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Leseprobe Bertholet, Denis Paul Valéry Die Biographie Aus dem Französischen von Bernd Schwibs und Achim Russer © Insel Verlag 978-3-458-17524-7 Insel Verlag

Insel Verlag - bücher.de · Originaltitel:PaulValéry,1871-1945 ©Plon,Paris1995 DieÜbersetzungwurdegefördertdurchMittel desfranzösischenKulturministeriums

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  • Leseprobe

    Bertholet, DenisPaul Valéry

    Die Biographie Aus dem Französischen von Bernd Schwibs und Achim Russer

    © Insel Verlag978-3-458-17524-7

    Insel Verlag

  • DENIS BERTHOLETPAUL VALÉRY

    DIE BIOGRAPHIE

    Aus dem Französischenvon Bernd Schwibs und Achim Russer

    Mit einem Vorwortvon Jürgen Schmidt-RadefeldtMit zahlreichen Abbildungen

    INSEL VERLAG

  • Originaltitel: Paul Valéry, 1871-1945© Plon, Paris 1995

    Die Übersetzung wurde gefördert durch Mitteldes französischen Kulturministeriums

    © der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2011Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowieder Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

    Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

    ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

    Druck: Memminger MedienCentrum AGPrinted in GermanyErste Auflage 2011

    ISBN 978-3-458-17524-7

    1 2 3 4 5 6 – 16 15 14 13 12 11

  • 5

    INHALT

    Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

    Erster TeilJugend

    1. Kapitel: Das Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252. Kapitel: Der Gymnasiast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403. Kapitel: Der Student . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624. Kapitel: Der kleine Provinzler . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

    Zweiter TeilParis

    5. Kapitel: Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1176. Kapitel: Staatsstreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1427. Kapitel: Neubeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

    Dritter TeilDer Lärm und das Schweigen

    8. Kapitel: Im Ministerium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1939. Kapitel: Nestbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22010. Kapitel: Tag um Tag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244

  • 6 Inhalt

    Vierter TeilDer Schriftsteller

    11. Kapitel: Wiederkehr des Dichters . . . . . . . . . . . . . . . . 26912. Kapitel: Mittag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29213. Kapitel: Himmel und Hölle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

    Fünfter TeilDer Geist auf Reisen

    14. Kapitel: Im Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36115. Kapitel: Ruhm und Ehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40316. Kapitel: Im Strom der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42917. Kapitel: Das Gewicht der Geschichte . . . . . . . . . . . . . 465

    Sechster TeilDer Meister und sein Double

    18. Kapitel: Der Professor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50319. Kapitel: Der Empörer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53220. Kapitel: Arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55921. Kapitel: Frei atmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584

    Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 634Namenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660

  • 7

    VORWORT

    was gibt es geheimnisvolleres alsdie klarheit? was ist launischer alsdie verteilung von lichtern undschatten über die stunden und men-schen? gewisse völker verlierensich in ihren gedanken, für uns[griechen] sind alle dinge gestalt.wir behalten nur die beziehung, undwie eingeschlossen in diesen klarentag erbauen wir ähnlich dem or-pheus mit den mitteln des wortestempel der weisheit und der wissen-schaft, die allen vernünftigen we-sen genügen mögen. paul valéry

    Auf den ersten Blick erstaunlich – ein Zitat von Valéry auf einer25-Quadratmeter-Wand im Ensemble des BrandenburgerTors an der Seite des Liebermannhauses. Passanten, Parlamen-tarier und Flaneure treffen hier seit 1997 auf dem Weg vomReichstag durch das Palais am Pariser Platz in der »Paul-Valéry-Passage« (nennen wir sie einmal so) auf diese schwer entziffer-bare Inschrift auf braunen Steinquadern. Die Textpassagestammt aus Eupalinos, oder Der Architekt, übertragen von Rai-ner Maria Rilke (Valéry, Werke, Bd. 2, S. 45; frz. in Œuvres 2,S. 112 f.).Der Franzose Paul Valéry amBrandenburger Tor, demNatio-

    nalmonument deutscher Geschichte – da müßten sich dochwohl Nachfragen erheben? Wer war denn dieser Paul Valéry,dessen Aphorismen gelegentlich in deutschenMedien aufschei-

