21
Leseprobe Kaufmann, Thomas Geschichte der Reformation Mit zahlreichen Abbildungen © Insel Verlag 978-3-458-71024-0 Insel Verlag

Insel Verlag - bücher.de...Indem Luther und seine ›Vorlu fer‹, die sogenannten Vorre-formatoren, im Verhltnis zu ihrer Gegenwart als große, ge-fhrdete, unverstandene, verfolgte

  • Upload
    others

  • View
    1

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Insel Verlag - bücher.de...Indem Luther und seine ›Vorlu fer‹, die sogenannten Vorre-formatoren, im Verhltnis zu ihrer Gegenwart als große, ge-fhrdete, unverstandene, verfolgte

Leseprobe

Kaufmann, Thomas

Geschichte der Reformation

Mit zahlreichen Abbildungen

© Insel Verlag

978-3-458-71024-0

Insel Verlag

Page 2: Insel Verlag - bücher.de...Indem Luther und seine ›Vorlu fer‹, die sogenannten Vorre-formatoren, im Verhltnis zu ihrer Gegenwart als große, ge-fhrdete, unverstandene, verfolgte
Page 3: Insel Verlag - bücher.de...Indem Luther und seine ›Vorlu fer‹, die sogenannten Vorre-formatoren, im Verhltnis zu ihrer Gegenwart als große, ge-fhrdete, unverstandene, verfolgte

Die historische Bedeutung der Reformation ist umstritten. Entgegeneiner traditionellen, protestantisch gepr�gten Geschichtsauffassung,die in der Einmaligkeit der »Tat Luthers« eine Befreiung von den inder Papstkirche gesammelten »dunklen M�chten« und ein »Ende desMittelalters« sah, betont die neuere Forschung, daß die Reformationnur vor dem Hintergrund spezifischer Voraussetzungen zu verste-hen ist. Dies gilt im Hinblick auf das kirchliche und kulturelle Lebenum 1500 wie auf die politischen, çkonomischen und kulturellen Be-dingungen der Zeit. Der »Erfolg« der Reformation ist nur verst�nd-lich, weil verschiedene »Akteure«, die Landesf�rsten etwa, st�dtischeMagistrate, aber auch B�rger und Bauern, etwas mit ihr »anfangen«konnten. Ist es also noch gerechtfertigt, der Reformation einen epo-chalen Charakter zuzuschreiben? Das Buch bejaht diese Frage in dezi-diert kirchengeschichtlicher Perspektive.Als Schl�sselproblem der Reformation muß das Zusammenwirken

von Kirchenwesen und Religion, Gesellschaft und Herrschaft, Heils-und Machtfrage angesehen werden. Daneben sind allerdings die indi-viduellen »Leistungen« der Reformatoren, ihre Ideen und Kommuni-kationsformen nicht zu vernachl�ssigen. B�cher zur Geschichte derReformation sind in Deutschland bisher eine Dom�ne der Allgemein-historiker. Die vorliegende Darstellung des protestantischen Kirchen-historikers Thomas Kaufmann setzt einen besonderen Akzent, indemsie die zentralen theologischen Themen Luthers, Zwinglis, Karlstadtsund der vielf�ltigen Publizistik intensiv auswertet und auf die ge-schichtliche Entwicklung bezieht. Ein besonderes Gewicht kommtder Rezeption leitender Ideen in den Massenmedien der Zeit (Flug-schriften, Predigten, Flugbl�tter) zu. Das Buch bietet eine umfas-sende und vielschichtige Darstellung der deutschen Reformationsge-schichte und ihrer europ�ischen Zusammenh�nge.

Thomas Kaufmann, geboren 1962, Professor f�r Kirchengeschichtean der Universit�t Gçttingen. Forschungsschwerpunkte: Religion,Kultur, Gesellschaft und Politik im 15. bis 17. Jahrhundert. 1998 wurdeKaufmann mit dem Akademiepreis der Berlin-BrandenburgischenAkademie der Wissenschaften ausgezeichnet. Er gehçrt der Gçt-tinger Akademie der Wissenschaften als ord. Mitglied an und leitetderen Kommission f�r die Erforschung der Kultur des sp�ten Mittel-alters. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Vereins f�r Reforma-tionsgeschichte.

