

Ungebrochener Widerstand in Cizre

Dr. Gisela Penteker

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BERICHT 2019

Kinder weder muttersprachlichen Unterricht noch Vorbereitungskur-se auf die türkischen Grundschulklassen. Nuran Imir erläutert, die Diskriminierung und Kriminalisierung der kurdischen Bevölkerung durch den Staat nähere sich wieder den Methoden der 90er Jahre an.

Sie klagt die EU-Regierungen an, zu den Menschenrechtsverletzun-gen in der Türkei zu schweigen und beim Hungerstreik in ihren eige-nen Ländern Tote zu riskieren. Nuran Imir fordert Solidarität mit den Hungerstreikenden und beim Kampf gegen die Isolationshaft. Als Beispiel, warum die Jugendlichen so in der Sackgasse sind und kei-nen anderen Weg mehr sehen, berichtet sie von ihrem jüngeren Bruder Ramazan: Ihre Familie floh Anfang der 2000er Jahre aus Cizre nach Diyabakir. Die Eltern hätten dort für den Jugendlichen an 18 verschiedenen Schulen Aufnahmeanträge gestellt. Alle wurden we-gen Ramazans politischer Haltung abgelehnt. Er ging nach Mahmur (nahe Erbil im Irak) in die Berge, bei Kämpfen gegen ISIS verlor er einen Arm. Er floh nach Europa. Nach 161 Tagen beendete Ramazan in Straßburg, am 28. Mai 2019, seinen Hungerstreik.

Wünscht sich die Welt überhaupt einen stabileren Nahen Osten?

Besuch bei Ahmet Türk

Dr. Gisela Penteker

23. März 2019 – die Wahl rückt näher. In Mardin steht Ahmet Türk wieder zur Wahl, zusammen mit seiner Kollegin Figen Altindag. Wir treffen ihn in seinem Büro in der Innenstadt. Ahmet Türk ist ein po-litisches Urgestein, das selbst bei der jetzigen Regierung einen ge-wissen Respekt genießt. Zwar war er immer wieder inhaftiert – kam aber jeweils nach kurzer Zeit frei. Obwohl er jetzt 73 Jahre alt ist, kandidiert er wieder als Co-Oberbürgermeister für die Großstadt Mardin. Ahmet Türk und seine Ko-Bürgermeisterin Necla Figen ha-ben die Wahl mit 56,24 Prozent gewonnen. Die AKP hat gefordert, Ahmet Türk nicht zuzulassen, bisher ohne Erfolg.

Seine letzte Amtszeit endete im November 2016 nach der Hälfte der Legislaturperiode – mit der Einführung der Zwangsverwaltung. Kurz vor der Wahl 2014 hatte Ankara Mardin zur Großstadt „befördert“. Somit war die Oberbürgermeisterschaft jetzt für die umliegenden Bezirke mit verantwortlich: „Wenn in irgendeinem Dorf das Wasser nicht läuft, ist das deine Aufgabe, sagte man mir.“ Um die Verwal-tung anzupassen, mussten 25 Abteilungen neu gegründet werden.

Dieses riesige Projekt verbrauchte am Ende sieben Monate seiner Amtszeit „trotz großer Behinderungen aus Ankara“. Danach gelang es Ahmet Türk und seiner Amtskollegin, ein 55-Millionen-Euro-Pro-jekt zum Ausbau der Infrastruktur in Mardin zu entwickeln und 85 Prozent der Finanzierung von der EU bewilligt zu bekommen. Was-serversorgung und Straßen sollten verbessert, Parks und Plätze neu aufgebaut werden. Die Regierung verzögerte damals fast ein halbes Jahr die benötigten Unterschriften für den Startschuss des Projekts. Erst als die EU-Kommission drohte, die Mittel für sechs AKP-Projekte in anderen Regionen zu streichen, gab Ankara grünes Licht. Die Um-setzung des Projektes startete schleppend, denn der Beginn fiel in die Zeit des Kobane-Krieges. Viele geflohene Jesid*innen kamen aus Syrien nach Mardin. „Auch die mussten wir versorgen. Wir sind also nicht weit gekommen“.

Die dann eingesetzte Zwangsverwaltung hatte also bei der Übernah-me des Rathauses ein quasi ausfinanziertes Projekt zur Umsetzung auf dem Schreibtisch. Dabei sollte ursprünglich natürlich auch Geld in der Region bleiben. Nun gehen die Bauaufträge an AKP-nahe Fir-men aus Ankara. „Der Kuchen ist groß, alle wollen möglichst viel davon abhaben“, meint Türk.

Ahmet Türk spricht von einer gewalttätigen Atmosphäre gegen die kurdischen Parteien im Vorfeld der Wahl. Besonders in den Dörfern würden die staatlich angestellten Landräte (Kaymakam) aktiv Be-wohner*innen bedrohen: „Wenn du nicht die AKP wählst, passiert was“. Im Gebiet Estel wollte Ahmet Türk ein neues Wahlbüro eröff-nen. Sein Vermieter wurde so stark bedroht, dass er seinen Laden letztendlich doch nicht zur Verfügung stellte. Ahmet Türk betont, wie wichtig eine demokratische Lösung der Kurdenfrage sei: „So-lange nur polarisiert wird, kann es keinen echten Fortschritt in der Türkei und im Nahen Osten geben“. Würde die Welt die Kurd*innen in ihren Kämpfen anerkennen, wäre ein stabilerer Naher Osten mög-lich. „Aber wenn ich in die Welt gucke, frage ich mich, ob sie sich Welt überhaupt einen stabilen Nahen Osten wünscht.“

Was kann Deutschland tun, um den Kampf für Gleichberechtigung der Kurd*innen zu unterstützen? Ahmet Türks Vorstellungen sind sehr konkret: Ein Boykott deutscher Waffenlieferungen in die Türkei. Diese Waffen würden am Ende in jedem Fall gegen Kurd*innen ein-gesetzt. Ein Wirtschaftsboykott wäre hingegen kontraproduktiv. Un-ter den Folgen davon würde nur die ohnehin arme Bevölkerung lei-den. Die größten Chancen sieht Ahmet Türk darin, wenn die EU oder die UN eine*n dauerhaften Mediator*in aus einem Drittland einset-zen würde, um hier einen neuen Friedensprozess anzustoßen, zu begleiten und zu moderieren.

AHMET TÜRKGÜLER TUNC IM HDP-BÜRO IN CIZRE

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TÜRKEI-KURDISTAN-REISE

In Kiziltepe landen wir mitten im Trubel des Wahllokals. An Tischen mit lila Decken und unter kreuz und quer durch den Raum gespann-ten HDP-Fahnen nehmen sich beide Bürgermeisterkandidat*innen und einige Parteiaktive Zeit für uns. Es beeindruckt uns, dass in die-sem Wahllokal mit ten im Trubel von Fernsehlärm und Besucher*innen ein so konzentriertes, kompaktes Gespräch möglich ist.

