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Inhaltsverzeichnis

Verlauf des Holocaust

3— ErsteMassenmordeundDeportationennachKriegsbeginn

3— Zeitzeugenbericht

5— SystematischeMassenerschießungenosteuropäischerJuden

6— Vernichtungslager

7— EuropaweiteVernichtungstransporteundMassaker

9— Opfer

10— WeiterevonVernichtungbedrohteGruppen

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Verlauf des Holocaust

ErsteMassenmordeundDeportationennachKriegsbeginn

Zeitzeugenbericht

„Nach unserer Ankunft in Auschwitz gingen wir über die Lagerstraße. Ausgemergelte Gestalten, wie mit Haut überzogene Skelette, arbeiteten zwischen den Blocks. Mit eingefallenen Augen, die nur ohnmächtige Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit ausdrückten. Das waren eigentlich nur noch lebende Leichen, durch Schreie, Schläge und Fußtritte zur mörderischen Arbeit gezwungen. Was ich da sah, ging über mein Vorstellungsvermögen hinaus. Einer warf uns unruhige Blicke zu und machte uns Zeichen und flüsterte: „Wirf was zum Essen”. Es war keine Bitte, sondern eher die Forderung eines zugrunde gehenden Menschen, der sich vor der bevorstehenden Vernichtung verzweifelt zu retten suchte. Da ich nur einen SS-Mann sah, der uns den Rücken zuwandte, warf ich ihm ein in Papier gewickeltes Stück Speck zu.

Noch ehe der Häftling den Speck zum Munde führen konnte, stürzte sich ein SS-Mann mit einem Wutschrei auf ihn und schlug ihn mit einem gewaltigen Knüppel zu Boden. Als er ihm mit seinen beschlagenen Stiefeln mit voller Wucht auf die Brust sprang, schloss ich vor Schreck die Augen. Ich hörte das Krachen der gebrochenen Knochen. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich einen Fetzen Menschen unbeweglich am Boden und eine blutige Masse anstelle des Gesichtes. Mir wurde schlecht. Der SS-Mann war im nächsten Augenblick bei unserer Reihe und brüllte: „Wer hat das geworfen?” In seinem Gesicht erblickte ich die ungesättigte Lust zu weiteren Morden. Dumpfes Schweigen war die Antwort. Er wiederholte seine Frage und hob schon den Knüppel in die Höhe, als ich rief: „Einen Moment, ich habe das geworfen.” Jetzt wartete ich ruhig auf den Tod und empfand merkwürdigerweise keine Angst. Mit dem Knüppel in der Hand musterte er mich. Ringsum herrschte eine tödliche Stille. In seinem Gesicht erblickte ich etwas wie Verwunderung und vernahm die Worte: „Na, pass auf Junge!” Ehe ich zu mir kam, war er weg. Ein Henker von Auschwitz schenkte mir aus einer Laune heraus das Leben. Und obwohl ich selbst das Grauen des Lagers überlebt habe, obwohl vor meinen Augen die gespenstischen Bilder der Hölle auf Erden vorbeigezogen sind und obwohl Jahre vergangen sind, verfolgt mich nach wie vor der Schatten eben jenes unbekannten Häftlings vom ersten Tag meines Aufenthalts im Konzentrationslager Auschwitz. Und ich werde niemals die hungrigen Augen des Menschen vergessen, der essen und leben wollte, auf den irgendwo jemand wartete und dem ich anstatt Hilfe den Tod gebracht habe.“

Tadeusz Rybacki. Auschwitz (Häftlingsnummer 16377), Buchenwald (Häftlingsnummer 10955).

