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Michael von Brück Interkulturelles Ökologisches Manifest B

Interkulturelles Ökologisches Manifest

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Page 1: Interkulturelles Ökologisches Manifest

Michael von Brück

InterkulturellesÖkologischesManifest

B

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Michael von Brück

Interkulturelles Ökologisches Manifest

VERLAG KARL ALBER A

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Das Anliegen der Stiftung kulturelle Erneuerung ist, den his-torischen und sachbedingten Zusammenhang von Wissen,Kunst und Religion oder kurz: tragender Säulen mensch-licher Kultur wieder deutlicher zu machen und dadurch dazubeizutragen, ihre Wirksamkeit und Zukunftsfähigkeit zustärken. Das kann und soll auf unterschiedliche Weise – nichtzuletzt durch Publikationen wie dieser – geschehen.

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Michael von Brück

InterkulturellesÖkologischesManifest

Verlag Karl Alber Freiburg / München

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Michael von Brück

Intercultural Ecological Manifest

It is obvious that we, our children and the coming generationswill face enormous ecological challenges. But there is perplexitywhen it comes to finding sustainable ways out of the crisis.

Michael von Brück brings approaches from European andAsian traditions into conversation, from which we can grow intoa new way of thinking, feeling and acting. The religions andcultures of Europe, India and China have an enormous spiritualtreasury from which a transformation of our ways of life and arenewal of our self-image as human beings is possible. For it isnot by threat but by insight that man is moved to transforma-tion.

The Author:

Michael von Brück, Professor emeritus of Religious Studies, in-itiator and until 2014 head of the Interdepartmental Program inReligious Studies at the University of Munich. Member of nu-merous scientific committees worldwide. He is an ordained Pro-testant pastor, Honorary Professor of Religious Studies (with afocus on the aesthetics of religion) at the Catholic Private Uni-versity of Linz, Rector of the Palliative Spiritual Academy inWeyarn near Munich and Head of Academic Development atthe University for Life and Peace/Myanmar (under construc-tion), which links ecological and spiritual concerns. He has livedin India for several years and has led inter-religious dialogueprojects there. He received his training as a Yoga and Zen teacherin India and Japan. Guest professorships in the USA, India, Thai-land, Japan, Latvia and Switzerland. Numerous books and essayson Buddhism, Hinduism and inter-religious dialogue.

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Michael von Brück

Interkulturelles Ökologisches Manifest

Dass wir, unsere Kinder und die folgenden Generationen öko-logisch vor ungeheuren Herausforderungen stehen, ist offen-sichtlich. Doch es herrscht Ratlosigkeit, wenn nachhaltige Aus-wege aus der Krise gefragt sind.

Michael von Brück bringt dafür Denkansätze aus deneuropäischen und asiatischen Traditionen in ein Gespräch, ausdem uns ein Umdenken, ein Umfühlen, ein neues Handeln zu-wachsen kann. Europa, Indien und China verfügen über einenbedeutenden spirituellen Reichtum, von dem her eine Transfor-mation unserer Lebensformen und eine Erneuerung unseresSelbstverständnisses als Menschen auf dieser Erde möglich ist.Denn nicht durch Drohung, sondern durch Einsicht wird derMensch zur Transformation bewegt.

Der Autor:

Michael von Brück, Professor em. für Religionswissenschaft,Initiator und bis 2014 Leiter des Interfakultären StudiengangsReligionswissenschaft an der Universität München. Mitgliedzahlreicher wissenschaftlicher Gremien weltweit. Er ist ordinier-ter evangelischer Pfarrer, Honorar-Professor für Religionswis-senschaft (Schwerpunkt Religionsästhetik) an der KatholischenPrivat-Universität Linz, Rektor der Palliativ-Spirituellen Aka-demie in Weyarn bei München sowie Head of Academic Deve-lopment der University for Life and Peace/Myanmar (im Auf-bau), die ökologische und spirituelle Belange verknüpft. Er hatmehrere Jahre in Indien gelebt und dort interreligiöse Dialog-Projekte geleitet. Seine Ausbildung zum Yoga- und Zen-Lehrererhielt er in Indien und Japan. Gastprofessuren in den USA,Indien, Thailand, Japan, Lettland und in der Schweiz. ZahlreicheBücher und Aufsätze zu Buddhismus, Hinduismus und dem in-terreligiösen Dialog.

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2. Auflage 2021

© VERLAG KARL ALBERin der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020Alle Rechte vorbehaltenwww.verlag-alber.de

Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad WünnenbergHerstellung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN (Buch) 978-3-495-49156-0ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81991-3

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Zum erstenmal in der Geschichte hängtdas physische Überleben der Menschheitvon einer radikalen seelischen Veränderungdes Menschen ab.

Erich Fromm, zit. nach Evangelisches Gesangbuch.Zum Lied 395

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Inhalt

Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13von Meinhard Miegel

I Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

II Eine Diagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

III Begründung der Möglichkeit zur Therapie . . . . 35

IV Der Rahmen der Therapie . . . . . . . . . . . . . 39

V Mögliche Therapiemodelle . . . . . . . . . . . . . 411. Was sind Religionen? . . . . . . . . . . . . . . 42

1.1 Historische Dimensionen . . . . . . . . . . 441.2 Gegenwartsdiagnostik . . . . . . . . . . . . 46

Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . 48Wahrhaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 50Kreative Integration . . . . . . . . . . . . . 51Identitätsbildung . . . . . . . . . . . . . . . 52

2. Die europäische Erfahrung . . . . . . . . . . . 532.1 Ausgangsthesen zum Begriff des

Fortschritts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552.2 Der Zeitbegriff sowie die Jüdisch-christliche

Apokalyptik und das utopische Bewusstsein 57Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57Menschliches Handeln . . . . . . . . . . . . 60Apokalyptik und Utopie . . . . . . . . . . . 62

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2.3 Historische Entwicklungen . . . . . . . . . 64Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . 64Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6819. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . 70

2.4 Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . 763. Die asiatische Erfahrung . . . . . . . . . . . . . 80

3.1 Naturverständnis und kulturelles Handelnim Buddhismus Indiens und Chinas . . . . 80Animistische Wurzeln . . . . . . . . . . . . 81Früher Buddhismus . . . . . . . . . . . . . 82Der Laienbuddhismus und der

Wohlfahrtsstaat Kaiser Ashokas . . . . . 84Mahayana – die Lehre von der Leerheit . . 90

3.2 Mahatma Gandhi . . . . . . . . . . . . . . 933.3 Das chinesische Modell der »Harmonie« . . 963.4 Zusammenfassende Thesen und

Applikation . . . . . . . . . . . . . . . . . 106Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107Transport und Kommunikation . . . . . . . 107Geistige Entwicklung . . . . . . . . . . . . 108

VI Grundlagen der Therapie . . . . . . . . . . . . . 111

VII Therapievorschlag: Elf Implementierungen . . . . 1271. Langfristige Vision – konkrete Ziele . . . . . . 1292. Rahmenbedingungen für Kooperation und

Konkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1303. Postkonventionelle Formen des gemeinsamen

Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1324. Bildungspotential der öffentlich-rechtlichen

Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1335. Kreisläufe in Ökologie und Ökonomie . . . . . 135

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Inhalt

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6. Ordnungspolitik international –Internationales Umwelt- und Finanz-Gericht . 138

7. Umweltministerium mit Vetorecht . . . . . . 1418. Qualität (Nachhaltigkeit) bei Rohstoff-

gewinnung – Produktion – Distribution –Recycling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

9. Bildung und Motivation durch Gestaltung undSchönheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

10. Bildung in Einheit von Kognition und Emotion 14311. Bildung von langfristigem Zeitbewusstsein . . 144

VIII Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

Nachbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

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Inhalt

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Geleitwort

Festzustellen, dass Kultur, ähnlich wie Natur, janusköpfig ist,soll heißen, dass sie zugleich aufbauend und zerstörendwirkt, ist mittlerweile trivial. Um sich vor den zerstöreri-schen Kräften der Natur zu schützen, hat der Mensch imLaufe seiner langen Evolution Vorkehrungen getroffen.Frühzeitig dämmerte ihm jedoch auch, dass Entsprechendesim Blick auf seine Kultur erforderlich ist. Mehr noch: DieErkenntnis reifte, dass mit der Zurückdrängung »natür-licher« Gefahren die aus der Kultur erwachsenden ständiggrößer werden.

Mehr denn je steht der Mensch deshalb vor der Heraus-forderung, sich vor seinem eigenen Werk, vor allem was alsKultur angesehen werden kann, schützen zu müssen. Wieschützt der Mensch sich vor sich selbst? Michael von Brückist dieser Frage nicht nur im europäischen, sondern auch imasiatischen Kulturkreis nachgegangen. Das Ergebnis seinererhellenden Untersuchung liegt nun vor und die Stiftungkulturelle Erneuerung freut sich, es in Form dieses Bucheseiner größeren Öffentlichkeit zugänglich machen zu können.Sie will damit einen Beitrag zu einer immer dringlicherenDebatte leisten.

Meinhard MiegelVorsitzender des Kuratoriums derStiftung kulturelle Erneuerung

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I Das Problem

Eine gewisse Lust an der Apokalypse ist nicht neu. Bußpredi-ger im Mittelalter bedienten sie ebenso wie die Propheten desAlten Israel. Letztere verkündeten zwar nicht sogleich denUntergang der Welt, aber die politische Auslöschung desLandes war angesagt als Strafgericht für die Sünden des Vol-kes. Immerhin sollte (so der »kleine Prophet« Zephanja undandere) ein »Rest« überleben, und das ist schon eine hoff-nungsvollere Perspektive als der Blick auf das Schicksal derStädte Sodom und Gomorrha. Freilich geht es heute nichtprimär um Religion und den Aufstand gegen Gottes Gebot,sondern um die mögliche Selbstauslöschung des Menschen,eine humane Katastrophe, auch das, aber mehr noch: die Zer-störung der Grundlagen des Lebens auf der Erde. Und dafürgibt es plausible Argumente, die auf glasklaren Analysen be-ruhen. Es ist nicht zu fassen, dass die Menschheit die Folgenihres Handelns kennt, eine überwiegende Mehrheit die Fol-gen der Ignoranz auch anerkennt – und dennoch fast nichtsgeschieht.

Dennoch stirbt auch die Hoffnung nicht, der ersehnteAufbruch zu einer Umwandlung unserer Lebensweise, damitauch zukünftige Generationen ein würdiges Leben auf die-sem Planeten führen können. Ist das eine Illusion? Ist nichtder Mensch ein ignoranter Egoist, der, auf seinen kurzfristi-gen Vorteil bedacht, sehenden Auges ins Verderben rennt?Sind nicht schon immer Torheit, Bequemlichkeit und Gierdie treibenden Kräfte gewesen, die jene notwendig erschei-nende Transformation scheitern lassen? Darf man nicht ge-trost die Weltverbesserer und »Gutmenschen« angesichtsihrer Naivität belächeln? Ist nicht eine ungeschönte Analyse

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realistisch, und sind nicht die Folgen derartigen Handelnsbzw. des Nicht-Handelns evident? Die Frage ist dann nurnoch, ob es fünf vor zwölf oder doch eben eher schon fünfnach zwölf ist. Dann sei jede Aufregung ohnehin müßig.

Jeder Blick in die Geschichte hat eine Perspektive, undauch die Analyse des gegenwärtigen Zustands der Mensch-heit liefert keine eindeutigen Bilder und Ergebnisse. Diefolgenden Überlegungen werden begründen, dass die doku-mentierte Geschichte der Menschheit keineswegs ein nur ne-gatives Bild zeigt. Hier gibt es kulturelle Erneuerungen, dieoft von religiösen Impulsen angetrieben wurden, die jenermenschlichen Ignoranz, Gier und Bequemlichkeit durchausdie Stirn zu bieten vermochten. Hier haben sich Hoffnungenund Phantasien zur Verbesserung des Lebens in kreativeTransformationen verwandelt, die durchaus neue Gestal-tungsmöglichkeiten boten, die zuvor undenkbar waren. Dazubedurfte und bedarf es einer prinzipiellen Radikalität, dasheißt eines Nachgrabens an den Wurzeln des Problems.Menschliche Potentiale sind (fast) unerschöpflich, und dieGeschichte ist nie abgeschlossen gewesen, auch heute nicht.Umwandlung unserer Lebensweise auf der Basis von Solida-rität mit allen Lebewesen und mit dem Ziel nachhaltiger Ent-wicklungen ist möglich. Eine Lehre aus der Geschichte be-sagt, dass nichts abgeschlossen oder vorprogrammiert ist,sondern kulturelle Erneuerung auch die Denk-, Gefühls-und Motivationswelten ganzer Gesellschaften verändernkann, wenn die entsprechenden Umstände gegeben sind, derDruck zu Entscheidungen stark genug ist und die Chancenzum Wandel von voraus denkenden, oft visionär geprägtenMenschen aufgegriffen und so in die Tat umgesetzt werden,dass sie die Massen bewegen. Kreative Potentiale, evolutionä-rer Druck und die Einsicht in ganz neue Möglichkeiten kön-nen aufeinander einwirken und Menschen zu Höchstleistun-gen bewegen, die als Verwirklichungen von Chancen, zurGestaltung mit Freude zum Risiko, aber auch dem Wagnis

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Das Problem

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des Scheiterns erlebt werden. Erst im Rückblick kann manwissen, ob die Erneuerung gelungen ist.

Religiöse Impulse haben die Geschichte verändert, nichtselten im Sinne von Kampf, Abgrenzung und EntwürdigungvonMenschen, und nicht nur die Kirchengeschichte, sonderndie Religionsgeschichte insgesamt ist auch ein »Mischmaschvon Irrtum und von Gewalt« (Goethe). Aber nicht nur das.Denn oft haben religiöse Impulse Gesellschaften auch imSinne der Humanität und Stärkung der Würde des Einzelnenwie unterdrückter Gruppen verändert. Dabei kann das reli-giöse Paradigma durchaus auch in säkularer Gestalt erschei-nen. Wenn wir also von religiöser Erneuerung im Sinnespiritueller Transformation reden, ist dies keineswegs eineBeschränkung auf religiöse Institutionen im engeren Sinn,sondern eine Aktivierung von humanen Potentialen, die imVertrauen auf eine gute Ordnung in der Wirklichkeit grün-det. Die religiöse Erneuerung ist damit eine grundlegendeDimension von kultureller Erneuerung.

Die Analyse des Begriffs der »kulturellen Erneuerung« istkomplex, und das vor allem aus zwei Gründen. Erstens be-deutet Transformation unserer Lebensweise und/oder kultu-relle Erneuerung nicht unter allen Umständen dasselbe: WoMenschen unter Hunger leiden und Ungerechtigkeit wütet,wo das Militär oder marodierende Clans die Bevölkerung ter-rorisieren und das ohnehin unsicherer Leben noch unsichererist, hat die Sehnsucht der Menschen andere Inhalte als inreichen Industrieländern, die im Konsum ersticken und unterStress und Hektik und einemMangel an sinnerfülltem Lebenleiden – wobei allerdings beide Situationen durchaus mit-einander zusammenhängen und das ökologische Desaster inbeiden Situationen das Leiden vermehrt; soziale Gerechtig-keit und ökologische Nachhaltigkeit hängen miteinander zu-sammen und sind nicht getrennt zu haben. Zweitens habensich in modernen Gesellschaften Subsysteme des kulturellenbzw. ökonomischen Handelns (Realwirtschaft, Finanzwirt-

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Das Problem

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schaft, Bürokratien, Dienstleistungen, Politik, Recht, Kunstund Medien, Bildung usw.) ausdifferenziert, die einerseits jenach eigenen Dynamiken ablaufen, andererseits einanderwechselseitig beeinflussen. Das betrifft raum- und zeitlicheKoordinierungen sowie Kausalverhältnisse in diesen Struk-turen ebenso wie soziale Hierarchien und Motivationen.

Die Grundsatzfrage der folgenden Überlegungen lautet:Kann Religion zu einer Kraft für die Transformation unseresLebensstils werden, der auf dem Prinzip ökologischer Nach-haltigkeit beruhen würde? Eine begründete Antwort bedarfsowohl empirischer Analysen als auch der Debatte über nor-mative Horizonte, die wiederum der rational verantwortetenBegründungspflicht unterliegt.

1. Was bedeutet kulturelle Erneuerung? Kultur ist die Um-gestaltung der Lebensbedingungen des Menschen. Diesbetrifft die technischen, organisatorisch-sozialen und psy-chologisch-motivationalen Dimensionen des Mensch-seins. Alle drei Ebenen wandeln sich durch die Dynamikvon Kommunikation, also Sprache, Schrift, Repräsenta-tionen durch Kunst und moderne Medien. Soziale undpolitische Institutionen, ökonomische Muster der Produk-tion, Distribution und Konsumption sind miteinander ver-knüpft. Alle Bereiche sind produktive Schubkräfte beimöglichen Veränderungen. In der uns bekannten Ge-schichte waren es die Religionen, die durch Erzählungen,normative Begründungen und Rituale sowie kommunika-tive Symbolisierungen von Wirklichkeit das Sein und dasSollen des Menschen miteinander verknüpft und legiti-miert haben, d.h. die Motivationsgeber lagen (und liegen)wesentlich in der religiösen Grundannahme, dass die WeltKosmos und nicht Chaos ist. Ob theistisch oder nicht-theistisch, ob monotheistisch oder polytheistisch konfigu-riert, Religionen verbinden »Himmel und Erde«, kos-mische Gesetze undMenschengesetze, Kollektiv und Indi-

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Das Problem

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viduum in einerWeise, dass Einzelschicksale Sinn dadurcherhalten, dass sie systemisch in ein größeres Ganzes ein-gebunden werden. Auch das (noch) Unbekannte oderFremde wird in diesen Kosmos einbezogen, so bezeichnetz.B. im Griechischen xenos den Fremden und den Gastzugleich, und der Fremde kann sich als Gott erweisen. Sol-che Erzählungen gibt es in ganz unterschiedlichen religiö-sen Überlieferungen. Die Religionen können und müssenTeil der Lösung werden, sonst sind und bleiben sie Teil derProbleme, die durch Machtstreben und unklare kognitivewie emotionale Bedürftigkeit ausgelöst werden.

2. Die Menschheitsgeschichte ist in eine neue Phase der Glo-balisierung eingetreten, die auf Grund der wissenschaft-lich-technischen Revolutionen ökonomisch und politischunumkehrbar ist. Die Kulturen sind dieser Dynamik aus-gesetzt. Sie reagieren sowohl mit kreativen Anpassungenals auch mit identitätsrhetorischer Verweigerung, die sichzunehmend in Gewalt artikuliert. Durch die global ver-netzten Medien ist diese Gewaltdynamik im Bewusstseinder Menschen gegenwärtig, was Ängste auslöst, die wie-derum Gewaltpotentiale verstärken. Die Migration nachEuropa wird weiter zunehmen, sie wird interkulturelleVerwerfungen und Konflikte schüren, wenn nicht ausglei-chend gegengesteuert wird. Gegenmittel kann die För-derung wechselseitigen Verstehens sein. Dies geschiehtindividuell durch Verstehen des Fremden (kognitive Ar-beit, die Bezüge herstellt) und durch Gewöhnung, durchdie der psychologisch normale Stress der Unsicherheit ge-genüber dem Fremden abgebaut wird. Dafür müssen derStaat, Verbände, Kirchen, Gewerkschaften, Vereine undandere Körperschaften institutionelle Rahmenbedingun-gen für Integrationsprozesse schaffen, vor allem für dieMöglichkeiten wechselseitiger Begegnung auf Augen-höhe. Außerdem muss die Kenntnis vermittelt werden,dass es bereits weltweit zahlreiche Aktivitäten zur inter-

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Das Problem

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kulturellen bzw. interreligiösen Kooperation gibt, diedurchaus erfolgreich sind.1 Indem diese positive Seite derEntwicklung gezielt ins öffentliche Bewusstsein gerücktwird, können Ängste genommen und Initiativen zur ganz-heitlich-spirituellen Entwicklung interreligiös initiiertund gefördert werden. Dies hat eine individuelle Dimen-sion der Geistesentwicklung des Einzelnen (Spiritualität)und eine kollektive Dimension der gesellschaftlichen Ver-änderungen durch neue Nachbarschaft und Friedensstif-tung zwischen den Religionen (Konnektivität) zur Folge.Beide Aspekte gleichzeitig zu fördern dient der nachhalti-gen Entwicklung der Menschheit für eine konstruktiveZukunftsgestaltung.