Es ist keine einfache Zeit. Viele Vorstandsmitglieder und andere Ak-tive sind während des Wahlkampfes verhaftet worden. Bis zu zehn Tage sitzen sie ohne Angabe von Gründen im Gefängnis, unter ihnen auch Jugendliche. Die aufgebrochene, holprige Straße, auf der wir gekommen sind, ist ein Beispiel für fehlende Investitionen in die In-frastruktur. Weniger sichtbar sind fehlender Zugang zu Strom und fließendem Wasser – vor allem für die Landwirtschaft. Alle dreispra-chigen Beschilderungen im Ort (Kurdisch, Arabisch, Türkisch) seien abgerissen und durch türkische ersetzt worden. Das Denkmal des vor 15 Jahren zusammen mit seinem Vater vor seinem Haus von Si-cherheitskräften erschossenen zwölfjährigen Ugur Kaymaz wurde abgerissen. Alle kommunalen Projekte für Frauen wurden gestoppt. In diesem Jahr seien die Angestellten im Öffentlichen Dienst, Beamt*innen (u. a. Lehrer*innen) und Schüler*innen gezwungen worden, zu einer „Nevruz“-Feier der AKP zu gehen. Gedroht wurde mit Durchsuchungen und Strafen. Dieses Fest in iranischer Schreib-weise ist keine kurdische Feier, sondern ein „türkisiertes“ Frühlings-fest. Da die AKP den kommunalen Newroz-Platz mit ihrer Propagan-daveranstaltung belegt hatte, konnte am 21. März 2019 in Kiziltepe keine Newroz-Feier stattfinden. Die Menschen hier wollen die stän-

dige Konfrontation mit Polizei und Militär und die allgegenwärtigen Repressionen endlich loswerden. Sie sind bereit für ein neues Kapi-tel: „Wir strecken unsere Friedenshand aus“.

Als wir über die Einkaufspassage der Innenstadt zu unserem Bus zu-rückgehen, um zur HDP in Nusaybin weiterzufahren, bekommen wir einen Geschmack von diesem Alltag: Mehrere junge Männer mit Lederjacken und Funkgeräten fotografieren uns von verschiedenen Seiten, sobald wir das HDP-Wahlbüro verlassen. Wir kommen noch bis zum Ende der Straße. „Zivilpolizei – Passkontrolle bitte“. Unsere Übersetzerin wird befragt: „Warum seid ihr direkt ins HDP-Büro ge-laufen? Wen besucht ihr noch? Wie heißen eure Freunde hier? In welchem Hotel wohnt ihr? Zeigt eure Ärzt*innen-Ausweise.“ Nach einiger Zeit dürfen wir aufbrechen, werden aber verfolgt. Schon von weitem sehen wir an der Polizeiabsperrung vor Nusaybin eine grö-ßere Gruppe Zivilpolizisten, die auf uns wartet. Wir geben an, dass wir zur historischen Kirche Mor Jakub fahren wollen. Sie folgen uns weiter, ein Polizist kommt mit uns in die Ruine der Kirche und über-wacht uns. Unter diesen Umständen beschließen wir, kein weiteres Risiko einzugehen und die HDP in Nusaybin nicht zu besuchen.

„Wir strecken unsere Friedenshand aus“

Dr. Gisela Penteker

BEI DER HDP IN KIZILTEPE

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BERICHT 2019

2018 sei ein schlimmes Jahr gewesen, so die Bilanz des türkischen Menschenrechtsvereins in Diyarbakir. Die Menschenrechtsverlet-zungen, der Druck auf die Bevölkerung und die Unterdrückung der legalen politischen Arbeit hätten enorm zugenommen: „Viele Wege, die früher offen waren, sind nun verschlossen“. Der IHD könnte nicht alle Menschenrechtsverletzungen nachweisen und dokumentieren, die Zahlen von 2018 seien Mindestzahlen, basierend auf Berichten von Anwälten, Familienmitgliedern oder Briefen Gefangener.

Den 30 IHD-Büros in der Türkei sei es nicht möglich, eigene Untersu-chungen anzustellen oder gar in die Gefängnisse zu gehen. Das tür-kische Rechtssystem gelte nicht mehr – man könne nicht mehr an bestehende Gesetze und Regelungen anknüpfen. Es werde sehr will-kürlich entschieden. „Selbst ich als Jurist habe meine Vorahnung verloren, wie entschieden wird“, meint unser Gesprächspartner, der Vorsitzende Abdullah Zeytun. Über 1.000 Rechtsentscheide seien am Parlament vorbei außer Kraft gesetzt worden. Kritische Medien, die das veröffentlichen könnten, gebe es nicht mehr. Kritische NGOs würden einfach verboten. Die gesetzlich verbriefte Versammlungs-freiheit sei aufgehoben worden. Für Versetzungen und Entlassungen werde oft keine Begründung gegeben.

Abdullah Zeytun gibt an: Folter und entwürdigende Behandlung, be-sonders psychologische Folter, laufe in den Polizeistationen und Ge-fängnissen weiter, obwohl die Türkei die Antifolterkonvention unter-schrieben hat. Gefängniswärter sorgen mit Beleidigungen und Provokationen für Unruhe. Die Folge ist oft die Isolation der Gefan-genen. Häftlinge, die sich wehren, werden in entfernte Gefängnisse

verlegt, so dass ihre Familien und Anwälten sie nur schwer besuchen können. Viele werden zur Strafe in Einzelzellen verlegt. Oft gibt es auch willkürliche Telefonverbote. 420 schwerkranke Gefangene ha-ben keinen Zugang zu fachärztlicher Behandlung. 740 Kinder unter sechs Jahren wachsen mit ihren Müttern in Gefängnissen auf. Ihre Entwicklung ist dadurch bedroht. Wenn sie schulpflichtig werden, werden sie zu Verwandten entlassen – die Kinder, die keine haben, werden in Kinderheime gesteckt. Über 3.000 Jugendliche sind im Gefängnis, oft werden sie auch in Haftanstalten für Erwachsene un-tergebracht. (Siehe auch Seite 20f.)

Mehr Informationen: Bericht des IHD Diyarbakir 2018, www.ihddiyarbakir.org/Content/uploads/664548b7-f9d5-46c1-89b8-b35a29182915.pdf

Vom Rechtsstaat zum Willkürstaat

Ernst-Ludwig Iskenius

SUR, DIYARBAKIR

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TÜRKEI-KURDISTAN-REISE

Bei der Ärztekammer und bei der Gesundheitsgewerkschaft SES in Diyarbakir erwarten uns jeweils eine erstaunlich junge Vorstands-gruppe und lebhafte Diskussionen. Bei der Ärztekammer eine junge Ärztin, die uns auf Deutsch begrüßt. Die Berichte zu unseren Fragen sind ernüchternd: Es gibt in der Türkei kein ärztliches Versorgungs-werk. Wie bei allen staatlichen Gesundheitsarbeiter*innen ist nur sozialversichert, wer arbeitet. Bei Krankheit und auch im Urlaub ruht die Sozialversicherung. Das sei der Grund, warum viele Ärzt*innen (und andere Berufsgruppen) seit Jahren keinen Urlaub nehmen. Kli-niken überschreiten die gesetzlichen Arbeitszeitbestimmungen, um hohe Fallzahlen zu erreichen. 70 Menschen eine einfache Hautcreme zu rezeptieren, werde durch die Fallpauschalen besser honoriert als eine zehnstündige Operation.