Hitler hatte schon 1919 die vollständige „Entfernung“ der Juden aus Deutschland und Europa als sein politisches Ziel aufgestellt. Seine autobiografische Propagandaschrift „Mein Kampf“ erklärte 1926 die rassenpolitische Entmachtung des „Weltjudentums“ zum Hauptziel und deutete die Ermordung vieler Juden als Rache für künftige deutsche Kriegsopfer an. Am 30. Januar 1939

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kündigte er in seiner Reichstagsrede zum Jahrestag der Machtergreifung erstmals an, ein neuer Weltkrieg, für den er die Juden verantwortlich machte, werde auf jeden Fall zur „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ führen. Auf diese Drohung kam Hitler im Kriegsverlauf oft – 1941 und 1942 allein je vier Mal – zurück. So beklagte er 1943 in einer Reichstagsrede, für diese Prophezeiung ausgelacht worden zu sein und schloss an: Unzählige von denen, die damals gelacht haben, lachen heute nicht mehr. In seinem politischen Testament vom 29. April 1945, dem Vortag seines Selbstmords, nahm er letztmals auf seine Ankündigung Bezug und ließ keinen Zweifel, dass er sie hatte durchführen lassen.

Im Zweiten Weltkrieg gelangten Millionen weiterer Juden der von Deutschland besetzten Gebiete besonders Osteuropas unter die Herrschaft der Nationalsozialisten. Diese gaben nun deren Deportation den Vorrang vor ihrer Vertreibung. Schon vor dem Überfall auf Polen vom 1. September 1939 schlossen SS und Wehrmacht ein Abkommen, das Heinrich Himmler als „Kommissar für deutsches Volkstum“ besondere Vollmachten für die zu besetzenden Gebiete gab. Am 20. September 1939 beschlossen Hitler, Himmler, Reinhard Heydrich und Albert Forster als Nahziel, binnen eines Jahres alle Juden aus dem Reich nach Polen zu bringen und dort in Ghettos zu konzentrieren. Man dachte dabei zunächst an die Einrichtung eines überwachten „Judenreservats“ an der Grenze zur Sowjetunion. Dabei wurde deren Massensterben und langfristige Vernichtung bereits eingeplant und angestrebt. Bis Dezember 1939 wurden bereits etwa 60.000 Polen, darunter 7000 polnische Juden, von eigens dazu aufgestellten Einsatzgruppen ermordet.

Im März 1940 wurden die Juden der inzwischen „eingedeutschten“ polnischen Gebiete südlich von Warschau und Lublin zwangsweise in für sie hermetisch abgeriegelte Ghettos wie das von Warschau oder Łódź „umgesiedelt“. Dort starben viele aufgrund der von den Deutschen zu verantwortenden Nahrungsrationen an Hunger, Kälte und durch tägliche willkürliche Morde der NS-Wachmannschaften. Nur zwei höhere Wehrmachtsoffiziere, Johannes Blaskowitz und Wilhelm Ulex, protestierten und wurden daraufhin von Hitler abgesetzt. Im April 1940 wurden diese „Zwangsumsiedlungen“ vorerst wieder eingestellt, weil sich organisatorische Probleme dabei ergaben.

Danach erwogen das Auswärtige Amt und das Reichssicherheitshauptamt im Juni 1940 den sogenannten Madagaskarplan, der vorsah, bis zu 5,8 Millionen europäische Juden auf die Insel Madagaskar abzuschieben, die man im Rahmen eines Friedensvertrags vom besiegten Frankreich als Mandat zu bekommen hoffte. Nach der Luftschlacht um England wurde diese Idee illusorisch und dann stillschweigend fallengelassen.

Im Herbst 1940 verfuhren „Reichsgaue“ eine kurze Zeit uneinheitlich mit den jüdischen Bürgern ihres Bereichs: So schoben Baden, die Pfalz und das Saarland etwa 6500 Menschen am 22. und 23. Oktober in unbesetzte Teile des besiegten Frankreichs ab. Manche Städte erließen in eigener Regie Ausgangsbeschränkungen und zogen die Radioapparate jüdischer Bürger ein. Die Gestapo ging dazu über, diese uneinheitliche Handhabung zusammenzufassen, indem sie dieselben Maßnahmen reichsweit anordnete. Juden erhielten keine Kakao- und Schokoladenprodukte mehr, keine Kleiderkarten, kein Textil- und Ledermaterial. Ihre Lebensmittelkarten waren, wie ihre Pässe, mit einem „J“ markiert, und sie durften täglich erst nach 15:30 Uhr einkaufen, wenn die meisten Regale in den Läden bereits geleert waren.