Page 4: Insel Verlag - bücher.de...Indem Luther und seine ›Vorlu fer‹, die sogenannten Vorre-formatoren, im Verhltnis zu ihrer Gegenwart als große, ge-fhrdete, unverstandene, verfolgte
Page 5: Insel Verlag - bücher.de...Indem Luther und seine ›Vorlu fer‹, die sogenannten Vorre-formatoren, im Verhltnis zu ihrer Gegenwart als große, ge-fhrdete, unverstandene, verfolgte
Page 6: Insel Verlag - bücher.de...Indem Luther und seine ›Vorlu fer‹, die sogenannten Vorre-formatoren, im Verhltnis zu ihrer Gegenwart als große, ge-fhrdete, unverstandene, verfolgte

THOMAS KAUFMANNGESCHICHTE

DER REFORMATION

VERLAG DERWELTRELIGIONEN

Page 7: Insel Verlag - bücher.de...Indem Luther und seine ›Vorlu fer‹, die sogenannten Vorre-formatoren, im Verhltnis zu ihrer Gegenwart als große, ge-fhrdete, unverstandene, verfolgte

Gefçrdert durch dieUdo Keller Stiftung Forum Humanum

Bibliographische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliographie;detaillierte bibliographische Daten sind im Internet abrufbar.

http://dnb.d-nb.de

� Verlag der Weltreligionenim Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2009

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der �bersetzung,des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.Einband: Hermann Michels und Regina Gçllner

Satz: H�mmer GmbH,Waldb�ttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Bindung: Buchbinderei Lachenmaier, ReutlingenPrinted in GermanyErste Auflage 2009

ISBN 978-3-458-71024-0

1 2 3 4 5 6 – 14 13 12 11 10 09

Page 8: Insel Verlag - bücher.de...Indem Luther und seine ›Vorlu fer‹, die sogenannten Vorre-formatoren, im Verhltnis zu ihrer Gegenwart als große, ge-fhrdete, unverstandene, verfolgte

GESCHICHTE DER REFORMATION

Page 9: Insel Verlag - bücher.de...Indem Luther und seine ›Vorlu fer‹, die sogenannten Vorre-formatoren, im Verhltnis zu ihrer Gegenwart als große, ge-fhrdete, unverstandene, verfolgte
Page 10: Insel Verlag - bücher.de...Indem Luther und seine ›Vorlu fer‹, die sogenannten Vorre-formatoren, im Verhltnis zu ihrer Gegenwart als große, ge-fhrdete, unverstandene, verfolgte

INHALT

Einleitung: Die Reformation und die Liebe zurKirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Teil I: Die Voraussetzungen der Reformation . . . . . . . . . 33Teil II: Die Reformation im Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153Teil III: Die Unwiderruflichkeit der Reformation . . . . . 609Epilog: Die Reformation und das lateineurop�ische

Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723Ausgew�hlte Biogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 797Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 829Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 837Abk�rzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 843Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 846Zu den Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 901Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 905

Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 945

9

Page 11: Insel Verlag - bücher.de...Indem Luther und seine ›Vorlu fer‹, die sogenannten Vorre-formatoren, im Verhltnis zu ihrer Gegenwart als große, ge-fhrdete, unverstandene, verfolgte

». . . dan die welt eilet, quia per hoc decennium ferenovum saeculum fuit [weil w�hrend des letzten Jahr-zehnts beinahe ein neues Zeitalter entstand].«

WA.TR 2, Nr. 2756b, S. 637,10f. (Herbst 1532)

»Ein weib ist bald genumen; aber stets lieb zu haben,das ist dan schwer, und es mag einer unserm Herrn-gott wol davor dancken, wer dasselbige hat.«

WA.TR 5, Nr.5324, S. 214,27-29 (1542/43)

Antje gewidmet

10

Page 12: Insel Verlag - bücher.de...Indem Luther und seine ›Vorlu fer‹, die sogenannten Vorre-formatoren, im Verhltnis zu ihrer Gegenwart als große, ge-fhrdete, unverstandene, verfolgte

EINLEITUNGDIE REFORMATION UND DIE L IEBE

ZUR KIRCHE

Im Fr�hjahr 1413 schrieb ein Magister der Universit�t Prag amAnfang eines sp�ter ber�hmten Werkes �ber die Kirche (Trac-tatus de ecclesia): »Wie jeder [christliche] Wanderer treulich glau-ben soll, daß es eine heilige katholische Kirche gibt, so soll erden Herrn Jesus Christus als Br�utigam dieser Kirche und dieKirche als seine Braut lieben; aber er liebt seine geistliche Mut-ter nicht, wenn er sie nicht durch den Glauben erkennt; alsomuß er sie durch den Glauben erkennen und sie so wie einehervorragende Mutter ehren.«1