Die aktuellen Veränderungen „haben die ärztliche Arbeit auf ein Kun-densystem ausgerichtet.“ Das kommt uns bekannt vor. Auch das ak-tuelle Hausarztsystem, das angepriesen wurde, weil es aus der EU kam. Zuerst stiegen die Einnahmen, weil es EU-Zuschüsse gab. Nach deren Auslaufen wurde klar, dass sich das System kaum selbst trägt, weil die Hausärzt*innen von der vom Staat gezahlten Pauschale Mie-ten, Mitarbeiter*innen und Geräte ohne Zuschüsse und ohne Inflati-onsanpassung unternehmerisch vorhalten müssen. „Die Ärzt*innen leben im Spannungsfeld zwischen Profitdruck und Patientenwohl.“ Professor*innen wechseln für bessere Bezahlung aus den staatlichen an die privaten Kliniken. Sie fehlen dann in Lehre und Praxis. Dennoch garantiert der Staat Privatkliniken Einnahmen auf einem Auslastungs-niveau von 70 Prozent, auch bei niedrigerer Auslastung. „Die AKP ist eine Industrie- und Handelspartei. Die letzten drei Gesundheitsminis-

ter waren Besitzer von Privatkliniken“, erklärt einer unserer Ge-sprächspartner.

Facharztausbildungen können in der Türkei nur in staatlichen Kran-kenhäusern absolviert werden. Schon immer mussten Ärzt*innen nach dem Studium (wie Lehrer*innen) eine Pflichtzeit mit Ortszuwei-sung durchlaufen. Neu ist, dass hierfür genauso wie für die Zulassung zu jeder Facharzt- oder weiteren Spezialisierungsprüfung jetzt ein Antrag nötig sei. Grundlage für die Entscheidungen ist nicht die fach-liche Qualifikation, sondern die Gesinnung. Eine Begründung oder ein Widerspruchsrecht gibt es nicht und das Warten auf die Ent-scheidung kann Monate oder Jahre dauern. Auch die Gesundheits-gewerkschaft SES kritisiert im Zusammenhang mit politisch motivier-ten Entlassungen, dass bei solchen Maßnahmen keine Rücksicht auf die Versorgungslage der Bevölkerung genommen wird.

Die Türkei muss ihre Medikamente importieren und verhandelt zen-tral mit internationalen Pharmafirmen. Wenn sie krankenversichert sind, müssen Rentner*innen 10 und Berufstätige 20 Prozent des Me-dikamentenpreises selbst übernehmen. Es gibt eine Liste des Ge-sundheitsministeriums zu den rezeptierbaren sowie eine übergeord-nete Liste der einzuführenden Medikamente. Teure (onkologische, immunologische u. a.) Mittel, die oft gar nicht erst eingeführt wer-den, sind, wenn überhaupt, nur auf privaten Wegen zu bekommen.

Die Regierung verleugnet die wirtschaftlichen und politischen Prob-leme und widmet sich stattdessen lieber der angeblichen Terrorbe-drohung.

Privatisierung und Private Public Partnership im Gesundheitswesen

Dr. Elke Schrage

BEI DER ÄRZTEKAMMER IN DIYARBAKIR

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BERICHT 2019

Bis in die 50er Jahre bestand Diyarbakir nur aus der Altstadt Sur in-nerhalb der antiken Stadtmauer. Die Stadt liegt auf einer Hochebe-ne, die steil zum Tigris abfällt. Dort, am Hang zum Fluss, liegen die berühmten Hevsel-Gärten, die zusammen mit der Mauer und der Festung seit 2015 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurden. Im Zuge der Landflucht, vor allem aber der Dorfzerstörungen und Ver-treibungen in den 80er und 90er Jahren breitete sich die Stadt nach Norden und Westen aus. Heute hat sie offiziell drei Millionen Ein-wohner. Innerhalb der Mauer lebten Altansässige und Flüchtlinge dicht gedrängt, Handwerker und Händler entlang der Hauptstraße. Moscheen und Kirchen, ein großer Basar, einige restaurierte histori-sche Gebäude in der traditionellen Bauweise aus Basalt, schwarz-weiß gestreift. Abweisende Mauern nach außen zu den schmalen Gassen, Fenster und Balkone zu den lauschigen oder auch geschäfti-gen Innenhöfen. Das Leben dort war wahrscheinlich nur für uns Tourist*innen romantisch. Es herrschten Enge, Armut und schlechte hygienische Verhältnisse, kriminelle Kinderbanden waren in den Vierteln unterwegs.

In den Jahren des Friedensprozesses bis zu den Kommunalwahlen 2015, hat es viele Überlegungen zur Sanierung gegeben. Der Wild-wuchs der Bauten kurdischer Geflüchteter entlang der Mauer wich gepflegten Parkanlagen, die von den Bewohner*innen gerne genutzt werden. Junge Leute restaurierten die alten Häuser, betrieben dort Galerien, Lokale, Musikclubs. Andere wurden von der Stadtverwal-tung restauriert und zu kleinen Museen gemacht, beispielsweise für berühmte Söhne der Stadt, wie die Dichter Cahit Sitki Taranci, Ziya Gökalp und Ahmed Arif. Alles geschah, so wurde uns versichert, in

enger Absprache mit den Bewohner*innen. Auch jetzt noch treffen sich die Dengbe-Sänger in einem eigenen Haus, zu ihrem traditionel-len Sprechgesang aus einer Ära, in der es noch keine Zeitungen gab.

2015 und 2016 wurde Sur zu einem Zentrum der bewaffneten Kämp-fe. Mehrere Viertel wurden schwer zerstört und später von der Re-gierung dem Erdboden gleichgemacht. Wir haben in den vergange-nen Jahren traurig und entsetzt davon erzählt. Inzwischen, wurde uns berichtet, sei das gesamte Gebiet innerhalb der Stadtmauer ent-eignet. Die Bewohner müssen nach und nach ihre Häuser und Woh-nungen räumen. Sur soll neu entstehen und „schöner als Toledo“ werden, hat Premierminister Ahmet Davutoglu gesagt. In diesem Jahr konnten wir von der Mauer in der Nähe der Festung die Bauar-beiten betrachten. Alles ersteht in Weiß mit breiten Straßen und Arkaden und einer neuen, zentral gelegenen Moschee.

Die armenische Kirche und auch die benachbarte katholische Kirche scheinen noch zu stehen. Die Gemeinden hatten bisher keinen Zu-tritt und wissen nicht, wie stark sie beschädigt wurden. Die Kirchen seien aber nicht enteignet und sollten an die Gemeinden zurückge-geben werden. Sonst ist von der Stadtmauer aus bis auf eine Türbe, – ein Mausoleum – kein historisches Gebäude zu sehen. Aus dem Viertel Lalibey, das von den Kämpfen nicht betroffen war, mussten die Bewohner ausziehen. Wer sich weigerte, wurde von der Wasser- und Stromversorgung abgeschnitten, bis er aufgab. Hinter der Ab-sperrung mit bunten Zukunftsbildern konnten wir die Obergeschos-se einiger Neubauten sehen.

