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Leseprobe Baum, Lyman Frank Der Weihnachtsmann oder Das abenteuerliche Leben des Santa Claus Neuübersetzung aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser © Insel Verlag insel taschenbuch 3634 978-3-458-35334-8 Insel Verlag

Insel Verlag · 2015. 8. 18. · Lyman Frank Baum Der Weihnachtsmann oder Das abenteuerliche Leben des Santa Claus Mit der Erzhlung Die Entfhrung des Santa Claus Aus dem amerikanischen

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Page 1: Insel Verlag · 2015. 8. 18. · Lyman Frank Baum Der Weihnachtsmann oder Das abenteuerliche Leben des Santa Claus Mit der Erzhlung Die Entfhrung des Santa Claus Aus dem amerikanischen

Leseprobe

Baum, Lyman Frank

Der Weihnachtsmann oder Das abenteuerliche Leben des Santa Claus

Neuübersetzung aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser

© Insel Verlag

insel taschenbuch 3634

978-3-458-35334-8

Insel Verlag

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Der Schçpfer des Kinderbuchklassikers Der Zauberer von Oz, Lyman FrankBaum, hat mit der Geschichte �ber das abenteuerliche Leben des SantaClaus ein weiteres bezauberndes M�rchen geschrieben. Und er findet wun-derbare Antworten auf all das, was wir schon immer wissen wollten: Wowohnt der Weihnachtsmann? Wie kam Santa Claus zu seinem Namen?War der Weihnachtsmann auch einmal ein kleiner Junge? Warum wirdSanta Claus von Rentieren durch die L�fte gezogen, und wieso kçnnenRentiere �berhaupt fliegen?

Lyman Frank Baum, geboren am 15. Mai 1856 in Chittenango/New York,ist am 6. Mai 1919 in Los Angeles/Kalifornien gestorben. Im insel taschen-buch ist von Lyman Frank Baum außerdem Der Zauberer von Oz (it 3433)erschienen.

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insel taschenbuch 3634

Lyman Frank BaumDer Weihnachtsmann oder

Das abenteuerliche Leben des Santa Claus

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Lyman Frank BaumDer Weihnachtsmann

oder Das abenteuerlicheLeben des Santa Claus

Mit der Erz�hlungDie Entf�hrung des Santa Claus Aus demamerikanischen Englisch von Hans-Christian Oeser

Insel Verlag

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Originaltitel: The Life and Adventures of Santa Clausund A Kidnapped Santa Claus.

insel taschenbuch 3634

Neu�bersetzungErste Auflage 2010

� Insel Verlag Berlin 2010

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des çffentlichen Vortrags sowie der�bertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oderandere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielf�ltigt oderverbreitet werden.Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch VerlagSatz: H�mmer GmbH, Waldb�ttelbrunnDruck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in GermanyISBN 978-3-458-35334-8

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Inhalt

Der Weihnachtsmannoder Das abenteuerliche Leben des Santa Claus . . . 9

Kindheit und Jugend1. Burzee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

2. Das Kind des Waldes . . . . . . . . . . . . . . . . 14

3. Die Adoption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

4. Claus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

5. Der Herr �ber die Waldbewohner . . . . . . . . 24

6. Claus entdeckt die Menschen . . . . . . . . . . . 27

7. Claus verl�sst den Wald . . . . . . . . . . . . . . 31

Mannesjahre1. Das Lachende Tal . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

2. Wie Claus sein erstes Spielzeug fertigte . . . . . 43

3. Wie die Ryls die Spielzeuge anmalten . . . . . . 47

4. Wie die kleine Mayrie es mit der Angstzu tun bekam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

5. Wie die Unbeschwerte Bessie insLachende Tal kam . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

6. Die Bosheit der Awgwas . . . . . . . . . . . . . . 66

7. Die große Schlacht zwischen Gut und Bçse . . . 74

8. Die erste Reise mit den Rentieren . . . . . . . . . 81

9. »Santa Claus!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90

10. Heiligabend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

11. Wie die ersten Str�mpfe in den Kamingeh�ngt wurden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

12. Der erste Weihnachtsbaum . . . . . . . . . . . . 107

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Alter1. Der Mantel der Unsterblichkeit . . . . . . . . . . 113