  • 8 Vorwort

    nen? In Paris kennt man seine Inschriften am Palais de Chaillot,gegenüber dem Eiffelturm – und nun hier ein Zitat im Zentrumvon Berlin.Biographisch bezeugt ist: Valéry war vor Ort, logierte 1926 in

    der Botschaft Frankreichs am Pariser Platz, konnte den sechs-hundert Gesprächsbitten der Berliner nur zur Hälfte entspre-chen. In seinen Vorträgen vor Politikern, Wirtschaftlern, Lite-raten (viele P. E.N.-Mitglieder), Intellektuellen (selbst AlbertEinstein kam zum Vortrag) sprach er über den Europa-Gedan-ken, von der Verantwortung für den Frieden und das besonderedeutsch-französische Verhältnis, führte überdies Gespräche mitPolitikern wie dem Sozialisten Rudolf Breitscheid, dinierte mitFrau Stresemann und hielt seinen Blick auf den Pariser Platz inzwei aquarellierten Zeichnungen fest (Wiederabdruck in Ca-hiers/Hefte Bd. 4, S. 17). Die Biographien des Pariser Platzes unddie Paul Valérys sind offenkundig verbunden.Bislang war dieses letzte wie auch andere Details aus Valérys

    Leben, Werk und und Wirken (1871-1945) nur auf Französischnachzulesen: man denke an die Biographien vonAimé Lafont inder Tradition des L’homme et l’Œuvre 1943 (wo Valéry in einemBrief-Vorwort die Rolle desWerks im Leben des Autors hervor-hebt – nicht die des Lebens imWerk), von Claude Launay (1990)und zuletzt von Michel Jarrety (2008). Mit der Übersetzung derBiographie von Denis Bertholet wird hier nun durch den Insel-Verlag eine erste große, seit langem erwartete Lebensbeschrei-bung auf Deutsch vorgelegt.Gewiß hat bei Schriftstellern, und vor allem Dichtern, das

    Werk und seineWirkung Vorrang vor ihrer Lebensgeschichte −das Leben war »nur« der Anlaß, es verblaßt. Doch vermittels derBiographiekenntnisse erschließt das Werk sich angemessener,begründeter, vielleicht auch »gerechter«, wenn der Leser aufUmstände und Hintergründe sowie den zeitgeschichtlichenKontext zurückgreifen kann, um es ein wenig in seine ur-sprüngliche Lebenswelt zurückzuversetzen, vielleicht im Ver-

  • 9Vorwort

    gleich zur eigenen, um seine Nachhaltigkeit für die jeweiligeGegenwart neu auszuloten. Der Stellenwert mancher Texte wirderst deutlich, wenn ihre Geschichte (ihre Textgenese) durch Ge-schichten des Faktischen ursächlich »konkretisiert« wird undkann gerade dadurch Zeitlosigkeit gewinnen. Für Paul Valérygilt das im besonderen Maße: Es gilt für seine symbolistischen,abstrakten Gedichte (Album de vers anciens, La jeune Parque,Charmes, Petits Poèmes Abstraits), den perspektivisch durchTextfragmente gebrochenenZyklusMonsieur Teste, seine po[i]e-tischen, ästhetischen, kunsttheoretischen Essays und Prosa(Léonard da Vinci, Degas–Danse−Dessin), die dialogischen unddramatischen Werke (Dialogues des morts, L’idée fixe ou deuxhommes à la mer, Mon Faust), seine Vorträge über französischeund europäische Schriftsteller und Geistesgrößen, die verschie-denen Sammlungen seiner Aphorismen und Gedankensplitter(Mélange, Tel Quel einschließlich Rhumbs, Autres Rhumbs, Ana-lecta, Cahier B 1910, Suite, Mauvaises pensées et autres), seinephilosophisch-kritischen Blicke auf die gegenwärtige Welt (LaConquête allemande, die später Une Conquête méthodique wur-de, La Crise de l’esprit, Variété I-V, Regards sur le monde actueleinschließlich der postumen Principes d’anarchie pure et appli-quée), die diversen Essays zu Frankreichs und Europas Kultur-geschichte, zu den großen Institutionen (Institut de France) unddem Leben eines Intellektuellen zwischen drei deutsch-franzö-sischen Kriegen − diesen markanten Ecksteinen seiner Lebens-zeit.Worauf wäre nun besonders in der Biographie eines Dichters