Der theologische Lehrer, der dies schrieb, war Jan Hus (um1370-1415), der zwei Jahre sp�ter durch das Konzil von Kon-stanz (1414-18) als Ketzer verurteilt und verbrannt wurde.Die Liebe zur Kirche, die Hus gefordert und beschworen hat-te, bezog sich auf die eine, universale, umfassende, also diekatholische Kirche des Glaubensbekenntnisses. Diese eine Kir-che des Glaubens war f�r ihn nicht identisch mit der ›real-exi-stierenden‹ rçmisch-katholischen Papstkirche; denn diese wardamals in unterschiedlicheObçdienzen konkurrierender Papst-pr�tendenten gespalten, ein belastender Mißstand, den dasKonstanzer Konzil zu �berwinden antrat. In Hus’ Vorstellun-gen von der Kirche als der geistlichen Braut Christi, nicht alsRechts-,Verwaltungs- undMachtapparat,wirktenAnregungenfort, die von dem Oxforder Theologieprofessor John Wyclif(um 1330-1384) ausgegangen waren. Dieser hatte, ankn�pfendan den wichtigsten Kirchenvater des Abendlandes, Augusti-nus, der irdischen Gestalt der rçmischen Papstkirche die Ideeeiner wahrhaft umfassenden, universalen Kirche, deren einzi-ges Haupt Christus sei, entgegengesetzt. Neben 30 S�tzen vonHus wurden auch 45 Artikel aus Schriften Wyclifs in Kon-stanz verurteilt.2

11

Page 13: Insel Verlag - bücher.de...Indem Luther und seine ›Vorlu fer‹, die sogenannten Vorre-formatoren, im Verhltnis zu ihrer Gegenwart als große, ge-fhrdete, unverstandene, verfolgte

Luther und seine sogenannten Vorl�ufer

Das theologische Denken dieser beiden ber�hmtesten ›Ket-zer‹ der abendl�ndischen Kirchengeschichte vor Martin Lu-ther (1483-1546) stellte nicht einfach eine Inspirationsquelleseiner eigenen Theologie dar. Vielmehr setzte seine Besch�fti-gung besonders mit Hus, sp�ter auchmit Wyclif, erst zu einemZeitpunkt ein, als sich sein innerer und �ußerer Ablçsungspro-zeß von der rçmischen Papstkirche schon deutlich abzuzeich-nen begann, das heißt zwischen dem Fr�hjahr 1519 und demSommer 1520. Gleichwohl hat sich Luther dann gern in eineTraditionslinie mit diesen und anderen seines Erachtens zuUnrecht verketzerten Theologen und entt�uschten Liebha-bern der Kirche gestellt und sie damit zu seinen ›Vorl�ufern‹,sich selbst zu ihrem Nachfolger und Vollender gemacht. Inden historiographischen Selbstentw�rfen des lutherischen Pro-testantismus ist dieser Fadenweitergesponnenworden: Luthererschien nun als Hçhe- und Schlußpunkt einer Schar aufrech-ter Wahrheitszeugen (testes ver itatis), die der verkommenenPapstkirche ihrer Zeit entgegengetreten seien und sie zu refor-mieren versucht h�tten. Mit Luther, so eine feste �berzeu-gung seiner Anh�nger im sp�teren 16. Jahrhundert, habe Gottden grçßten und letzten Propheten gesandt, um seiner Kirchevor dem baldigen Ende der Zeiten Buße zu predigen und diewidergçttlichen Mißst�nde zu �berwinden.

Dieses protestantische Geschichtsbild, das in seinem ur-spr�nglichen, an Luther ankn�pfenden Kern ein Konzeptheilsgeschichtlicher Selbstvergewisserung einer beanstande-ten Ketzerei darstellt,3 ist zu einer der einflußreichsten ›Mei-stererz�hlungen‹ der Geschichtsschreibung �berhaupt gewor-den. Es hat, angereichert mit zun�chst humanistischer, sp�teraufkl�rerischer Rhetorik, die Epoche Luthers als lichtvollenAufstand der geistigen Freiheit, des christlichen oder b�rger-lichen Gewissens, der deutschen Nation gegen die finstereHerrschaft der P�pste und ihrer klerikalen Heerscharen zu in-szenieren erlaubt und so dazu beigetragen, jenes Zerrbild des