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SystematischeMassenerschießungenosteuropäischerJuden

Mit dem am 22. Juni 1941 begonnenen Überfall auf die Sowjetunion begann auch die organisierte Massenvernichtung von Juden in den eroberten Gebieten, also der Holocaust. Er wurde von Erschießungen sowjetischer Juden über Deportationen osteuropäischer, dann auch deutscher und westeuropäischer Juden in Arbeits- und Vernichtungslager bis zur Räumung der osteuropäischen Ghettos und systematischen Vergasung der meisten deportierten Neuankömmlinge in den dazu gebauten Gaskammern ausgedehnt.

Bereits im Mai 1941 hatte Reinhard Heydrich auf Befehl Hitlers sechs mobile „Einsatzgruppen“ der SS und des SD aufstellen und ausbilden lassen. Ihr offizieller Auftrag war die Partisanenbekämpfung hinter den vorrückenden Heeresgruppen der Wehrmacht. Noch vor dem Überfall auf die Sowjetunion erhielten sie mit dem Kriegsgerichtsbarkeitserlass sowie dem Kommissarbefehl Sondervollmachten. Die Wehrmacht arbeitete auch bei der organisatorischen Erfassung von Juden in den besetzten Gebieten eng mit SS und SD zusammen; nur wenige Kommandeure weigerten sich, ohne dafür bestraft zu werden.

Die Einsatzgruppen begannen ab 24. Juni 1941 zunächst erwachsene männliche, ab 15. August auch jüdische Frauen, Kinder und Greise in eroberten sowjetischen Dörfern und Städten zu sammeln, um sie dann massenhaft zu erschießen: Auf diese Weise löschte diese erste Mordwelle ganze jüdische Gemeinden vor allem in Litauen, Weißrussland und der Ukraine aus. Die Einsatzgruppenführer mussten der Reichskanzlei in regelmäßigen Abständen von ihren Ergebnissen berichten: Bis Jahresende 1941 ermordeten sie knapp 400.000 sowjetische Juden. Die erste Massenerschießung männlicher jüdischer Einwohner durch deutsche Polizeieinheiten erfolgte in der Stadt Gargždai

Die meisten sowjetischen Juden waren als Zwangsarbeiter in Ostpolen, der Ukraine und dem Baltikum konzentriert. Ab März 1942 und ab August 1943 wurden auch die dort inzwischen eingerichteten Ghettos nach „arbeitsunfähigen“ Juden durchkämmt, um diese zu erschießen: so in Minsk, Riga und Babyn Jar bei Kiew. Diese Morde betrafen vielfach Frauen, Kinder, Kranke und auch deutsche Juden, die in diese Ghettos deportiert worden waren. Die Mordwellen reichten über die Schwarzmeerküste und Winniza bis nach Rostow am Don und in die Städte am Fuß des Kaukasus.

Ab August 1942 wurden auf Befehl der Militärverwaltungen, die Nahrungsmittelkontingente einsparen wollten, noch bestehende Ghettos in Weißrussland und der Ukraine „geräumt“: Das bedeutete vollständige Ermordung ihrer Bewohner, besonders in Wolhynien, u. a. in Luzk, Wladimir Wolynsk, Brest-Litowsk, Pinsk. Dabei wurden in Maly Trostinez auch Gaswagen eingesetzt.

An vielen dieser Massaker waren Wehrmachtseinheiten, drei Polizeibataillone, die stationäre Schutzpolizei, die Gendarmerie und ausländische Helfer direkt beteiligt. So lassen sich die Vernichtung durch den Krieg, Vernichtung durch Zwangsarbeit für den Krieg und Vernichtung in den durch Krieg eroberten Gebieten nicht voneinander trennen.