Ein Spaziergang durch Sur

Dr. Gisela Penteker

MÜNDLICHE NACHRICHTENÜBERLIEFERUNG: DENGBE-SÄNGER IN SUR – DIYARBAKIR

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TÜRKEI-KURDISTAN-REISE

SUR, DIYARBAKIR

VON DEN BLICKEN ABGESCHIRMT: NEUAUFBAU PLANIERTER STRASSENZÜGE

TROTZDEM IST DIE ZERSTÖRUNG VIELERORTS SICHTBAR.

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BERICHT 2019

Das Thema Flucht spielte in den Gesprächen während unserer Reise nur eine untergeordnete Rolle. Geflüchtete wurden, wenn über-haupt, meist nur beiläufig erwähnt. Dabei hat die kurdische Zivilge-sellschaft entlang der syrischen Grenze seit dem syrischen Bürger-krieg Großartiges zur Aufnahme und Erstversorgung geleistet, ohne dafür auch nur irgendwelche Unterstützungsgelder der EU gesehen zu haben. Nur in Van wurden wir auf neuere Entwicklungen im Um-gang der türkischen Behörden mit Geflüchteten aus anderen Län-dern, die in die oder durch die Türkei kommen, ausführlicher infor-miert.

Mahmud Kasar von der Anwaltskammer in Van hat lange für das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) in Ankara ge-arbeitet. Er erläuterte uns die Situation: Er unterscheide zwischen Migranten, die freiwillig ihr Land verlassen und Geflüchteten, die ihre Heimat verlassen müssen. Für viele Personen beider Gruppen ist die Türkei nur ein Transitland auf ihrem Weg nach Europa. Van sei die Durchgangsstation für Geflüchtete aus Pakistan, Afghanistan, Iran, Irak, Bangladesch, Indien sowie weiteren asiatischen und afri-kanischen Ländern. Zahlen und Statistiken dazu seien nicht vorhan-den. Nicht wenige dieser Geflüchteten scheitern dann im und um das Mittelmeer, wenn sie die Grenze nach Griechenland oder Bulgarien überqueren möchten. In der Türkei gab es lange Zeit keine Anerken-nung für Geflüchtete von außerhalb Europas, die eine politische Ver-folgung geltend machten (Das hat damit zu tun, dass die Türkei ein Zusatzprotokoll zur Genfer Flüchtlingskonvention von 1967 nicht unterzeichnet hat, nach dem diese für Geflüchtete aus allen Staaten gilt, Anm. der Redaktion). Es wurden lediglich Personen im Land ge-duldet, die in einem Anerkennungsverfahren beim UNHCR standen oder gar im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention von ihm aner-kannt wurden. Für solche Personen mussten dann andere Aufnah-mestaaten gefunden werden, was manchmal Jahre gedauert hat. Die soziale Situation war in der Regel prekär. Dieser geografische Vorbe-halt ist zwar offiziell nicht weggefallen, aber ein wenig aufgeweicht: Seit 2014 hat die Türkei ein eigenes Migrationsamt, das Geflüchtete von außerhalb Europas registriert und Asylanträge entgegennimmt, anfangs noch in enger Zusammenarbeit mit UNHCR, seit September 2018 in eigener Regie. Das UNHCR spielt in der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kaum noch eine Rolle. Seitdem sind die Aner-kennungsquoten deutlich gesunken. Viele Flüchtlinge werden inner-halb von fünf Tagen wieder abgeschoben bzw. des Landes verwiesen. Das entsprechende Gesetz ist von der EU abgeschrieben und repres-siv modifiziert worden. In der Praxis läuft es so, dass die betroffenen Menschen weder aufgeklärt werden, noch ihre Rechte wahrnehmen können. Einen entsprechenden Anwalt zu finden, gelingt noch selte-ner. Die Mitglieder der Anwaltskammer versuchen, was ihnen mög-lich ist, größtenteils ohne finanzielle Vergütung.

Werden Geflüchtete von Grenzsoldaten oder der Polizei aufgegrif-fen, werden sie meist weitab von jeglicher menschlichen Siedlung in Lager gesteckt, wo sie isoliert und ohne weitere Kenntnisse und In-

formationen sich selbst überlassen sind. Nach Beobachtungen der Anwälte sind sowohl die Anhörungen als auch die Prozesse ober-flächlich und einseitig. Es gebe kaum qualifiziertes Personal, das der komplexen Materie gewachsen sei. Häufig sei der Prozess mit nega-tivem Ausgang sehr schnell abgeschlossen und die Menschen wieder geräuschlos außer Landes gebracht. Bei Anerkennung bekommen die Menschen trotzdem keine staatliche Unterstützung und müssen ihre Wohnung allein suchen und finanzieren. Sie bleiben auch unter dem geografischen Vorbehalt, so dass die Türkei niemals ein „siche-res Aufnahmeland“ sein könnte. Auf dem Arbeitsmarkt stehen Ge-flüchtete als Ausbeutungsobjekte zur Verfügung, viele würden „schwarz“ arbeiten. Seitdem erfahrene Richter und Staatsanwälte aus dem Staatsdienst entlassen worden sind, habe sich die rechtliche Situation noch weiter verschärft.

Die Türkei hat vorübergehend etwa 3,1 Millionen syrische Geflüch-tete aufgenommen. Nur die etwa 50.000 vor 2014 Angekommenen erhielten einen Aufenthaltsstatus, der Rest wird nur geduldet. 92 Prozent dieser syrischen Flüchtlinge leben mittlerweile in Städten, entweder entlang der syrischen Grenze oder in Istanbul, nur acht Prozent in Lagern. 50 Prozent von ihnen sind Kinder unter 18 Jahren, viele werden nicht beschult. Wie viel von den Geldern aus dem EU-Türkei-Deal in die Versorgung der syrischen Geflüchteten fließe oder woanders versacke, sei unklar und unkontrollierbar. Es besteht die Vermutung, dass diese hauptsächlich in AKP-beherrschte Städte flie-ßen. Unsere Gesprächspartner kritisierten immer wieder die zu la-sche Kontrolle der Verwendung der Gelder durch die EU. Ansonsten wurde die Befürchtung geäußert, dass die syrischen Flüchtlinge als Manövriermasse für die Pufferzone entlang der syrisch-türkischen Grenze missbraucht werden, um die Kurden dort politisch klein zu halten und einem Verdrängungsprozess zugunsten von Erdogan-Anhängern aktiv Vorschub zu leisten.

Die intern Vertriebenen türkischen Staatsangehörigen werden in offiziellen Statistiken verschwiegen. Auch das UNHCR registriert sie nicht. Dabei haben Hunderttausende ihre Häuser beim Beschuss der Innenstädte verloren, sind entweder bei Verwandten oder Freunden untergekommen oder in andere städtische Zentren abgewandert. Nur wenige haben aus der Zerstörung und/oder Enteignung Kom-pensationszahlungen erhalten. Falls doch, waren sie meist mit be-stimmten Auflagen verknüpft, und in jeden Fall nicht ausreichend für die Gründung einer neuen Existenz. Auch ihr soziales Netzwerk ha-ben sie verloren. Als „doppelt bestrafte“ Menschen werden sie in einigen Jahren zu einer marginalisierten, entwurzelten Bevölkerung werden – als leichte Opfer neoliberaler Ausbeutungsstrukturen wer-den sie ebenfalls in die reicheren Zentren in Europa drängen. Noch herrscht das Bewusstsein vor, in ihrer Heimat möglichst wohnortnah zu bleiben, aber die zunehmende Existenznot wird sie zwangsläufig zu neuen Flüchtlingen und Migrant*innen machen.