12 e inle itung

Page 14: Insel Verlag - bücher.de...Indem Luther und seine ›Vorlu fer‹, die sogenannten Vorre-formatoren, im Verhltnis zu ihrer Gegenwart als große, ge-fhrdete, unverstandene, verfolgte

finsteren Mittelalters zu erzeugen, das niederzuringen außer-halb der Wissenschaft noch immer nicht ganz gelungen ist.Indem Luther und seine ›Vorl�ufer‹, die sogenannten Vorre-formatoren, im Verh�ltnis zu ihrer Gegenwart als große, ge-f�hrdete, unverstandene, verfolgte Außenseiter positioniertwurden, geriet h�ufig das aus dem Blick, was Luther und dieReformer des 15. Jahrhunderts jeweils mit ihrer Zeit verband.Je dunkler die ›mittelalterliche‹ Welt erschien, gegen die Lu-ther und seine Vork�mpfer aufstanden und revoltierten, desto›zeitloser‹ oder ›moderner‹ erschienen sie selbst. Daß die vonHeroisierungen nicht freien Dekontextualisierungen insbe-sondere Luthers in der weiteren Forschung zu ihrerseits nichtselten angestrengten Bem�hungen seiner ›Rekontextualisie-rung‹ im Mittelalter, ja zur Entdeckung eines mittelalterlichenLuther gef�hrt haben, verwundert daher nicht. Aber wirklichgewonnen war damit wenig. Denn daß all jene Zuschreibun-gen – mittelalterlich, vormodern, zeitlos-evangelisch, modernusw. – k�nstliche Konstrukte sind, kann heutigentags wohlkaum ernsthaft strittig sein.

Luther und die sogenannten Vorreformatoren verbindet zu-n�chst nicht sehr viel mehr, als daß sich der Wittenberger abeinem bestimmten Zeitpunkt der Konfliktgeschichte zwi-schen ihm und der kirchlichen Hierarchie mit ihnen zu be-sch�ftigen und auf sie zu berufen begann. Im R�ckblick, vonseiner eigenen Verketzerung her, konstruierte er eine Genea-logie der von der Papstkirche verfolgten wahren Kirche, dievon den altgl�ubigen Gegnern ihrerseits reproduziert und be-st�tigt wurde. Denn diese ›h�resiologische Genealogie‹ erwiesdoch schließlich, daß Luther eben wirklich jener Ketzer war,als den man ihn verurteilt hatte. Wer sich selbst çffentlich mitdem Ketzer Hus solidarisierte, durfte sich schließlich nichtwundern, als Hussit beschuldigt und verdammt zu werden.Die protestantisch-emphatische und die katholisch-h�resiolo-gische Geschichtsdarstellung erscheinen als zwei Seiten der-selben Medaille.

Daß im R�ckblick eine Verbindungslinie zwischen Lutherund seinen sogenannten Vorl�ufern gezogen wurde, hat den

13reformat ion und d ie l iebe zur k irche

Page 15: Insel Verlag - bücher.de...Indem Luther und seine ›Vorlu fer‹, die sogenannten Vorre-formatoren, im Verhltnis zu ihrer Gegenwart als große, ge-fhrdete, unverstandene, verfolgte

Blick daf�r verstellt, daß die Bem�hung um eine Reform derKirche, um eine lebendige Anpassung der Institution an diesich wandelnden Bedingungen ihrer Zeit, um eine geistlicheReorganisation von ihren heiligsten Ursprungsdokumentenin der Bibel und bei den Kirchenv�tern her, kein prim�r vonAußenseitern verfochtenes Nebenthema des Zeitalters um1500 war, sondern ein Hauptthema, das viele Personen, Grup-pen und geistliche Korporationen besch�ftigte. In der Inten-sit�t, in der man an der Verbesserung der Kirche und ihrerGlaubw�rdigkeit arbeitete, manifestierte sich, daß sie der weit-hin alternativlose Raumwar, in dem Individuen, soziale Grup-pen und St�nde, Z�nfte und Genossenschaften, b�uerliche›Verb�ndnisse‹ oder Dynastien ihre Bed�rfnisse nach Heilssi-cherung, Kontingenzbew�ltigung und soziokultureller Repr�-sentation inszenierten und artikulierten. Nicht zuletzt in derKritik an der Kirche oder ihren klerikalen Repr�sentantenzeigte sich, wie wenig man ihrer entbehren konnte oder woll-te. Aus einer im Laufe des 15. Jahrhunderts zunehmenden Kir-chenkritik zu folgern, man habe innerlich mit ihr gebrochenund gebe ihr keine Zukunft mehr, w�re ein Irrtum. OffenerWiderspruch oder entschlossener Aufstand gegen die Kirche,ihre Praktiken und Lehren bildeten einen hçchst marginalenTatbestand. Eine Ableitung der Reformation aus einer vorre-formatorischen feindseligen Haltung gegen�ber der Kirche,sofern es diese �berhaupt in nennenswertem Maße gab, greiftdeshalb zu kurz. Die durchaus verbreiteten kirchenkritischenund -reformerischen Stimmen gegen�ber dem vorfindlichenKirchentum sind hingegen als Ausdruck jener prinzipiellenAnerkenntnis ihrer Idee und ihres Wesens zu deuten, ja alsVersuch, die Wirklichkeit der Kirche ihrem Ideal anzun�hern,die Hus im einleitenden Zitat mit dem affektiven Verb diligere,»lieben«, bezeichnet hat. Da die Kirche immer zugleich real-existierende Institutionwelthafter Verfehlung undGegenstanddes Glaubens war, konnte jede Kritik an ihr als Erweis ihrerUnumg�nglichkeit, Unverzichtbarkeit und Heiligkeit gelten.Ja, die Polemik konnte gegen ihre vornehmsten Repr�sentan-ten im Namen Christi, des Herrn der Kirche, erfolgen undmit