3. Vor allem aber geht es um ein systemisches Verstehen derKontraste zwischen kultureller Umgestaltung der Weltdurch die Menschheit und ökosphärischer Balance. Öko-nomie und Ökologie wurden nicht nur theoretisch mitwidersprüchlichen Interessen und Interessengruppen alsTräger derselben assoziiert, sondern das gegenwärtigeWeltwirtschaftssystem und die Nationalökonomie dermeisten Staaten beruhen auf einem ungebremsten quan-titativen ökonomischen Wachstum, das mit den Parame-tern des Bruttosozialprodukts gemessen wird. In einemendlichen System Erde kann es aber kein unendlichesquantitatives Wachstum geben. Dieser Widerspruch zer-stört Leben. Es muss vor allem analysiert werden, ob dieAnreizsysteme zu gesellschaftlichem Handeln auch in Be-zug auf die Wirtschaft brauchbar und rational gerechtfer-tigt sind, wenn sie in größeren systemischen Zusammen-

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Das Problem

1 Ein herausragendes Beispiel ist die »Earth Charter« der Earth CharterInternational Initiative (United Nations University for Peace, San Jose,Costa Rica), der mehr als 4500 Organisationen weltweit angehören.Auch hier wird ein »change of mind and heart« (Schlussabschnitt: TheWay Forward) gefordert, wobei aber vor allem Imperative aufgestelltwerden. Jetzt geht es um konkrete Schritte, die applikabel sind.

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hängen gedacht und evaluiert werden. Gegenwärtig sindökonomische Akteure dazu gezwungen, den Eigennutzangesichts der Konkurrenz mit anderen Akteuren zu ma-ximieren, um nicht vom Markt verdrängt zu werden.Selbst wenn ein ökologisch-systemischer Lernprozessstattfindet, vermeiden die meisten Akteure aus dem ge-nannten Grund die Konsequenzen. Das fällt umso leichter,als die Folgen ökologischer Zerstörung oft nicht sofortauftreten und damit zunächst unsichtbar bleiben. Außer-dem scheint der Nutzen des Beitrags des Einzelnen – impositiven oder negativen Sinne – so gering zu sein, dassGewissensentscheidungen bagatellisiert werden können,weil das Gewicht des Einzelnen scheinbar vernachlässigtwerden kann. Dass dem nicht so ist, muss rational immerneu begründet werden durch Aufklärung und das Aufzei-gen von Möglichkeiten zur kreativen Transformation un-serer ökonomisch-gesellschaftlichen Systeme wie auchder Lebensgestaltung des Einzelnen.Denn dies ist ja der eklatante Widerspruch in (fast) allengegenwärtigen Gesellschaften: Die Bevölkerung fordert –neuerdings durchaus lautstark – Klimaschutz, lehnt aberentsprechende Folgen für das Handeln ab. Die Folge davonist, dass Regierungen verbal den Klimaschutz thematisie-ren, aber dennoch nichts oder wenig tun, obwohl ein gro-ßer Teil der Bevölkerung durchaus weiß, dass ein System-wandel in den Bereichen Verkehr, Energie, Landwirtschaft(einschließlich der maritimen Wirtschaft), Städteplanungund Abfall/Recycling unausweichlich ist. Woher rührtdieser Widerspruch, und lässt er sich auflösen?Eine These der folgenden Überlegungen lautet, dass derWiderspruch mehr ist als eine »kognitive Dissonanz«,denn er wurzelt maßgeblich darin, dass die ökologisch/ökosophische Wende als Verzicht, Verlust von Lebensviel-falt und individuellen Entfaltungsmöglichkeiten gedachtwird, dass also der Handlungsdruck durch eine Rhetorik

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Das Problem

Page 23: Interkulturelles Ökologisches Manifest

der Angst erzeugt wird. Das ist nicht nur psychologischentmutigend, sondern auch ökonomisch und politisch un-sinnig: Der Systemwandel in den genannten Bereichenkann vielmehr einen Schub von Kreativität freisetzen, ei-nen wirtschaftlichen Aufbruch fördern, einen Gewinn anLebensqualität bedeuten und als Herausforderung zumAbenteuer, zur Verwirklichung von Idealen und Innova-tionen erlebt werden. Es ist eine Menschheitsaufgabe, dieLust und Freude machen kann! Die systemischen und ge-sellschaftlichen Rahmenbedingungen müssen allerdingsdurch Politik und Recht geändert und neu ausgehandeltwerden. Dass dies dem Willen der Akteure unterliegt undpolitisch prinzipiell möglich ist, wird der nachfolgendeBlick in die Geschichte lehren.

4. Während der dokumentierten Geschichte der Menschheitist es wiederholt nicht nur zu politischen Rivalitäten undInteressenkonflikten gekommen, die blutig ausgetragenwurden, sondern auch zu ökologischen Katastrophen vorallem in der Bewirtschaftung der Wasserressourcen, dieteils mit Umbrüchen in der Natur, teils durch mensch-liches Handeln (Abholzung) verursacht wurden. Kulturenhaben darauf reagiert und Lösungsmodelle entwickelt, diefür uns interessant sein können. Entscheidend dafürkönnten neue »Großerzählungen« (Mythen bzw. Utopien,grand recit) sein, die Gesellschaften über längere Zeit-räume hinweg sowohl Kohärenz als auch Identität ge-geben haben und geben. Genau hier setzt die gesell-schaftspolitische Relevanz von Religion an, ob man diesenun explizit als Religion bezeichnet oder nicht. In der Ver-gangenheit hatten auch universale Theorien oder Mythennur lokale Relevanz, doch die heutige Situation ist quali-tativ anders, weil die gesamte Erde auch von lokalen Ereig-nissen betroffen ist. Entsprechend müssen die Erzählun-gen auf Grund rational nachvollziehbarer Einsichten undinterkultureller Kommunikationsmöglichkeiten neu jus-

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Das Problem

Page 24: Interkulturelles Ökologisches Manifest

tiert werden, um den Schub, der aus Religionsdynamikenentstehen kann, in die nachhaltige Entwicklung der Ge-sellschaften zu lenken.

5. Aus den Erkenntnissen 1 bis 4 folgt, dass gesellschaftlicheInstitutionen, also Staat, Recht und Kultur/Religion, ord-nungspolitisch in das weltgestaltende Handeln einzelnerInteressengruppen (Wirtschaft, Parteien, Medien usw.)eingreifen müssen, indem sie verbindliche Rahmenbedin-gungen setzen und deren Einhaltung überprüfen. Dieskann durch Regeln, Steuern, Preise, Verdienstanreize usw.geschehen. Es können und müssen kurzfristige und lang-fristige Steuerungen unterschieden werden: Kurzfristigkann durch eine drastische Verteuerung fossiler Energie-träger der gebotene Druck erzeugt werden, um die Klima-erwärmung und Artenreduktion zu dämpfen, wobei vorallem für die ärmeren Bevölkerungsschichten ein staatlichgesteuerter Ausgleich z.B. bei den Mietpreisen und öf-fentlichem Verkehr möglich wäre. Langfristig aber gehtes um einen Kulturwandel, der nur multidimensional zuverstehen ist. Da alle genannten Akteure global handeln,müssen diese ordnungspolitischen Institutionen globalwirken, d.h. eineWeltpolitik betreiben, die Rahmenbedin-gungen so setzt, dass die wechselseitige Abhängigkeit derSubsysteme in Rechnung gestellt wird. Es bedarf mithineiner international organisierten Industrie-, Finanz-,Energie- und Klimapolitik, die alles Handeln in den Di-mensionen des ökonomisch Sinnvollen, des ökologischNachhaltigen und des sozial Verträglichen gestaltet.

Die Lebensbedingungen der heutigen Menschheit erforderneine Anpassungsleistung des Homo sapiens, die in der bishe-rigen Evolution kein Vorbild hat, weil sie einerseits bewusstgestaltet und andererseits unter hohem Zeitdruck vollzogenwerden muss. Die historische Erfahrung der Kultur- und Re-ligionsgeschichte der letzten zwei bis drei Jahrtausende zeigt,

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Das Problem

Page 25: Interkulturelles Ökologisches Manifest

dass die (Um)formulierung der ethischen Maximen nicht ge-nügt, weil sie kaum Wirkung zeigen würde, denn:

»Unsere Notwendigkeit zu entscheiden, reicht weiter, als unsereFähigkeit zu erkennen.«

Dieser Satz scheint das Bewusstsein der Postmoderne ein-drucksvoll zu reflektieren und das Ethik-Dilemma auf denPunkt zu bringen. Er wird aber schon Immanuel Kant zu-geschrieben.2 Was sollen wir tun? Diese Frage betrifft nichtnur die Umwelt- und Bioethik, sie ist ein Menetekel in derWirtschaft, der Politik, der Bildung, und natürlich auch derpersönlichen Entscheidungen angesichts der Dominanz vonGewalt in den Medien, der neu justierten Geschlechterrollen,der unabsehbaren Folgen von Entwicklung Künstlicher Intel-ligenz, der Bedrohung durch den Klimawandel wie auchdurch moderne Waffensysteme. Einer Neubewertung derRolle der Medien kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu,und dies wird ohne gesellschaftlich kontrollierte Kontrolleder Medien nicht möglich sein. Die Frage, was wir tun sollen,scheint schwer beantwortbar aus zwei Gründen, die mit derUnabgeschlossenheit des Erkennens zu tun haben: Je mehrwir wissen, desto kürzer wird die Verfallszeit gesichertenWissens. Wissenschaft als »moderne Religion« hat uns zu-tiefst verunsichert, denn das Wesen der Wissenschaft ist ge-rade nicht, ein für alle Mal gültige Wahrheiten zu produzie-ren, sondern jeweiliges Wissen zu falsifizieren: Was gesterngalt, ist heute schon überholt. Was ist Zeit, was ist Materie,was ist Geist, was ist Leben, was ist gut?

Wegen der offensichtlichen Komplexität der Herausforde-rungen ist auch der Begriff des »Ökologischen« eine Reduk-tion, die durch die Metapher des »Ökosophischen« ergänzt

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Das Problem

2 Fundort, Deutung und Geschichte des Zitats haben in der deutschenPolitik selbst eine lange Geschichte, vgl. dazu das Interview mit Bundes-kanzler a.D. Helmut Schmidt in der FAZ vom November 2015.

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werden sollte. Denn Logik sucht berechenbare Zusammen-hänge und tendiert zur Suche nach Eindeutigkeit und ein-dimensionaler Kausalität. Eindimensionalität will ein »Ent-weder – oder« erzwingen; Lebensprozesse entfalten sich abervorwiegend im »sowohl – als auch«. Systemisch gesehen be-stehen die Ursache-Wirkungsketten, aus denen sich die Rea-lität generiert und regeneriert, in Wechselverhältnissen, diemonokausales Denken als unzureichend demaskieren. So istetwa unbestreitbar, dass im individuellen Bereich Kognition,Emotion und die Prägungen des kulturellen Gedächtnissesaufs engste zusammenhängen, im kollektiven Bereich sinddie Dimensionen nachhaltigen Handelns einerseits und derPartizipations- und Verteilungsgerechtigkeit materieller undnicht-materieller Güter andererseits wechselseitig voneinan-der abhängig. Die Wechselseitigkeit manifestiert sich in indi-viduellen Motivationen menschlichen Handelns ebenso wiein den demographischen Entwicklungen. Die »sophia« alsHüterin des »oikos«, die Weisheit also als Garant kluger Füh-rung des individuellen wie kollektiven Lebenshaushalts, unddas ist im weitesten Sinn mit »Governance« gemeint, istmehr als eine erbauliche Trösterin, sie könnte sich als not-wendige Grundbedingung für die Lebens- und Entwicklungs-fähigkeit von Gesellschaften im globalen interkulturellen wietechnologischen Wandel erweisen. Was aber ist Weisheit?Weisheit ist Maß in der Praxis durch Wissen. Die entschei-dende Frage ist, wie das Maß gefunden und als Richtschnurfür das Handeln eingesetzt werden kann.

Wir wissen durch Psychologie, Soziologie, Kognitionswis-senschaften und Neurobiologie mehr über die Bedingungendes Erkennens: Was als rationaler Entschluss erscheint, istdemnach auch aus anderen Quellen gespeist, d.h. Motivatio-nen sind uns oft selbst verborgen – wie allerdings nicht erstFreud, sondern bereits Paulus offenlegte –, und der freie Wil-le ist möglicherweise neurobiologisch von Mechanismen ge-steuert, die (noch) wenig bekannt sind. Hinzu kommen ver-

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Das Problem

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deckte Macht- und Gewinninteressen, die uns mehr oder we-niger bewusst sind, die wir uns selbst und anderen aber ge-flissentlich verschweigen. Erkenntnis und Interesse, so for-mulierte Jürgen Habermas bereits 1968, hängen untrennbarzusammen. Wenn nun – übrigens nicht erst seit der Auf-klärung, sondern spätestens seit der konfessionellen Plurali-sierung Europas im 16. Jahrhundert – die einst durch Gotteindeutig verbürgten Normen ins Wanken geraten, weilnicht zuletzt als Folge der Globalisierung viele Ansprüchegeltend gemacht werden, deren Widersprüchlichkeit nichtdadurch aufgelöst werden kann, dass das Eigene als wahr,das Andere als falsch deklariert und juristisch und militärischunterdrückt wird, wenn also Duldungs-Toleranz als die über-lebensnotwendige Grundhaltung in modernen Gesellschaf-ten erscheint, pluralisiert sich auch die Basis für einenWerte-konsens. Die Folge davon war die Trennung von Ethik undReligion in säkularenBegründungsmodellen vonEthik.Wennaber nun die Rationalität ihre Grenzen erkennt, werden nor-mative Begründungen heikel: Was soll grundsätzlich geltenund wie kommt ein Ethik-Konsens zustande, wenn es keinallgemeinverbindliches gesichertes Wissen gibt? Das demo-kratische Prinzip versagt, denn (zufällig) zustande kommen-de Mehrheiten sind kein Begründungskriterium. Angst vordem Neuen, d.h. das Festhalten am Status quo, ist ebenfallskeine Lösung, weil sich das Wissen und die Handlungsmög-lichkeiten des Menschen erweitern. Kompromiss-Gesetze,die neue Möglichkeiten (wie z.B. die Stammzellenforschung)an strenge, von Experten überprüfte Auflagen binden, könn-ten nur dann wirksam sein, wenn ein ethischer Grundkon-sens über ihre Grundvoraussetzungen bestünde, denn alleindas Strafrecht hält den forschenden Menschen mit Sicherheitnicht davon ab, aus Neugier, Karrierebewusstsein und Profit-streben das (noch) Verbotene zu tun. Wenn nicht das juris-tisch Verbotene auch als moralisch verwerflich gilt, hat dasethische Argument im Zeitalter des Bewusstseins von der

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Relativität des Wissens und des kulturellen Handelns unterdem internationalen Konkurrenzdruck kaum Chancen.

Es stellt sich die Frage, ob die so diagnostizierte kulturelleRelativität allein ein Resultat der europäisch-amerikanischenMentalitäts- und Sozialgeschichte ist oder ob in anderen Kul-turen das Dilemma ebenfalls besteht und gegebenenfalls auchals solches erkannt wird. Der Buddhismus hat sich, ähnlichwie das Christentum, als religiöser, ethischer, sozialer, ästhe-tischer Impuls in ganz unterschiedlichen Kulturen behei-matet, die sehr anderen Wertemustern und Kulturstandardsfolgten als seine nordindische Heimatkultur. Die Ethiken derBuddhisten in China, Japan und Tibet folgen dann auch an-deren Codes als die Ethik der Buddhisten in Indien oder SriLanka. Heute verschmilzt vieles, erstens weil die Kommuni-kation zwischen den Kulturen Unterschiede relativiert, zwei-tens, weil durch die Wissenschaft vom Buddhismus dieindischen Ursprünge auch in China und Japan bekannt wer-den, drittens weil moderne Probleme, die durch die weltweitvernetzte Wissenschaft und Wirtschaft hervorgerufen wer-den, ähnliche Lösungen erzwingen. Oder täuscht die letzteAnnahme? Verlaufen die Ethik-Diskurse in religiös andersgeprägten Ländern anders? Gibt es in islamisch oder buddhis-tisch geprägten Ländern eine umwelt- und bioethische De-batte, die spezifische Gesichtspunkte bei der individuellenwie politischen Beurteilung der ethischen Streitfragen insSpiel bringen? Und könnten solche Erwägungen für unsereeigene Entscheidungsfindung in westlichen Kulturen hilf-reich sein?

Klima- und Energiefragen, den Debatten um KünstlicheIntelligenz und Kommunikationssysteme (Big Data) sowiebioethischen Problemen ist gemeinsam, dass sie den Denk-rahmen traditioneller ethischer Systeme sprengen, weil dieGrenzen des Gegebenen (der Mensch, wie er geschaffen ist)und der Zeit (Anfang und Ende des Lebens) überschrittenwerden. Arten und Individuen unterlagen zu allen Zeiten

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der Veränderung, aber dass der Mensch bewusst und inten-tional gesteuert in den evolutiven Selektionsprozess der Evo-lution des Menschen eingreifen kann, ist neu. Die Frage, werder Mensch sei, kann nicht mehr nur ontologisch oder phä-nomenologisch beantwortet werden, denn der Prozesscharak-ter seiner Existenz als Handlungssubjekt zeichnet sich indrastischem Ausmaß ab. Wodurch gesteuert handeln wir?Wie weit sind wir determiniert, konditioniert und/oder frei?Die Grenzen des Menschen als Subjekt und Objekt sind er-kenntnistheoretisch schon immer offen gewesen – das Sub-jekt selbst kann sich im Selbstbewusstsein zum Objekt ma-chen und dies wieder subjektiv objektivieren usw. Aber dassder Mensch nicht nur in Bezug auf sein Bewusstsein, sondernals biologisches Wesen zum genetisch manipulierbaren Ob-jekt wird, ist neu. Wenn es Grenzen des Denkbaren gäbe,könnte sie nur das Denken selbst bestimmen. Aber was istein Denken, das sich selbst denkt und dabei Bewusstsein ver-ändert?