    und Schriftstellers hinzuweisen, der zeitlebens sein wesentlichesZiel darin sah, seine eigenen intellektuellen und emotionalenFähigkeiten zu erforschen und zugleich ästhetisch zu gestalten?Große spektakuläre Taten sind nicht zu vermelden, keine histo-rischen Daten und Fakten eines Gewalt- und Handlungsmen-schen wie Napoleon mit weitreichenden Konsequenzen, keineherausragenden Entdeckungen und bildnerischen Kunstwerke

  • 10 Vorwort

    wie die eines Leonardo da Vinci, keine physikalischen Entdek-kungen oder Theorien eines Poincaré, Einstein oder Planck.Doch auch mit solch »großen Geistern« führte Valéry eine ArtDialog, hat sich ihnen geistig und biographisch in Gedanken,Reden oder Briefen angenähert (ebenso mit Descartes, Pascal,Leibniz, Voltaire, Kant, Goethe, Poe, Nietzsche, Mallarmé, De-gas oder Bergson – um nur einige zu nennen). Das ganze euro-päische Kultur- und Geistesleben seit der griechischen Antikewie auch die Naturwissenschaften bis in die neueste Gegenwartkönnten genannt werden.Die Biographie von Denis Bertholet strukturiert das Leben

    Valérys nach den Linien seiner Kindheit, Schul- und Jugendzeitin Sète, zeigt seine frühen Neigungen zum Lesen und Zeichnen,charakterisiert Empfindsamkeiten, Vorlieben undAbneigungendes jungen Dichters, deckt wesentliche Grundzüge möglicherAnlagen des kleinen »Paul« auf, so auch den hohen Stellenwertder Freundschaft. Die frühen Dichtungen schon seit Schulzei-ten werden während des Jurastudiums in Montpellier fortge-setzt. Der Umzug nach Paris führt nach der Nacht von Genua(1892) zu der Entscheidung, sich vom praktischen Dichten ab-zuwenden, sich der bedingungslosen Selbstanalyse des Geistesund Bewußtseins zuzuwenden. 1894 beginnt er seine Cahiers zuschreiben: längere und kürzere Gedanken zu allen Bereichendes intellektuellen Lebens (Körper, Geist, Welt) und der Wis-senschaften, theoretische Entwürfe zur Poetik und Literatur,Rohfassungen von literarischen Texten, Aphorismen, mathe-matische Übungen, bildliche Erläuterungen und Skizzen, Aqua-relle und Zeichnungen, biographische Notizen etc. etc. Ein ver-ändertes Umfeld in Paris führt zur Eheschließung mit JeannieGobillard, zu einer bürgerlichen Lebensweise, zum Besuch lite-rarischer und intellektueller Salons. Nach großen dichterischenErfolgen durch La jeune Parque 1917 (ins Deutsche übertragendurch Paul Celan) und die Sammlung Charmes 1922 (durch Ril-ke), was ihn Anfang der zwanziger Jahre laut Umfrage zum

  • 11Vorwort

    größten lebenden Dichter Frankreichs avancieren läßt, folgenzwei Jahrzehnte Vortragsreisen durch ganz Europa – so kommter 1926 auch nach Berlin und 1936 nach München –, dazu man-che Sitzung während seiner zehnjährigen Präsidentschaft desP. E. N.-Clubs 1924-1934, die aktive Mitarbeit am Dictionnaireder Académie française seit 1927, die Annahme von Preisen, Or-den, Ehrendoktoraten, dazu Aktivitäten zur Bewahrung desFriedens und der Freiheit des Geistes sowie die Organisationvon Konferenzen im Rahmen des Völkerbunds (CoopérationIntellectuelle) seit 1926, die Leitung des Universitären Mittel-meerzentrums in Nizza seit 1933, schließlich die Unterrichtstä-tigkeit am Collège de France über »Poietik« von Oktober 1937bis zu seinem Tode und dem Staatsbegräbnis, das der Präsidentder Republik Frankreich Charles de Gaulle anordnete.Bertholet gelingt es, als unparteiischer Chronist mit Empa-