14 e inle itung

Page 16: Insel Verlag - bücher.de...Indem Luther und seine ›Vorlu fer‹, die sogenannten Vorre-formatoren, im Verhltnis zu ihrer Gegenwart als große, ge-fhrdete, unverstandene, verfolgte

dem Anspruch auftreten, aus dem Innersten der wahren Kir-che selbst zu stammen. Die sch�rfsten Kritiker der Kirche wa-ren zumeist ihre gl�hendsten Liebhaber.

Hierin stimmte Luther mit Hus, mit Wyclif und mit vielenanderen �berein, lange bevor er genauere Kenntnisse �berihre Lehren besaß. Diese in der Theologiegeschichte desAbendlandes, bei ihrem wichtigsten ›Vater‹ Augustinus, ver-wurzelten Selbstunterscheidungen der Kirche als sichtbarerund unsichtbarer, heiliger und s�ndhafter, welthaft-verstrickterund geistlicher Grçße bildeten ein Ferment der Unruhe, derInfragestellung und der Reformbem�hung w�hrend einzelnerEtappen des Mittelalters, aber eben auch in der Zeit der Refor-mation.

Die selbstverst�ndliche Allgegenwart von ›Kirche‹

Die Reformation und ihr Ringen mit der real-existierenden,ihr Kampf f�r die ›wahre‹, die ›evangeliumsgem�ße‹ Kirchesind nur vor dem Hintergrund der unabweisbaren Allgegen-wart der Kirche zu verstehen. F�r jeden Europ�er nichtj�di-schen Glaubens war ›die Kirche‹ vor Luther, zu seiner Zeitund auch noch ein Jahrhundert nach ihm eine schlechterdingsunausweichliche, unhintergehbare Wirklichkeit. Ge�ndert hatsich durch die Reformation nicht der Anspruch der Kirche andie Menschen als solcher, sondern die Art und Weise, in derdieser Anspruch begegnete. Ge�ndert hat sich allerlei an densichtbaren Erscheinungsformen, am Autorit�ts- und Institu-tionengef�ge usw.; an der selbstverst�ndlichen Gebundenheitjedes Menschen an eine der nun konkurrierenden und einan-der anathematisierenden, das heißt mit dem Bann belegendenKirchen �nderte sich nichts. Denn zur ›Kirche‹ gehçrten vorwie nach der Reformation im Prinzip alle, außer den Judenund den Exkommunizierten. Zur Kirche gehçrte man ›vonder Wiege bis zur Bahre‹; im Unterschied zu allen anderensoziokulturellen Bindungs- und Organisationszusammenh�n-gen, vielleicht außer dem famili�ren, umspannte die Zugehç-