Allein von August bis November 1942 meldete Himmler an Hitler 363.000 als „Partisanen“ ausgegebene jüdische Ermordete. Bei Massenerschießungen und mobilen Vergasungen wurden insgesamt etwa 1,8 Millionen Juden getötet.

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Vernichtungslager

Das erste nationalsozialistische Konzentrationslager (KZ) war 1933 in Dachau eingerichtet worden. Es diente wie andere KZ seiner Art bis 1938 vorrangig der Inhaftierung, Folterung und Ermordung politischer Gegner, vor allem Angehörigen von KPD und SPD, Pazifisten und linken Intellektuellen. Es bot aber auch ein Modell für spätere Arbeits- und Vernichtungslager. Juden wurden dort von Anfang an besonders schikaniert und hatten die höchsten Sterblichkeitsraten.

Für die geplanten Morde im großen Stil galten Massenerschießungen, wie sie unmittelbar nach Kriegsbeginn in Polen einsetzten, bald als „ineffizient“. Zudem sollten anonymisierte Tötungsmethoden die psychische Hemmschwelle der Täter weiter senken oder ganz beseitigen. Daher erprobten die SS-Einsatzgruppen seit Herbst 1941 Massentötungen mit Hilfe von mobilen Vergasungswagen. Im Dezember begannen sie diese Methode im Vernichtungslager Kulmhof (Chelmno) systematisch anzuwenden.

Zuvor war 1939–41 bei der Aktion T4 zur Ermordung geistig und körperlich Schwerbehinderter Kohlenstoffmonoxid in Gaskammern verwendet worden. Dabei wurden reichsweit Medikamente, Nahrungsentzug, Injektionen und Gas als Tötungsinstrumente erprobt. Auch andere Einzelheiten der später eingesetzten Mordmaschinerie wurden damals getestet und ausgefeilt. Ärzte, Verwaltungs- und Transportspezialisten der T4-Aktion stiegen zum Teil in der SS-Hierarchie auf; das Personal der Vernichtungslager der Aktion Reinhardt stammte überwiegend aus der Aktion T4.

Da sich die von der NS-Führung nun verlangte Mordrate auch mit diesen bereits erprobten Methoden nicht erzielen ließ, wurden seit Sommer 1941 Vernichtungslager errichtet, deren Hauptzweck die fabrikmäßige Tötung einer möglichst großen Menschenzahl war:

Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau / KZ Auschwitz II (1941),•

Vernichtungslager Kulmhof (in Chełmno bei Dąbie; 1941),•

KZ Lublin / Vernichtungslager Majdanek (1941),•

Vernichtungslager Belzec (Bełżec bei Łódź; 1942),•

Vernichtungslager Treblinka (bei Warschau; 1942)•

Vernichtungslager Sobibor (bei Lublin; 1942) alle in Polen, sowie das•

Vernichtungslager Maly Trostinez (bei Minsk/Weißrussland; 1942).•

Zur Tarnung der geplanten Ermordung diente für einen Kreis privilegierter Juden das Ghetto Theresienstadt genannte Konzentrationslager bei Prag. 1941 wurde es als Durchgangslager zum späteren Abtransport in die Vernichtungslager eingerichtet. Juden aus Deutschland konnten sich sogar unter Vorspiegelung einer Versorgung dort „einkaufen“. In Terezín lebten mehr als 140.000 Juden auf engstem Raum unter Beteiligung einer minimalen „jüdischen Selbstverwaltung“. Einer Delegation des Roten Kreuzes wurde dieses Konzentrationslager im Juli 1944 bei einer

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Besichtigung in einer Täuschungsaktion als Ort eines relativ „normalen Lebens“ der Häftlinge vorgeführt.