    thie aus denMosaiksteinen der vorliegenden Dokumente, Frag-mente, Zeugnisse die Biographie Valérys zu rekonstruieren, diein der französischen und europäischen Zeitgeschichte ihren un-bestrittenen Platz hat – wobei für ihn die Faktizität der Ereig-nisse durchweg Vorrang vor jeder fiktionalen Interpretationhat. Wenngleich Valéry das ein wenig anders auf den Punkt ge-bracht hätte:»Die Ereignisse sind der Schaum der Dinge, wenn die Bre-cher über sie hinweggehen. Das Wichtigste ist das am wenig-sten Sichtbare. Das Ereignis kommt hoch, erscheint, blendet,verblüfft – und verrauscht. Man muß sorgfältig auf das ach-ten, woran es nichts ändert. Das muß näher betrachtet wer-den.« (Cahiers/Hefte Bd. 6, 580)

    Doch viele Ereignisse sind im Leben Valérys sehr einschnei-dend, und manche seiner gedanklichen Positionen wegweisend.Bertholet schildert dies alles mit sensibel objektivierender Di-stanz, so die Krise von Genua 1892, das Verhältnis Valéryszu seinem Meister und Ersatzvater Stéphane Mallarmé, dieFreundschaft mit André Gide, seine Hingabe an die Aufgaben

  • 12 Vorwort

    eines pater familiae, die ambivalenten Krisen um sein Dichter-tum (vielleicht kommt der Poet Valéry hier ein wenig zu kurz),das achtjährige intellektuelle Liebesverhältnis mit CatherinePozzi und die fast ebenso lange, lyrisch-produktive Beziehungmit Jeanne Loviton während der letzten Lebensjahre, die Viel-zahl der Bekanntschaften mit Dichtern, Intellektuellen,Wissen-schaftlern einerseits, mit Politikern, Diplomaten, Diktatorenandererseits. Wenn Bertholet jedoch konstatiert, daß Valéryüber die Konzentrationslager und Nazi-Verbrechen in Parisund im Lande »anscheinend nicht mehr als gewöhnliche Sterb-liche« (S. 554) gewußt habe, so bleibt dem deutschen Leser einleichter Zweifel, denn hatte Valéry nicht mehrfach Kontakt mitMarschall Pétain und war über die Kollaboration der Vichy-Re-gierung mit der deutschen Besatzungsmacht auf dem laufen-den? Die Darstellung der finanziellen Bedrängnis der FamilieValéry wie die damit zusammenhängende Rolle der vielen Be-kanntschaften und Auftragsarbeiten Valérys mag auch ein we-nig überbewertet erscheinen, die immense Schreibarbeit desCahiers-Schreibers demgegenüber unterbewertet, aber das liegtin der Freiheit der Sichtweise des Biographen. Die Biographikhat immer schon das besondere Verhältnis zwischen Biographund biographiertem »Objekt« thematisiert, so daß man sowohleinen »autobiographischen Pakt« (Philippe Lejeune) wie auchbiographischen Pakt zwischen beiden annehmen muß, wieauch immer der gestaltet wird. So widmete Denis Bertholet seinBuch dankbar seinem Vater, der aus dem ministeriellen Hinter-grund bei einigen finanziellen Entscheidungen zugunsten Valé-rys erkennbar positiv mitwirken konnte. Diese Motivation Ber-tholets kann als völlig legitim gelten und wird das Verständnisseiner Leser finden, die dankbar viele neue Details zu den Le-bensverhältnissen Valérys erfahren werden.Der Biograph unserer Zeit muß es sich angelegen sein lassen,

    alle dieQuellen zu nennen, die er als relevant erachtete und aus-gewählt hat. So fügte Bertholet seinem französischen Text eine