Migranten, Geflüchtete und Binnenvertriebene

Ernst-Ludwig Iskenius

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TÜRKEI-KURDISTAN-REISE

Nach Schätzungen der Kinderrechtsorganisation „Save the Children“ wächst weltweit jedes fünfte Kind in einem Konflikt- oder Krisenge-biet auf. 2017 waren es demnach rund 420 Millionen Kinder. Durch indirekte Kriegsfolgen wie Hunger oder mangelnden Zugang zur Ge-sundheitsversorgung starben zwischen 2013 und 2017 knapp 870.000 Kinder unter fünf Jahren, davon mindestens 550.000 Säug-linge.

Die Türkei, insbesondere der östliche und südöstliche Teil, ist seit Jahrzehnten ein Konflikt-, zeitweise auch Kriegsgebiet. Wie ist die Situation für die Kinder, die dort aufwachsen? Welche direkten und indirekten Folgen der politischen und teils militärischen Auseinan-dersetzungen konnten wir während unserer Reise feststellen, bzw. von unseren Gesprächspartner*innen erfahren? Einen Überblick gibt der Menschenrechtsbericht 2018 des IHD in Diyarbakir, der sich auf gemeldete Berichte von Betroffenen und/oder deren Angehörigen sowie auf öffentliche Berichterstattung bezieht.

Insgesamt habe die Gewalt in der Region zugenommen. Kinder wur-den Opfer der Bombardierungen der Stadtviertel aber auch immer wieder von Minenexplosionen. Ferner habe die Verhaftung von Kin-dern zugenommen. Zur Zeit befänden sich über 3.000 Kinder im Al-ter von 12 bis 18 Jahren aus unterschiedlichen Gründen im Gefäng-nis. Laut Jugendstrafvollzugsgesetz müssten sie in speziellen Einrichtungen untergebracht werden. Das sei jedoch aufgrund feh-lender Plätze nicht möglich. Es gebe nur vier Kindergefängnisse. Die

übrigen Kinder würden in Kinderabteilungen der normalen Gefäng-nisse inhaftiert. Dort seien sie oft unmenschlicher Behandlung und auch Folterungen ausgesetzt. Des Weiteren seien Fälle von sexuel-lem Missbrauch durch Wärter bekannt geworden. (Bericht 2014 – 2016: 33 Kinder, 2018: zehn Kinder). Zu den unmenschlichen Bedin-gungen gehöre auch, dass die Gefängnisse oft weit entfernt vom Wohnort der Kinder seien, so dass Besuche aus räumlichen und fi-nanziellen Gründen oft gar nicht erfolgen könnten. Die fehlenden Kommunikationsmöglichkeiten und die Isolation können als psychi-sche Folter gewertet werden mit nicht absehbaren Folgen für die weitere psychische Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. Man-gelnde Bewegung und Ernährung beeinträchtigten die gesundheitli-che Entwicklung. Inwieweit den Kindern Zugang zu gesetzlich festge-legter Bildung und Ausbildung ermöglicht wird, wurde nicht angesprochen. Dass sich unter diesen Bedingungen Jugendliche in den Gefängnissen das Leben nehmen, sei nicht verwunderlich. Es seien in den letzten Jahren mehrere Suizide und Suizidversuche be-kannt geworden.

Besonders dramatisch sei die Situation für die rund 750 Kinder im Alter von null bis sechs Jahren, die mit ihren Müttern im Gefängnis seien. Die Ernährung sei nicht nur einseitig, sondern auch nicht kind-gerecht. Ähnlich sei es in Bezug auf die Betreuung in den gefängnis-eigenen Kindergärten, in denen es kaum Spielzeug gebe und die geistige und körperliche Entwicklung kaum gefördert werde. Sobald die Kinder schulpflichtig seien, kämen die Kinder zu Verwandten

Kinder als Opfer politischer Auseinandersetzungen

Johanna Adickes

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BERICHT 2019

oder würden in Kinderheimen untergebracht. Der IHD verlange seit Jahren, dass Mütter mit Kindern nicht inhaftiert werden. Vielmehr seien die bereits Inhaftierten sofort zu entlassen und gegebenenfalls unter Hausarrest zustellen. Das Kindeswohl müsse auf jeden Fall ga-rantiert werden.

Ein weiteres Problem seien die Entführungen von Jugendlichen ab zwölf Jahren durch Geheimdienste und paramilitärische Kräfte. Sie würden willkürlich auf der Straße festgenommen und verschleppt. Man beschuldige sie, als Agenten tätig zu sein, verhöre und miss-handele sie. Es werde versucht, Aussagen zu erpressen. Sie würden zum Beispiel beschuldigt, Attentate verübt zu haben oder zu planen. Wenn sich die Jugendlichen oder ihre Eltern später an die Polizei wendeten, um den Vorfall zu Protokoll zu geben, stießen sie auf tau-be Ohren. Die Polizei nehme keine Anzeige auf, so dass es außer Zeugenaussagen keine amtlichen Beweise gebe. Das mache es fast unmöglich, juristisch gegen die Entführungen vorzugehen. Seit der faktischen Abschaffung einer unabhängigen Justiz hätten die Entfüh-rungen stark zugenommen.

Die Zunahme von Gewalt betrifft in einer von Konflikten und militä-rischen Auseinandersetzungen geprägten Region nahezu alle gesell-schaftlichen Bereiche. Lehrkräfte berichteten, dass Schüler*innen kaum mehr in der Lage seien, einfache Konflikte gewaltfrei zu lösen. Mobbing, Beschimpfungen, Beleidigungen, Diskriminierung und Aus-grenzungen seien Alltag geworden, auch schon in der Grundschule. Anders sei die Situation in alternativen, nicht-staatlichen Einrichtun-gen wie den Montessori-Grundschulen und -Kindergärten. Ein Leh-rer, der beim IHD Istanbul in der Kommission für Kinderrechte arbei-tet, erläuterte kurz den pädagogischen Ansatz und wie dieser in dem Konzept „Eine Schule für alle“ umgesetzt werde. Es würde mehrspra-chig unterrichtet, so dass auch kurdische Kinder ihre Muttersprache sprächen und ihre Bildungschancen verbessern würden. Außerdem bekomme jedes Kind seinem Lernrhythmus entsprechende Angebo-te, was vor allem Kindern aus sozial benachteiligten Familien zugute komme. Die Stärkung der eigenen Handlungskompetenz und ein da-raus resultierendes Selbstwertgefühl, verbunden mit intensiver El-ternarbeit, ermöglichten es den Kindern, gewaltfreie Konfliktlösun-gen zu praktizieren. In den staatlichen Schulen hätten Mitglieder des IHD keine Möglichkeiten, etwas gegen Menschenrechtsverletzungen und Gewalt gegen Kinder zu tun. An privaten Schulen könnten sie über die dort arbeitenden Lehrkräfte und Sozialarbeiter*innen Ein-fluss nehmen und so die Gewalt unter den Kindern vermindern.