2. Als die Welt alterte . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

3. Santas Stellvertreter . . . . . . . . . . . . . . . . 125

Die Entf�hrung des Santa Claus . . . . . . . . . . . . 133

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Der Weihnachtsmannoder Das abenteuerliche

Leben des Santa Claus

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Kindheit und Jugend

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1 Burzee

Habt ihr schon einmal vom großen Wald von Burzee ge-hçrt? Als ich noch klein war, hat mir mein Kinderm�d-chen immer davon gesungen. Sie sang von den m�chtigenBaumst�mmen, die dicht nebeneinanderstanden, mit ih-ren verschlungenen Wurzeln unter der Erde und ihren ver-schlungenen Zweigen in der Hçhe; von dem �berzug ausrauer Borke und den sonderbaren, knorrigen �sten; vondem buschigen Laubwerk, das den gesamten Wald �ber-dachte, bis auf die Stellen, wo sich die Sonnenstrahleneinen Weg bahnten, bevor sie in kleinen Tupfern den Bo-den ber�hrten und auf Moos, Flechten und verwehtes,trockenes Laub seltsame und wunderliche Schatten war-fen.

Der Wald von Burzee ist riesig und gewaltig und furcht-erregend f�r alle, die sich unter sein schattiges Dach steh-len. Wer von sonnenbeschienenen Wiesen kommt und seinLabyrinth betritt, auf den wirkt er anfangs finster, dannwohltuend und zuletzt wie von unendlichen Freuden er-f�llt.

Seit Hunderten von Jahren ist er in all seiner Pracht ge-diehen, die eingehegte Stille wird nur von dem emsigenSchmatzen gestreifter Eichhçrnchen, dem Knurren wilderTiere und dem Gesang der Vçgel durchbrochen.

Dabei hat Burzee seine ureigensten Bewohner. Im An-fang bevçlkerte die Natur den Wald mit Elfen, Knooks,Ryls und Nymphen. Solange der Wald steht, wird er diesensanften Unsterblichen, die sich ungestçrt in seinem tiefs-ten Innern ergçtzen, als Heimat, Zuflucht und Spielst�ttedienen.

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Bis Burzee ist die Zivilisation nie vorgedrungen. Ob esihr jemals gelingen wird?

2 Das Kind des Waldes

Es war einmal, vor so langer Zeit, dass unsere Urgroßv�terkaum davon vernommen haben d�rften, eine Waldnym-phe namens Necile, die lebte im großen Wald von Burzee.Sie war eng verwandt mit der m�chtigen Kçnigin Zurline,und ihr Zuhause lag im Schatten einer weit verzweigtenEiche. Einmal im Jahr, am Knospentag, wenn die B�umeneue Knospen treiben, hielt Necile der Kçnigin den Gol-denen Kelch des Ak an die Lippen, und diese trank dar-aus zum Wohlergehen des Waldes. Ihr seht also, sie wareine ziemlich wichtige Nymphe, außerdem sagt man, dasssie aufgrund ihrer Schçnheit und Anmut sehr gesch�tztwurde.

Wann genau sie erschaffen wurde, h�tte sie nicht zu sa-gen gewusst; Kçnigin Zurline h�tte es nicht zu sagen ge-wusst; selbst der Große Ak h�tte es nicht zu sagen gewusst.Es war ja auch so lange her, damals, als die Welt noch neuwar und Nymphen bençtigt wurden, um die W�lder zubewachen und sich um die jungen B�ume zu k�mmern.Dann, an einem Tag vor undenklichen Zeiten, sprang Ne-cile ins Leben; strahlend schçn, gerade und schlank wie derSchçssling, den zu sch�tzen sie erschaffen worden war.

Ihr Haar hatte die Farbe einer Kastanienschale; ihre Au-gen waren blau im Sonnenlicht und purpurn im Schatten;ihre Wangen erbl�hten in demselben schwachen Rosa, dasdie Wolken bei Sonnenuntergang s�umt; ihre Lippen wa-ren von einem vollen Rot. F�r ihre Tracht w�hlte sie dasGr�n des Eichenblatts; s�mtliche Waldnymphen kleiden

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sich in diese Farbe und w�ssten keine, die reizvoller w�re.Ihre zierlichen F�ßchen steckten in Sandalen, w�hrend ihrKopf nur von seidigen Locken bedeckt wurde.