  • 13Vorwort

    umfassende Bibliographie hinzu, die für den deutschen Leserdurch Neuerscheinungen vervollständigt wurde. In toto sindhierbei zwei Arten von Textquellen zu unterscheiden, autobio-graphische und biographische, wobei letztere sicher auf derGrundlage eines Kontinuums abnehmender Authentizität ein-zustufen sind. Autobiographische Texte Valérys wie seine Auto-biographie (niedergeschrieben 1927 für den Concours eines Ses-sels der »Unsterblichen« in der Académie française), der Proposme concernant (1943) und Notizen in den Cahiers (von 1894 bis1945) das Leben betreffend sind herangezogen. Für den Biogra-phen nützlich sind auch jene Texte aus den Œuvres, in denenValéry seine engeren Zeitgenossen porträtiert, also den ihmherzlich verbundenen Stéphane Mallarmé, Huysmans, Bergson,Jean Perrin, und natürlich Texte aus der Sammlung Vues. EineWahrnehmung aus großer Nähe ist gewiß auch den engsten Fa-milienmitgliedern zuzubilligen, also der Tochter Agathe Rou-art-Valéry sowie den beiden Söhnen Claude und François Valé-ry, die alle durch kürzere und längere Beiträge und Zeugnissezum biographischen Bild ihres Vaters nach dessen Tod liebevollbeigetragen haben; seine Frau Jeannie hinterließ (soweit bisherbekannt) keinerlei Aufzeichnungen über ihren Ehemann unddas gemeinsame Leben – abgesehen von den bisher unveröf-fentlichten Briefen. Als erstklassige biographische Quellen imweiteren Umfeld sind dann die Aufzeichnungen und Zeugnissezu verstehen, die von Freunden und Bekannten zu LebzeitenValérys verfaßt wurden; hier sind vereinzelt veröffentlichteBriefe, Tagebuchaufzeichnungen und jahrelange Briefwechselmit Freunden und Zeitgenossen Valérys zu nennen, so mitFourment, Julie Manet, Gide, Fontainas, Féline, Louÿs, Lebey,Lefèvre (Entretiens avec Paul Valéry, 1926), Catherine Pozzi,Léautaud, Larbaud, Maurice Martin du Gard, Natalie Clifford-Barney, Souday und Gutman, weiterhin Bücher mit persönli-chen Beobachtungen von Henri Mondor, Edmée de La Roche-foucauld, Émilie Noulet, Maurice Bémol und einigen anderen)

  • 14 Vorwort

    und zuletzt jene, die in Sammelbänden und Kolloquien zumLeben Valérys das Wort ergriffen haben (Paul Valéry: Etudes,Portraits, Documents, Biographies 1926; Paul Valéry vivant: Sou-venirs et témoignages, 1946; Colloque Paul Valéry: Amitiés dejeunese, influences, lectures). Bertholet hat diese Quellen fast inextenso herangezogen und vermittelt mit ihrer Kenntnis ein ab-gerundetes Lebensbild vomDichter undDenker.Valéry seinerseits hat sich in seiner literarischen Prosa mehr-

    fach zum Problem der Biographie geäußert, zuerst in den Mar-ginalien zur Einführung in die Methode des Leonardo da Vinci:»Ein Autor, der eine Biographie verfaßt, kann versuchen, sei-nen Helden zu erleben oder aber ihn zu konstruieren. Undzwar verhalten sich diese beiden Verfahren gegensätzlich zu-einander. Erleben heißt: sich ins Unvollständige einverwan-deln. Das Leben in diesem Sinne genommen, besteht ganz inAnekdoten, Augenblicken. Die Konstruktion hingegen impli-ziert a priori die Annahme eines Daseins, das auch – ganzanders sein könnte. (. . .)« (Werke 6, S. 10-11).

    Wenn sich Bertholet durch Valérys Biographie wohl in dessenLeben »einverwandelte« und Handlungen, Ereignisse, Augen-blicke zu einem Leben mit Todesrichtung zusammensetzte, sokonstruierte Valéry seinen Leonardo aus der Vorstellung. Dasimaginäre Denken liegt für Valéry ganz im Bereich des Mög-lichen, das besonders stark durch das Bewußtsein kontrolliertwird – nur auf diese Weise konnte er sich der möglichen (nichtder historischen) Person Leonardo nähern. Mit ›seinem‹ Leo-nardo beabsichtigte Valéry eine Art »psychologisches Modell«zu schaffen, um seine Fähigkeiten und den EntstehungsprozeßseinerWerke zu rekonstruieren. »Das Leben des Autors ist nichtdas Leben des Menschen, der er ist« notiert er dazu am Rande(Werke 6, S. 98); er kapituliert vor der Unmenge biographischerDaten und geht einen anderen Weg, da er sehr wohl weiß, daßetwa die Kenntnis aller Details aus dem Leben eines Racineauch nie hinreichen würde, die Erzeugung eines einzigen seiner