Bewusstsein ist ein Prozess sich ständig neu erzeugenderWahrnehmungsmuster, der spontan, vernetzend und kreativabläuft, gleichzeitig aber Strukturen erzeugt, die Halt undStabilität geben und den weiteren Prozess selbst gestalten.Die »Plastizität des Gehirns« besonders in den frühen Ent-wicklungsjahren des Kindes besagt, dass das Bewusstsein imGehirn die Formen und Vernetzungen selbst anlegt, nach de-nen es später arbeitet, wobei die Festlegungen in den erstenLebensjahren (etwa auf die Denkformen in der »Mutter-sprache«) unwiederholbar prägend sind. Das Bewusstsein er-zeugt sich dabei nach ihm inhärenten Mustern stets neu, istlernfähig und in Veränderung begriffen. Es ist damit einer-seits die ständige Vergegenwärtigung seiner eigenen Ge-schichte, und zwar sowohl der Geschichte der Gattung alsauch der Individualgeschichte, und andererseits entstehendurch neue Eindrücke neue Verknüpfungen und Strukturen,d.h. das Bewusstsein arbeitet kreativ. In diesem doppelten

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Prozess der aktiven Vergegenwärtigung bestimmt sich dasBewusstsein selbst, es prägt sich und bildet sich, formt Bilderund Begriffe, in denen es sich selbst spiegelt und erkennt, undzwar in den zwei Formen sprachlicher und bildhafter Gestalt-muster. Sprache entfaltet sich sequentiell, in der Zeit, sie istanalytisch. Gestaltwahrnehmende Bilder ermöglichen ehereinen synthetischen Gesamteindruck, der erst sekundär inEinzelempfindungen und aufeinanderfolgende Wahrneh-mungen zerlegt wird.

Was folgt daraus für das Handeln?3

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3 Die folgende Argumentation orientiert sich mit der Begrifflichkeitihrer Gliederung an der Rationalität des medizinischen Modells, wie esder Buddha vorgefunden und aufgenommen hat, um empirisch über-prüfbar seine Kultur- und Bewusstseinskritik argumentativ zu for-mulieren und in die menschliche Fortentwicklung heilend einzugreifen:Diagnose, Möglichkeit zur Therapie, Rahmen der Therapie und thera-peutische Maßnahmen.

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II Eine Diagnose

Der Widerspruch zwischen der Begrenztheit der Erde undihrer Ressourcen einerseits und dem Zwang zu unbegrenz-tem quantitativem Wachstum andererseits, der dem gegen-wärtigen Weltwirtschaftssystem inhärent ist, muss zwangs-läufig zum Kollaps des Systems führen, denn:

1. Der Widerspruch verschärft sich durch das exponentielleWachstum hinsichtlich einiger Parameter. Der steigendeBedarf an Ressourcen durch die demographische Entwick-lung und die prekäre Situation der unumkehrbaren öko-logischen Verhältnisse machen die menschliche physischeund kulturelle Zukunft unkalkulierbar. Die demographi-sche Entwicklung hat viele Ursachen, ist aber nicht (allein)zurückzuführen auf den Kinderwunsch, der von vielenReligionen positiv konnotiert ist (»seid fruchtbar undmehret euch«). Die Erfahrung zeigt, dass in vielen Län-dern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas bei ausreichen-den sozialen Sicherungssystemen die Geburtenrate sinkt,weil das Alter ökonomisch und sozial nicht durch einegroße Kinderzahl abgesichert werden muss. Daraus folgt,dass unbeschadet des grundsätzlichen Wunsches nachKindern Paare rational entscheiden, ob sie Kinder habenwollen oder nicht. Die indische Empfehlung zur Zwei-Kind-Politik ist z.B. in den Mittelschichten ohne Zwangdurchgesetzt worden; die Zwangssterilisierungen in den1970er Jahren unter Sanjay Gandhi haben dagegen politi-sche Unruhen erzeugt und waren letztlich demographischerfolglos. Die stabile ökonomische Entwicklung hat dem-nach zur Verringerung der Geburtenrate wesentlich nach-

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haltiger beigetragen als wie immer gearteter Zwang. Weilaber aus kultischen und ökonomischen Gründen derWunsch nach einem männlichen Nachkommen besteht,hat dies vermehrte Abtreibungen weiblicher Föten undauch Infantizide von neugeborenen Mädchen zur Folgegehabt. Heute allerdings spielt die PID eine größere Rolle,jedenfalls in den Schichten, die es sich leisten können. InChina ist die Situation insofern anders, als die Ein-Kind-Politik in wesentlich höherem Maß das Geschlechterver-hältnis aus der Balance gebracht hat, außerdem wurde diesmit Zwangsmaßnahmen verbunden. Kurz: In Indien hatdie staatliche Steuerung der demographischen Strukturendurchaus Wirkung gezeitigt und dabei auch Ressourcender Religionen genutzt, insofern anerkannte Gurus undReligionsführer dieser Politik Unterstützung zuteilwerdenließen.

2. Es sind Anpassungsleistungen der Systeme zu erbringen.Die Evolution lehrt, dass das Aussterben des Unangepass-ten durch Druck auf Populationen geschieht. Anpassungist wesentlich eine Frage der Zeit. Viele Arten sind über-fordert, wenn die Umwelt sich sehr schnell verändert, seies durch Klimaveränderungen, Katastrophen und Popula-tionsverschiebungen. Der Motor heutiger Veränderungenist die Technik. Sie hat Auswirkungen nicht nur aufmenschliche Gesellschaften, sondern auf das gesamteÖkosystem. Technik wird in den meisten Kulturen alswertneutral empfunden: es kommt darauf an, was mandamit macht. Religionen haben ihre Wertvorstellungenin Zeiten entwickelt, als die Technik im Vergleich zur heu-tigen Situation eine geringe Rolle gespielt hat. Gleichwohlgibt es z.B. bereits im Daoismus technik-kritische Stim-men, die argumentieren, dass durch Technik das mensch-liche Leben entfremdet werden kann. Heute kann Tech-nik-Gläubigkeit zur Verdrängung des notwendigen sozio-kulturellen Bewusstseinswandels werden – die Verände-

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Eine Diagnose

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rung des menschlichen Verhaltens, von der die Zukunftabhängt, wird dann aufgeschoben oder vermieden. Reli-gionen haben aber bisher noch keine adäquaten Technik-philosophien entwickelt, d.h. normative Strukturen dis-kutiert, nach denen Gebrauch und Missbrauch vonTechnik unterschieden werden könnte. Das ist allenfallsin der Militär- und Medizintechnik der Fall, nicht aberbei der Kommunikations- und Verkehrstechnik und auchnicht hinsichtlich der technisierten Landwirtschaft. Offe-ne und transparente Debatten sind aber die Voraussetzungfür Akzeptanz. Das, was Religionen im klassischen indivi-dualethischen Bereich (Sexualethik, Recht und Ethik, Ar-beitsethik usw.) geleistet haben, bedarf der Erweiterung,die Religionen haben hier Möglichkeiten, sich zu profilie-ren und ethisch zu argumentieren auf Grundlage ihrerunterschiedlichen Bestimmungen des Humanum. So wirdetwa die konfuzianisch geprägte Kultur soziale Hierar-chien und den damit verbundenen Gehorsam sowie Be-lange des Kollektivs in den Mittelpunkt rücken, die vomChristentum geprägten Kulturen hingegen die Freiheits-rechte des Einzelnen, und pragmatisch wird man immerwieder um einen Ausgleich beider Aspekte ringen müs-sen. Produktiver Streit ist sinnvoll und interreligiös ge-boten, d.h. es bedarf der Entwicklung einer rational basier-ten Streitkultur.

3. Während die Religionen bisher meist gegeneinander ihrenormativen Ansprüche verteidigt haben, geht es heute umdie Erhaltung unserer gemeinsamen Lebensgrundlagenauf der Erde. Diese Einsicht kann nur durch gemeinsamesHandeln erwachsen, das sich aus einem religiösen Werte-konsens speist. Die Verantwortung für den gemeinsamenLebensraum ist unteilbar. Das führt zu einer neuen Per-spektive und damit zu einer neuen Wahrnehmung vonder Aufgabe des Menschen. Tiefenökologie, spirituellePraxis und ganzheitliche Anthropologie bekommen dabei

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Eine Diagnose

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ein neues Gewicht für die Kernfrage: Was ist notwendig,um würdig zu leben?Es wird eine unabdingbare Aufgabe der Menschheit wer-den, bei Niedergang des ressourcenabhängigen materiel-len Wohlstands ein Äquivalent durch immateriellenWohlstand bzw. spirituellen Reichtum zu schaffen. Wert-schöpfung bedarf der Ergänzung durch Schöpfungswert.Ein Prozess, der mit integralem Bewusstsein gestaltet wer-den will. Das bedeutet, dass der ökonomistische Egoismusüberwunden wird durch kooperative Lebensformen desAufeinander-Bezogenseins.

4. Im Folgenden wird wiederholt für die Ablösung des quan-titativen Wachstums durch qualitatives Wachstum plä-diert. Unter qualitativem Wachstum wird objektiv eineRecyclingwirtschaft verstanden, die den minimalen Res-sourcenverbrauch als Kriterium des Erfolgs bestimmt,subjektiv geht es um den Gewinn von Erlebnisqualitätdes Menschen durch Intensivierung sinnlicher Aufmerk-samkeit in jeder Hinsicht, was wiederum spezifische Be-wusstseinsbildung von Kognition und Emotion (Achtsam-keit) voraussetzt. Die Entwicklung transformierterLebensformen, die eine kulturelle Erneuerung des Den-kens und der Emotionsgestaltung voraussetzen, ist nichtals Bürde und Last zu inszenieren, sondern als schöpferi-sche Freude und Gestaltungskraft, die menschliche Moti-vationen überhaupt erst erzeugt. Mut zum Wagnis dergemeinsamen Umgestaltung auf der Grundlage des ratio-nal Einsichtigen ist die Art und Weise, wie sich Mensch-sein individuell wie kollektiv bewusst gestaltet.

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Eine Diagnose

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III Begründung derMöglichkeit zur Therapie

1. Der Mensch konzipiert Handlungsstrategien auf Grundimpliziter oder expliziter Kosten-Nutzen-Rechnungen,d.h., er kann in seiner Phantasie Handlungsoptionendurchspielen, die sowohl aus Elementen rationaler Erwä-gungen als auch aus nicht-rationalen Erwartungen gestal-tet werden. Umsetzung von Optionen, d.h. Anpassungendes Handelns an sich ändernde Gegebenheiten, setzen al-lerdings den Willen zur Anpassung voraus, der nur dannstark genug ist, die inhärente Trägheit zu überwinden,wenn die Analyse dem Einzelnen plausibel erscheint unddie Dringlichkeit des Problems in der Gesellschaft kom-munizierbar ist. Der Wille des Einzelnen wie die Willens-bildung in Gruppen werden in der Geschichte immerdurch mediale Inszenierungen geformt, durch Erzählun-gen, Mythen, Rituale, Ideologien. Ob diese Geschichten»wahr« sind, ist sekundär, wirksam sind sie in Gesellschaf-ten, wenn sie geglaubt werden bzw. wenn Menschen sieglauben wollen. So kommt es zu den »Großerzählungen«von Progression versus Dekadenz bzw. Fortschritt oderVerfall in der Geschichte, von Utopien und Hoffnungs-bzw. Katastrophenszenarien, die politisches Gruppenver-halten motivieren. Religionen sind historisch alles andereals Privatsache, denn sie greifen in diese Dynamiken aktivein, ja, sie sind einer der wesentlichen Akteure in diesemSzenario bis heute, wenngleich sich die institutionellenStützen dieser Religionsdynamiken ganz unterschiedlichdarstellen und durchaus auch in einem »säkularen« Ge-wand erscheinen können. Es ist also die Frage, wie undmit welchen Mitteln Religion(en) therapeutische Poten-

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tiale im hier angestrebten Sinn entwickeln und aktivierenkönnen.

2. Handlungsstrategien, die Gesellschaften als Ganze moti-vieren, sind in der Vergangenheit durch Mythen, großeErzählungen (grand récit) und Gesellschaftsutopien plau-sibilisiert und transportiert worden. Sie stellen Strategienfür Maßstäbe (Werte) bereit, die handlungsleitend fürGruppen sein können. Um Klarheit über den Zustand derGegenwart zu erhalten, ist es unerlässlich, die Trans-formation von Religion in der Gegenwart zu beschreiben,wie sie in industrialisiert-globalisierten Gesellschaftendurch Individualisierung und Pluralisierung eingesetzthat – eine Transformation, die häufig als Sinnkrise erlebtwird, was wiederum Gegenreaktionen (Fundamentalis-men, Traditionalismen, Konsumfetischismus) hervorruft.Dabei unterscheidet sich die heutige Situation von Reli-gionsmodellen der Vergangenheit dadurch, dass es in derglobalisierten medial vernetzten Welt keine gänzlichvoneinander unabhängigen Religionskulturen mehr gibt.Alles, was religionskulturell und religionsdynamischgeschieht, hat globale Auswirkungen, isolierte Entwick-lungen sind nicht mehr möglich. Nun ist die Religions-geschichte allerdings auch eine Geschichte der inszenier-ten und oft bewusst gewollten Abgrenzungen voneinan-der, da auf diese Weise Identität gewonnen und stabilisiertwird. Dieser Widerspruch bedeutet, dass das klassischeAbgrenzungsmodell in Zukunft nicht mehr funktionierenkann. Daraus folgt, dass Religionen in der Lage sein müs-sen, einerseits das Spezifische kultureller Eigenheiten aus-zudrücken (Patriotismus) und andererseits eine universalePerspektive zu vermitteln, die wechselseitige Interdepen-denz erkennen und ausgestalten kann (Globalismus).

3. Handlungsstrategien begründen Weltbilder, und Weltbil-der begründen Handlungsstrategien. Die Weltbilderschließen Menschenbilder ein. Es ist zu prüfen, ob und

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Begründung der Möglichkeit zur Therapie

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wie traditionelle Weltbilder der Religionen erkenntnis-und handlungsleitend waren in Bezug auf die moderneFragestellung einer nachhaltigen ökologisch/ökosophi-schen Wirtschafts- und Kulturdynamik. Allerdings kannes für den Imperativ gegenwärtigen ökologischen Han-delns keine praktikablen Modelle in der Vergangenheitgeben: die Demographie und die damit verbundene Urba-nisierung, die Industrialisierung und Digitalisierung (ein-schließlich des Ressourcenverbrauchs) und nicht zuletztdie technische Hochrüstung, durch die sich die Mensch-heit in einer kurzen Zeitspanne selbst auslöschen kann,haben Lebensbedingungen geschaffen, für die es kein Vor-bild in der Menschheitsgeschichte gibt. Dennoch agiertauch der heutige Mensch nach kognitiven und emotiona-len Mustern, sie sich seit Jahrzehntausenden in der Evolu-tion herausgebildet haben, die zu erkennen und zu ver-ändern aber genau das ist, was angesichts eben jenerLebensbedingungen geboten sein könnte. In diesem Sinneist die Befragung der Religionsgeschichte, vor allem der jekulturell spezifischen Strukturen von Erkennen, Entschei-den und Handeln, nicht nur interessant, sondern notwen-dig, denn hier könnten Ressourcen für das Umdenken, dasUmfühlen und das Neu-Handeln fruchtbar gemacht wer-den, die nachhaltig wirksam wären. Der bloße Imperativoder Appell an die Vernunft hat hingegen nur eine be-grenzte Wirkung.

Aus zahlreichen Studien wissen wir, dass Wissen allein nichtdas Handeln des Menschen motiviert und steuert. Vier ent-scheidende Faktoren können identifiziert werden, die bei derNeuorientierung des Handelns und damit zur Veränderungder Lebenspraxis ausschlaggebend sind. Das Engagement• muss durch Mut und Freude motiviert sein;• muss Sinn stiften;

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Begründung der Möglichkeit zur Therapie

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• muss das Selbstvertrauen und die Bedeutung des Betref-fenden stärken;

• muss ein größeres Ziel setzen, das über den Horizont desIndividuums hinausgeht.

Diese Elemente zu berücksichtigen, herauszubilden und imöffentlichen kommunalen wie staatlichen Handeln tragfähigzu machen, ist der wesentliche Beitrag zur Transformation,den religiöse Akteure und eine entsprechend zugespitzte Re-ligionskultur leisten können.

Dabei ist nur eine in sich selbst transformierte Religion inder Lage, dieser Aufgabe sinnstiftend und gewaltfrei gerechtzu werden, denn die Religionsgeschichte ist mit unsäglichemIrrtum und Gewalt belastet. Zwei Faktoren sind es, die einetransformierte Religion charakterisieren: Sie ist1. vernunftbasiert und argumentationspflichtig, weil dies

das universale humane Vermögen ist,2. pluralistisch, weil sie die prinzipielle Begrenztheit des Er-

kennens als religiöse Wahrheit thematisiert, insofern derMensch und jede menschliche Kulturleistung in der je-weiligen raumzeitlich begrenzten Gestalt vom Ganzenunterschieden, aber nicht getrennt wird.

Eine solche transformierte Religion widersteht vom eigenenPrinzip her jedem Fundamentalismus und Fanatismus, d.h.diese Qualifikation wird nicht von außen her (als moralischerAppell) an die Religion herangetragen, sondern ist ihr in-härent. Religion in diesem Sinne zu transformieren ist einProjekt der Religionsgeschichte selbst und bereits in den Fi-guren des Sokrates, des Buddha, vielleicht auch Jesu vonNazareth, in jedem Fall aber der europäischen Aufklärungvorgezeichnet, wenngleich es in der heutigen Situation inter-kulturell neu ausformuliert und praktiziert werden muss.

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Begründung der Möglichkeit zur Therapie

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IV Der Rahmen der Therapie

1. Um einen Rahmen für die Transformation zu beschreiben,werden Aspekte der Weltbilder Europas, Chinas undIndiens komparativ untersucht, da diese kulturellen Dy-namiken heute unmittelbar oder unterschwellig wirksamsind. Für Europa wird insbesondere der Fortschritts-mythos (einschließlich seiner Implikationen) dargestelltwerden. Dieser allerdings gründet bereits in dem christli-chen Weltbild eines dynamisch-geschichtlich handelndenGottes, der die Weltgeschichte zielorientiert lenkt. DasChristentum hat diese Denkform mit der ewigen Be-ständigkeit Gottes verknüpft, der trotz der Wirren in derGeschichte vertrauenswürdig bleibt, und das Ergebnis wardie Dreifaltigkeit (Trinität) Gottes. Dieses »Markenzei-chen« europäischer Religionsgeschichte ist das Resultatder Verbindung von (neu)platonischer griechischer Phi-losophie und hebräischer Geschichtstheologie. In demSymbol der Trinität werden Einheit und Vielfalt, Bewe-gung und Verlässlichkeit komplementär zusammenge-dacht, was die Komplementarität als generatives (undnicht nur beschreibendes) Prinzip einführt. Daraus folgtdie Erkenntnis: Die Welt ist eine Dynamik von Möglich-keiten, in deren Gestaltung der Mensch verwickelt ist.Dem Menschen kommt deshalb Verantwortung für seineigenes Schicksal wie auch für das Geschick der Welt zu.

2. Für Asien sollen insbesondere die Anthropologien in-discher und chinesischer Gesellschaften, die historischdurch den Buddhismus miteinander verbunden sind, derAnalyse unterzogen werden. Zentral zu diskutieren ist dasPrinzip des »Entstehens in wechselseitiger Abhängigkeit«

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(pratityasamutpada), das sowohl als logischer Rahmen alsauch als Erfahrungsdimension des Geistes für alle bud-dhistischen Kulturen fundamental ist. Es ist zu fragen, obund wie dieses Prinzip als kulturelle Ressource für gegen-wärtige Gesellschaften aktiviert werden kann. Zuunterscheiden sind dabei• die Raumstruktur (Einheit, Vernetzung),• die Zeitstruktur (lineares versus zyklisches Denken),

»Verwertungsmodelle« in bestimmten Zeitrhythmen(langfristig-kurzfristig), die Inszenierung von Zeitver-hältnissen in Ritualen.