15reformat ion und d ie l iebe zur k irche

Page 17: Insel Verlag - bücher.de...Indem Luther und seine ›Vorlu fer‹, die sogenannten Vorre-formatoren, im Verhltnis zu ihrer Gegenwart als große, ge-fhrdete, unverstandene, verfolgte

rigkeit zur Kirche jedes vollst�ndige menschliche Leben. DieKirche war f�r die weit �berwiegende Mehrzahl der Men-schen vor und nach der Reformation eine n�here, konkretere,erfahrbarere Wirklichkeit als das politische Ordnungssystem –der Staat. Die Kirche war zugleich die umfassendste Katego-rie, in der sich die Menschen vieler Zeiten und Weltengegen-den in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenfas-sen und aufeinander beziehen ließen. Die Kirche war nah undfern, umfassend und lokal, hatte m�helos zu besuchende, mitM�hen erreichbare, auch praktisch unerreichbare Orte undR�ume, Zentren und Epizentren. Die Kirche war die einzigeOrdnungsgrçße des Zeitalters, die wirklich bei den Menschenaller St�nde, Orte und Lebensalter war. Weil Kirche vor undnach der Reformation nie nur – und wohl f�r die meisten Eu-rop�er nicht einmal prim�r – ›Rom‹ war, konnte man �ber denPapst und seine Kurtisanen herziehen und sie als Teufelsbrutdesavouieren, ohne an der Kirche als derjenigen Sozialformder Religion, zu der potentiell alle gehçrten, irre zu werden.Weil die Kirche so unendlich viele Gesichter hatte und dieBindung an sie nicht auf freiwilligem, individuellem Ent-schluß basierte – weder vor noch nach der Reformation –,sie mithin eine selbstverst�ndliche Lebensordnung darstellte,hat sie im Zuge der Reformation zwar Spaltungen erlebt, aberals Institutions- und Sozialtypus, eben als ›Kirche‹, �berlebt.Freiwillige religiçse Vergemeinschaftungsformen galten dervorreformatorischen Kirche ebenso wie den nachreformatori-schen Kirchen als sektiererisch und h�retisch. Zur Kirche ge-hçrte man vermittels der Taufe, nicht aber aufgrund eigenerEntscheidung. Lediglich f�r die radikalen Randsiedler der eu-rop�ischen Religionsgeschichte, die vorreformatorischen undvor allem die protestantischen Sekten, oder f�r Konvertitenaus Judentum und Islam spielte eine persçnliche religiçse Ent-scheidung eine Rolle. F�r alle anderen war die Zugehçrigkeitzur Kirche eine unhintergehbare und zumeist unhinterfragteSelbstverst�ndlichkeit.

16 e inle itung

Page 18: Insel Verlag - bücher.de...Indem Luther und seine ›Vorlu fer‹, die sogenannten Vorre-formatoren, im Verhltnis zu ihrer Gegenwart als große, ge-fhrdete, unverstandene, verfolgte

Die Reformation als Aufstand der ›Kirche‹ gegen die ›Kirche‹

Da sie viele Gesichter hatte, nur wenige kultische oder mora-lische Verpflichtungen bindend auferlegte und in sich selbstRaum f�r vielf�ltige Alternativen ließ, gab es nur relativ we-nig Anlaß, gegen die Kirche aufzubegehren. Darauf konnteman eigentlich nur verfallen, wenn man es mit dem, wof�rdie Kirche stand oder stehen sollte, ernster nehmen zu m�s-sen meinte als die berufenen Vertreter der Kirche selbst.Die Reformation ist ein solcher Aufstand der ›Kirche‹ gegendie ›Kirche‹ gewesen. Und sie hat es mit dem Kirchesein derKirche ernster genommen, als es ihres Erachtens jene Kirchebeziehungsweise ihre Repr�sentanten taten, gegen die sie auf-begehrte. Sie hat die religiçsen Pflichten ihrer Gl�ubigen ge-steigert, auf persçnliche Aneignung gedr�ngt und insoferndas Ideal eines alle Menschen umfassenden corpus chr istianum,einer christlichen Gesellschaft, konsequenter umzusetzen ver-sucht als die vorreformatorische Kirche. Wenn es ein Zielschon der mittelalterlichen Kirche gewesen sein sollte, einechristliche Gesellschaft zu formen, dann ist dieses Ziel imZuge der Reformation und der durch diese provozierten Ge-genreformation konsequenter und am Ende wohl auch erfolg-reicher realisiert worden als je zuvor.