Seit dem Bekanntwerden von sexuellem Missbrauch in religiösen Internatsschulen würden IHD-Broschüren verteilt. Eltern könnten sich im konkreten Fall an den IHD wenden, wo sie juristische Hilfe bekämen und ihnen Kontakt zur Menschenrechtsstiftung in Ankara vermittelt würde, damit eventuell auftretende Traumata behandelt werden können. Bezogen auf sexuellen Missbrauch an Mädchen herrsche großes Schweigen, insbesondere, wenn es in der eigenen Familie geschehen sei. Falls jemand Anzeige erstatte, würde diese meist aus Angst wieder zurückgezogen. Insgesamt sei es für Juristen schwer, sexuellen Missbrauch aufzudecken und strafrechtlich zu ver-folgen.

Sowohl der Menschenrechtsverein IHD in Istanbul als auch der Frau-enverein „Rosa“ wiesen uns auf eine Zunahme von Zwangsheiraten hin. Der Staat genehmige, dass Imame nicht nur religiöse Ehen schließen, sondern auch eine Art standesamtlicher Trauung vorneh-

men dürfen. Durch massive Proteste im In- und Ausland konnte ver-hindert werden, dass bereits neunjährige Mädchen verheiratet wer-den dürfen.

Kinder in Konfliktregionen wie in der Türkei seien nicht nur immer wieder Opfer von Bomben- und Minenexplosionen, von Entführun-gen, Inhaftierungen, Misshandlungen und sexuellem Missbrauch, sondern generell Leidtragende der politischen Auseinandersetzun-gen. Die massenhaften Entlassungen in vielen Berufszweigen bedeu-teten für die betroffenen Familien finanzielle Einschränkungen bis hin zur Verarmung, aber auch Sorgen um die Zukunft und das Wohl ihrer Kinder. Um die Ernährung der Familie in Zeiten der verfallenden Lira gewährleisten zu können, müssen die Kinder oft mitarbeiten. Hinzu komme eine unzureichende medizinische Versorgung, z. B. sei in Diyarbakir die Kinderstation des Krankenhauses geschlossen wor-den. Monatelang habe es keinen Kinderarzt gegeben. Nun gebe es wieder einen, allerdings in 70 Kilometern Entfernung. Bildung und Ausbildung seien ebenfalls unzureichend und speziell bei kurdischen Kindern, die oft ohne Türkischkenntnisse eingeschult würden und ohne zusätzliche Unterstützung Probleme beim Spracherwerb hät-ten. Hinzu komme der Austausch „unliebsamer“ Lehrkräfte durch junge, oft kaum ausgebildete, dafür religiös orientierte und regime-treue Personen sowie stark veränderte und teils reduzierte Lehr-pläne. Auch dass viele Schulen während des Ausnahmezustands zweckentfremdet oder monatelang geschlossen waren, habe sich nachteilig ausgewirkt.

In den Familien herrsche Angst vor erneuter Verfolgung, denn es gebe eine Art Sippenhaft bei denen, die bereits im Visier des Staates seien. (Vorwurf der Unterstützung einer terroristischen Organisation oder der Gülen-Bewegung). Das betreffe auch Kinder, die entführt werden und leichter auszufragen seien. So entstehe Misstrauen in den Familien und unter Freunden.

Was Kinder in der Türkei – außer dem bereits Erwähnten – noch alles gesehen und erlebt haben, weiß niemand genau zu sagen. Wer hilft ihnen, das Unfassbare, Unsagbare zur Sprache zu bringen und zu verarbeiten? Eltern haben bei all dem eigenen Leid oft keine Kraft dazu: „Mein Kind ist jetzt drei Jahre alt. Es fragt mich immer nach seinem Vater“, sagt eine junge Frau in Cizre. „Ich war schwanger, als das Massaker geschah, und mein Mann mit vielen anderen Men-schen in einem der Keller verbrannte. Wir Erwachsenen haben viel darüber gesprochen, wir sind noch dabei, es zu verarbeiten. Wie können wir da den Kindern helfen? Wie kann ich meinem Kind erklä-ren, was niemand von uns versteht?“

Weiterlesen: Save the Children: „Krieg gegen Kinder“, www.savethechildren.de/krieggegenkinder Menschenrechtsbericht IHD Diyarbakir 2018 kurzlink.de/IHD-Bericht

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TÜRKEI-KURDISTAN-REISE

Die europäischen Regierungen scheinen beruhigt zu sein, solange in der Türkei Wahlen abgehalten werden. Unsere Gesprächspart-ner*innen weisen aber darauf hin, dass das die Fassade sei, die die Erdogan-Regierung vor dem Demokratieabbau aufzieht. Sieben Wahlen in fünf Jahren: zwei Parlamentswahlen 2015 als Beginn der Drohkulisse, zwei Kommunalwahlen, Referendum, Wahl des Staats-präsidenten, Parlamentswahlen 2020, mit der Nachwahl in Istanbul sind es sogar acht. Das hält die Gesellschaft auf Trab und zwingt, sich zu outen. Trotzdem lag die Wahlbeteiligung im März 18 bei über 80 Prozent.

Auch vor der Wahl am 31. März 2019 wurden Oppositions-kandidat*innen massiv bedroht, mit Terrorverdacht überzogen, aus dem Amt entlassen und inhaftiert. Ein Wahlkampf auf der Straße ist der kurdischen Opposition seit drei Jahren nur unter Lebens-gefahr möglich. Der Mord an dem Präsidenten der Anwalts-kammer Diyarbakir, Tahir Elci, auf offener Straße im Novem-ber 2015 war nicht nur der blutige Auftakt zu den bewaff-neten Kämpfen in kurdischen Städten. Die kurdisch domi-nierte, multiethnische, säkula-re Opposition kämpft perso-nell geschwächt. Dass sich immer wieder neue Kandi-dat*innen finden, beeindruckt uns sehr.

D i e Wahl s c h lap p e n d e r AKP-Regierung in den wichtigsten großen Städten im Westen zeigen die wirtschaftliche Schieflage, die mit der AKP-Machtkonzentration und ihrer Politik des Staatsausverkaufs verbunden ist. Der Verfall der Lira war auf unserer Reise allgegenwärtig. Der Wechselkurs gegen-über dem Euro hat sich seit März 2018 um 100 Prozent verschlech-tert.

Wenn unsere Gesprächspartner*innen aus Gewerkschaften und Ärz-tekammern von der Privatisierung des Gesundheitswesens berich-ten, kommt uns einiges bekannt vor. Unsere Idee, einen gemeinsa-men Kongress zu diesem Thema zu organisieren, wird gerne aufgegriffen. Das „angelsächsische“ Familienarztmodell war nur in der Einrichtungsphase von der EU subventioniert worden. Es über-ließ dann den Ärzt*innen das komplette wirtschaftliche Risiko der Infrastruktur. Die eingeführten Fallpauschalen werden von Präsident Erdogan im Wahlkampf als Erfolg seiner Politik gefeiert. Dass in der Realität damit vorrangig möglichst viele Leistungen an möglichst ge-sunden Menschen erbracht werden, spiegelt die Kehrseite des Wirt-schaftsprimats.