Für mehrere asiatische Kulturen ist der Karma-Gedanke,also das Prinzip reziproker Kausalität, mehr oder wenigerbestimmend als Handlungsmotiv. Dabei spielt die Rolledes kausalen Gegenspielers (das Böse) eine motivierendewie auch hemmende Rolle, die allerdings zeitversetztwirkt, weil die Folgen einer Tat nicht unmittelbar (sondernunter Umständen »in einem nächsten Leben«) aktuellwerden, weshalb in solchem Fall keine Handlungskon-sequenzen gezogen werden. Aus diesem Grund werdenderartige »zeitversetzte Kausalitäten« im Ritual vergegen-wärtigt. Dies ist eine motivationspsychologisch interes-sante Strukturierung von Zeitverzögerung, die für unsereFrage nach kulturellen Ressourcen für den gesellschaft-lichen Wandel bedeutsam wird, weil ja auch die Folgendes jetzigen Handelns (etwa beim Klimawandel) nicht so-fort spürbar werden, wohl aber durch wissenschaftlicheAbstraktion mitWahrscheinlichkeitsaussagen in den Blickkommen. Das allerdings führt erst dann zur Motivation,die Umdenken und neues Handeln stimuliert, wenn dieseFolgen (rituell) bereits vergegenwärtigt werden, wobei diemodernen Gesellschaften mit ihren Medien-Kulturenganz eigene und originelle Formen einer solchen »Rituali-sierung« geschaffen haben und weiter ausbilden können.

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Der Rahmen der Therapie

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V Mögliche Therapiemodelle

1. Als Hypothese formulieren wir: Die für indische Kulturenmaßgebenden anthropologischen Triebkräfte von Unwis-senheit, Gier und Hass (im Buddhismus aufs engste mit-einander verwoben) auf der Grundlage von Angst könnenergänzt werden durch die Erkenntnis, dass auch dasmenschliche Streben nach Kreativität bzw. der Gestal-tungswille des Menschen fundamental für die Evolutionmenschlicher Kulturen gewesen ist und bleiben wird, wassich empirisch (und gut dokumentiert) als ein Leitmotivder antiken griechischen Kultur belegen lässt.

2. In Verbindung mit den sozialen Mustern von Kooperationund Konkurrenz in menschlichen Gesellschaften, die inSpannung zueinander stehen, ist zu klären, ob und wieein detailliert zu beschreibendes qualitatives Wachstumsolchen kulturellen Kräften Rechnung tragen kann, dieinhärente Widersprüche auszugleichen vermögen.

3. In Verknüpfung mit historischen Beispielen ist zu fragen,ob und wie klassische Kulturen Ressourcen aktivieren, dieökologisch/ökosophisch zu konkreten Handlungsstrate-gien geführt haben, und zu prüfen, ob Übersetzungen indie Gegenwart möglich sind.

4. Die Symbolgestaltung und Gemeinschaftsdynamik derReligionen muss genutzt werden – ihre Motivationskraftist für das Gelingen des kulturellen Wandels unerlässlich.Religionen sind auch deshalb wichtig für die kulturelle Er-neuerung, weil sie Institutionen sind, die zeitlich undräumlich in weiten Horizonten operieren. Wir fassen denReligionsbegriff allerdings sehr weit und meinen nichtnur das, was uns heute als »institutionalisierte Religion«

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bekannt ist, sondern vielmehr eine grundlegende kultu-relle Praxis, ohne die Menschheitsgeschichte kaum denk-bar ist. Dies wird nun erläutert:

1. Was sind Religionen?

1. Religionen sind geistige, soziale und materielle Systeme,die Gesellschaften Kohärenz verleihen und den Einzelnenin ein letztgültiges Lebens- und Deutungsmuster derWirklichkeit integrieren. Sie beantworten und klärenGrundfragen und Ängste des Menschen und heben insBewusstsein, dass der Mensch mehr ist als das, was er fürseine alltägliche Identität hält. Religion ist in jedem Fallsozial inszenierte und individuell internalisierte »Kontin-genzbewältigung«, also konstruktiver Umgang mit derZeitlichkeit und dem Leiden des Menschen durch Sinn-angebote, die Raum und Zeit durch Verweis auf einetranszendente Dimension je unterschiedlich strukturie-ren. Dabei spielen emotionale wie kognitive Elemente inwechselseitiger Abhängigkeit eine entscheidende Rolle.Diese Kontingenzbewältigung wird besonders dringlichin gesellschaftlichen Umbrüchen, die Unsicherheit erzeu-gen. Kurz gesagt, Religion ist die Suche nach certitudounter Bedingungen der insecuritas, nach Gewissheit alsounter den Bedingungen des ungewissen Lebens.Religionen sind als kultische, emotionale und intellektuel-le Selbstvergewisserung in allen menschlichen Kulturenspezifisch ausgeprägt. In der Geschichte der letzten vier-tausend Jahre haben Religionen regionale Identitäten ge-schaffen beziehungsweise solche legitimiert.

2. Zuerst die wissenschaftlich-technische, dann die wirt-schaftliche und nun auch die mediale Globalisierung ver-ändern traditionelle Muster der Herausbildung von Iden-titäten durch Religion. Religionen beeinflussen heute

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Mögliche Therapiemodelle

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einander wie nie zuvor und verlieren dabei sowohl auf derEbene der Bindungskraft beim Einzelnen wie auch inGruppen und institutionell ihre exklusive und abgrenzendidentitätsstiftende Funktion, besonders bei den von derGlobalisierung stark betroffenen Mittelschichten. Welt-weit kommt es zu so genannten »Patchworkidentitäten«.Die daraus folgenden Wertemuster sind keineswegs kon-turlos, sondern bilden neueWertehierarchien. Sie erschei-nen aber je nach kultureller Situation verschieden.

3. Religionen haben auch im 21. Jahrhundert in Europa nochEinfluss, weltweit ohnehin. Der staatstragende Atheismusder kommunistischen Länder hatte die Religionen durchtotalitäre Ideologien nur zeitweilig verdrängt, was in Chi-na bis heute der Fall ist, allerdings in neuen Mischungenmit klassischen, als nationales Erbe deklarierten Reli-gionsinhalten. In modernen kapitalistischen Industrie-gesellschaften vor allem Europas wurden die monolithi-schen religiösen Institutionen durch Pluralisierung derReligionen abgelöst. In anderen Teilen der Welt bliebenReligionen traditionelle Identitätsgeber oder fanden dieseRolle in neuer Form, wie besonders in Russland, der ara-bischen Welt und Afrika, politisch orchestriert auch in In-dien, und zwar in einer Form der Abgrenzung zur west-lichen technologischen und politischen Dominanz. Das istein wesentlicher Aspekt der heutigen Auseinandersetzungzwischen vielen arabischen Staaten und Europa.

4. Nach dem Zusammenbruch der im 19. Jahrhundert gene-rierten politischen Gesellschaftsutopien, also vor allemdem innerweltlichen Fortschrittsglauben, demMarxismusund dem Faschismus, entsteht heute eine neue Suche nachSinn, nach Werten, die unter den Bedingungen pluralisti-scher Gesellschaften nur als Sinnpluralität erscheinenkann. Der damit verbundene »Zwang zur Wahl« (Peter L.Berger) erzeugt neue Unsicherheit (insecuritas) und kon-terkariert damit das certitudo-Bedürfnis. Das ist einer der

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Was sind Religionen?

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inneren Gründe für Fundamentalismen, die diesen Sach-verhalt zu verdrängen suchen. Um die Verdrängung auf-rechterhalten zu können, entsteht ein Sog zur Fanatisie-rung, der, wenn er politisch instrumentalisiert wird, durchgeschürten Fanatismus verstärkt wird.

1.1 Historische Dimensionen

Das, was wir als unterschiedlichen Weltkulturen oder Welt-religionen bezeichnen, ist eine relativ junge Entwicklung inder Menschheitsgeschichte. Religionen haben sich in denletzten Jahrtausenden in geographischen und politisch kultu-rellen spezifischen Kontexten entwickelt. Hinsichtlich derdokumentierten Geschichte der letzten drei bis maximal vierJahrtausende können vier Modelle unterschieden werden, dieaber auch untereinander überlappende Epochen markieren,die also auch gleichzeitig wirksam sind:1. Die Isolation2. Die Konfrontation3. Die Toleranz oder Koexistenz4. Die Kooperation oder Proexistenz.

Unter Isolation verstehen wir die getrennte Entwicklung derallmählich sesshaft werdenden Völker im 3. und 2. Jahrtau-send v.Chr. entlang der großen Flüsse Nil, Euphrat und Tig-ris, Indus und Ganges sowie am Gelben Fluss. In dem Maße,wie diese Stadtstaaten zu territorialen Größen wuchsen, aufandere Kulturen ausgriffen und Imperien bildeten, wie z.B.Griechenland oder Persien oder Rom, das China der Han oderdas Indien der Maurya, gerieten die Kulturen in Dominanz-konflikte und Konfrontation, die auch die Religionen be-trafen. Die Götter der Besiegten wurden entweder in dasüberlegene himmlische Imperium eingegliedert oder ausge-grenzt. Selten kam es wie unter Ashoka im Indien des 3. Jahr-

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Mögliche Therapiemodelle

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hunderts v.Chr. oder teilweise in der »Pax Romana« zur Dul-dung (Toleranz) der anderen Götter. Das Modell bzw. dieEpoche der Toleranz, die dritte Epoche also, hat in unter-schiedlichen Kulturen verschiedene Wurzeln und Gestaltenangenommen. Seit dem 19. Jahrhundert, genauer seit demWeltparlament der Religionen 1893 in Chicago, das nicht zu-fälligerweise am Rande der damaligen Weltausstellung statt-fand, also mit einem ersten Schub von Globalisierung in derÖkonomie verbunden ist, wuchs der Mut und der Ruf nachZusammenarbeit in produktivem Sinne, also nicht nur nachToleranz, sondern Kooperation der Religionen. Dies verstärk-te sich noch einmal nach den verheerenden Weltkriegen unddem Zusammenbruch des Kolonialismus nach 1945, wobei eszunächst zu einer Kooperation der Religionen angesichts derGewalt kam, die in den Weltkriegen von Europa ausging,dann auch als Kooperation und Proexistenz der Religionengegen den aufkommenden Kommunismus und den kon-sumeristischen Materialismus, und heute angesichts derGefahr eines neuen Weltkrieges oder der ökologischen Kata-strophe.

Es ist zu bedenken, dass damit nur eine kurze Spanne derMenschheitsgeschichte im Blick ist. Zehntausende von Jah-ren, ja Hunderttausende kennen wir so gut wie nicht. Selbstwenn wir die Malereien der jungpaläolithischen Höhlen vonLascaux zu deuten versuchen, kommen wir über Vermutun-gen nicht hinaus, d.h. die Religionen, wie wir sie kennen,sind historisch mit der Bildung von Stadtstaaten entstanden.Es ist durchaus möglich, dass die gegenwärtige Globalisie-rung und dramatische Veränderung der Welt auch die Reli-gionskulturen grundlegend verändern wird, denn auch Reli-gionen sind historische Gebilde, die entstehen, sich ver-ändern und auch wieder verschwinden können.

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Was sind Religionen?

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1.2 Gegenwartsdiagnostik

Vielerorts wird ein Verlust von Werten, von Ressourcen,auch von Identität beklagt. Als Gegenmittel werden sowohlBesitzstandswahrung als auch gezielte Aufbrüche in ein neu-es Zeitalter propagiert, und diese Ambivalenz lässt sich auchin den Religionen beobachten. Keineswegs nur im Christen-tum stehen insbesondere die Institutionen auf dem Prüfstandder Kritik. Die Beschwörung von »Wahrung der Identität« istdann nicht selten eine Maske für institutionelle (konfessio-nelle, religiöse, parteipolitische) Selbstbehauptung und Un-fähigkeit zur Reform. Es gibt also einerseits eine globalisierteKrise der religiösen Institutionen und andererseits einenBoom von Religiosität, der ebenfalls global vernetzt ist.

Zunächst eine Ausgangsthese: Das, was als Krise er-scheint, ist zutiefst auch eine Krise der Sprache. Diese hängtwesentlich mit Traditionsumbrüchen und mit Veränderun-gen in Wirkung und Gebrauch von Medien zusammen. Gro-ße Mengen von Informationen stehen zur Verfügung undwerden flüchtig registriert, kaum aber kontextuell und his-torisch verstanden. Verstehen vollzieht sich in Sprache. Spra-chen werden durch Traditionen übermittelt. Menschen wer-den in eine bestimmte Sprache hineingeboren, und dieseSprache ist nicht universal. Sie ist wie ein Fenster, durch daswir auf die Wirklichkeit blicken, je nachdem durch welchesFenster man blickt, ist die Wahrnehmung verändert. Sprachebildet also nicht nur ab, sondern schafft das, was alsWirklich-keit erscheint. Daraus folgt: Verstehen setzt voraus, dass dasBesondere von Sprachen und die historische Bedingtheit vonBegriffen erfasst werden. Sprachen wandeln sich. Was »Zeit«oder »Freiheit« oder »Glück« oder »Wohlstand« bedeutet,war im 1. Jahrhundert anders als im 16. oder 20., selbst wennwir eine einzige Sprachentwicklung (sagen wir die deutsche)zugrunde legen – die historischen, sozialen, ökonomischenund kulturellen Prozesse sind so komplex, dass diese Ent-

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wicklungsgeschichte immer nur partiell und – wiederumdurch das jeweilige »Fenster« der Wahrnehmung bedingt –vorbeurteilt beschrieben werden kann. Begriffe lassen sichnicht ohne weiteres ineinander übersetzen, schon gleich garnicht im poetischen und mytho-poetischen Sprachduktus desReligiösen, denn jedes Wort hat einen Kontext, der gewach-sen ist. Ein Sprachbegriff ist und bleibt mit sich nicht iden-tisch, denn jeder Begriff ist entstanden aus verschiedenenWurzeln, und der nachfolgende Wachstumsprozess hat keinEnde.

Kultur und Religion sind synthetisch. So gibt es nicht dieeine christliche oder hinduistische oder buddhistische Vor-stellung von Gott, Welt und Erlösung, sondern immer neueVersuche des Verstehens, des Aneignens, der kreativenNeuinterpretation. Dies geschieht nicht in subjektiver Will-kür, sondern in intersubjektiver Kommunikation nach Spiel-regeln, die durch die Tradition vermittelt und mehr oder we-niger allgemein anerkannt werden. Identität ist im Werden,sich wandelnd. Daraus folgt die These: Tradition ist lebendig,indem sie sich verändert, und nur so kann sie ihrem Ur-sprungsimpuls treu bleiben. Das Christentum, den Hinduis-mus, den Buddhismus gibt es folglich nicht, sondern Men-schen und Gruppen, die auf demHintergrund einer bestimm-ten Sprach- und Symboltradition ihr Leben verstehen undgestalten möchten, wobei Gruppeninteressen und sozialeSelbstbehauptung eine wesentliche Rolle spielen. Darum sindReligionen in sich vielgestaltig und umfassen oft mehrere»Typen« von Religion in einem einzigen Traditionsstrang.Was dazu gehört und was nicht, wird in Kommunikations-prozessen von Gruppen stets neu »ausgehandelt«. Auch hierist Identität fragil, durchlässig, nie abgeschlossen. Dazu seienvier Aspekte unterschieden:

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SpiritualitätReligionen legitimieren Grundmuster von Gesellschaftendurch den Bezug auf eine unbegründbare Wirklichkeit(Gott), die Voraussetzung für den normativen und wohl auchoperativen Konsens von Gesellschaften ist. Dieser Bezug isthistorisch veränderlich, aber ohne ihn – sei er nun explizit»religiös« oder nicht – ist gesellschaftliche Kohärenz bezie-hungsweise Identität nicht denkbar. Religiöse Sozialisations-prozesse, Kultformen, theologische Systeme usw. könnensehr verschieden voneinander sein, und oft fallen Ähnlich-keiten nur dann ins Auge, wenn man von der konkreten Ge-schichte abstrahiert. Denn verschiedene Religionen gebennicht unterschiedliche Antworten auf ein- und dieselbe Fra-ge, sondern sie stellen die Fragen verschieden, und dement-sprechend sind die Antworten unterschiedlich.

Um welche Fragen geht es? Eben darüber gibt es keinenKonsens (mehr). Geht es um die Frage nach dem Sinn desLebens, nach Bedeutung der divergierenden Einzelereignissedes Lebens, die doch irgendwie einen Zusammenhang er-geben müssten? Oder geht es eher nicht um die Frage nachdem Sinn des Lebens, denn dies ist eine intellektuelle undsekundäre Frage, sondern darum, wie Menschen eine Erfah-rung authentischen Lebens machen können? Das aber ist derBereich der Spiritualität, der von Religion unterschiedenwerden muss, wenngleich beide historisch miteinander zu-sammenhängen: Spiritualität ist die bewusste Formung desBewusstseins durch sich selbst, sie ist die schöpferische Ent-deckung der noch unentdeckten Möglichkeiten, die immenschlichen Bewusstsein liegen, vor allem der Möglich-keiten zu einer transtemporalen und alles umfassenden Ein-heitserfahrung. In dieser Erfahrung wird der Gegensatz vonSubjekt und Objekt, von Mensch und Welt, von Mensch undGott überwunden in einer Erfahrung der Einheit der Wirk-lichkeit. Dies ist ein transformatives Erlebnis, wie wir aus derGeschichte der Spiritualität in allen Religionen wissen. Sol-

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che Transformationen sind heute notwendig, um den sozio-kulturellen Bewusstseinswandel anthropologisch zu ermögli-chen. Spiritualität wurde allerdings in der Geschichte bisher(meistens) von religiösen Ritualen und Glaubensformen ge-stützt und plausibilisiert, gerade auch dann, wenn spirituellerAufbruch erstarrte religiöse Dogmen und Institutionen hin-weggefegt hat. Gewiss, Spiritualität wurde in der Geschichtemeist auf dem Hintergrund und in den Deutungsmusternvon Religion gelebt und erlebt, das war aber keineswegsimmer der Fall: In der Spätantike etwa waren die Erzählun-gen und Rituale der Religion für viele Intellektuelle obsoletgeworden, z.B. in der Stoa bis hin zu Boethius: hier wurde diephilosophische Ethik zum spirituellen Feld, die consolatio(Tröstung) der Philosophie erwies sich in der stoischen Ethikals die spirituelle Praxis. Spiritualität kann auch heute inDistanz zur Religion praktiziert werden, wie die Achtsam-keits- und Meditations-Bewegungen in Europa und Amerikazeigen. Es geht dann meistens um »authentisches Leben«,weniger um wie auch immer vorgestellte »Gotteserfahrung«.

Doch was ist authentisch, und woran misst man dies? AnWerten, die in Traditionen überliefert werden. Solche Wertewandeln sich, aber jede menschliche Gemeinschaft bezie-hungsweise Gesellschaft sucht nach Grundwerten, nein siebasiert schon vor jeder Frage auf Grundlagen, die eine geord-nete Weltsicht und damit eine sinnvolle Frage überhaupt erstermöglichen. Ohne einen Grundrahmen von Orientierung –sei dieser bewusst oder nicht – ist Erkennen nicht möglich.Wo es kein Erkennen gäbe, wäre auch das Wählen nicht mög-lich, das heißt, der Mensch könnte keine Entscheidungentreffen. Daraus folgt: Die Pluralität der Werte ist immer re-lativ zu einer grundlegenden Basis, auf der die Werteplurali-tät überhaupt erst als Wert erkennbar ist. Absolute Relativi-tät ist ein hölzernes Eisen. Das hat Konsequenzen für dieWahrnehmung dessen, was man zunächst als das »Andere«oder »Fremde« oder »Neue« erfährt, das allerdings unver-

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meidlich nicht völlig anders sein kann, weil es sonst gar nichtwahrnehmbar wäre. Das Eigene und das Andere sind keineabgeschlossenen Gebilde, die man von außen betrachtenkönnte, sondern beide Größen entstehen in der Begegnung,in der Kommunikation von Verschiedenen, die in der Bestim-mung des Eigenen und Anderen zwei Seiten eines einzigenKommunikationsgeschehens abstrahieren. Das Andere ist dieRückseite des Eigenen.