Aus dem ganzen von deutschen Truppen besetzten Europa wurden bis Kriegsende Menschenmassen in die Vernichtungslager deportiert. Soweit sie nicht schon beim Zugtransport, meist in ungeheizten Viehwaggons, umgekommen waren, wurden sie nach ihrer Ankunft zum Teil in Arbeitsfähige und Nicht-Arbeitsfähige selektiert. Kinder und ihre Mütter, Alte und Kranke, wurden gleich nach der Selektion in Gaskammern geführt, die meist als Duschräume getarnt waren. In Auschwitz wurden sie mit Zyklon B „vergast“ (ein anderer Ausdruck der zynischen SS-Sprache war „Sonderbehandlung“). In anderen Vernichtungslagern wurden meistens Motorabgase benutzt. Damit wurden fast alle in Transporten ankommenden Menschen sofort ermordet. Das Gas verursachte einen qualvollen, bis zu 20 Minuten dauernden Erstickungstod. Die Leichen wurden anschließend in Krematorien verbrannt. Körperliche Überreste – Haare und Goldzähne – und Privatgüter der Opfer – Kleidung, Schuhe, Brillen, Koffer usw. – wurden von der SS industriell verwertet.

Hinzu kamen Menschenversuche zu militärischen, medizinischen und anderen Zwecken in den Lagern. Die Opfer wurden zum Beispiel in Druckkammern extrem hohem oder niedrigem Luftdruck ausgesetzt, in Eiswasser unterkühlt, mit Bakterien infiziert, für chirurgische Versuche und vieles mehr missbraucht. Die Täter, etwa der SS-Arzt Josef Mengele, nahmen den Tod oder lebenslange Gesundheitsschäden der Versuchspersonen bewusst und ohne jede Skrupel in Kauf. An vielen deutschen und schweizerischen Forschungseinrichtungen fanden sich noch bis vor kurzem menschliche Körperteile, die einst von den Nationalsozialisten zu „Untersuchungszwecken“ angefordert und geliefert worden waren.

EuropaweiteVernichtungstransporteundMassaker

Am 17. September 1941 entschied Hitler, die bis dahin für die Nachkriegszeit vorgesehene Deportation aller reichsdeutschen und europäischen Juden aus von Deutschland besetzten Gebieten nach Osteuropa noch während des Krieges zu beginnen. Nun fuhren die ersten Transportzüge aus Berlin, München, Wien, Prag nach Łódź, um zunächst 19.000 Juden in das ohnehin völlig überfüllte dortige Ghetto zu sperren. Dafür wurden ab Januar 1942 nichtdeutsche Ghettobewohner nach Kulmhof zur Vergasung gebracht.

In Kaunas erschossen Einsatzkommandos deutsche Juden vom 25. bis 29. November 1941 sofort nach ihrer Ankunft. Dies gilt als Beginn der „Endlösung“ für deutsche Juden, wobei umstritten ist, ob das NS-Regime diese damals schon beabsichtigte. Denn Himmler untersagte weitere Erschießungen von Berliner Juden in Riga am 30. November; der Befehl kam jedoch zu spät, so dass Himmler den SS-Führer Friedrich Jeckeln heftig für die Missachtung seiner „Richtlinien“ rügte. Man nimmt an, dass er die Ermordung reichsdeutscher Juden noch etwas aufschieben wollte, um das Durchsickern der Nachrichten davon im Reich zu verhindern. Im Februar 1942 wurden erneut deutsche Juden nach Lublin deportiert und in Riga erschossen. Ab März mussten auch Juden im Alter von über 65 Jahren, die bis dahin verschont worden waren, die Deportationszüge besteigen. Die Presse durfte nichts mehr darüber berichten. Im Mai wurden größere Gruppen auch deutscher Juden in Minsk und Kulmhof ermordet. Ab Juni sind erste direkte Transporte aus dem Reich in Vernichtungslager wie Sobibor und Belzec nachgewiesen.