Unsere Gesprächspartner*innen weisen darauf hin, dass die Verän-derungen im Gesundheitssystem nur Teil eines Umstrukturierungs-planes der gesamten Gesellschaft sind. Wo staatliche Baugesell-

schaften schon jetzt auf der „grünen Wiese“ mit dem Bau von großen Stadtkrankenhäusern (sehir hastaneleri) beginnen, sollen um zentrale Moscheebauten herum moderne uniforme Mittelstandspa-radiese entstehen. Dass diesen Trabantenstädten aber gerade die Mittelschicht wegbricht, könnte das Ende der Erdogan-Ära einleiten. Der durch die Entlassungen im Bildungssystem enorme Qualitätsver-lust der Ausbildung in der Türkei sowie die Unsicherheiten im Rechtssystem werden den Druck erhöhen und das Investitionsklima für ausländisches Kapital verschlechtern. Die Erdogan-Regierung hat mit Klientelpolitik ihre Macht ausbauen können. Eine langfristige Gesellschaftsgestaltung kann so aber nicht transportiert werden.

Demgegenüber steht der Gesellschaftsvertrag, der von Abdullah Öcalan initiiert und von einem Großteil der Kurden begrüßt wird. In

der kurdischen Region Rojava in Nord-Syrien hat die Ver-wirklichung einer emanzipa-torischen, basisdemokrati-schen, ökologischen, sozialen Ordnung unter den widrigen Bedingungen des Bürgerkrie-ges und der Blockade schon Fortschritte gemacht. Alle Ethnien und Religionen, Män-ner und Frauen, gestalten die Gesellschaft gemeinsam und gleichberechtigt. Wirtschafts- und machtpolitische Erfah-rungen stehen allerdings noch aus. Die türkische Regierung sieht diese Entwicklung, an deren Ende eine konföderale

Ordnung im Nahen Osten die künstlich geschaffenen Nationalstaa-ten ablösen soll, als Bedrohung an und unterdrückt dieses Gedan-kengut im kurdisch geprägten Südosten mit aller Macht. Besonders in den kurzen Jahren der Friedensverhandlungen und Entspannung ist dort eine starke Zivilgesellschaft entstanden, die sich politisch in der HDP organisiert. Die PKK und Abdullah Öcalan bleiben emotio-nale Fixpunkte. Das soziale Leben wird aber von zivilen Organisatio-nen getragen. Den Identifikationsfiguren des Widerstands die Stim-me zu nehmen, schwächt die Demokratie und befeuert die Eskalationspolitik. Wie schon 2012 hat eine Botschaft von Abdullah Öcalan aus dem Gefängnis auch diesmal zur Beendigung des Hunger-streiks geführt. Die Forderungen der Hungerstreikenden verdienen weiterhin unsere Aufmerksamkeit und Solidarität. Im Nahen und Mittleren Osten und in Nordafrika fordern fundamentalreligiöse Be-wegungen die Scharia als absolute Sozialkontrolle bei größtmögli-cher Wirtschaftsliberalität. Weltweit gewinnen rechtsnationalisti-sche Extremisten Wahlen und Macht. Der Gesellschaftsvertrag von Rojava ist ein säkulares, soziales Gegenkonzept, das zweifellos de-mokratische Standards stützt. Wir wünschen uns, dass die demo-kratischen Kräfte in Deutschland und Europa bei der Wahl ihrer Ver-bündeten eindeutiger Gesicht zeigen als bisher.

Kampf der Systeme, nicht der Ethnien

Dr. Elke Schrage

WOHNBLÖCKE DER STAATLICHEN BAUGESELLSCHAFT TOKI IN SIRNAK

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Immer wieder fragten wir uns auf der Reise, was wir zur Unterstützung der zivilgesell-schaftlichen Kräfte tun könnten. Das Wort „Solidarität“ lässt sich zwar schnell sprechen, aber schwer umsetzen. Auch wenn die Be-dingungen für oppositionelle Aktivitäten hier bei uns ungleich leichter sind als in der Tür-kei, handeln wir auch aus einer politisch mar-ginalisierten Position heraus mit wenig Reso-nanz von etablierten politischen Kräften und deren Mainstreammedien. Kurz: die Anliegen der Bevölkerung werden meist totgeschwie-gen. Die vorherrschende Interessenspolitik in Berlin und Brüssel ist, dass man sich die tür-kische Regierung trotz aller Schwierigkeiten und Missstimmigkeiten warmhalten möchte. Die Türkei ist nicht nur wichtiger strategi-scher Vorposten der NATO gegenüber Russ-land und dem Nahen Osten, sondern auch ein wichtiger Wirtschaftspartner, den man nicht allzu sehr unter Druck setzen darf. Dar-über hinaus spielt die Türkei bei der „Flücht-lingsabwehr“ eine entscheidende Rolle. Deutschland und die Türkei standen histo-risch bis in die 1920er Jahre in besonders enger politischer und kultureller Beziehung zueinander. Auch aus innenpolitischen Grün-den glaubt man die Regierungspolitik der Türkei stützen zu müssen, weil in Deutsch-land viele ihrer Anhänger leben. Hier sind die Folgen einer verfehlten Einwanderungspoli-tik besonders schmerzhaft zu spüren. In die-ser Gemengelage sind die Kurden mit ihren politischen Forderungen nach menschen-rechtlicher und pazifistischer Ausrichtung, den Forderungen nach dezentralen Struktu-ren und Autonomiebestrebungen sowie ei-nem basisdemokratischen Gesellschaftsmo-dell eher ein Ärgernis. Aber auch in der linken und kritischen Solidaritätsbewegung spielt die türkisch-kurdische Zivilgesellschaft mit ihren Friedensbemühungen eine eher unbe-achtete, bestenfalls belächelte Rolle.

Natürlich werden wir den Erwartungen und Hoffnungen, die die kurdisch-türkische Zivil-gesellschaft an die westlichen Basisbewegun-gen verständlicherweise hat, kaum gerecht werden können. Auch die Einschüchterungs-versuche der türkischen Regierung wirken sich negativ aus: Verhaftungen von deut-schen Journalist*innen und Menschen-rechtler*innen verunsichern viele, die sonst einmal in die Türkei reisen würden. Trotzdem ist die deutsche und europäische Zivilgesell-schaft nicht hilflos und hat durchaus Hand-lungsmöglichkeiten.

Hier einige Möglichkeiten:

• Veranstaltungen zum Thema Türkei orga-nisieren, für die wir als Referent*innen zur Verfügung stehen. Wir haben viele Fotos gemacht, die wir gerne zeigen. Wir stehen auch für lokale Medien wie Radios oder Zeitungen gerne zur Verfügung.