WahrhaftigkeitDie genannten kulturellen Dynamiken lassen sich auch imRückblick auf die Religionsgeschichte erkennen. Jede Reli-gion ist Komposition. Religions-Kompositionen bestehenaus unzähligen Einzel- und Leitmotiven, die ein Geflecht bil-den, indem sie miteinander in Beziehung getreten sind undtreten. Was also ist original an einer »Religion«, was ist ihreIdentität? Eine Analogie aus dem Bereich der Musik kannvielleicht hilfreich sein: Der fortwährende Austausch nachder Struktur einer unverwechselbaren »Grund-Melodie«.Selbst die gewagteste Modulation (vielleicht gar in einerParallele?), auch der Kontrapunkt, ist auf die Grundmelodiebezogen. Auch das Kontrastthema. Ist das nur eine erbaulicheoder vage Metapher? Vielleicht, aber präzise lässt sich dasProblem nicht fassen, weil wir es in der Gestaltung von Reli-gionen wie in der musikalischen Figuration mit kreativenProzessen zu tun haben, die prinzipiell nicht vorhersehbarsind, ob nun der Weltgeist als Autor vermutet wird (Hegel)oder die Spezies Mensch als kulturgeschichtliches Wesen ineiner creatio continua zu sich selbst kommt (moderner Kon-struktivismus).

Was folgt daraus für die Religionskultur des Christentumsauf der Suche nach religiöser Identität in multireligiösen Ge-sellschaften? Zunächst dies: Der Geist des Christlichen er-zeugt eine religiöse Haltung der Offenheit, sprich: der »Frei-heit eines Christenmenschen« (Luther). Diese Offenheit ist

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aber nur durchzuhalten in einer Ausrichtung, die mit der Tu-gend der Wahrhaftigkeit angemessen zu beschreiben ist.Wahrhaftigkeit kann nicht abstrakt bleiben, sie hat Gestalt.In christlicher Sprache: Wenn der Logos inkarniert wird, hatgeistige Wahrhaftigkeit den Segen des Himmels. Das trinita-rische Werden in Gott und die Inkarnation als Sohn prä-figurieren partnerschaftliches Sein, mithin die dialogischeExistenz des Christen. Wenn der Raum dieser Inkarnationdann noch als das »Eigentum« der unaussprechlichen Wahr-heit selbst verstanden wird (»Er kam in sein Eigentum«, Joh1,11), kann es zwar Widersprüchliches und Widerständiges,nicht aber prinzipiell Fremdes geben. Der Logos »schmeckt«sich selbst in allen Dingen, um ein Wort Meister Eckhartsabzuwandeln. Das ist eine Erkenntnis, die Pluralität gleich-sam sakramentalisiert.

Kreative IntegrationDie Einheit der »Welt in Gott« (Karl Rahner) ist eine theo-logische Selbstverständlichkeit, die sich aus der oben erwähn-ten Trinitätslehre des Christentums ergibt. Aber die Haltung,die daraus resultiert, ist nicht selbstverständlich. Sie reibtsich an dem individuellen Interesse eines psychisch stabilenIdentitätsrasters und an dem institutionellen Interesse einerverrechtlichten »Ruhe an der Front«. Aber es ist die kreativeIntegration, nicht die stabilisierende Abgrenzung, aus dersich die Dynamik des Christlichen speist. Jesus von Nazarethhatte andere Prioritäten als das – menschlich ganz normale –Interesse am status quo. Sein Reich war nicht von dieserIdentität.

Auch in späteren Jahrhunderten heißt es: Ecclesia semperreformanda – ein anstrengendes Programm, das ohne Ver-unsicherung, ohne Risiko und Unruhe in der Suche nachden Kriterien nicht denkbar ist. Denn Integration oder Assi-milation kann ohne Dissimilation nicht gelingen. Der kultu-rell handelnde Mensch findet seine Würde als Subjekt dieser

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Unterscheidung nicht, wenn er sich in den Strudeln der Zeit-läufte trudeln lässt, sondern wenn er gemäß eigener Einsichtund Verantwortung handelt. Diese Freiheit ist die christlicheIdentität. Daraus rechtfertigen sich nicht Überlegenheits-gefühle, wohl aber der Mut zur Freiheit durch Öffnung fürden Geist, aus der gelassene Freude kommt. Denn das Krea-tive oder die spielende Weisheit ist die Schwester der Freude.Nicht der erhobene Zeigefinger ist der Gestus des Christusund damit des Christen, sondern die geöffneten Arme, auchfür die Identitäts-Beladenen und von Sorgen Gequälten.

Allerdings pflegen sich Identitäten und Abgrenzungs-bedürfnisse durch Sprachgebräuche und Kommunikations-rituale zu stabilisieren, die »Erkennbarkeit«, das »eigene Pro-fil« bzw. das »Unverwechselbare« zu spiegeln scheinen. Dasaber ist Fiktion, denn jede Sprache ist immer nur ein Fensterauf die Wirklichkeit, wie wir bereits bemerkt hatten. Womehrere Menschen durch verschiedene Fenster blicken undeinander aus unterschiedlichen Häusern religiöse Erfahrun-gen zurufen wollen, entsteht ein heilloses Sprach-Chaos. DasOhr muss geschult werden, damit es hören lernt. Dies kannman, muss es aber nicht, Meditation nennen: aufmerksamsein und hinter den eigenen Worten wie hinter den Wortendes anderen die verborgenen Mitteilungsmuster hören, vorallem aber die eigenen Projektionen als solche erkennen.

IdentitätsbildungTraditionell relativ stabile Religionsräume haben sich fastüberall ausdifferenziert, zumindest in den Industrieländern.Innen- und Außenperspektive von Religionen verknüpfensich in immer komplexeren Strukturen miteinander. Diesekomplexe Unübersichtlichkeit macht Angst, wenn die Wir-kungsweisen nicht durchschaut werden. Weil Religionennach wie vor und weltweit eher zunehmend ein Faktor derIdentitätsbildung von Individuen und Gruppen sind, müssendie Muster und Spielregeln der Begegnung mit dem Anderen

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(in der sich das Eigene neu prägt) transparent gemachtwerden. Und zwar durch Bildung, denn nur Verstehen kannlehren, dass Identitäten flexibel sind.

Die Pluralisierung im Religions- und Wertegespräch musskeineswegs zu Identitätsverlust führen, sondern wirdWachs-tums- beziehungsweise Reifungsprozesse auslösen, die dasBestehende verändern werden, wenn Individuen und Grup-pen dabei bewusst aktiv sein können und Integrität erleben.Dann löst Differenz kreative Freude aus, und die Freude desKreativen drückt sich aus in Differenz! Dies erlebt jeder Ent-decker! Allerdings ist der Umgang mit Differenz anstren-gend, und jeder Wachstumsprozess setzt Wurzeln voraus.Diese präsentieren sich individual- wie gruppenpsycho-logisch in der Gestalt von Kindheitsmustern bzw. der Erzäh-lung von Geschichte(n), die Identität stiften. Wachstum inFreiheit setzt die behutsame Pflege solcher Wurzeln voraus.Dieses Gesetz der psychischen Integrität ist gültig auch fürsoziale und hier ganz besonders religiöse Identitätsprozesse.

2. Die europäische Erfahrung

Wir beginnen mit Europa, obwohl dies nach zeitlich-histori-scher Einordnung keineswegs gerechtfertigt erscheint, dennEuropa ist bei weitem nicht der älteste Kulturraum, zumin-dest China und Indien wären hier an erster Stelle zu nennen.Doch gibt es zwei Gründe, die diesen Beginn rechtfertigen:Erstens sehen wir das Andere oder den Anderen im Lichtder eigenen Erkenntnisbedingungen, also durch eine Per-spektive, die uns selbst meist gar nicht bewusst ist. Wir kön-nen zwar methodisch versuchen, diese Voreingenommenheitso weit wie möglich auszuschalten, aber dennoch gibt es inder Welt der Geschichte keinen übergeordneten Standort –wir sind Teil dessen, was wir beschreiben, und der Vorgangdes Beschreibens bzw. Erkennens ist selbst ein Aspekt des zu

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Erkennenden. So ist es sinnvoll, die Muster der eigenen Ge-schichtsmythologie zuerst zu durchschauen. Zweitens hat dieDynamik der europäischen Kultur die gesamte Welt erfasst,indem die wissenschaftlich-technische und die ökonomischeEntwicklung alle Lebensbereiche auf dem gesamten Globusfundamental prägen und verändern. Diese Veränderungs-dynamik ist Teil des Problems der Zerstörung von Ökosyste-men und der Vielfalt humaner Lebenswelten; sie hat zwar inEuropa und Amerika ihre Ursprünge, ist aber längst Teil derAntriebsmechanismen aller anderen Weltkulturen und wirdin diesen mit nicht weniger Vehemenz vorangetrieben als inden Ursprungsländern der industriellen Revolutionen. ImGegenteil, oft kommt die Kritik an der entfesselten ökonomi-schen Wachstumsdynamik aus Europa und Amerika, wäh-rend die ungebremste Zerstörung nicht selten kritiklos inIndien oder China vorangetrieben wird, auch wenn sich – inbeiden Kulturen – Gegenkräfte regen, sind diese oft auch voneuropäischen Vorbildern her motiviert, seltener von indi-genen kulturellen Werten. Dass sich das ändern könnte undsollte, ist ein Aspekt der folgenden Überlegungen.

Europa selbst ist vielgestaltig, die Unterscheidung grie-chischer und hebräischer Wurzeln ist nur eine sehr grobeEinteilung. Auch Ägypten, Mesopotamien und Persien sindKulturen, die zur Entstehung der spezifisch europäischenEntwicklung maßgeblich beigetragen haben. Bis zum12. Jahrhundert, also dem Beginn der Stadtentwicklung undvernetzter Infrastrukturen der Transportwege, des ökonomi-schen Austauschs und entsprechender sozialer Veränderun-gen, ist von einer europäischen Wachstumsdynamik nochnichts zu spüren. Die Zeit vom 1. bis zum 11. Jahrhundertn.Chr. ist eine »langsame« Zeit gewesen, der es zwar anDramatik nicht fehlte, die aber diese Dramatik im Rahmenbekannter Kulturmuster entfaltete: der Untergang des Rö-mischen Reiches, die Völkerwanderungen, die Etablierungneuer/alter feudaler Ordnungs- und Herrschaftsformen bei

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einer sich nur geringfügig verändernden demographischenSituation. Die christliche Heilserwartung war wesentlich aufdas Jenseits ausgerichtet, sie gab kaum Impulse für die Ver-änderung des Diesseits.

Das änderte sich ab etwa 1200. Bereits die Mönchsordenhatten weite Territorien erschlossen und verkehrsmäßige wiewirtschaftliche Infrastrukturen geschaffen, die ganz Europamiteinander in Verbindung brachten. Jetzt kommt es zurRodung und Bewirtschaftung weiter Landstriche, Europawird allmählich ein zusammenhängender Verkehrs- undHandelsraum. Der Abbau von Bodenschätzen, besonders derSilberbergbau, dynamisiert die wirtschaftliche und kulturelleEntwicklung, die auch einen neuen Schub zur Gründung undVergrößerung von Städten bewirkt. Neue Strukturen zur Or-ganisation und Verwaltung entstehen. Dieser Prozess ist viel-fach beschrieben und kontrovers diskutiert worden. Auchwenn Akzente und Gewichtungen unterschiedlich gesetztwerden – hier beginnt, was man später die Entwicklung zumFortschritt nennen sollte. »Fortschritt« wird zumMarkenzei-chen einer Kultur, die sich über Jahrhunderte auf diese Weiseorganisieren und legitimieren wird. Seit dem 18. Jahrhundertwird der »Glaube an den Fortschritt« zum Motor wissen-schaftlicher, technischer, industrieller und sozio-kulturellerEntwicklung und übernimmt damit die Funktion von Reli-gion(en).

2.1 Ausgangsthesen zum Begriff des Fortschritts

1. Der Begriff des Fortschritts in Wissenschaft und Technikist zwar gekoppelt an, aber nicht identisch mit dem sozialund politisch wirksamen Fortschrittsbewusstsein und sei-nem Pathos, das seit der Aufklärung und verstärkt im19. Jahrhundert in Frankreich, den USA, England, ver-zögert auch in Deutschland, wirksam war und jeweils

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nicht unangefochten, aber politisch bestimmend, die Ex-pansion der europäisch-amerikanischen Zivilisation biszum 1. Weltkrieg ideologisch getragen hat.

2. Das Fortschrittsbewusstsein war von Anfang an sozialausdifferenziert und blieb zunächst auf das Bürgertum be-schränkt. Es ist also mit dem Aufstieg einer sozialenSchicht verbunden und besonders in Deutschland nichtcharakteristisch für die gesamte Kultur: der Adel, dieBauern, der Klerus und ein pietistisch geprägtes kleinbür-gerliches Milieu wurden davon anders betroffen als dieSchichten und Klassen, die die Erste industrielle Revolu-tion trugen. Literatur, Musik und die romantischen Kul-turphilosophien standen dem Fortschrittspathos zwie-spältig bis distanziert, zuweilen mit offener Antipathiegegenüber.

3. Als Kolonialmächte rechtfertigten Europäer und Ame-rikaner ihren Herrschaftsanspruch mit der zivilisatori-schen »Überlegenheit des Christentums« bzw. der »west-lichen Kultur« und zwangen diese Perspektive durch denAufbau von Schulsystemen und die Dominanz in Werte-debatten den Ober- und oberenMittelschichten in den Ko-lonialländern auf. Als Gegenreaktion maßen die Sprecheranderer Kulturen die westlichen Ansprüche an deren Rea-lität und wirklichem politischen Verhalten, was zu ver-nichtenden Urteilen führte. Besonders deutlich wird diesin der indischen Kongresspartei und noch mehr bei Ma-hatma Gandhi, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl.seine Schrift »Hind Swaraj«), unterstützt durch die Kul-turkritik im Westen selbst (Tolstoi, die Transzendenta-listen Neu-Englands usw.), die westliche Rhetorik vomFortschritt und der Überlegenheit an den tatsächlichenRechts-, Herrschafts- und Wirtschaftsverhältnissen misstund dem Westen Heuchelei vorwirft.

4. Im Ersten Weltkrieg brach der Fortschrittsoptimismus zu-sammen (in Deutschland Stefan Zweig, Oswald Spengler,

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die Dialektische Theologie; in Frankreich etwa RomainRolland oder Claude Lévi-Strauss). Die Selbstzerstörungdes Abendlands war mehr als eine politisch-militärischeKatastrophe, dieser Krieg war die Demaskierung des Fort-schrittsbewusstseins. Die beiden mächtigsten totalitärenBewegungen im 20. Jahrhundert (Faschismus/National-sozialismus, Kommunismus) sind eine Reaktion auf die-sen Zusammenbruch, ebenso wie die Ankündigung vom»Untergang des Abendlands« (Oswald Spengler), die sichinWarnungen hinsichtlich der »Grenzen desWachstums«(Club of Rome, 1960) und ökologischer Katastrophensze-narien bis heute fortsetzt. Ein Gegenentwurf ist Jean Geb-sers Ruf nach einem »Bewusstseinswandel« (Ursprungund Gegenwart, 1949), der sich aus einem mythisch-mys-tischen Bewusstsein speisen soll und Vorläufer bei ArthurSchopenhauer, Friedrich Nietzsche, Hermann Hesse, CarlGustav Jung usw. hat sowie von Albert Schweitzer, Diet-rich Bonhoeffer, Carl Friedrich v. Weizsäcker, Hans-PeterDürr u.a. weitergeführt wurde.

2.2 Der Zeitbegriff sowie die Jüdisch-christliche Apokalyptikund das utopische Bewusstsein

Der Fortschrittsbegriff hängt ab von zwei Voraussetzungen,die kulturell sehr unterschiedlich erscheinen: vom Begriff derZeit und von der Bestimmung des menschlichen Handelns inder Geschichte.

ZeitKulturelles Zeitempfinden ist abhängig von den geogra-phisch-klimatischen Situationen (Jahreszeiten) und den ge-schichtlichen Erfahrungen einer Kultur und wird in den reli-giös-mythischen Grundlagen eines Traditionsstromes in denWertehierarchien von Gesellschaften sozial differenziert

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überliefert. Die Frage nach der Zeit war seit Plato, Aristotelesund Augustinus ein Grundproblem der Metaphysik.4 Dies isthinsichtlich der Anfänge indischer (Buddhismus und die »or-thodoxen« vedischen Systeme) und chinesischer (Daoismus)Philosophie nicht anders. Denn das Denken bedarf der zeit-lichen Kategorien von Erinnerung und Antizipation in syn-thetischer Vergegenwärtigung. Die Identität des Selbst-bewusstseins wird durch den kontinuierlichen Strom derZeit verbürgt, der dann mehr als seine Erscheinung in jedemMoment des Zeitgeschehens sein muss: es sind erinnerte Epi-soden in der Vergangenheit, die im autobiographisch kon-struierten Jetzt ein Ich und damit Identität erzeugen. Das Be-wusstsein aber erlebt den Mangel, weil die Synthese nie zuvollkommener Einheit gelangen kann, und so sucht es dieraumzeitliche Differenzierung in einer direkten Einheits-schau zu integrieren, die das Ganze der Zeit in einen »räum-lichen« Rahmen stellt. Dieses Muster ist in allen Kulturenanzutreffen, die eine Zeit-Bewusstheit entwickelt haben. Be-wusstheit ist die Selbstreflexivität des Bewusstseins, d.h. dieVerschmelzung des beobachtenden Subjekts mit dem be-obachteten Objekt. Dass das Zeitproblem aufs Engste mitder Frage nach dem Verhältnis von Einheit und Vielheit zu-sammenhängt, hat die Vorsokratiker ebenso wie Plato, denindischen Buddhisten Nagarjuna ebenso wie den chinesi-schen Daoisten Zhuangzi und, in der neueren europäischenGeschichte, auch Künstler wie Novalis, Richard Wagner,Rilke und Kandinsky beschäftigt. So sind Raum und Zeit fürNovalis zwei Seiten einer Sache, sie verhalten sich wie Ein-heit und Vielheit, insofern die Bewegung (deren Maß seitAristoteles die Zeit ist) im Raum zu erstarren scheint, wäh-rend sie in der Zeit ablaufen oder fließen kann. Raum gerät in

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4 Vgl. G. Böhme, Zeit und Zahl. Studien zur Zeittheorie bei Platon,Aristoteles, Leibniz und Kant, Frankfurt 1974; E. Rudolph, Zeit undGott bei Aristoteles, Stuttgart 1986.

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der Zeit ins Fließen, während Zeit zu Raum erstarrt,5 was einThema auch in Richard Wagners »Parsifal« ist.6 Das Selbst-bewusstsein ist sich nun Grund und Resultat zugleich, d.h. esist Ursache und Wirkung des Selbstvergewisserungsprozes-ses, der zeitlich gegliedert erscheint:7 Erinnerte Ursprüngeund aus der Gegenwart extrapolierte Möglichkeiten werdenals Gegenwärtigsein des Vergangenen und Gegenwärtigseindes Zukünftigen in einer dynamischen Gegenwart so ge-dacht, dass die Einheit des gegenwärtigen Augenblicks in derDifferenzierung einzelner Momente erscheint. Vergangen-heit wäre demnach das Anhaften an Erinnertem, Zukunftdie Projektion des Gewünschten. Die Erfahrung reiner Ge-genwart, die gleichzeitige Einheit ist, wäre Freiheit von bei-den Intentionen, Freiheit von Anhaften und Projektion also.Dies ist eine zentrale buddhistische Denkfigur, sie findet sichaber auch in der christlichen Mystik und in der Naturphilo-sophie Schellings.