Die Reformation zielte darauf ab, daß die bestehende Kir-che nach Maßgabe biblischer Verbindlichkeiten ›zurechtge-bracht‹, re-formiert werden sollte und daß die Glieder derKirche, die Christen, Mitverantwortung f�r Lehre und Lebender Kirche �bernahmen. Nur weil sich die Reformation an dieKirche als die alternativlose Form christlicher Lebens- undSozialgestaltung gewiesen wußte und f�r die Bedingungen ih-rer Zeit eine begriffliche Unterscheidung zwischen ›Kirche‹und ›Gesellschaft‹ ganz unangemessen ist, konnten ihr Angriffauf die Kirche und ihr Neubau evangelischer Kirchen chri-stentumsgeschichtlich epochale Wirkungen zeitigen. Ein An-griff auf die Kirche, der nicht wieder zur Kirche, zur religi-onskulturellen Sozial- und Integrationsgestalt aller B�rger

17reformat ion und d ie l iebe zur k irche

Page 19: Insel Verlag - bücher.de...Indem Luther und seine ›Vorlu fer‹, die sogenannten Vorre-formatoren, im Verhltnis zu ihrer Gegenwart als große, ge-fhrdete, unverstandene, verfolgte

und Bauern, aller Menschen aller St�nde eines geopolitischenRaums gef�hrt h�tte, w�re nichts anderes als ein weiteres Ka-pitel der mittelalterlichen Sektengeschichte gewesen, aberkein epochales Ph�nomen.

Nach einer »gemein reformation Y. . . y in der gantzen chri-stenheit«4 zu rufen implizierte f�r Autoren vor Luther wief�r diesen selbst nichts Geringeres, als einer grundst�rzendenUmorientierung der gesamten christlichen Gesellschaft in al-len Gliedern das Wort zu reden. Eine solche totale Reforma-tion hatte entweder als menschliches Unterfangen ihre Aus-weglosigkeit und ihr Scheitern bei sich oder war allein vonGott zu erwarten.5 Dies hielt jedoch nicht davon ab, im Rah-men kleinerer Gestaltungsr�ume und Handlungszusammen-h�nge nach Mçglichkeiten zu suchen, Mißst�nde zu ver�n-dern. Schon der Straßburger M�nsterpr�dikant Johann Geilervon Kaysersberg (1445-1510), einer der einflußreichsten Pre-diger und theologischen Schriftsteller vor der Reformation,hatte aus der Unmçglichkeit einer ›Generalreformation‹ nichtgefolgert, sich in die Mißst�nde zu schicken, sondern daf�rpl�diert, in �berschaubaren Verantwortungsbereichen refor-merisch t�tig zu werden: »Y. . . y in der sunderheit mçchte jeg-lichwol sein stat und yeglicher oberer sein unterthon reformie-ren. Ein bischoff in sein bistumb. Ein apt in seinem closter.Ein rat sein stat. Ein b�rg sein hauß, daz wer leicht. Aberein gemein reformacion der gantzen cristenheit, das ist hartund schwer, und kein consilium hat es mçgen betrachtenund weg mçgen finden.«6 Damit waren die Realisierungsbe-dingungen lokaler, regionaler, auch h�uslicher Reformationenpr�zise erfaßt, die im großen und ganzen den Erfolg der Re-formation ausmachen sollten. Nicht der durch ein General-konzil initiierten und strukturierten »gemein reformation«,sondern den st�dtischen, territorialen, h�uslichen, in den �ber-schaubaren soziokulturellen Lebens- und Organisationsein-heiten der chr istianitas liegenden Partikularreformationen ge-hçrte die Zukunft. Apostel einer ›Generalreformation‹, der›großen Ver�nderung‹, der grundst�rzenden ›Verwandlung‹der Christengesellschaft, fanden sich im 16. Jahrhundert bald

18 e inle itung

Page 20: Insel Verlag - bücher.de...Indem Luther und seine ›Vorlu fer‹, die sogenannten Vorre-formatoren, im Verhltnis zu ihrer Gegenwart als große, ge-fhrdete, unverstandene, verfolgte

vorwiegend auf dem sogenannten linken Fl�gel der Refor-mation, bei den Radikalen. Ihre generalreformatorischen Pro-grammtexte sind literarische und mentale Parallelerschei-nungen der fr�hen Utopien. Der Erfolg der Reformatorenaber bestand in der Reduktion des Universalismus und inder pragmatischen Partikularisierung ihrer Gestaltungskon-texte, mithin in der Addition der vielen grçßeren und kleine-ren Reformationen zu der einen, die man zusammenfassend›die Reformation‹ zu nennen pflegt. Die Summe dieser Ein-zel- und Partikularreformationen jedenfalls ver�nderte dasabendl�ndische Kirchenwesen grundlegender als irgend et-was vorher oder nachher.