  • 15Vorwort

    Verse verständlich zu machen. Dieses »biographische Problem«(Werke 3, S. 9) wird besonders deutlich im Bereich der Musikund der Lyrik; bei solchen künstlerischen Produktionen kommtdie Stimme des Ich zum Tragen, sie vermittelt sinnliche Ein-drücke, Empfindungen und Stimmungen, Liebe und Leid,Grunderfahrungen der menschlichen Existenz; doch auf keinenFall darf man – so liest man im Essay zu Pascal – den wahrenAutor oder Komponisten (das Ich) mit dem Menschen, den dasWerk uns vermuten läßt, verwechseln (Werke 4, S. 94); zudem,wie könnte man sonst musikalische Kompositionen und poeti-scheWerke –man denke an dieOdyssee, dasHohelied Salomons,das Buch Jesus Sirach, die Sonette Shakespeares – ohne biogra-phische Daten ihres möglichen Urhebers oder Autors über-haupt »verstehen«?DiesemProblemderBiographie stehtValéry beidenGestalten

    vieler seiner Aufsätze gegenüber, so Villon und Verlaine, Pascal,La Fontaine (Adonis), Goethe (hier bringt er denGegensatz zwi-schen tiefsten individuellen Kreativitätsprozessen und demWerk eines Autors auf den Vergleich: »Der Geschmack derFrüchte eines Baumes hängt nicht vom Gesicht der ihn umge-bendenLandschaft ab, sondern vondemunsichtbarenReichtumdes Bodens.«, Werke 3, S. 123), Anatole France, Descartes – in-dem er immer wieder betont, daßman den wirklichen Verfasser(Autor) eines Werkes nicht mit der durch das Werk hervorge-brachten Person verwechseln oder gar identifizieren darf. DiePerson, die der Biograph zu beschreiben versucht, ist »einName,Bedürfnisse,Manien, Lächerlichkeiten,Mängel; jemandder sichschneuzt, hustet, ißt, schnarcht und so weiter; ein Spielzeug fürdie Frauen, ein Opfer der Hitze und Kälte; ein Gegenstand vonNeid, Antipathien, Haß und Spöttereien« (Werke 5, S. 413); die»Illusion des Biographen«, so Valéry weiter, bestehe nun in demGlauben, das, was er sucht, könnte das, was der andere gefundenoder geschaffen hat, hervorgebracht haben oder »erklären«.Komplementär und kontrapunktisch zu Valéry liest sich Bour-

  • 16 Vorwort

    dieusAufsatz überDie biographische Illusion von 1986;der Sozio-loge Pierre Bourdieu stellt der durch denEigennamengestiftetenIdentität des Biographierten, der Konstanz seines chronologi-schen Lebensverlaufs und seiner sozial feststehenden Individua-lität den ständigenWechsel im Raum gegenüber. Die biographi-schen Ereignisse sind seiner Meinung nach Veränderungen vonPositionen in sozial unterschiedlichen Feldern. So gesehen willesValérywieBourdieu illusorisch erscheinen,die daraus resultie-renden sozialen, biologischen, mentalen Krisen und Verände-rungen eines Individuums überhaupt beschreiben zu wollen.Als Valéry sein Buch Degas, danse, dessin 1936 redigierte,

    stand er vor der Notwendigkeit, ein Biographiekonzept zu ent-werfen. Vier Jahre zuvor schrieb erDas Leben ist eine Erzählung,es beginnt und endet »durch eine Art Zufall«, in seinem Verlauftreten viele Zufälle auf, etwa Lebenspartner, Freunde, Lektüren,Glaubensansichten – und die Chronologie legt sich erst mit derErinnerung über die Lebensgeschichte. Hypothetisch betrachtetliest sich dies so:»Ich weiß nicht, ob man jemals versucht hat, eine Biographiezu schreiben, indem man versuchte, in jedem einzelnen Au-genblick über den nachfolgenden Augenblick ebenso wenigzu wissen, wie der Held eines Werks im entsprechenden Au-genblick seiner Laufbahn wußte. Kurzum, in jedem Augen-blick den Zufall wiederherzustellen, statt eine Abfolge zuschmieden, die sich zusammenfassen läßt, und eine Kausalität,die sich in einer Formel fassen läßt.« (Werke 5, 357)