• Besonders hilfreich sind sicherlich Einla-dungen an türkische/kurdische Kolleg*in-nen zu Kongressen, Fachgesprächen oder anderen Veranstaltungen. Besonders im heilberuflichen Bereich ist dieser Aus-tausch dringend erwünscht. Partnerschaf-ten zwischen ähnlichen Institutionen wie Universitäten, Instituten, medizinischen Einrichtungen etc. helfen, die Isolation zu durchbrechen. Begegnungen mit betroffe-nen Personen machen in der Regel einen Eindruck und lenken die Aufmerksamkeit auf das jeweilige Land und seine Probleme.

• Gezielte Reisen und Besuche zur kurdi-schen und türkischen Zivilgesellschaft wer-den in der Regel als wohltuend und ermu-tigend angesehen. Ein wichtiger Anlass sind die Beobachtungen von Prozessen gegen zivilgesellschaftliche Akteure, z. B. Ärztinnen und Ärzte. Wir vermitteln gerne und bereiten andere darauf vor. Mit mehr Menschen könnten wir sehr viel mehr Pro-zesse abdecken, als es uns bisher möglich ist. Internationale Beobachter*innen stärken den Betroffenen den Rücken und mindern durch Öffentlichkeit häufig das Strafmaß. Das Gefühl, nicht allein dazuste-hen, sondern eine weltweite Öffentlichkeit hinter sich zu wissen, ist häufig die Trieb-feder, auch existenzielle Situationen mutig zu überstehen. Sie ermutigen auch das un-mittelbare Umfeld, sich zu solidarisieren. Kontakt: Elu Iskenius, [email protected]

• Sich an Briefkampagnen zu beteiligen, gibt den zivilgesellschaftlichen Akteuren Mut und gleichzeitig eine Stimme in die politi-sche Öffentlichkeit zurück. Kontakt: Gisela Penteker, [email protected]

• Mittlerweile ist eine Reihe von politischen Aktiven aus der Türkei nach Deutschland geflohen, als prominentester der Journa-list Can Dündar. Sie hier aus der Margina-lisierung als Flüchtlinge herauszuholen und mit ihnen zu gemeinsamen politischen Aktivitäten zusammenzukommen, wäre

sicherlich fruchtbar. Sie können Scharnier, Brücke und Sprachmittler zugleich sein und helfen, Informationen zu bündeln und für mehr Verständnis zu sorgen. Manche sind sogar hier in Deutschland aufgewach-sen und sprechen fließend Deutsch (Leyla Imret, die frühere Bürgermeisterin von Cizre, Ziya Pir, Parlamentsabgeordneter der HDP Diyarbakir). Für sie ist häufig wich-tig, im Exil ihre Identität als aktive politi-sche Individuen zu bewahren.

• Zivilgesellschaftliche Selbsthilfeprojekte finanziell zu unterstützen, macht sie weni-ger anfällig für Verbote und bietet einen gewissen internationalen Schutz.

• An Aktivitäten zum Verbot von Rüstungs-exporten teilnehmen, z. B. Kampagne ge-gen Rheinmetall, Aktion Aufschrei. Vom 1.–8. September 2019 gibt es z. B. in der Südheide ein Protestcamp gegen Rhein-metall.

• Deutsche Politiker*innen und Regierungs-mitglieder auffordern, sich für neue Frie-densgespräche zwischen Kurden und der türkischen Regierung unter einer interna-tionalen Mediation eines neutralen Landes einzusetzen. Diese Idee wurde auf unserer Reise mehrmals gefordert. Wenn wir ge-nügend Akteure werden, könnte daraus auch eine erfolgreiche Kampagne werden.

• Die Forderung zur Aufhebung des PKK-Verbotes in Deutschland nachdrück-lich unterstützen. Damit könnte eine Ent-kriminalisierung der kurdischen Bewegung eingeleitet werden, und den Hardlinern und Kriegstreibern auf türkischer und kur-discher Seite entgegengewirkt werden. Eine deutsche Demokratie könnte so ein deutliches Zeichen gegen Erdogans Unter-drückungspolitik aussenden und einen Bei-trag zur Wiederaufnahme des Friedens-prozesses in der Türkei leisten.

Das sind nur kleine Schritte. Die „große“ Poli-tik zu beeinflussen ist sicher nur langfristig möglich. Wir können derzeit nur als „gesell-schaftlicher Sauerteig“ wirken in der Hoff-nung, dass sich langfristig einiges in der Re-gierungspolitik niederschlägt. Zu begreifen, dass es ohne politische Lösung der kurdi-schen Frage in der Türkei keinen Frieden im Nahen Osten geben wird (Ahmet Türk), muss das Ziel sein.

Wie kann man die Zivilgesellschaft unterstützen?

Ernst-Ludwig Iskenius

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Türkei-Kurdistan-Reise – März 2019 © IPPNW e. V. / August 2019

Zur Reiseleitung:Dr. Gisela Penteker ist Allgemeinärztin i. R. in Otterndorf an der Nordsee und seit 1983 Mitglied der IPPNW. Seit 20 Jahren führt siegemeinsam mit dem Dipl.-Sozialpädagogen Mehmet Bayval aus Frankfurt (Main) Delegationsreisen in die Türkei/Kurdistan durch.

Teilnehmer*innen der Reise und Autor*innen des Berichts:Johanna Adickes, Ernst-Ludwig Iskenius, Gisela Penteker, Elke Schrage und Marit Vahjen. Serra Bucak unterstützte die Gruppe als Dolmet-scherin. Endredaktion: Dr. Gisela Penteker, Regine Ratke, Angelika Wilmen Layout: IPPNW e. V. / Regine RatkeTitelfoto: Sigrid Ebritsch

© IPPNW e. V., August 2019Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit Genehmigung möglich. Bestellmöglichkeit unter shop.ippnw.de oder in der IPPNW-Geschäftsstelle:

IPPNW – Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs, Ärzte in sozialer Verantwortung e. V. Körtestraße 10 | 10967 BerlinTel.: +49 (0) 30 – 69 80 74 – 0Fax: +49 (0) 30 – 683 81 [email protected] | www.ippnw.de

Weiterlesen Amnesty International, www.amnesty.de Medico international, www.medico.de Kurdistan-Rundbrief, www.kurdistan.report.de Demokratisches Türkeiforum, www.tuerkeiforum.net Nützliche Nachrichten, archiv.friedenskooperative.de/dialog/nn.htm Civaka Azad, civaka-azad.org Azadi Rechtshilfefonds, www.nadir.org/azadi Al Monitor, www.al-monitor.com TIHV (englisch), en.tihv.org.tr IHD (englisch), ihd.org.tr/en Nützliche Nachrichten: Kontakt: Memo Sahin, [email protected]

Spenden Türkeiarbeit der IPPNW IPPNW e. V. – Stichwort „Türkei“ IBAN: DE39 1002 0500 0002 2222 10, BIC: BFSWDE33BER – Bank für Sozialwirtschaft Berlin Diese Spende ist nicht steuerlich absetzbar. Medico international Medico hat sowohl in der Türkei als auch in Rojava einheimische Mitarbeiter und kooperierende Gruppen. Medico International IBAN DE21 5005 0201 0000 0018 00 BIC HELADEF1822 – Frankfurter Sparkasse Kurdistanhilfe e. V. Der Verein in Hamburg unterstützt Menschen und Projekte im nordsyrischen Rojava, besonders in Afrin.

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