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Das im März 1939 gebildete Marionettenregime der Slowakei unter Jozef Tiso hatte schon im November 1938 mit eigenen Deportationen slowakischer Juden nach Ungarn und in Arbeitslager begonnen. Auf das Drängen des slowakischen Ministerpräsidenten Vojtech Tuka[22] hin wurden ab März 1942 unter der Regie Adolf Eichmanns etwa 58.000 slowakische Juden in den Distrikt Lublin, nach Auschwitz und Majdanek deportiert. Die meisten starben dort an Hunger, Zwangsarbeit und Seuchen. Im August 1942 wurden diese Transporte nach kirchlichen Protesten vorübergehend gestoppt. Zwei Jahre später besetzte die Wehrmacht die Slowakei; eine eigene Einsatzgruppe inhaftierte und deportierte etwa 12.000 untergetauchte slowakische Juden.

Im September 1941 veranlasste die dortige deutsche Militärverwaltung Massenmorde an männlichen Juden in Serbien. Ab Dezember 1941 wurden jüdische Frauen, Kinder und Greise Serbiens in das Lager Semlin interniert. Im Mai 1942 ermordete die dortige Gestapo 6000 von ihnen mit einem Gaswagen. In Kroatien erließ das faschistische Ustascha-Regime schon im April 1941 Rassegesetze gegen Juden und Roma, denen bald Kleiderkennzeichen für Juden folgten. Nach Angehörigen der serbischen Minderheit ermordeten sie ab August 1941 auch Tausende kroatische Juden in dazu eingerichteten Lagern. Ab August 1942 deportierten sie auf Drängen der Deutschen 5500 internierte Juden nach Auschwitz. Im Mai 1943 wurden die auf italienischen Druck hin zwischenzeitig eingestellten Transporte wieder aufgenommen. Die italienischen Besatzungsbehörden retteten Tausenden kroatischen Juden das Leben, indem sie diese auf der Insel Rab internierten.

Im März 1942 wurden erstmals auch 1000 französische, in Compiègne inhaftierte Juden nach Auschwitz deportiert. Im Mai besuchte Heydrich Paris, um ein großes Deportationsprogramm mit dem Vichy-Regime zu besprechen. Dazu gehörte die Einführung des Judensterns. Am 16. und 17. Juli nahm die Polizei in Paris bei einer Razzia etwa 13.000 Juden ohne gültigen Pass fest. Sie wurden mit regelmäßigen Zügen vom Sammellager Drancy nach Auschwitz gebracht und dort meist sofort ermordet. Auch aus der unbesetzten Zone Frankreichs wurden ab 17. August 1942 eingewanderte Juden mitsamt ihren Kindern, die eigentlich als französische Staatsbürger rechtlichen Schutz genossen, in die osteuropäischen Vernichtungslager deportiert. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in den bislang unbesetzten Teil Frankreichs im November 1942 wurden diese Transporte von den Gefolgsleuten Eichmanns organisiert. Die französischen und italienischen Behörden in der bis September 1943 italienisch besetzten Zone um Nizza verweigerten oft die Auslieferung, so dass mehr als die Hälfte aller französischen Juden dem Abtransport entgingen. 75.000 von ihnen wurden deportiert, etwa 3000 davon überlebten die Lager.

Ebenfalls im Juli 1942 begannen die Deportationen von etwa 25.000 Juden aus Belgien und etwa 107.000 Juden aus den Niederlanden. Während ständige zähe Verhandlungen mit dem Vichy-Regime die Deportationen aus Belgien im Frühjahr 1943 stocken ließen, gingen die aus den Niederlanden unvermindert weiter.

In Griechenland wurden die Juden je nach Besatzungsbehörde sehr verschieden behandelt. Im italienisch besetzten westlichen Teil schützten die Behörden sie bis September 1943; in den deutsch und bulgarisch besetzten östlichen Teilen wurden die Juden aus mehreren Ghettos Salonikis ab März 1943 nach Auschwitz transportiert. Nach der Kapitulation Italiens vor den Alliierten schickten die Deutschen mit großem logistischem Aufwand tausende weiterer Juden aus Korfu und dem damals italienischen Rhodos dorthin.