Neciles wenige Pflichten waren einfach. Sie verhinder-te, dass unter ihren B�umen sch�dliches Unkraut wuchsund die Erdnahrung aufsaugte, die ihre Pfleglinge benç-tigten. Sie vertrieb die Gadgols, die ein boshaftes Vergn�-gen daran fanden, gegen die Baumst�mme zu fliegen undsie zu besch�digen, sodass sie erschlafften und an der gif-tigen Ber�hrung starben. In den regenarmen Jahreszeitentrug sie Wasser von B�chen und T�mpeln herbei und be-feuchtete die Wurzeln ihrer durstigen Schutzbefohlenen.

Das war im Anfang. Das Unkraut hatte l�ngst gelernt,die W�lder zu meiden, in denen Waldnymphen wohnten;die abscheulichen Gadgols wagten sich nicht l�nger in ihreN�he; die B�ume warenalt und robust geworden und konn-ten die D�rre besser verkraften als zu der Zeit, als sie ebenerst frisch entsprossen waren. Daher verminderten sich Ne-ciles Aufgaben, die Zeit schlich immer tr�ger dahin, unddie folgenden Jahre wurden erm�dender und ereignis-loser, als dem frohen Mut der Nymphe genehm war.

In Wahrheit fehlte es den Waldbewohnern nicht an Zer-streuung. Bei Vollmond tanzten sie in der f�rstlichen Run-de der Kçnigin. Dann gab es das Fest der N�sse, das Ju-bil�um der Herbstf�rbung, die feierliche Zeremonie desAbfallenden Laubes und die Festlichkeiten des Knospen-tags. Doch diese Zeiten des Vergn�gens lagen weit ausein-ander, und die Stunden dazwischen waren oft çde.

Dass eine Waldnymphe unzufrieden werden kçnnte,fiel Neciles Schwestern nicht im Traum ein. Die Unzufrie-denheit befiel Necile auch erst nach vielen Jahren des Gr�-belns. Nachdem sie zu der �berzeugung gelangt hatte,dass das Leben eine Last war, verlor sie die Geduld mit ih-

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rer Lage und sehnte sich danach, etwas wirklich Interes-santes zu tun und ihre Tage auf eine Weise zu verbringen,von denen die Waldnymphen bis dahin nichts geahnt hat-ten. Allein das Gesetz des Waldes hinderte sie daran, sichauf die Suche nach Abenteuern zu begeben.

W�hrend diese Stimmung schwer auf der h�bschen Ne-cile lastete, geschah es, dass der Große Ak den Wald vonBurzee aufsuchte und den Waldnymphen gestattete, daszu tun, was sie immer taten – zu seinen F�ßen zu liegenund seinen weisen Worten zu lauschen. Ak ist Herr undGebieter �ber die Waldbewohner der Welt; er sieht allesund weiß mehr als die Menschensçhne.

In jener Nacht hielt er die Hand der Kçnigin; er liebtedie Nymphen, wie ein Vater seine Kinder liebt; und Ne-cile lag mit vielen ihrer Schwestern zu seinen F�ßen undlauschte aufmerksam, als er sprach.

»Wir leben so gl�cklich, meine Schçnen, auf unserenWaldlichtungen«, sprach Ak und strich sich gedankenvoll�ber den grauen Bart, »dass wir von dem Kummer unddem Elend, die das Los jener armen Sterblichen sind, wel-che die offenen R�ume der Erde bewohnen, gar nichts wis-sen. Zwar gehçren sie unserer Gattung nicht an, doch f�rWesen, die so beg�nstigt sind wie wir, geb�hrt es sich, Mit-gef�hl zu zeigen. Oft, wenn ich am Haus eines leidendenSterblichen vor�bergehe, bin ich versucht, stehen zu blei-ben und das Elend des Armen zu bannen. Doch Leiden,in Maßen, ist das nat�rliche Los der Sterblichen, und esist nicht unseres Amtes, in die Gesetze der Natur ein-zugreifen.«

»Gleichwohl«, sprach die schçne Kçnigin und nickte mitihrem goldenen Schopf dem Herrn �ber die Waldbewoh-ner zu, »w�re es keine eitle Vermutung, dass Ak diesen un-gl�cklichen Sterblichen oftmals beigestanden hat.«