    Zwischen den Zufällen (das heißt den Wechsel- oder Er-eignispunkten) im Leben dieses homo faber gibt es aber immerauch kürzere oder längere Zeiträume, Kontaktzonen, »Objek-te«, Zustände normaler (sprich: unauffälliger, alltäglicher) Kon-tinuität. Vielleicht bietet sich hier auch der von Roland Barthes1971 eingeführte Beschreibungsbegriff des »Biographems« an,der die Subjektivität und Fragmentierung des Biographen beider Auswahl seiner Beschreibung unterstellt – was Valéry ja

  • 17Vorwort

    schon autobiographisch in Propos me concernant und biogra-phisch in Degas, danse, dessin in Form thematischer Textblöcke(›blocs‹) praktiziert hatte. Von der Chronologie des Lebensbe-richts (die bei Bertholet der Skelettbau der Lebensabschnitte ist)kann dann natürlich keine Rede sein.Wenn man zuletzt nach Valérys Differenzierung zwischen

    Biographie und Autobiographie fragt, so sind die Antworten– vor allem in seinen Cahiers – weit komplexer. Die Person bil-det sich im sozialen Leben, sie ist »ein Spiel der Liebe und desZufalls« (Werke 6, S. 94), sie gewinnt Gestalt durch Anerken-nung und Wirkung, sie wird zum Objekt einer Biographie;demgegenüber zielt der autobiographische Text für Valéry aufSelbsterkenntnis und Bewußtwerdung des Ich:»Die Person des Autors ist dasWerk seinerWerke. Mein Cha-rakter bringt mich dazu, das, was geschrieben wird, als Ex-erzitium zu betrachten, als äußeren Akt, als Spiel, als An-wendung – und mich zu unterscheiden von dem, was ichausdrücken kann. Meine Verse hätte ich nicht geschrieben,wenn ich nicht durch die Anzahl der Bedingungen, die ich ih-nen auferlegte und die nicht alle sichtbar sind, ihre Entste-hung fast verhindert hätte. Das Wesentliche ist für mich nichtdas Werk (Mißverständnis) – es ist die Erziehung des Urhe-bers.« (Cahiers/Hefte, 1, S. 332)

    Alles Autobiographische zielt also auf einHandeln, Analysieren,Beobachten eines sich verändernden Ich, wie er es im Wesent-lichen in denCahierspraktizierte. So betrachtet gelte für ihn, daßseineArbeit als Schriftsteller ausschließlichdarinbestehe, »Frag-mente, Notizen über alles mögliche und aus jeder Epoche meinerGeschichte ins Werk zu setzen« (ibid., S. 313), und in Klammernfügt er hinzu »à la lettre« – buchstäblich. Karl-Alfred Blüher hatimVergleich zuMontaigne das »fragmentarisch angelegte Auto-portrait« Valérys herausgearbeitet (Forschungen zu Paul Valéry14, 2001, S. 11), das eine Konzeption aus verstreuten Notizen mitbewußter Absicht des Provisorischen als Instrument zur Ich-Er-

  • 18 Vorwort

    forschung und Selbsterkenntnis wie der Erforschung allgemeinmenschlicher Charakteristika zugrunde legt. Dabei unterschei-det Valéry in seinen Cahiers zwischen einem »personalen Ich«(Persönlichkeit), das eine Mischung aus Erbanlagen, Erinne-rungen, Gewohnheiten darstellt, und einem »höheren Ich«,funktional invariant, das besonders im Denkprozeß als integra-ler Beobachter seines Selbst auftritt, das die innere Sprache (pa-role intérieure) versteht und das bewußte Bewußtsein steuert.Wie er offen in Propos me concernant feststellt, habe er die Ca-hiers tagtäglich als Notizbuch dieses freien Denkens geschrie-ben, also keineswegs als Tagebuch. Erinnerungen, gute wieschlechte, seien ihm gleichermaßen schrecklich.Valéry steht jeder Art Lebensbeschreibung also grundlegend

