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Leseprobe Dedecius, Karl Meine polnische Bibliothek Literatur aus neun Jahrhunderten Herausgegeben und übersetzt von Karl Dedecius. Mit einem Vorwort von Stefanie Peter © Insel Verlag 978-3-458-17499-8 Insel Verlag

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Leseprobe

Dedecius, Karl

Meine polnische Bibliothek

Literatur aus neun Jahrhunderten

Herausgegeben und übersetzt von Karl Dedecius. Mit einem Vorwort von

Stefanie Peter

© Insel Verlag

978-3-458-17499-8

Insel Verlag

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MEINE POLNISCHEBIBLIOTHEK

LITERATURAUS NEUN

JAHRHUNDERTEN

Herausgegeben und übersetztvon Karl Dedecius

Mit einem Vorwortvon Stefanie Peter

INSEL VERLAG

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© Insel Verlag Berlin und Leipzig 2011Alle Rechte vorbehalten,

insbesondere das des öffentlichen Vortragssowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,

auch einzelner Teile.Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: TypoForum GmbH, Seelbach

Druck: Druckhaus Nomos, SinzheimPrinted in GermanyErste Auflage 2011

ISBN 978-3-458-17499-8

1 2 3 4 5 6 – 16 15 14 13 12 11

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MEINE POLNISCHE BIBLIOTHEKLITERATUR AUS NEUN JAHRHUNDERTEN

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INHALT

Vorwort von Stefanie Peter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

I Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21II Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

III Barock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85IV Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107V Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

VI Positivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183VII Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

VIII Von Krieg zu Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267IX Nach dem Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319X Ende und Anfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

Nachwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395

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»Du verpflanzt meine zunge in eine fremde«

Übersetzung als Mittel der Völkerverständigung

Dichter, die ihren Übersetzern Gedichte widmen, sind eher dieAusnahme. Nicht so im Fall von Karl Dedecius. Ihm habenGrößen der polnischen Literatur wie Zbigniew Herbert oder Ta-deusz Rozewicz bewundernde Verse zugeeignet: »Du [. . .] ver-pflanzt/meine zunge/in eine fremde/dann/tragen meine gedan-ken/früchte/in deiner sprache«, heißt es am Ende eines Gedichtsvon Rozewicz, das den Titel »An K. D.« trägt. In einem Briefbeschreibt der Breslauer Lyriker treffend, was seinen Genera-tionsgenossen und Freund Karl Dedecius angetrieben habenmochte, daß er sich ein halbes Jahrhundert lang einer einzigenSache, der Vermittlung polnischer Literatur in Deutschland, ver-schrieb: Dedecius sei ein Übersetzer, der im Schweiße seinesAngesichts versuche, die Sünden der Vergangenheit wiedergut-zumachen und die verworrene Sprache der Völker so lange inverständliche Sprachen zu übersetzen, bis diese Völker ihre Lite-raturen und einander liebgewinnen. Ob sich Deutsche und Polenliebgewonnen haben, sei dahingestellt – soviel ist jedoch gewiß:Die Entdeckung und Rezeption polnischer Literatur im Nach-kriegsdeutschland ist zu einem großen Teil Karl Dedecius zuverdanken. Welche Gegenwartsliteratur aus dem Nachbarlanddie Westdeutschen seit den fünfziger Jahren zu lesen beka-men, was übersetzt und in Verlagsprogramme aufgenommenwurde, wie sich polnische Schriftsteller einen Platz auch in derdeutschen Literaturlandschaft erobern konnten – all das ist un-trennbar mit dieser einen Person verbunden. Karl Dedeciusverstand Sprache und Literatur zeitlebens als Mittel der Völker-verständigung, als eine kostbare Fracht, die er wie ein Hand-

9Vorwort

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lungsreisender über Kulturgrenzen und historische Gräben trans-portierte.