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Ak l�chelte.»Manchmal«, erwiderte er, »wenn sie sehr jung sind –

›Kinder‹ nennen die Sterblichen sie –, bin ich stehen ge-blieben, um sie aus ihrem Elend zu erlçsen. Bei M�nnernund Frauen wage ich nicht einzuschreiten; diese m�ssendie Lasten tragen, die die Natur ihnen auferlegt hat. Dochdie hilflosen Kleinen, die unschuldigen Kinder der Men-schen, haben ein Recht darauf, gl�cklich zu sein, bis sieerwachsen sind und in der Lage, die Schicksalspr�fungender Menschheit zu erdulden. Deshalb habe ich das guteRecht, ihnen beizustehen. Vor nicht allzu langer Zeit – einJahr mag’s her sein – stieß ich auf vier arme Kinder, diezusammengekauert in einer Holzh�tte lagen und langsamerfroren. Ihre Eltern waren ins Nachbardorf gegangen, umNahrung zu beschaffen, und hatten ein Feuer brennen las-sen, damit sich die Kleinen in ihrer Abwesenheit w�rmenkonnten. Doch es erhob sich ein Sturm und wehte Schneeauf ihren Pfad, sodass sie lange unterwegs waren. Unter-dessen erlosch das Feuer, und der Frost kroch den warten-den Kindern in die Knochen.«

»Die armen Geschçpfe!«, murmelte die Kçnigin leise.»Was hast du unternommen?«

»Ich rief Nelko herbei und befahl ihm, aus meinen W�l-dern Holz zu holen und es anzuhauchen, bis das Feuerwieder aufloderte und die kleine Kammer w�rmte, in derdie Kinder lagen. Da hçrten sie auf zu frçsteln und schlie-fen ein, bis ihre Eltern wiederkamen.«

»Dar�ber bin ich froh«, sagte die gute Kçnigin undstrahlte ihn an; und Necile, die jedes Wort begierig auf-gesogen hatte, wiederholte fl�sternd: »Ich bin auch froh!«

»Und als ich heute Abend zum Waldrand von Burzeekam«, fuhr Ak fort, »vernahm ich einen schwachen Ruf,der meines Erachtens von einem Menschenkind stammte.

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Ich sah mich um, und dicht am Wald fand ich einen hilf-losen S�ugling, der splitternackt im Grase lag und kl�g-lich wimmerte. Unweit davon, vom Wald getarnt, kauerteShiegra, die Lçwin, und war drauf und dran, das Klein-kind zum Abendessen zu verschlingen.«

»Und was hast du unternommen, Ak?«, fragte die Kçni-gin atemlos.

»Nicht viel, da ich es eilig hatte, meine Nymphen zu be-gr�ßen. Aber ich befahl Shiegra, sich zu dem S�ugling zulegen und ihn zu s�ugen, bis sein Hunger gestillt w�re. Undich trug ihr auf, allen Bestien und Reptilien des Waldes Be-scheid zu geben, dass dem Kind kein Leid geschehen darf.«

»Dar�ber bin ich froh«, sprach abermals die gute Kç-nigin im Ton der Erleichterung; diesmal aber wiederhol-te Necile ihre Worte nicht, denn plçtzlich hatte die Nym-phe einen merkw�rdigen Vorsatz gefasst und sich aus derGruppe davongestohlen.

Flink huschte ihr geschmeidiger Kçrper die Waldwegeentlang, bis sie an den Saum des m�chtigen Burzee gelang-te, wo sie innehielt und sich neugierig umsah. Noch niehatte sie sich so weit vorgewagt, denn das Gesetz des Wal-des hatte die Nymphen in seine tiefsten Tiefen verbannt.

Necile wusste, dass sie gegen das Gesetz verstieß, dochder Gedanke ließ ihre zierlichen F�ße nicht zaudern. Siehatte beschlossen, den S�ugling, von dem Ak erz�hlt hatte,mit eigenen Augen zu sehen, denn noch nie zuvor hattesie ein Menschenkind erblickt. Alle Unsterblichen sind er-wachsen; es gibt keine Kinder darunter. Als Necile durchdie B�ume sp�hte, sah sie das Kind im Grase liegen. Esruhte in s�ßem Schlaf, getrçstet vonder Milch, mit der Shie-gra es ges�ugt hatte. Es war noch nicht alt genug, um zuwissen, was Gefahr bedeutet; solange es keinen Hungerversp�rte, war es zufrieden.