    skeptisch gegenüber, und so bemerkt er gleich zu Beginn vonDegas, danse, dessin, er wolle auch keine Biographie »wie sie imBuche steht« (Werke 6, S. 262) schreiben, denn das Leben einesMenschen sei eine Reihe von Zufällen, von Reaktionen auf dieseoder jene unvorhersehbaren Gegebenheiten und Ereignisse –wie etwa Herkunft, Liebschaften, materielle Nöte –, aber diewirkliche Einsicht in den Wert eines Menschen erwüchse ausganz anderem. Sein Ziel hier sei demzufolge, mit seiner Metho-de einige wesentliche Züge von Degas herauszuarbeiten – wie eres dann auch macht.Werfen wir zuletzt einen Blick in die Cahiers zur Zeit der

    deutschen Besatzung von Paris: Im April 1942 beginnt Valéryein neues Cahier, drei Adressen setzt er auf eine imaginäreAgenda: die des Verlegers Albert Skira (der Paris 1941 verlassenhatte und nach Genf übersiedelte), des Schriftstellers ValeryLarbaud in Vichy (wo dieser von der Geburt bis zum Tode ge-lebt hat), und die des deutschen Verlegers Kippenberg, Insel Ver-lag, Leipzig (Anton Kippenberg, der zusammen mit Rilke Mitteder zwanziger Jahre eine erste deutscheWerke-Ausgabe Valérysgeplant hatte und der zugleich mit Valéry 1932 die Goethe-Me-daille für Kunst und Wissenschaft erhielt, vom Reichspräsiden-

  • 19Vorwort

    ten Paul von Hindenburg unterzeichnet). Ohne daß biogra-phisch zu klären sein wird, was diese drei Namen für Valérygerade in diesem Lebensmoment bedeutet haben könnten, sostehen sie für Kontakt- und Handlungsmöglichkeiten, die bio-graphisch nur Vermutungen zulassen. Gleich Anfang April die-ses Jahres 1942 – auf der nächsten Cahier-Seite – macht sich Va-léry Gedanken über eine Typologie der Vorwürfe (reproches),ohne den − oder wohl die? − Adressatin zu nennen, indem ernotiert: »Ich werfe ihnen /dir nur vor, nicht das getan zu haben,was ich an ihrer / deiner Stelle getan hätte.« Und nach einerZeichnung (vielleicht ein Selbstporträt mit Jean Voilier?) be-merkt er zu ›M. P.‹ [sc. Marschall Pétain], daß dieser eine öffent-liche Person, eine personne morale sei, ohne Intelligenz und Sen-sibilität, dazu ein Papier-Gedächtnis habe. Und unter demStichwort sagesse (Klugheit) notiert er, es sei entscheidend, fastebensooft etwas nicht zu wissen wie etwas zu wissen; wer kenntedenn schon sein eigenes Sterbedatum oder die wahren Gedan-ken seiner Geliebten oder seines Freundes . . .Ein Biograph könnte nun diese Gedanken mit einem ande-

    ren Faktum in Verbindung bringen, das Bertholet beim Schrei-ben seiner Biographie noch nicht wissen konnte. Hélène Berr,ein 21jähriges Mädchen aus einer alteingesessenen, jüdischenPariser Familie, das aufgrund der antisemitischen Gesetze derVichy-Regierung zur agrégation in Anglistik nicht zugelassenwurde, beginnt am 7. April 1942 abends ein Journal, das zweiJahre später abrupt endet mit dem Eintrag »Horror Horror Hor-ror«; sie wurde über Drancy nach Bergen-Belsen deportiert. Anjenem 7. April 1942 nachmittags holte sie − den gelben Juden-stern amMantel − ein Buch aus demHause 40, Rue de Villejusteab, in das der Dichter Paul Valéry ihr, auf ihre Bitte hin, eineganz persönliche Widmung geschrieben hatte: »Exemplaire demademoiselle Berr«, und darunter »Au réveil, si douce la lumiè-re, et si beau ce bleu vivant.«

    Jürgen Schmidt-Radefeldt

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