Schon aus biographischen Gründen war er für diese Aufgabeprädestiniert: Am 20. Mai 1921 als Sohn eines böhmisch-deut-schen Vaters und einer schwäbischen Mutter in Lodz geboren,erlebte Dedecius seine Vaterstadt als jene polyglotte und boo-mende Einwanderermetropole, der Władysław Reymont in sei-nem großen und von Andrzej Wajda verfilmten Lodz-RomanDas gelobte Land ein literarisches Denkmal gesetzt hat: Russen,Juden, Deutsche und Polen prägten den so spannungsreichen wieinspirierenden Alltag dieser Industriestadt, die mit ihren riesigenTextilfabriken als Manchester des Ostens in die Geschichte ein-ging. In seiner 2006 erschienenen Autobiographie Ein Europäeraus Lodz erinnert sich Dedecius, wie er zu Hause Deutsch undauf der Straße Polnisch sprach, ein polnisches Gymnasiumbesuchte, mit seinem Vater ins russische Dampfbad und mit sei-ner Mutter in die deutsche evangelische Kirche ging. Lodz besaßkeine nationalpolnische Identität. »Lodzer aller Länder, verei-nigt euch!« – mit dieser skurrilen Parole überschrieb Dedeciusnoch Jahrzehnte später Briefe an alte Weggefährten – ein Be-kenntnis gegen provinzielle Beschränktheit und lokalpatrioti-schen Kleinmut.

1941 wurde Dedecius zur Wehrmacht einberufen, nahm an derSchlacht von Stalingrad teil und überlebte sieben Jahre in russi-schen Kriegsgefangenenlagern. Hier wurde ihm das Übersetzenzur »wirksamen Medizin«: Wenn er Gedichte des russischen Ro-mantikers Lermontow ins Deutsche übertrug, vergaß er überdessen Jugendwunden die eigenen Entbehrungen. Seine Elternhatte Dedecius im Krieg verloren, seiner späteren Ehefrau wardie Flucht aus Lodz gelungen. Erst 1950 trafen sie sich wieder –in Weimar. »Ein Paradox für sich, daß ich die ›Heimat‹, die michin den Krieg schickte, erst nach der Rückkehr aus russischer Ge-fangenschaft kennenlernen sollte«, schreibt Dedecius in seiner

10 Vorwort

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Autobiographie. In Deutschland mußte er mit der deutschenSprache erst wieder vertraut werden, denn viele Ausdrücke lagenihm zunächst auf polnisch oder russisch auf der Zunge. Er über-setzte, arbeitete für kurze Zeit am Weimarer Deutschen Theater-Institut, setzte sich aber wegen des zunehmenden ideologischenDrucks in den Westen ab – zunächst nach Berlin, dann in diePfalz.

Vom Zweitberuf zum Lebensthema

Als Übersetzer war Dedecius Autodidakt, der seine ersten Erfah-rungen während der Schulzeit und vor allem in der Kriegsgefan-genschaft sammelte, eine Lektorenkarriere in westdeutschenVerlagen blieb ihm versagt. Er wurde leitender Angestellter beider Allianz-Versicherung – dem Übersetzen polnischer und rus-sischer Literatur konnte er sich nur im Zweitberuf nach Dienst-schluß und am Wochenende widmen. Diesem Zweitberuf mußaber seine ganze Leidenschaft gegolten haben: Wie sonst hätte erHunderte von Gedichten übersetzen und Dutzende, noch dazumaßgebliche Anthologien herausgeben können? Dem Musik-liebhaber Dedecius glich die Anthologie, mit ihrem Zusammen-spiel unterschiedlicher Stimmen, einem Symphonieorchester.1959 erschien zum zwanzigsten Jahrestag des Kriegsausbruchsder Gedichtzyklus Leuchtende Gräber mit Versen im Krieg ge-fallener polnischer Dichter und kurz darauf der SammelbandLektion der Stille. Mit dem Kontakt zu Texten und Werkenwollte es der Mittler Dedecius nicht bewenden lassen. Ihn inter-essierten die Biographien seiner Generationsgenossen und diepersönlichen Begegnungen mit den Autoren. In den nun folgen-den Jahren trat er in regen Austausch mit maßgeblichen Persön-lichkeiten des intellektuellen Lebens, mit Schriftstellern, die ihreTexte in der Pariser Exilzeitschrift Kultura und der Krakauer All-gemeinen Wochenzeitung Tygodnik Powszechny veröffentlich-