Während für Aristoteles und späteres europäisches Zeit-empfinden die Zeit das Maß der Bewegung ist, der alles Er-fahrbare unterliegt, ist die platonische Denkform eher mitallgemeinsten indischen und auch chinesisch-daoistischenGrundstrukturen verwandt. Danach ist das Zeitliche nur dieOberfläche, hinter der sich das unwandelbare Sein befindet,das es zu erkennen gilt. Das Sein ist das Wahre, das Wesen,während das Zeitliche den vergänglichen Abglanz darstellt.Zeit ist demnach relativ, abhängig vom Erfahrungsinhalt desMenschen, sie kann langsam oder schnell verlaufen. Gott, soder indische Mythos, erfährt in einem Augenblick, was Men-schen als jahrtausendelange Entfaltung oder als den Fortgangaufeinander folgender Ereignisse erleben. Diese »mystische«

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5 M. Frank, Das Problem »Zeit« in der deutschen Romantik. Zeit-bewußtsein und Bewußtseins von Zeitlichkeit in der FrühromantischenPhilosophie und in Tiecks Dichtung, Paderborn 1990, 160.6 »Zum Raum wird hier die Zeit«, singt Gurnemanz (1. Aufzug).7 Frank, Das Problem »Zeit in der deutschen Romantik, a. a.O., 167.

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Denkform ist, wie gesagt, nicht auf Indien beschränkt, sie istbiblisch (Psalm 90) und neuplatonisch über den Renaissance-Philosophen Nikolaus von Kues, aber auch über die domini-kanische Mystik (Eckhart), Luther, Jakob Böhme, die Roman-tik usw. bis in die Gegenwart vermittelt.

Wie auch immer Zeit erfahren wird: Lebewesen sind end-lich. Menschen wissen es, und dieses Wissen erhebt das Den-ken in gewisser Hinsicht über Zeit und Endlichkeit, denn diedenkende Imagination ermöglicht Erwartung und Hoffnungüber die jeweilige Gegenwart hinaus. Hoffnung ist Ausdruckdes Kreativen im Menschen, der sich über seine als ungenü-gend erlebte Gegenwart erhebt. Hoffnung überbrückt denGraben von Wirklichkeit und Anspruch, von Sein und Sol-len. Für Kant lag hier eine wesentliche Wurzel der Religion.Hoffnung vertröstet also nicht auf die Zukunft, sondern sieerlaubt, die Gegenwart in ihrer Veränderbarkeit wahrzuneh-men und eventuell einen Fortschritt zu gewinnen. Denn dieGegenwart hat keine Ausdehnung. Die Sichtweise auf dasVergangene prägt das in der Zukunft Erwartete. Und das zu-künftig Erwartete lässt uns die gegenwärtige Vergangenheitunterschiedlich erscheinen.

Wie also ist Zukunft denkbar? Was können Erwartungen,die zum Menschen gehören, im jeweiligen »Zeitrahmen«(ein räumlicher Begriff!) bewirken?

Wenn wir in der Zukunft Erwartetes denken, ist es gegen-wärtig: eine gegenwärtige Zukunft. Nur in der Gegenwartalso haben wir eine Zukunft. Wenn wir diesen Gedankenaussprechen, ist der Inhalt aber bereits Vergangenheit.

Menschliches HandelnDie Motivation zum Handeln ist geprägt von Erwartungen,d.h. von dem vorweggenommenen Resultat. Insofern dieHandlung wirkt, wird ein Fortschritt über das Gegenwärtigehinaus erwartet. Was Menschen zukünftig widerfahren wird,kann inhaltlich nicht beantwortet werden, weil Zukunft offen

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ist; insofern aber menschliches Handeln Resultate zeitigt,wird das, was sich ereignen kann, wesentlich von mensch-lichem Handeln geprägt und von den Motivationen, die dasHandeln beeinflussen.

Das Problem des »Fortschrittsdenkens« hängt zusammenmit der Gewichtung, die den Möglichkeiten des mensch-lichen Handelns in der Geschichte gegeben wird, mit demProblem der Freiheit also: Ist alles von Gott oder einemWelt-gesetz determiniert, läuft die Weltenuhr gesetzmäßig ab, sogibt es keinen durch menschliches Handeln bestimmten Fort-schritt im Sinne des modernen Pathos dieses Begriffs. DerFortgang der Geschichte kann zwar entweder zum Heil oderzur Katastrophe sein, aber der Mensch ist diesen Prozessenausgesetzt. Erst, wo der Mensch zum Subjekt seiner eigenenGeschichte wird, ist der Übergang vom Fortgang zum Fort-schritt vollzogen.

Die heutige Problematisierung des europäisch-amerika-nischen Fortschrittspathos hängt mit zweierlei zusammen:Erstens mit den Verunsicherungen durch die von Europaund Amerika ausgehenden historischen Desaster des 20. Jahr-hunderts (1. und 2. Weltkrieg, Holocaust, Hiroshima, Viet-namkrieg, Golfkriege), deren Namen als Symbole desGrauens bzw. menschlichen Versagens verstanden werden,zweitens mit den Erkenntnissen bezüglich der begrenztenRessourcen der Erde für die Grundlage des ökonomischenWachstums (Tschernobyl, Fukushima und Klimawandel).Die Parameter der Bevölkerungsstatistik, der Arbeitslosen-statistik, der klimatologischen Messskalen, der Rohstoff-bilanzen, des Schwundes der Artenvielfalt usw. zeigen einEnde des Wachstums an, ein Ende der unaufhörlich fließen-den Zeit, jedenfalls so, wie wir Zeit in den letzten 250 Jahrenerlebt haben: als Fortschritt an Erfreulichem und Mach-barem, bei allem Negativen und Entsetzlichem. Und dieses»Ende« lässt viele Menschen die Flucht nach vorn antretenin die raumzeitliche Utopie. Die Startlinie in die Zukunft

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wird damit anders markiert als zu Beginn des 20. Jahrhun-derts, wo der Fortschritt und der Mythos einer Aufwärtsspi-rale noch nicht ernsthaft in Frage gestellt wurden, jedenfallsnicht bis zum Schicksalsdatum 1914.

Apokalyptik und UtopieDie europäische Entwicklung ist geprägt von zwei mythi-schen Zugängen zur Zeit, und beide prägen bis heute (bewußtoder unbewußt) das europäische Denken ganz erheblich, imUnterschied etwa zu chinesischen oder indischen Denkfor-men: apokalyptisches Denken und die Utopie. Die jüdischeApokalyptik war die Erwartung der Vollendung der Ge-schichte durch Gott am Ende der Zeit, im Zusammenhangmit dem iranischen Dualismus metaphysisch interpretiert:nach einem Untergang des Bestehenden sollte ein messia-nisches Reich des Friedens und der Gerechtigkeit unter derHerrschaft Gottes kommen. Doch dies war kein »Fort-schritt«, denn Subjekt dieser Geschichte war Gott, derMensch hätte die Ereignisse allenfalls befördern oder ver-zögern können durch ein gottgemäßes bzw. gesetzwidrigesVerhalten. Gleichwohl war mit dieser Denkform ein Zeitpfeilin die Geschichte eingezogen. Das frühe Christentum lebt indieser Erwartung der nahenden Endzeit, fügt aber eine eigen-tümliche Spannung von Erfüllung (die Endzeit ist mit Chris-tus schon gekommen) und Erwartung des Kommenden (dieWiederkehr Christi, die das Neue endgültig bringen wird)hinzu. Seit dem 2. Jahrhundert wurde diese Zukunftserwar-tung ontologisiert bzw. platonisiert, d.h. in ein Jenseits zurGegenwart verlegt: Die Neue Qualität wird nicht in Zukunftkommen, sondern ist, kirchlich vermittelt, in den Sakramen-ten verfügbar bzw. in der geistigen Erfahrung des mystischenAufschwungs für jeden Einzelnen im Prinzip erlebbar. So bil-den sich angesichts des Nicht-Eintritts der WiederkunftChristi die zwei Lebensformen heraus, die das gesamte Mit-telalter prägten: die kirchliche Heilsvermittlung im Ritual

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und mystische Teilhabe an dem unwandelbaren Jenseitigen.Diese Konstellation ist für unsere Fragestellung von Interes-se: Im Ritual wird das, was von der Zukunft erwartet wird,vergegenwärtigt als Zielpunkt der Sehnsucht, der Motivationund des Handelns. Dies ist eine Ressource, die Mut zumHan-deln generiert, obwohl das Ziel (noch) unerreichbar ist. DasRitual dieser Art kann Gesellschaften prägen und motivieren,also eine politisch wirkende Utopie bereitstellen, ohne in denZwang der Ideologie zu entarten!

Utopien entstehen aus der Differenz von Anspruch undWirklichkeit. Sie kommen zumindest strukturell in allenKulturen vor, sind also – anders als die Apokalyptik – nichtkulturspezifisch. Drei Typen von Utopien können unter-schieden werden: räumliche, zeitliche, bewusstseinsmäßige.Räumliche Utopien erwarten die Vollendung der Hoffnungin räumlich fernen Gefilden (Atlantis, »das Land wo Milchund Honig fließt«, El Dorado, Shambhala, die Insel der Seli-gen usw.); sie wurden obsolet, als es keine weißen Fleckenmehr auf der Landkarte gab und mussten darum im 20. Jahr-hundert in extra-terrestrische Regionen des Universums aus-gelagert werden (Star Wars usw.). Zeitliche Utopien verlegendie Vollendung an den Anfang (Goldenes Zeitalter) oder dasEnde (Tausendjähriges Reich, kommunistische Gesellschaft)der Geschichte; sie verblassten, als die immer wieder ange-kündigte Erfüllung ausblieb. Bewusstseinsutopien verlegendie Verwandlung der Welt in das Bewusstsein des Menschen(die israelitischen Propheten, Buddha, Jesus, in gewisserWei-se Konfuzius, moderne New Age Bewegungen); ihre Wir-kung wird angesichts des Übels in der Welt in Frage gestellt.

In der Geschichte verbinden sich diese Typen miteinander.Das westliche Fortschrittsdenken beruht auf einer beson-deren Verbindung von apokalyptischen und utopischenModellen.

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2.3 Historische Entwicklungen

RenaissanceIn der Renaissance wird der Fortgang in der Geschichte zumFortschritt, insofern der Mensch als Subjekt des Handelnsimmer markanter an die Stelle Gottes tritt. Es ist die Verbin-dung des Selbstbewusstseins des schöpferischen Individuumsmit der quantitativ messbaren Zeit (Erfindung der modernenUhr), die ein von Naturerfahrung unabhängiges Maß für dieTätigkeit liefert. Die in der Gotik vorbereitete abstrakte Zeit-messung führt zu einem gleichmäßig gegliederten und ge-richteten Zeitbewusstsein, das der Mensch nicht nur erken-nen, sondern gestalten kann. Daraus entwickelt sich das neueVerhältnis zur Welt in Naturwissenschaft und Technik, diewiederum die Wirtschaft revolutionieren: Tätigkeit durchNutzung der gegliederten Zeit führt zu sozialer Strukturie-rung und Wohlstand. Damit verbindet sich eine Ausdifferen-zierung sozialer Schichten mit unterschiedlichenWerten undZeitgebern: Kirche, Adel, Zünfte (beginnendes Bürgertum)haben nicht in gleicher Weise an diesem neuen LebensgefühlAnteil. Außerdem macht die Differenz von Stadt und Landdie Neuheit des Neuen bewusst. Dieses Lebensgefühl bestehtin einem Bekenntnis zur Gegenwart. Man träumt sich nichtin die Vergangenheit der Antike, sondern erfährt ihre schöp-ferischen Impulse als Energie, die der Gegenwart in derSelbstgestaltung des Individuums durch Kreativität immerneu zugeführt wird. Für den Renaissance-Menschen hat dasgegenwärtig Geformte eine höhere Legitimität als das in derVergangenheit Akkumulierte (Tradition) oder das von derZukunft Erhoffte. Jeder Einzelne ist sich selbst die Mitte derWelt, wie an der Erfindung der Perspektive evident wird. Dieeigene Schrift, nicht mehr der Kommentar, wird zur literari-schen Form. In der Forschung zählt die selbst erkannte Evi-denz. Der Mensch, so schreibt Pico della Mirandola, ist vonGott in die »Mitte der Welt« gestellt, so dass er nun »über

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Mögliche Therapiemodelle

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sich selbst beschließen« kann. Nicht mehr der Mythos ent-deckt dem Menschen das Geheimnis der Welt, sondern derWelt-entdeckende Mensch gestaltet seinen eigenen Mythos!

Dies führt auch zur räumlichen Entgrenzung: Der Renais-sance-Mensch ist Kosmopolit (Dante: »Meine Heimat ist dieWelt überhaupt.«) Man will die Welt als Ganze erkennen, istüberall zu Hause, wo Wissenschaft und freie Kunst blühen(Erasmus) und leitet aus der Anthropozentrik der Perspektiveden Willen zum geschichtlichen Handeln ab! Der Fortgangder Geschichte ist nicht mehr eine Sache von Gottes Plan,sondern wird als Fortschritt dem Menschen in die Hände ge-legt und das bedeutet nun: Nicht die Einordnung in den ewi-gen Rahmen der im Prinzip bekannten göttlichen Ordnung,sondern die Abweichung, die neue Erkenntnis, die Unter-scheidung wird zu einem hohen Wert, der im Mittelalter alsSünde gebrandmarkt worden wäre.8

Wie konnte es zu dieser von den oberitalienischen Städtenausgehenden, dann aber fast zeitgleich in ganz Mitteleuropasich formierenden neuen Lebenshaltung kommen? VieleFaktoren spielen zusammen, einige seien erwähnt, weil sie,im interkulturellen Spiegel, markant Eigenes der europäi-schen Entwicklung signalisieren:

a. Europa lebt in einer exzentrischen Identität.9 Das eigeneIdentitätszentrum (das antike Athen, das hellenistischeJerusalem) liegt außerhalb des geographischen und politi-schen Bereiches des mittelalterlichen Europa. Sprachlichmuss dieses »Eigene« in einer besonderen Bildungs-anstrengung zunächst als Fremdes wahrgenommen undsodann angeeignet werden – die »klassischen« Sprachen

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8 Dies wurde vor allem an der Kleiderordnung sichtbar. Um 1390 habees, so J. Burckhardt, in Florenz keine normative männliche Mode mehrgegeben.9 Vgl. R. Brague, Europa – seine Kultur, seine Barbarei: ExzentrischeIdentität und römische Sekundarität, Wiesbaden 2012.

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(Latein und Griechisch) und Schriftsteller sind das »Ande-re«, das zugleich das zu erstrebende Eigene ist.

b. Man muss also das Eigene außen suchen. Dies setzt eineUnruhe und Bewegung in der europäischen Entwicklungfrei, die – zumindest in diesem Maße – in anderen Kultu-ren so nicht wirksam ist.10

c. Von den Kreuzzügen über Kolumbus und die Renaissancebis zu späteren imperialen Weltkonstruktionen der Euro-päer steht hinter allem politischen Kalkül, wirtschaft-lichem Interesse und religiösem Anspruch (bzw. Wahn)auch eine Sehnsucht nach den Ursprüngen der eigenenIdentität, ein Aufbruch zu den Quellen, die als zukünftigeMöglichkeit der gesellschaftlichen Gestaltung in An-spruch genommen werden.

d. Dies wiederum ist die Grundlage für den impliziten undexpliziten Kosmopolitismus der europäischen Identität. Erist metaphysisch begründet in der allumfassenden Einheitder von einem Gott geschaffenen Welt bzw. der Makel-losigkeit der reinen platonischen Form. Von Tertulliansanima naturaliter Christiana (2. Jh.) bis zu Dantes Welt-bürgertum (13./14. Jh.) und der Einheits-Metaphysik derRomantiker und Hegels (19. Jh.) zieht sich dieses Leit-motiv durch die europäische Geschichte. Diese Vision po-litisch umzusetzen, war schon Platon nicht vergönnt; aberder Versuch ist ein europäischer Impuls geblieben. Derspanisch-portugiesische Imperialismus des 16. Jahrhun-derts und der spätere französische Kolonialismus (wenigerder britische) waren von dieser »Kulturmission« inspi-riert, und die beachtlichen zeitweiligen Erfolge bei der

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Mögliche Therapiemodelle

10 Vielleicht mit der bemerkenswerten Ausnahme der chinesischen Pil-ger wie Xuanzang (602–664), die zu den »Ursprüngen« nach Indien pil-gerten, worin ihnen später die Japaner folgten, die nach China gingen;aber dies blieb auf die Buddhisten beschränkt und hat nie das »Zentral-bewusstsein« des »Reiches der Mitte« in Frage gestellt.

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Umsetzung dieser Idee im 19. Jahrhundert haben das ge-schichtliche Fortschrittsdenken wesentlich bestärkt.

e. Bereits in der Renaissance setzt ein, was wir die »Freiheitvom Zwang des Zeitdrucks« nennen können, zunächst alsVision, dann als soziale Realität für immer breitereSchichten. Anfang des 16. Jahrhunderts träumt ThomasMorus in seiner »Utopia« vom 6-Stunden-Arbeitstag,und in Campanellas »Sonnenstaat« von 1602 wird diesergar auf 4 Stunden Arbeitszeit reduziert. Die restliche Zeitsoll der freien Bildung von Geist und Körper dienen, nichtetwa dem Müßiggang. Die Freiheit von der reinen Er-werbsarbeit ist Voraussetzung für die Entfaltung des indi-viduellen Genies.

f. Individualität, Kraft, Ruhm, Mut auch zum Außenseiter-tum (Leonardo da Vinci) werden zu höchsten Werten. DieTrennung von Religion und Staat sowie Religion undWis-senschaft, die Pluralität in der Wissensbildung, die mit-einander konkurrierenden oberitalienischen Stadtstaaten,die Differenz der Konfessionen, die Integration neuenWissens, wo immer es herkommt, der Mut zum Experi-ment sorgen für eine Offenheit in der Gesellschaft, die eszuvor so nicht gegeben hatte. Differenz und Vielheit wer-den zum prägenden Lebensgefühl, was enorme kreativeKräfte freisetzt. Der Mut zur Abweichung von kirchlichwie politisch durchgesetzten Normen ist nun nicht mehrsuizidal, sondern kann in der Nachbarstadt oder im Nach-barstaat ohne Gefahr für Leib und Leben ausgelebt wer-den. Dissidenten (in Wissenschaft, Wirtschaft, Politik)können emigrieren, Europas Vielfalt wird zu einer Le-bensgrundlage für Menschen, die gegen den Stromschwimmen, und genau diese Vielfalt ist es, die bis heuteEuropas Stärke ausmacht: Konkurrenz und Kooperationerzeugen in ihrer Spannung eine Dynamik, die beispiellosim Blick auf andere Kulturen war (und ist?). Aber dies giltnicht nur für den Raum, sondern auch für die neue Wahr-

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nehmung von Zeit: Petrarca beklagt weniger die gleich-mäßig ablaufende und vergehende Uhrzeit, sondern be-singt die subjektive Zeit. Es geht nicht mehr um den ver-gänglichen Zeitraum, der durchlaufen wird, sondern umdie Raum-Zeit, die von jedem einzelnen Menschen mitunendlicher Bedeutung gefüllt werden kann.

g. Damit verbunden ist eine Dynamisierung der Zeit, eskommt zu einem neuen »Morgen der Welt« (Bernd Ro-eck). Trotz des Konservatismus der Reformation setzt sichdiese Dynamisierung bei Luther und Calvin fort, weil dasIndividuum zwar nicht von der Religion, wohl aber reli-giös befreit wird. Die Reformation vermittelt das »Renais-sancegefühl« an die Massen, vor allem durch die nunmöglich werdende Bildung mit der Errichtung eines all-gemeinen Schulwesens und der Betonung des individuel-len Glaubens und Gewissens. Bei Calvin kommt die Ideehinzu, dass das Reich Gottes kontinuierlich in der Ge-schichte wachse. Seine Prädestinationslehre bewirkt, dassErwählung »messbar« wird, und zwar am Erfolg der Leis-tung, die geschichtliches Handeln freisetzt. Folgerichtigverbietet Calvin in seinem Herrschaftsgebiet jegliche(apokalyptischen) Zukunftserwartungen, weil sich im ge-schichtlich-politisch-ökonomischen Fortschritt der gött-liche Vorsehungswille realisiere. Diese Vorstellungen ha-ben, wie Max Weber gesehen hat, auf den Pietismus unddie Leistungsbereitschaft der Generationen, die die Ersteindustrielle Revolution trugen, eingewirkt.