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Leise schlich die Nymphe zu dem S�ugling und knietesich ins Gras; ihr langes rosenblattfarbenes Gewand um-wallte sie wie eine zarte Wolke. Ihre liebliche Miene dr�ck-te Neugier und Verwunderung aus, vor allem aber z�rt-liches Mitleid. Der S�ugling, pausb�ckig und rosig, warerst vor Kurzem zur Welt gekommen. Er war vollkommenhilflos. W�hrend die Nymphe ihn betrachtete, schlug dasKind die Augen auf, l�chelte sie an und streckte die beidenmit Gr�bchen �bers�ten Arme aus. Im Nu hatte Necile esan die Brust genommen und hastete mit ihm die Wald-wege entlang.

3 Die Adoption

Plçtzlich erhob sich der Herr �ber die Waldbewohner mitgerunzelter Stirn. »Im Wald h�lt sich ein sonderbares We-sen auf«, erkl�rte er. Als die Kçnigin und ihre Nymphensich umblickten, sahen sie Necile vor sich stehen, die dasschlafende Kind fest in den Armen hielt und einen trotzi-gen Blick in den tiefblauen Augen hatte.

Und so verharrten sie einen Moment. Die Nymphenwaren erstaunt und best�rzt, doch als der Herr �ber dieWaldbewohner die schçne Unsterbliche, die so mutwil-lig gegen das Gesetz verstoßen hatte, aufmerksam be-trachtete, gl�ttete sich seine Stirn allm�hlich wieder. Dannlegte der Große Ak zu aller Verwunderung Necile sachtedie Hand auf die wallenden Locken und k�sste sie auf dieStirn.

»Meines Wissens hat zum ersten Mal eine Nymphe mirund meinen Gesetzen getrotzt«, sprach er sanft, »dochin meinem Herzen kann ich kein Wort des Tadels finden.Was ist dein Begehr, Necile?«

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»Erlaube mir, das Kind zu behalten!«, antwortete sie, be-gann zu zittern und sank dem�tig auf die Knie.

»Hier im Wald von Burzee, in den das Menschenge-schlecht noch nie eingedrungen ist?«, fragte Ak.

»Hier im Wald von Burzee«, erwiderte die Nymphe un-erschrocken. »Er ist meine Heimat, und ich bin es leid,dass ich nichts zu tun habe. Erlaube mir, den S�ugling zupflegen! Sieh nur, wie schwach und hilflos er ist. Er wirdBurzee gewiss nicht schaden und dem Herrn �berdie Wald-bewohner der Welt auch nicht!«

»Aber das Gesetz, Kind, das Gesetz!«, rief Ak streng.»Das Gesetz ist vom Herrn �ber die Waldbewohner ge-

schaffen«, entgegnete Necile. »Wenn er mir befiehlt, denS�ugling zu pflegen, den er selbst vor dem Tod gerettethat, wer in aller Welt sollte es wagen, mir entgegenzutre-ten?« Kçnigin Zurline, die dem Gespr�ch angespannt ge-lauscht hatte, klatschte bei der Antwort der Nymphe aus-gelassen in die H�nde.

»Jetzt sitzt du aber ganz schçn in der Falle, Ak!«, rief sielachend. »Ich bitte dich, Neciles Gesuch stattzugeben.«

Der Herr �ber die Waldbewohner strich sich langsam�ber den grauen Bart, wie es seiner Gewohnheit entsprach,wenn er in Gedanken war. Dann sprach er: »Sie soll denS�ugling behalten, und ich werde ihn meinem Schutz un-terstellen. Aber ich warne euch alle: Dies ist das erste unddas letzte Mal, dass ich das Gesetz gelockert habe. Niewieder, bis ans Ende der Welt, soll ein Sterblicher von ei-ner Unsterblichen adoptiert werden. Andernfalls w�rdenwir unser gl�ckliches Dasein gegen eins der M�he undSorge eintauschen. Gute Nacht, meine Nymphen!«

Damit verschwand Ak aus ihrer Mitte, und Necile eiltezu ihrem schattigen Pl�tzchen, um sich ihres neu gefunde-nen Schatzes zu freuen.

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