11Vorwort

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ten. Die beiden Zeitungen prägten das kulturelle Leben an derWeichsel, ihre Chefredakteure Jerzy Giedroyc und Jerzy Turo-wicz übten auf die politischen Geschicke des Landes einen gro-ßen Einfluß aus. Dedecius fühlte sich angezogen von diesem Mi-lieu, er reiste viel, hielt Vorträge und Lesungen, und allmählichwurde aus dem Zweitberuf ein Hauptberuf. 1978 schließlich ent-schied er sich, die Versicherung zu verlassen. Die Gründung desDeutschen Polen-Instituts in Darmstadt hatte er zu dieser Zeitschon in die Wege geleitet. 1980 wurde es eröffnet, und KarlDedecius blieb fast zwanzig Jahre lang als Direktor im Amt. Indieser Zeit bildete er einen qualifizierten Nachwuchs an deut-schen Polnischübersetzerinnen und -übersetzern aus und fördertediejenigen, die in seine Fußstapfen traten. Oft war er auch in poli-tischer Mission nach Polen unterwegs: Als die Mauer fiel, war ermit Helmut Kohl in Warschau, mit Richard von Weizsäcker be-suchte er Herders Geburtshaus in Mohrungen, Helmut Schmidtund Marion Gräfin Dönhoff empfing er als ständige Gäste imDeutschen Polen-Institut auf der Darmstädter Mathildenhöhe.Die von Dedecius zwischen 1982 und 2000 im Suhrkamp Verlagherausgegebene »Polnische Bibliothek« umfaßt fünfzig Bändepolnischer Literatur vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert.Seine systematisch komponierte Rundschau »Panorama der pol-nischen Literatur des 20. Jahrhunderts« erschien 1996 bis 2000und ist über sechstausend Seiten stark. Die eine Hälfte seinesArchivs, das eine wahre Fundgrube der deutsch-polnischen Kul-turbeziehungen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist,ging 2001 als Vorlaß in die Hände der UniversitätsbibliothekFrankfurt an der Oder über und wanderte von dort gleich weiterauf die polnische Seite des Flusses an ihren jetzigen Aufbewah-rungsort, die Bibliothek des Collegium Polonicum. Insgesamtenthält das Archiv mehr als sechstausend Datensätze. Zweihun-dert Ordner mit Korrespondenzen, darunter Dedecius’ Brief-wechsel mit namhaften polnischen Schriftstellern wie Zbigniew

12 Vorwort

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Herbert, Stanisław Jerzy Lec und Wisława Szymborska, sind dorteinsehbar. Auch Dokumente von teils bestechender Privatheit:selbstgebastelte Collagen, Ansichtskarten mit schrillen Motiven,auf den Rückseiten freundschaftliche Worte. Hinzu kommenein beachtliches Konvolut an Zeitungsausschnitten, Fotografien,Bildern, Tonkassetten, Plakaten, Typoskripten und an die tau-send Bücher. Ein beachtlicher Querschnitt durch das Leben einesleidenschaftlichen Literaturforschers.

Polnische Literatur als Spiegel der Geschichte

Es gilt nicht allein, aber wohl in besonderem Maße für Polen, daßDichter es sich nicht leisten konnten, abseits ihrer Zeit zu stehen.Kein anderes europäisches Land hat eine so wechselvolle Ge-schichte hinter sich und nirgendwo sonst drängte sie sich derartgewaltsam ins Leben des einzelnen und zwang Schriftsteller viel-fach zu konspirativen Formen des Lebens und Schaffens. DiePolnischen Teilungen von 1772, 1793 und 1795, die lange Periodeunter preußischer, russischer und österreichischer Fremdherr-schaft, die erst 1918 ein Ende fand und Polens lange Traditiondes Exils begründete, finden ebenso ihren Widerhall in den Wer-ken von Lyrikern, Essayisten und Romanciers wie das schwarzeKapitel der deutschen Besatzung 1939 bis 1945, die Jahre desSozialismus, schließlich der Systemwechsel von 1989 und sei-ne Folgen. Polnische Literatur als Spiegel der Geschichte – darinerkannte Karl Dedecius einen grundlegenden Wesenszug undbaute seine Anthologien deshalb mit Vorliebe chronologisch auf,so daß sie sich zugleich als historische Nachschlagewerke lesenlassen. Auch die über zweihundert für den vorliegenden Bandausgewählten Texte hat er nach diesem bewährten Ordnungs-prinzip gegliedert und sich nicht weniger vorgenommen als dieNacherzählung des vergangenen polnischen Jahrtausends mit li-