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Insgesamt wurden rund 54.000 Juden aus Griechenland ermordet.

In Bulgarien führte die Regierung im Juli 1942 Rassengesetze ein und gab bulgarische Juden auf deutschem Gebiet zur Deportation frei. Im März und April 1943 verhaftete sie circa 11.300 im von ihr besetzten Mazedonien und Thrakien aufgefundene bulgarische Juden, um sie den Deutschen auszuliefern. Die übrigen inländischen bulgarischen Juden blieben jedoch verschont.

Die Regierung Rumäniens unter Antonescu ließ etwa 350.000 rumänische Juden in den von ihr besetzten Gebieten in großen Massenmorden nahezu vollständig ausrotten. Nur die Juden Transsylvaniens blieben bis März 1944 unter dem Schutz Ungarns, bis auch sie mit den ungarischen Juden direkt nach Auschwitz deportiert wurden. Die bereits fest geplante Deportation der Juden Altrumäniens ließ der Staatschef im Oktober 1942 überraschend stoppen. Diese waren jedoch weiterhin Verfolgung und Pogromen ausgesetzt.

In Dänemark konnte die demokratisch gewählte Regierung unter deutscher Besatzung zunächst weiterarbeiten. Sie verhinderte erfolgreich die Einführung von Judenstern und Rassengesetzen. Als der dänische Widerstand im Sommer 1943 anwuchs, beschloss die deutsche Militärverwaltung die Deportation der dänischen Juden. 7200 von ihnen konnten jedoch rechtzeitig vor dem bekannt gewordenen Termin mit Fischerbooten in das neutrale Schweden fliehen; siehe dazu Rettung der dänischen Juden. Nur 500 dänische Juden wurden nach Theresienstadt deportiert, wo die meisten überlebten. 734 norwegische Juden fanden in Auschwitz den Tod. Finnland lehnte eine Auslieferung der finnischen Juden ab. Von diesen kämpften einige auf deutscher Seite gegen die Sowjetunion.

Etwa 9000 Juden Italiens wurden nach dem Sturz Mussolinis von Oktober 1943 bis Dezember 1944 großenteils nach Auschwitz deportiert. Zudem wurden viele Juden Norditaliens und der Adriaküste bis Kriegsende von Einsatzgruppen, die aus Polen dorthin verlegt worden waren, aufgespürt und ermordet.

Opfer

12. April 1945: Foto vom KZ-Außenlager Boelcke-Kaserne in Nordhausen, in dem über 20.000 Menschen ihr Leben ließen.

Die Opferzahlen des Holocausts ließen sich bis 1990 nur ungefähr schätzen. Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher wurde 1946 erstmals die ungefähre Zahl von sechs Millionen ermordeter Juden genannt. In einer eidesstattlichen Erklärung sagte Wilhelm Höttl, bis 1945 Mitarbeiter im Reichssicherheitshauptamt, aus, Eichmann habe ihm berichtet:[24]

„In den verschiedenen Vernichtungslagern seien etwa vier Millionen Juden getötet worden, während weitere zwei Millionen auf andere Weise den Tod fanden, wobei der größte Teil davon durch die Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei während des Feldzuges gegen Rußland durch Erschießen getötet wurde.“

Holocaustforscher nahmen jedoch zunächst an, von 1939 bis 1945 seien weniger Juden ermordet worden: Gerald Reitlinger schätzte sie 1953 auf 4,2 bis 4,7[25], Raul Hilberg 1961 auf 5,1

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Millionen.Martin Gilbert kam 1982 auf 5,7 Millionen. 1987 trug die von einem internationalen Autorenkollektiv verfasste Enzyklopädie des Holocaust die damals möglichen genauesten Schätzungen aus vielen Einzelländern zusammen und kam so auf etwa 5,6 Millionen.