AufklärungDer Renaissance-Mensch ist noch in einen religiösen Kosmoseingebunden, er sucht – platonisch – die Macht Gottes in derEinheit und Schönheit der Natur (Johannes Kepler, GiordanoBruno) und bleibt weitgehend der dualistischen christlich-kirchlichen Metaphysik verpflichtet, die vom Weltgerichtam Ende der Zeit spricht (Dante). Die Aufklärung entklerika-

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Mögliche Therapiemodelle

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lisiert das gewachsene Weltbild geistes- und politikgeschicht-lich. Es ist die Vernunft, die das Humanum begründet, daskeine politischen oder religiösen Grenzen kennt. Sie setztauf den freien Vernunftgebrauch des Menschen, der jedemdurch Bildung (Lessing, Schiller, Kant) ermöglicht werdensoll. Das Pathos der Französischen Revolution spricht voneinem neuen Zeitalter, ja einer neuen Zeitrechnung. Fort-schritt ist Freiheit und »Ausgang aus der Unmündigkeit«.Während in Frankreich bereits Ende des 18. Jahrhundertsdieser Satz das Lebensgefühl bestimmt, wird er in Deutsch-land erst um 1830 zum »Weltgefühl«. Trotz der Jahrhundertelangen Prägung durch ein pessimistisches christliches Men-schenbild (Erbsünde), das aber, wie gesagt, in der Mystik be-wusstseinstransformierend, im Calvinismus gesellschaftsfor-mend bereits revolutioniert worden war, bildet sich einZukunftsoptimismus heraus, der sich durch die rasanten na-turwissenschaftlichen, medizinischen und sozialen Entwick-lungen bestätigt weiss. Es entstehen neue Geschichtskonzep-tionen, die die christliche Eschatologie ersetzen. Als Beispielsei Beethoven angeführt: Nicht nur in der 9. Sinfonie werdenmit Schillers »Ode an die Freude« das Schönheits-, Wahr-heits-, und Freiheits-Ideal verschmolzen, um die Humanisie-rung des Menschen zu befördern, sondern auch im »Fidelio«setzt Beethoven die individuelle Geistesformung durch dasEdle im Menschen und die gesellschaftliche Transformationaus der Unfreiheit, die im »Ausstieg aus dem Kerker« gipfelt,in wechselseitige Beziehung. Man kann zu Recht sagen, dassBeethoven hier »das Bekenntnis zu einem Zukunftsbild derBefreiung des Menschen aus den Fesseln der Ichsucht undAusbeutung« ablegt.11 Diese Veränderungen kulminieren in

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11 Diese treffliche Formulierung entnehme ich dem Opernführer KarlKrauses, dem Klassiker auf diesem Gebiet: Oper von A-Z. Ein Hand-buch, Leipzig 1962 (3. Aufl.), 36. Lange also bevor der Buddhismus dieIntellektuellen Europas zu faszinieren begann, ist hier die Rede von der

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Hegels Geschichtsphilosophie. Hier werden Geist, Recht undWirtschaft verschmolzen zu einer »innerweltlichen Heils-geschichte«, die im Staat Preußen Erfüllung finden soll. DerGeschichtsablauf ist die göttliche Logik als Selbstentfaltungdes Geistes, d.h. was bisher in Weltliches und Überweltliches(der platonische Gegensatz) getrennt war, wird als ein ein-ziges Geschehen betrachtet. Bei Hegel allerdings scheint kei-ne weitere Entwicklung möglich zu sein, er kann keinenoffenen Fortschritt denken. So ist Hegel einerseits Vorausset-zung für das Fortschrittsdenken (in Deutschland), anderer-seits dessen Widerpart.

19. JahrhundertZunächst im französischen »progrès«, dann im deutschen»Fortschritt« werden die Traditionen der Französischen Re-volution ungebrochen fortgeführt. 1797 hatte Condorcetneun Stufen des »progrès de l’esprit humain« unterschieden,im Unterschied zu Rousseaus »romantischer« Rückwärts-orientierung und Voltaires Skeptizismus, und diese Anschau-ung findet ihrenWiderhall bei Saint-Simon und Comte. Manfühlt sich als Speerspitze einer liberal-fortschrittlichen Ge-sinnung und Entwicklung, die in andere Länder zu exportie-ren sei – zunächst innerhalb Europas (Napoleon), dann aufdie gesamteWelt bezogen. In Deutschland bleibt diese Gesin-nung allerdings auf das gebildete Bürgertum beschränkt.(Man denke an die Anekdote, nach der Hegel den Einzug Na-poleons durchs Fernrohr beobachten will, weil er in ihm denVollstrecker des Weltgeistes sieht, aber gleichzeitig in Furchtvor der Aggression in Deckung bleibt.) Der hier prophezeiteFortschritt basiert auf der Gesetzmäßigkeit der Weltordnung,die erkannt werden kann, und auf der Erziehbarkeit des Men-schen (Lessing, Schiller), die in der Vernunftbegabung be-

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Mögliche Therapiemodelle

Gleichzeitigkeit individueller wie kollektiver Transformation, und daswird goutiert sogar in einem in der DDR erschienenen Werk.

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gründet ist. Fortschritt ist nicht nur eine quantitative Größe,die etwa in der (kolonialen) Ausdehnung des Raumes mess-bar wäre, sondern die Qualität der Intensivierung der Bewirt-schaftung. Die entsprechenden Erfahrungen bei der Produk-tion in der Landwirtschaft sowie von Konsumgütern, in derMedizin und auch in der Kunst (der »Fortschritt« vom baro-cken polyphonen Satz im Barock und dem strengen Sonaten-Hauptsatz in der Wiener Klassik zur Übereinander-Lagerungvon harmonikalen und klangfarblichen Strukturen in der In-tensität des romantischen Klanggebildes) verbinden sich mitdem klassischen utopischen Denken zu einer Gesellschafts-lehre, die als »utopischer Sozialismus« (Proudhon, Fourier)bekannt geworden ist, von der auch Marx beeinflusst ist,wenn er ihn auch politisch kritisiert. Die technische Entwick-lung war im Bewusstsein der Zeitgenossen eher Folge alsAusgangspunkt des Fortschrittsdenkens: Interessanterweisekommt erst 1842 bei Etienne Cabet der Technik in Gestaltder Dampfmaschine eine politisch-revolutionäre Bedeutungzu, denn die Dampfkraft werde »die Aristokratie in die Luftsprengen«.12

1859 veröffentlichte Darwin seine Evolutionstheorie, dieauf der biologischen Entwicklung des zeitlichen Nacheinan-ders der Arten beruht. Fortschritt ist demnach zweckmäßigeAnpassung. Zweck ist durch das definiert, was der Erhaltungund Vermehrung der Art dient. Der Darwinismus behauptetsich als empirisch gesicherte und rational beweisbare Theorie,und das unterscheidet ihn von Hegels spekulativem Entwick-lungssystem des Geistes. Außerdem kennt Darwin keineTeleologie, sondern kausale Kombinationen von Zufall(Mutation) und Auswahl (Selektion). Der gesamte Prozess

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12 Diese Verknüpfung wurde später von Lenin in einer Formulierungaufgenommen, wonach der Kommunismus in der Verbindung von»Sowjetmacht plus Elektrifizierung« bestünde.

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ist ohne Ziel, und Veränderungen sind nur einzelne Verbes-serungen im Sinne des genannten Zwecks.

Besonders in Deutschland verlief die Entwicklung zumEvolutionsdenken in der Geschichte und der Idee des Fort-schritts keineswegs geradlinig und unwidersprochen. Die Ro-mantik (bis hin zum Gesamttheater Wagners), die Naturphi-losophie Schellings, das Erbe Schleiermachers und dieGeschichtsphilosophie eines Leopold von Ranke in der Mittedes 19. Jahrhunderts zeigen, dass weite Kreise von Intellek-tuellen und Künstlern anders dachten und empfanden. Rankebetrachtet die Einzelphänomene in der Geschichte und misstihnen individuelle Bedeutung zu, sie seien »unmittelbar zuGott« und gerade nicht in einem Evolutionsschema zu inter-pretieren.

Freilich hielt das den Trend nicht auf: Durch die industriel-le Massenfertigung verbilligten sich die Produkte und »de-mokratisierten« den Konsum.13 Die Zeit als quantifizierbareArbeits- und Verdienstzeit wird ein kommerzialisierbaresGut. Durch die Beschleunigung der neuen Verkehrsmittel(Eisenbahn) und die damit notwendige Synchronisierungindividueller Lebens- und Zeitstile (Pünktlichkeit) wird dasZeitbewusstsein verinnerlicht (Redewendungen »pünktlichwie die Eisenbahn«, »es ist höchste Eisenbahn« kommenauf).14 Die Massenpresse vergleichzeitigt die räumlich ent-fernt liegenden Ereignisse in der Welt. Um einheitliche Fahr-pläne für das Eisenbahnnetz erstellen zu können, wird erst inder 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in England, in Frankreicherst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, eine Standardzeit einge-führt, die einen einheitlichen kollektiven Zeit-Raum schafft,Lebensrhythmen der Menschen werden synchronisiert, und

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Mögliche Therapiemodelle

13 In den USA sinkt der Preis für eine Taschenuhr um weniger als denTagesverdienst eines Arbeiters – 1 $ Preis bei 1,50 $ Lohn, und dies ge-schieht mit Zeitverzögerung auch in Europa.14 Vgl. H. Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturenin der Moderne, Frankfurt a.M. 2005.

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das ist eine wesentliche Voraussetzung für das tatsächlicheErleben von »Gesellschaft«. Die täglichen Nachrichten schal-ten die Raumdistanz aus, d.h. man wird, die Zeitung lesend,bewusstseinsmäßig omnipräsent. Die universale Perspektiveschafft sich als fiktive Konstruktion Raum im Lesesessel, unddie Erfindung der Telegrafie verstärkt die Raum-Zeit-Kom-primierung. Durch diese Beschleunigung des Lebensgefühlsentsteht die Metapher vom »rasenden Zug der Zeit«, dienicht mehr nur ihren Fortgang nimmt, sondern einen vomMenschen geschaffenen Fortschritt anzeigt. Die rasende Zeitmacht das unwiederbringliche Vergehen jedes Augenblickstragisch bewusst, wovon die Poesie Baudelaires geprägt ist.Das Zeit- und Fortschrittsbewusstsein ist aber sozial be-stimmt. Dies findet in der Literatur ein entsprechendes Echo:So steht Flauberts Zeitpessimismus der Erwartung Zolas ge-genüber, der hofft, dass die Entwicklung den aufstrebendensozialen Schichten neue Chancen bietet. Marx und Engelsagitieren, dass das wissenschaftliche Fortschrittsbewusstseindie proletarischen Massen ergreifen müsse.

Am Marxismus lässt sich ein Grundwiderspruch des Fort-schrittsdenkens in der Geschichte besonders klar zeigen:Marx und Darwin stimmen darin überein, dass beide nachnaturgesetzlicher Notwendigkeit in geschichtlichen Prozes-sen fragen. So formuliert Engels in der Grabrede für Marx,Darwin habe das Gesetz der Entwicklung der organischenNatur, Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Ge-schichte entdeckt. Für Marx geht das »Reich der Notwendig-keit« in das »Reich der Freiheit« über, die Geschichte hat alsoein Ziel – das ist sein jüdisch-christlich-apokalyptisches Erbeund besagt etwas anderes als Darwins Theorie. Ist dies aberein notwendig sich vollziehender, objektiver (naturgesetz-licher) Ablauf, oder muss der Mensch handeln, damit sichFortschritt ereignet? Marx sieht den Fortschritt der Produk-tionsmittel (Technik) in Kontinuität mit dem Fortschritt inder »natürlichen Technologie«, die die Evolution in der An-

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passung der Arten unter Selektionsdruck hervorbringt, under sieht wohl im Klassenkampf eine Parallele zum Selektions-druck. Aber der Klassenkampf vollzieht sich nicht von allein,er muss gewollt, organisiert und pragmatisiert werden.Durch Agitation müssen die Massen klassenkämpferisch mo-tiviert werden. Die berühmte Feuerbach-These besagt, eskomme nicht mehr allein darauf an die Welt zu interpretie-ren, sondern sie zu verändern. Der Mensch also ist Subjektseines Geschicks, gesellschaftlich wie individuell. Fortschrittist demnach die Folge menschlichen Handelns, das sich aller-dings an den Gesetzmäßigkeiten zu orientieren habe, wie sieder Historische Materialismus erkennen würde, wobei imPrinzip das geschichts-evolutionistische Schema Hegels gül-tig bleibt.

Wie bereits angedeutet, steht eine breite Front von Intel-lektuellen und Künstlern besonders seit Mitte des 19. Jahr-hunderts im Widerspruch zu dem wissenschaftlich-tech-nisch-gesellschaftlichem Fortschrittsdenken, und daskeineswegs nur in Deutschland, sondern auch in Frankreichund den USA.15 Hier werden Orientierung an der Zeitlosig-keit der Mythen, die Langsamkeit des Beschauens und die»stehende Zeit« zum höchsten Gut stilisiert. Richard Wag-ners Triumphe beruhen auch darauf, dass seine »Kunstreligi-on« eine Rebellion gegen den technisierten Zeitgeist ist, derWagner-Rausch gerade in den USAwar und ist ein (gewolltesoder unbewusst gesuchtes) Gegengewicht gegen das Fort-schrittsdenken. Nicht nur die Themen der Wagner’schen»Bühnenweihen«, sondern auch der musikalische Duktusmachen dies deutlich: in Wagners Musik scheint die Zeit zustehen, die Übergänge sind endlos lang und oft kaum be-

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Mögliche Therapiemodelle

15 Für die USA seien nur die New England Transcendentalists um Tho-reau und Emerson erwähnt, für Frankreich der junge Claude Lévi-Strauss mit seiner berühmten und viel beachteten Rede »La crise duprogrès« von 1935. (E. Loyer, Lévi-Strauss. Eine Biographie, Berlin2017, 203)

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merkbar, es gibt kein »Fortschreiten«, sondern die überzeitli-che Wahrheit offenbart sich in der ent-zeitlichten musika-lischen Figuration. »Zum Raum wird hier die Zeit«, heißt esim »Parsifal«. Eine interessante Sonderstellung nimmt Fried-rich Nietzsche ein: Er will, so scheint es, die beiden geistigenStrömungen der mechanisch-zeitlichen und platonisch-über-zeitlichen Denkformen verbinden, um sowohl die »Sklaven-mentalität« des Christentums als auch die Heuchelei der bür-gerlichen Kultur zu überwinden. Und er verweist damit inRichtung einer interkulturellen Perspektive, die im 20. Jahr-hundert unter der Metapher der »Begegnung von Ost undWest« vielfach fruchtbar werden sollte (H. Hesse, C. G. Jung,J. Gebser, D. Bonhoeffer, C. F. v. Weizsäcker u. a.):

»Ich imaginiere zukünftige Denker, in denen sich die europäisch-amerikanische Rastlosigkeit mit der hundertfach vererbten asiati-schen Beschaulichkeit verbindet: eine solche Combination bringtdas Welträtsel zur Lösung.«16

Auch bei Nietzsche wird deutlich, dass eine Zukunft als Fort-schritt geschaut wird, die sich dem Heutigen gegenüber ver-hält wie die »Lösung« zum »Problem«. Die Weltkriege des20. Jahrhunderts und das Bewusstsein der ökologischen, de-mographischen und sonstigen Krisen haben das Problembe-wusstsein eher verschärft. Die Alternative von OswaldSpenglers »Untergang des Abendlandes« (1918–22) einer-seits und Jean Gebsers »Bewusstseinswandel« (vgl. seinHauptwerk »Ursprung und Gegenwart«, 1949) andererseitsist akut geblieben und hat zumindest in Europa (weniger,aber auch in den USA) breite Bevölkerungskreise von einemungebrochenen Fortschrittsmythos entfremdet. WährendSpengler die Kulturen als Organismen verstehen wollte, diedem Zyklus vonWerden und Vergehen unterlägen und somiteinander ablösten, versuchte Gebser, eine kulturübergreifen-

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16 F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Nr. 17 (1873), in: Colli/Mon-tinari (Hg.), KSA, Bd. III,4, Berlin 1978, 402.

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de Bewusstseinsevolution zu entdecken und interdisziplinärzu beschreiben. Die Krise sieht er weniger als Ankündigungeines Endes, sondern als Eintritt in eine neue Bewusstseins-stufe des a-perspektivischen, diaphanen Bewusstseins, das dierationale Bewusstseinsform ablösen würde. Gebser glaubte,dass sich dieses Bewusstsein in den jüngsten Entwicklungender Kunst (Picasso, Atonalität), der Philosophie (Symbolis-mus und Mythostheorien) und der Kultur (Begegnung mitAsien) dokumentiere. Die Triebkraft dieses Fortschritts istalso eine Bewusstseinsevolution, die sich epochal darstellt.

Allerdings ist der zivilisatorische Fortschritt im 20. Jahr-hundert nicht nur in Europa angesichts des technologischperfektionierten Massenmordes in den Weltkriegen, der Dik-taturen und des Rückfalls in nationalistisch-rassistischeDenkformen mit guten Gründen in Frage gestellt worden.Gleichwohl liegen zumindest die Antriebskräfte des Fort-schrittsdenkens den ökonomischen Prinzipien der Volkswirt-schaften wie der Weltwirtschaft nach wie vor zugrunde. Da-mit ist das europäische Fortschrittsdenken global wirksam,auch wenn es kulturell bestritten oder im Namen von »asia-tischen Werten«, »islamischer Sharia« oder anderer kulturel-ler Wertegeber angegriffen wird. Es stellt sich die Frage, obund wie in anderen Kulturen die Subjekthaftigkeit des Men-schen in Bezug auf seine eigene Geschichte begriffen, ge-deutet und religiös symbolisiert wird. Die Frage ist umso in-teressanter, als geprüft werden kann und muss, wie dieeuropäischen Erfahrungen in diesen kulturellen Selbstfin-dungsprozessen reflektiert werden.

2.4 Zusammenfassende Thesen

1. Das Fortschrittsdenken Europas und Amerikas ist das Re-sultat geschichtlicher Prozesse, die mit der Spezifik deseuropäischen Zeitbewusstseins und der geschichtlichen

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Entwicklung zu tun haben. Dabei handelt es sich also kei-neswegs um eine Universalie. Gleichwohl hat diese euro-päisch-amerikanische Denkform die ganze Welt durch-drungen und dort nicht nur markante kulturelle Spurenhinterlassen, sondern das Lebensgefühl politisch undwirtschaftlich mitgeprägt.