13Vorwort

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terarischen Mitteln. Es ist eine historische Methode, deren KarlDedecius sich hier bedient, der Versuch, Geschichtsschreibungmittels Literatur zu betreiben. Diesem Vorgehen liegt ein Litera-turbegriff zugrunde, der »Literatur« nicht auf den strengen Rah-men der klassischen Gattungstrias beschränkt. Neben Gedich-ten, Roman- und Dramenauszügen versammelt die Anthologieauch Briefe, Chroniken, Texte von Philosophen wie Leszek Ko-łakowski, Politikern wie Jozef Piłsudski, Nachdenkliches vonKarol Wojtyła und einen Auszug aus der ersten polnischen Ver-fassung aus dem Jahr 1791.

Literatur aus neun Jahrhunderten

Am Anfang steht ein weiter Blick zurück. Da durchstreift derfranzösische Wandermönch Gallus Anonymus »das Land derPolen«, das »fern von der Wallfahrtsstraße liegt und nur weni-gen bekannt ist«. Seine Beschreibungen der »Taten polnischerKönige und Fürsten« aus dem 12. Jahrhundert sind das frühesteZeugnis polnischer Geschichte, das uns überliefert ist. Zusam-men mit Auszügen aus den Chroniken von Wincenty Kadłubek,Jan Długosz und den Gedichten des Frovinus aus Krakau, dievon Herrschern, Heiligen, Städten, Gründungsmythen, aber auchdem alltäglichen Leben berichten, ergeben sie in dieser Antho-logie ein lebendiges, mentalitätsgeschichtlich aufschlußreichesBild des mittelalterlichen Polens. Mit demselben Verfahren nä-hert sich Dedecius in sechs weiteren Kapiteln den Epochen derpolnischen Literaturgeschichte bis zum 20. Jahrhundert: Renais-sance, Barock, Aufklärung, Romantik, Positivismus und Moder-ne. In drei weiteren Kapiteln folgt die Literatur des 20. Jahrhun-derts: »Von Krieg zu Krieg«, »Nach dem Krieg«, »Ende undAnfang«. Aus dem Kanon wählt er nicht nur die für eine Epochecharakteristischen Texte großer Dichterpersönlichkeiten, son-

14 Vorwort

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dern auch Quellen aus, anhand deren sich die geistes- und kultur-geschichtliche Entwicklung der Nation, aber auch polnische Spe-zifika, gesellschaftliche Prägungen und Habituelles besondersgut nachvollziehen lassen. So kommt es, daß wir plötzlich Seiten-blicke aufs Geschehen erhaschen und die große Erzählung uminteressante Details angereichert wird, wenn da beispielsweise imKapitel »Barock« flammende Liebesbriefe zu lesen sind, die derpolnische König Jan Sobieski an seine Gemahlin sandte, bevor er1683 mit seinen Truppen die Belagerung Wiens durch die Türkenerfolgreich beendete. Im Kapitel »Aufklärung« finden wir, ausder Feder Stanisław August Poniatowskis, Fragmente der polni-schen Verfassung vom 3. Mai 1791, der ersten in Europa, die denZerfall der Adelsrepublik aber dennoch nicht hat aufhalten kön-nen. Einer, der schon damals kritisch mit dem Gebaren von Adelund Klerus ins Gericht ging, war der Regierungsreformer undVerfasser des mehrbändigen Werks Über die wirksame Art zuberaten, Stanisław Hieronim Konarski. Sein »Diarium eines mo-dernen Kavaliers« von 1767 gehört allein schon deshalb zu denvielen kleinen Entdeckungen in dieser Anthologie, weil Ko-narski sich darin so schön über den liederlichen Lebenswandeleines polnischen Aristokraten mokiert: »Freitag. Feiertag. Standum 10 auf, frisierte mich und zog mich an bis 11. Der Nürnbergerkam mit Galanteriewaren. Sah sie mir lange an und nahm einigeauf Kredit. Um 1 fuhr ich zur Messe. Sie war aber längst vorbei.«