Durch die Freigabe sowjetischer Archive seit 1990 konnten die bis dahin ungewissen Opferzahlen für Polen und die Sowjetunion etwa anhand von Deportationslisten, Zugfahrplänen und Mitgliedlisten jüdischer Gemeinden vor und nach dem Holocaust überprüft werden. Dabei stellte sich heraus, dass die Opferzahlen der Konzentrationslager Auschwitz zwar niedriger lagen als zuvor vermutet, dass aber allein dort 1,1 Millionen Menschen, darunter mindestens 900.000 Juden, ermordet worden waren.[28]

Wolfgang Benz befasste sich in „Dimension des Völkermords“ (erschienen 1991, 2. Auflage 1996) mit allen heute zugänglichen Quellen, Auswertungs- und Berechnungsmethoden der Opferzahlen. Burkhard Asmuss veröffentlichte 2002 eine Aufstellung mit teilweise gröberen Schätzungen.[29] Insgesamt erhärtete sich dabei eine Gesamtopferzahl von mindestens 5,6 bis zu 6,3 Millionen ermordeten jüdischen Menschen. Dazu kommen Zahlen für Verletzte und Vertriebene.

Die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem hat eigenen Angaben zufolge zwei Drittel der rund sechs Millionen jüdischen Opfer identifiziert. Derzeit (12/2010) gibt es in der Personenkartei mehr als vier Millionen Namen. 2,2 Millionen davon wurden von Angehörigen oder Freunden beigesteuert, die anderen stammen aus Archiven oder Recherchen.[30]

WeiterevonVernichtungbedrohteGruppen

Zum Vernichtungsprogramm der Nationalsozialisten gehörte auch die Ermordung von drei Mio. sowjetischen Kriegsgefangenen und fast drei Mio. nichtjüdischen Polen durch Massenexekutionen, Kriegshandlungen oder Nahrungsentzug. Mehr als zwei Millionen Osteuropäer, vor allem Polen und Sowjetbürger starben bei der ihnen auferlegten Zwangsarbeit. Die Nationalsozialisten folgten dabei dem Grundsatz „Vernichtung durch Arbeit“: Das Sterben der Zwangsarbeiter durch Hunger, Kälte, Überforderung und willkürliche Morde wurde bewusst in Kauf genommen und herbeigeführt. Solange die Betroffenen arbeitsfähig waren, diente ihre Zwangsarbeit wiederum der Fortsetzung des Krieges und damit weiterer Vernichtung.

Auch die Einrichtung der Arbeitslager und die Verschleppung der Kriegsgefangenen war keine zufällige, sondern gezielt herbeigeführte Folge des Überfalls auf die Sowjetunion. Im Generalplan Ost hatte man ein weitreichendes Programm dazu ausgearbeitet. Danach sollten bis zu 30 Millionen als „rassisch minderwertig“ bezeichnete Slawen allmählich durch Massenmord und Verbannung nach Sibirien ausgerottet werden.

Zum Holocaust gehörte auch der Völkermord an den europäischen Roma (siehe: Porajmos). Auch deren möglichst weitgehende Vernichtung beruhte auf rassistischem Denken. Neben parteipolitischen Gegnern wurden auch andere missliebige Gruppen, etwa sogenannte Asoziale, Gewerkschaftler, Zeugen Jehovas, andere oppositionelle Christen, unangepasste Jugendliche wie Swing-Liebhaber, Edelweißpiraten oder Mitglieder der bündischen Jugend sowie Homosexuelle in den KZs interniert und teilweise ermordet. Der Grad ihrer Verfolgung unterschied sich aber deutlich von dem auf völlige Ausrottung zielenden Genozid an Juden, der Versklavung und Massenvernichtung der Slawen und massenhaften Internierung und Tötung der „Zigeuner“.