Der Erfolg der Reformation ergab sich freilich ganz wesent-lich daraus, daß in den jeweiligen kleinen und partikularenR�umen so reformiert wurde, daß man alle Menschen einbe-zog, also Kirche baute, und daß man die Neuerungen in derRegel z�gig und verbindlich f�r einen bestimmten sozialenund politischen Lebensraum durchsetzte. Duldsamkeit gegen-�ber abweichendem Verhalten einzelner Personen oder Grup-pen, seien es nun Anh�nger der alten Kirche, T�ufer oder ra-dikalreformatorische ›Schw�rmer‹ und Einzelg�nger, war derReformation im ganzen nicht weniger fremd als jener Kirche,gegen die sie aufstand und deren Anspruch auf Allgemeinheitals Kirche sie teilte. Die Reformation hatte also Erfolg, weil siedie Partikularit�t ihrer Gestaltungs- und Durchsetzungsr�u-me mit einer allgemeinen Verbindlichkeit, also: Kirchlichkeitihres Anspruchs, verkn�pfte. Wenn man die Auflçsung derselbstverst�ndlichen Geltung des in konstantinischer Zeit ein-gef�hrten religionssoziologischen Vergesellschaftungsmodells,dieses ›Sozialtypus Kirche‹, als entscheidenden religionsge-schichtlichen und kulturellen Indikator der Neuzeit versteht,7

dann kann es keinem Zweifel unterliegen, daß es historiogra-phisch unsachgem�ß w�re, Reformation und Mittelalter zweiunterschiedlichen historischen Epochen zuzuweisen. Die Vor-stellung, daß alle Menschen eines Gemeinwesens zur ›Kirche‹gehçrten, teilten die Reformatoren mit jener Kirche, gegendie sie rebellierten.

19reformat ion und d ie l iebe zur k irche

Page 21: Insel Verlag - bücher.de...Indem Luther und seine ›Vorlu fer‹, die sogenannten Vorre-formatoren, im Verhltnis zu ihrer Gegenwart als große, ge-fhrdete, unverstandene, verfolgte

Die Reformation als Epoche?

Ist es deshalb nicht naheliegend oder gar unausweichlich, dieBedeutung der Reformation als einer kirchen- und allgemein-geschichtlichen Z�sur zu nivellieren und die insbesondere seitLeopold von Ranke (1795-1886) als eigene Epoche stilisierteReformationszeit (1517-55)8 in eine – Sp�tmittelalter und Fr�heNeuzeit umspannende – Periode des �bergangs zwischenetwa 1400 und 1650 einzuordnen? Die Diskussion um die Zu-ordnung der Reformation zu Mittelalter oder Neuzeit, auch ih-rer historiographischen Situierung ›zwischen den Zeiten‹, iststets mit besonderer Leidenschaft gef�hrt worden. Dies h�ngtwesentlich mit den impliziten – nur selten explizit gemach-ten – geltungspolitischen Anspr�chen, die sich mit dieser Fra-ge verbinden, zusammen. Wer die Reformation tendenziellst�rker dem Mittelalter zuschl�gt, scheint ihre aktuellen Gel-tungsanspr�che zur�ckhaltender zu beurteilen, sie konsequen-ter zu historisieren, Luther »ohne Goldgrund«9 in seine Zeitzu stellen. Wer hingegen Luther und die Reformation auf dieSeite der Neuzeit her�berzieht, reklamiert Luther als eine Ge-stalt, die auch uns Heutigen noch Wesentliches zu sagen hat,ja, deren Leben undWerk, deren Theologie ganz entscheidendf�r kardinale religionskulturelle Prozesse wie Individualisie-rung oder Pluralisierung, die Bindung religiçser Letztverbind-lichkeiten an das eigene Gewissen oder die Emanzipation vonklerikaler Bevormundung, die Begr�ndung beziehungsweiseErmçglichung persçnlicher Menschenrechte usw. verantwort-lich gemacht werden. InbestimmtenPeriodisierungskonzeptenbegegnen also nicht selten dogmatische Geltungsanspr�che,denen nicht zuletzt im Horizont aktueller Auseinandersetzun-gen um religiçse Konkurrenz und �kumene Wirkungskraftzugeschrieben wird.

In bezug auf die neuere allgemeinhistorische Epochendis-kussion kann diese nicht selten bei protestantischen Autorenbegegnende Aufgeregtheit in der Frage ›Reformation: Mittel-alter oder Neuzeit?‹ inzwischen als entsch�rft gelten. Denn

20 e inle itung