Die untergegangene Nation

Neben solchen Überraschungen versammelt Dedecius auch Vor-hersehbares und Unverzichtbares wie etwa im Kapitel »Roman-tik« Auszüge aus dem Dramenzyklus Totenfeier von AdamMickiewicz. Die Romantik ist die große Epoche der polnischenLiteratur und die Totenfeier eines ihrer Hauptwerke. Mickiewicz

15Vorwort

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schrieb die vier Teile an unterschiedlichen Orten, in Wilna, Parisund Dresden, zu einer Zeit, da der polnische Staat von der Land-karte verschwunden war. Wer heute das spezielle Verhältnis derPolen zu ihren Toten mit dem immer noch zentralen FeiertagAllerseelen begreifen will, findet in diesem in der Volkskulturfußenden Drama allerhand rituelles Anschauungsmaterial. Undauch die Ursprünge des polnischen Messianismus, der ja, wieman noch im April 2010 an den öffentlichen Trauerritualen imGefolge des Flugzeugunglücks von Smolensk sehen konnte, einstets virulentes kulturelles Muster ist, lassen sich an der Toten-feier eindrucksvoll nachvollziehen.

Wie sehr gerade die Dichter der Romantik in der ersten Hälftedes 19. Jahrhunderts mit nationalen Belangen beschäftigt waren,zeigt auch die Reaktion Zygmunt Krasinskis auf die Veröffent-lichung des Kommunistischen Manifests. In einem Gedicht ausdem Jahr 1848, das ebenfalls den Titel »Manifest« trägt, zeichnetder Aristokrat Krasinski, der zeit seines Lebens ein entschie-dener Gegner von Revolutionen war, ein düsteres Szenario desUntergangs und der gesellschaftlichen Auflösung im Bürger-krieg: »Wie elektrischer Strom kommen Mord und Entsetzen, /Sohn gegen Vater wird das Messer wetzen, / Geschwister inTodesängste versetzen.« Im geteilten Polen schienen die revolu-tionären Ideen keine ansteckende Wirkung zu zeitigen, man warvor allem mit Fragen der Selbstbehauptung beschäftigt. Und mantrauerte: »Unsere Trauer produziert mehr Poesie / als Freude.Perlen entstehen in der leidenden / Muschel als Folge von Rei-zung und / Entzündung durch ein Sandkorn«, heißt es bei Alek-sander Swietochowski, einem Warschauer Publizisten, der derliterarischen Strömung des »Positivismus« zugeordnet wird undbekannt war für seine antiklerikale und antiaristokratische Hal-tung.

Während ein Großteil der polnischen Dichter sich im patheti-schen Abgesang auf die untergegangene Nation gefällt, schlägt

16 Vorwort

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der Lyriker, Dramatiker und Maler Cyprian Kamil Norwid ei-nen intellektuell nüchternen Ton an: »Ich stamme aus einemVolk, in dem seit fast hundert Jahren jedes / Buch zu spät und jedeTat zu früh kommt. Das allein zu verbessern / würde genügen,das Volk zu erlösen«, schreibt er 1849 in einem Brief aus demPariser Exil. Mit seiner Kritik an den falschen, irrealen und pa-thetischen Idealen der Romantik stand Norwid lange Zeit alleinda. Der Außenseiter wurde erst von den Vertretern des JungenPolen, also eine Generation später, entdeckt. Inzwischen be-trachtet man ihn nicht mehr allein durch die romantische Brille.In seinem Werk, das Elemente von Klassizismus und Symbolis-mus aufweist, erkennt man, wie sehr dieser Dichter seiner Zeitvoraus war.

Im Kapitel »Moderne« bekommen wir einen Einblick in dieschwüle Atmosphäre des polnischen Fin de siecle. StanisławPrzybyszewski findet in der Musik von Frederic Chopin »denTon, auf den die Seele des Polen gestimmt ist«, und Tadeusz BoyZelenski schildert, wie sich Dichter und Künstler in den Salonsdionysisch verausgabten. Sogar ein Fragment aus dem RomanFlammen des marxistischen Philosophen und Schriftstellers Sta-nisław Brzozowski hat Dedecius für diesen Band ausgewählt.Brzozowskis Werk wird gerade in den letzten Jahren von derpolnischen Linken um die Zeitschrift Krytyka Polityczna (»Poli-tische Kritik«) wiederentdeckt. 2002 gegründet, entwickelte sichdie Zeitschrift innerhalb kurzer Zeit zu einem wichtigen Sprach-rohr der jüngeren Kultur- und Intellektuellenszene in Polen.Eine ihrer Aufgaben sehen die Herausgeber darin, Schlüsseltexteder polnischen linken Tradition wiederaufzulegen und damitdem Vergessen zu entreißen. Dazu gehört auch Brzozowski. Daßman ihn bei Dedecius findet, zeigt einmal mehr die Kennerschaftdes Herausgebers und den kulturgeschichtlichen Anspruch derAnthologie, die sich als Literaturgeschichte im Gewand einesLesebuches präsentiert.

17Vorwort

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Zeitgenossen

Je weiter sich die Anthologie ins 20. Jahrhundert vorarbeitet,desto mehr weicht der kundige Überblick einer detailreichenNahsicht, die viel über die persönlichen Lektürevorlieben desHerausgebers und die Geschichte seiner Beschäftigung mit derpolnischen Literatur preisgibt. In der Auswahl zeigt sich deutlichein biographisches Moment, kreuzt sich der Lebensweg des Ver-mittlers Dedecius doch an vielen Stellen mit dem der Schriftstel-ler, deren Werke er ins Deutsche übersetzte. So stammt JulianTuwim, der Futurist und wohl populärste polnische Lyriker derZwischenkriegszeit, der die Dichtergruppe »Skamander« mitbe-gründete, wie Dedecius aus Lodz. »Ich frage mich«, hat er einmalgeschrieben, »warum ich Tuwim, obwohl mir andere polnischeDichter mehr behagen und zu sagen haben, immer wieder zuübersetzen versuche. Es ist nicht der Umstand allein, daß wir die-selbe Geburtsstadt haben, über die gleichen Pflastersteine ge-schlendert sind, die gleiche schwere Luft zum Atmen hatten. Esist die Aufgabe, seine erfindungsreiche, mitreißende Einfachheitzu finden.«

Enge persönliche Kontakte, teilweise jahrelange Korrespon-denzen, verbinden Dedecius mit Julian Przybos, Stanisław JerzyLec, Zbigniew Herbert und den beiden NobelpreisträgernWisława Szymborska und Czesław Miłosz. Miłosz war es auch,der 1969 seine History of Polish Literature (die deutsche Überset-zung erschien 1981) in den Vereinigten Staaten veröffentlichteund damit versuchte, die Literatur seines Heimatlandes einemamerikanischen Publikum nahezubringen. Ein Anliegen, das ihnmit Dedecius’ jahrzehntelangen Bemühungen auf dem Feld derVermittlung polnischer Literatur und Kultur in Deutschland ver-bindet. Eine noch größere Nähe aber besteht zu Tadeusz Roze-wicz. Seinem Schreiben, sagt Dedecius, habe er sich von Beginnan verpflichtet gefühlt, aufgrund der gemeinsamen Kriegserfah-

18 Vorwort

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rung, aber auch weil beide denselben Polnischlehrer hatten. BeiRozewicz, der schon während des Krieges, aber vor allem danachein eigenes poetologisches Programm formulierte und nach einerneuen Sprache in der Lyrik suchte, findet Dedecius jene »Wahr-heitsintensität«, die er einmal als Hauptcharakteristikum derpolnischen Literatur bezeichnet hat.

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Beginn desneuen Jahrtausends ist das Lebenswerk Dedecius’, der im Mai2011 seinen 90. Geburtstag feiert, zu einem stolzen und glück-lichen Abschluß gekommen. Die Stimmen der nachfolgendenGenerationen polnischer Schriftsteller wie Andrzej Stasiuk, Woj-ciech Kuczok, Michał Witkowski, Dorota Masłowska oderTomasz Rozycki wurden nicht mehr von Karl Dedecius über-setzt und folglich auch nicht in diese Anthologie mit aufgenom-men. Doch auch sie haben längst ihren festen Platz in der hiesi-gen Literaturlandschaft erobert. Daß ihre Werke heute mit gro-ßer Selbstverständlichkeit und dank der Tätigkeit verschiedenerÜbersetzer nach Deutschland gelangen, darin liegt das großeVerdienst von Karl Dedecius.

Stefanie Peter

19Vorwort

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