2. Das Fortschrittsdenken kann als die »Säkularisierung«von Utopien aufgefasst werden, wie sie in der Religions-geschichte Europas durch die jüdische Apokalyptik unddie christliche Eschatologie mit geformt wurden. Apoka-lyptische Denkformen haben sich, auf dem Hintergrunddes zarathustrischen Dualismus in Persien, auch nachZentral- und Ostasien ausgebreitet, was z.B. im chinesi-schen Buddhismus und seiner politischen Geschichtenachweisbar ist (die revolutionären Weißen-Lotos-Sektenvom 12./13.–19. Jahrhundert).

3. Das Fortschrittsdenken ist eine Folge der Verbindung vonHoffnung auf Zukunft und Suche nach Gesetzmäßigkei-ten und übergreifenden Zusammenhängen in der Ge-schichte. Es hat damit religiöse Ursprünge, konnte sichaber in Europa von denselben lösen und auf die allge-meineren Begriffe des Humanen und/oder der Vernunftstützen.

4. Das Fortschrittsdenken im 19. Jahrhundert ist Folge vonsozialen Ausdifferenzierungsprozessen in der arbeitstei-ligen Gesellschaft. Es ist verknüpft mit der Partizipationund Gestaltung sozialer Prozesse durch breite Schichtendes Bürgertums und ist mit dem Aufstieg dieser sozialenSchicht aufs Engste verknüpft.

5. Die technologisch bedingte Beschleunigung von Ver-kehrs- und Kommunikationsprozessen (Dampfmaschine,Eisenbahn, ab 1812 Schnelldruckpresse, ab 1849 Tele-graph, 1865 Rotationsdruckmaschinen) hat das Lebens-gefühl seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts drama-tisch verändert und einen Sog des Tempos von Ereignissen

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erzeugt, der zunächst als Triumph menschlicher Freiheit,seit dem 20. Jahrhundert aber zunehmend als Zwang zurBeschleunigung erlebt wird, so dass etwa seit 1970 undverstärkt seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts eineneue Kultur der Langsamkeit (Slow-Food-Bewegung ge-genüber Fast-Food-Ketten; Autogenes Training, der Boomasiatischer Medizin, Meditations- und Entspannungs-techniken) paradoxerweise als Fortschritt erlebt wird. Diemit der neuesten Kommunikationstechnologie (Fernse-hen, billige Fernreisen, Internet, Mobilfunk) verbundeneGleichzeitigkeit und Komplexität geschichtlicher Ereig-nisse sowie die widersprüchlichen Folgen der ökonomi-schen Globalisierung lassen verstärkte Zweifel an der»Steuerbarkeit« des Geschichtsverlaufs aufkommen, sodass der Mensch sich weniger als Subjekt denn als Objektder historischen Veränderungen erfährt. Dies wird inDebatten um Künstliche Intelligenz verschärft, deren Fol-gen sowohl als Versklavung befürchtet als auch als Heils-versprechen für ein neues strahlendes Kapitel in derGeschichte der Menschheit gepriesen werden. Mit der ne-gativen Bewertung des Freiheitsverlustes wird eine we-sentliche Voraussetzung des Fortschrittsdenkens, das ausdem 19. Jahrhundert ererbt wurde, untergraben.

6. Die Begegnung der Kulturen ermöglicht Alternativen kul-tureller Wertemuster und Lebensformen. Vergleichbar-keit bewirkt, dass eigene Mängel und Sehnsüchte kom-pensatorisch auf andere Kulturen übertragen werden – exoriente lux. Die Zeitfreiheit der buddhistischen Meditati-onserfahrungen, integrierte Sozialbezüge der indischen,chinesischen oder afrikanischen Großfamilie, die in loka-len Wirtschafts-Kreisläufen begründete Selbstversorgungindischer dörflicher Gesellschaften (Gandhi, E. F. Schuma-chers »Small is beautiful«), die »ganzheitliche Medizin«asiatischer oder afrikanischer Herkunft im Unterschiedzur kaum mehr finanzierbaren Hochtechnologie-Medizin

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des Westens usw. spielen bei der Suche nach rational ver-antworteten Alternativen zum Fortschrittsideal des Wes-tens zunehmend eine Rolle. Dabei ist zu klären, ob undwie Fortschritt als Freiheit bzw. Befreiung des Menschenin anderen Kulturen gedeutet wird und inwiefern dieseKonzepte bei der Selbstidentifikation sozialer Schichtenin den Kulturen Asiens, Afrikas, Südamerikas usw. zumTragen kommen. Sind die aus den Religionen bekanntenAlternativen tatsächlich nur auf die religiös-kulturelleIdentitätsgebung beschränkt, oder prägen sie mehr oderweniger auch den wirtschaftlichen und politischen Alltagin den betreffenden Ländern? Haben sie geschichtlichnachweisbare Auswirkungen auf die Ursprungkulturendes westlichen Fortschrittsmythos (Europa, Amerika,Australien)? Wie sind religionskulturell die Entwicklun-gen in hoch-industrialisierten Ländern zu interpretieren,die nicht auf der europäisch-amerikanischen Mentalitäts-geschichte gründen (China, Japan, Taiwan, Singapur, Ko-rea, die urbanen Subkulturen Indiens, Lateinamerikas undauch Afrikas sowie der arabischen Welt) und in diesenKontexten ganz neue Religionen hervorbringen, die Tra-dition undModerne verbinden (in Japan z.B. Soka Gakkai,Rissho Kosei Kai, PL-Kyodan; in Taiwan und China eso-terisch-hypermodernistische Gruppen aller Art; in Latein-amerika spiritualistisch-messianische Bewegungen, die»Zungenreden« und modernste Kommunikation mit-einander verbinden)?

Das Verstehen der Zeit-, Zukunfts- und Fortschrittskonzep-tionen der gegenwärtigen Kulturen tangiert die Identität dersozial wirkenden Gestaltungskräfte der Gegenwart in denglobalen Wechselwirkungen politischer Prozesse. Dabei kannes nicht nur darum gehen, Idealkonzepte einander gegen-überzustellen, sondern es müssen die tatsächlich wirkendenMotivationsgeber und Wertestrukturen in ihrer sozialen

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Differenzierung benannt werden, die in gegenseitiger Durch-dringung aber auch durch Abgrenzung ein hoch komplexesGeflecht von kultureller Dynamik erzeugen, das politischesund ökonomisches Handeln erheblich beeinflusst.

3. Die asiatische Erfahrung

Asien ist alles andere als eine Einheit. Darum ist der geogra-phische Begriff »Asien« religionskulturell wie auch politischproblematisch. Die beiden großen Kultursysteme Indien undChina sind einander gegensätzlich, historisch sind sie auch alsmilitärische Konkurrenten aufgetreten. Das Jahrtausendealte Band aber, das beide Kulturen miteinander verbindet, istder Buddhismus. Dieser hat sich zwar bei seiner Ausbreitungnach China seit dem 2. Jahrhundert n.Chr. stark verändert,dennoch sind über die Jahrhunderte hinweg rege Pilgerströ-me von China nach Indien zu verzeichnen, weil man an denursprünglichen Quellen die authentische Form des Buddhis-mus studieren und denselben in China periodisch erneuernwollte. Die Begegnungsdynamik und die Motivationslenkun-gen zwischen beiden Kulturen sind demnach stark durch denBuddhismus geprägt, und aus diesem Grunde verdient er hierbesondere Beachtung.

3.1 Naturverständnis und kulturelles Handeln imBuddhismus Indiens und Chinas

Den Kreislauf des Leidens zu überwinden, ist das Ziel desBuddhismus, und daher ist die »Natur« in sich kein höchstesGut. So jedenfalls glaubte man in Europa noch bis in jüngsteZeit den Buddhismus interpretieren zu müssen. Selbst MaxWeber unterstellte, der Buddhismus könne keine Sozialethik,geschweige denn eine Ethik gegenüber der Natur, hervor-

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Mögliche Therapiemodelle

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gebracht haben, da ja im Buddhismus das individuelle Ich ge-leugnet werde.17 Diese Schlußfolgerung hat sich als Irrtumerwiesen.18

Wir müssen uns in der historischen Darstellung auf einigeparadigmatische Entwicklungsschritte beschränken, indemwir kurz die animistischen Grundlagen erörtern, weil sie so-wohl in Indien als auch in China die Einstellung des Buddhis-mus zur Umwelt bzw. Mitwelt beeinflusst haben. Sodann solldie Haltung des frühen Buddhismus skizziert werden, umdrittens den Neuansatz im Mahayana in Bezug auf unserThema diskutieren zu können. Schließlich sind einige Beson-derheiten des ostasiatischen Buddhismus zu erwähnen.

Animistische WurzelnDer Buddhismus ist eine Reformbewegung gegenüber derpriesterlichen vedischen Religion in Indien. Er fußt auch aufdem teilweise animistischen Gedankengut der Vedas, auchwenn er sich gerade gegen Einzelaspekte dieser Religion wen-

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17 M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. 2, Tü-bingen 1920–1921, 229 f.18 Aus der umfangreichen Literatur zum Thema buddhistischer Welt-gestaltung und zum Verhältnis von Buddhismus, Politik und Öko-nomie/Ökologie sei exemplarische angeführt: E. Sarkisyanz, BuddhistBackgrounds of the Burmese Revolution, The Hague 1965; D. E. Smith,Religion and Politics in Burma, Princeton 1965; H. Bechert, Buddhis-mus, Staat und Gesellschaft in den Ländern des Theravada-Buddhis-mus, 3 Bde., Schriften des Instituts für Asienkunde in Hamburg XVII/1–3, Frankfurt/Main und Berlin 1966, 1967, 1973; G. Obeyesekere,F. Reynolds, B. L. Smith (Hrsg.), The Two Wheels of Dhamma. Essayson the Theravada Tradition in India and Ceylon. (American Academy ofReligion Studies) Chambersburg 1972; U. Phadnis, Religion and Politicsin Sri Lanka, London 1976; B. L. Smith (Hrsg.), Religion and Legitima-tion of Power in Sri Lanka, Chambersburg 1978; S. J. Tambiah, WorldConqueror & World Renouncer. A Study of Buddhism and Polity inThailand against a Historical Background, London 1977.

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det. In dieser Denkform erscheinen das Geistige und die Na-tur zwar unterschieden, doch nicht getrennt. Ein Beispiel istsurya, die Sonne. Der Begriff bezeichnet sowohl die astro-nomische Größe als auch die Sonne als Inbegriff geistigerKlarheit. Surya ist der Sonnengott und die Sonnenscheibe,oder besser: Im Veda – wie in allen frühen Kulturen – ist dieWirklichkeit noch nicht in einen physischen und einen meta-physischen Bereich aufgespalten. Alle Wesen sind demzufol-ge belebt und geistig. Auch Pflanzen, Flüsse und Steine kön-nen als beseelt gelten. Dieser Sachverhalt wird meist als»Animismus« bezeichnet, und aus solchen Vorstellungen lei-ten sich einige merkwürdige Vorschriften in der buddhisti-schen Mönchsregel (vinaya) her: Erdboden und Gewässerdürfen nicht verunreinigt werden, weil die Erde belebt ist(Vin 4, 75, 1); Früchte sollen nur verzehrt werden, wenn sievorher »leblos gemacht«, d.h. manuell beschädigt wordensind (Vin 2, 109), und zuvor den Samen ausgeworfen haben,damit kein Lebenskeim getötet wird. Innerhalb der Mönchs-orden wurden solche Verhaltensweisen kultiviert und jahr-tausendelang praktiziert. Eine solche Grundhaltung hat aberauch auf des Leben der Laien eingewirkt, d.h. vom Buddhis-mus geprägte Kulturen betrachten andere Lebewesen nichtals »Material«, sondern als Partner, die rituell »besänftigt«werden müssen, wenn sie im Gefolge landwirtschaftlicheroder anderer kultureller Aktivitäten des Menschen geschä-digt werden.

Früher BuddhismusDie buddhistische Kritik an der priesterlich-brahmanischenReligion brachte auch eine Desakralisierung der Natur mitsich, indem die hinduistischen Naturgottheiten für bedeu-tungsarm, ja auch ein zugrunde liegender Urgrund (brah-man) oder eine primäreWeltseele für irreal gehalten wurden.Nichts besteht aus sich selbst oder hat ein Selbst: anatman.Alles ist Leiden, so lehrt der Buddha in der berühmten Pre-

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Mögliche Therapiemodelle

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digt von Benares. Aber nicht die Dinge als solche gelten alsleidvoll, auch nicht die bloße Vergänglichkeit allen Gesche-hens, sondern der menschliche Versuch, etwas Unveränderli-ches zu finden und sich daran zu klammern bzw. anzuhaften.Da dieses Anhaften letztlich misslingt, ist der Mensch unbe-friedigt und wird unvermeidlich frustriert. Er erlebt duhkha.Man unterscheidet drei Arten von duhkha oder Leiden:

• Missvergnügen an Unerfreulichem (duhkhaduhkha)• Leid des Kreislaufs der Geburten (samskaraduhkha)• Vergänglichkeit gerade des »Erfreulichen« (viparinama-

duhkha).

Die dritte Art betrifft das Verhältnis zur Natur, denn in ihrwird die Vergänglichkeit besonders eindringlich erfahrbar.Naturerfahrung in diesem Sinne ist Leidenserfahrung, auchLeid verursachend, insofern sich unter der tropischen SonneIndiens Natur als heiß, wild und menschenfeindlich darstel-len kann. Der Zustand der Befreiung aus dem Daseinskreis-lauf, nirvana also, kennt demzufolge keine Natur.19

Das ist aber nur die eine Seite. Bereits in den Theragatas20

(Lieder der Mönche) begegnen wir nämlich auch einer Art»Naturlyrik«, die wiederum an Beschreibungen und Hal-tungen in einigen Jataka-Geschichten (Erzählungen ausfrüheren Leben des Buddha) anknüpft. Diese Texte habenÄhnlichkeit mit indischen Liebesgedichten, aber auch mitden Gesängen über die Liebe zu den Blumen und Wäldernder brahmanischen Asketen.

Animistische Grundhaltungen, Liebe zur Natur sowie As-kese und Weltentsagung treffen im frühen Buddhismus reli-

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19 Udana 8,1: »Es gibt, ihr Mönche, eine Stätte, wo weder Erde ist nochWasser noch Feuer, … weder Sonne noch Mond.«20 C. A. F. Rhys Davids (Hg.), Psalms of the Brethren and Sisters, Lon-don 1937.

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gionsproduktiv aufeinander. Die beiden großen Säulen desBuddhismus, nämlich Mönchsorden und Laiengemeinschaft,reagierten hinsichtlich der kulturellen Gestaltung von (Um-)Welt sehr unterschiedlich.

In den Mönchstraditionen gilt die Natur als Lehrmeisterinder Vergänglichkeit. Die Buddhisten empfehlen einander alsLäuterungsübung z.B. die Betrachtung von fallenden Blät-tern.21 So wird von einem Asketen berichtet, dem, als er dieVeränderungen in Farbe und Gestalt der fallenden Baumblät-ter betrachtet, die Vergänglichkeit aller Dinge bewusst wird.Natur ist für die Mönche als Platz der Meditation und Ruheund nicht um ihrer selbst willen wichtig.

Der Laienbuddhismus und der WohlfahrtsstaatKaiser AshokasDie indischen Kulturen haben ein durchlässigeres System desZusammenwirkens von Religionsspezialisten (Priestern,Mönchen, Gelehrten) und Laien entwickelt als die europäi-schen. Im Ideal der 4 Lebenszeitalter (ashrama)22 hat die drit-te Phase monastische Züge ohne Gelübde auf Lebenszeit undohne dass die für frühere Phasen des Lebens anerkannte Be-deutung des Gewinnstrebens (im Rahmen der durch das Ge-setz geregelten gesellschaftlichen Beziehungen [dharma])bestritten würde. Hier wird »Askese« praktiziert nicht imSinne eines kultisch erforderlichen Verzichts, sondern umder Gewinnung von Freiheit und Lebensqualität willen. Dieim Ashram lebenden Gruppen (Familien ebenso wie Zöliba-täre und gelegentlich auch Kinder) haben materielles Strebenwie die damit verbundenen Verpflichtungen aufgegeben, um

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21 Visuddhimagga 2, 9.22 Die vier Lebenszeitalter sind die Zeit von Bildung und Erziehung(brahmacarya) in Kindheit und Jugend, Haushalterschaft (grihasthya)im Erwachsenenalter, Rückzug in spirituelle Wertegemeinschaften (va-naprashtha) etwa ab der Mitte des Lebens, Vorbereitung auf das Sterbenals einsamer Wanderasket (sannyasa).

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sich in Muße geistigem Streben und dem Gemeinschafts-leben widmen zu können. Der Verzicht, der als qualitativerGewinn erlebt wird, ist Voraussetzung für das Wagnis geisti-ger Entdeckungen unter Führung und in Gemeinschaft mitcharismatisch agierenden Persönlichkeiten (Guru). Hier gibtes keine unumstößlichen Gelübde, sondern das Prinzip derFreiwilligkeit und Selbstorganisation auf Zeit. Im Buddhis-mus Südost- und Ostasiens, wo es bis heute ein »Mönchtumauf Zeit« gibt, ist diese qualitative Verzichts-Kultur Teil desIdeals der Erwachsenenpädagogik geblieben.

Dementsprechend war und ist auch der Buddhismus, wieihn die Laien praktizieren, nicht völlig verschieden von derPraxis der Mönchsorden, sondern eine zweite Achse, die vonAnfang an für den Buddhismus charakteristisch war. So heißtes, dass religiöser Verdienst durch die Förderung von ökologi-scher und sozialer Infrastruktur wie den Bau von Wasser-tanks und Aufforstung, also das pflegende Eingreifen desMenschen in die Natur, vermehrt werden kann.23 Der zentra-le Begriff von karuna (Barmherzigkeit oder heilende Hin-wendung zu allen Wesen) ist für den Buddhismus die Chiffrefür ein gelungenes Leben. Was genau ist gemeint?

»Die Erkenntnis der ›eigenen‹ Identität mit ›anderen‹, die Auf-hebung der Unterscheidung von ›eigener‹ Leidens- und Glücks-erfahrung sowie Leidens- und Glückserfahrung von ›anderen‹ istkaruna. Karuna bedeutet also die Erweiterung des ›Bewußtseins‹ ineinem ›mystischen‹ Sinne bis zu dem Punkt, wo es alle Lebewesenumfaßt, d.h. zur Selbstidentifikation mit allem, was lebt.«24

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23 Samyutta-Nikaya-Ausgabe der Pali-Text-Society 1,5,7, London1884; Ausgabe Geiger 1,47: »Sage, bei welchen Leuten Tag und Nachtdie Verdienste unablässig wachsen. In Rechtschaffenheit und Tugend-kraft erheben sich von der Erde gen Himmel die, die Haine und frucht-bare Bäume pflanzen, sowie Deiche und Dämme bauen, die Brunnenund Wasseranlagen graben sowie den Obdachlosen Obdach geben …«24 Sarkisyanz, Buddhist Backgrounds of the Burmese Revolution,a. a.O., 40 f.

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Dies trifft vor allem auf den Mahayana-Buddhismus zu, hataber auch im Theravada seine Wurzeln. Gewiß, die meditati-ve Schau des nirvana ist abgelöst von der Welt des Werdens(kaivalya), also auch von der Natur, aber Meditation und nir-vana sind nicht zu trennen von karuna (heilende Hinwen-dung zu allen Wesen) und maitri (liebendes Wohlwollen).Dies lässt sich belegen an den sogenannten Vier Unermess-lichkeiten (apramana), die schon nach frühester buddhisti-scher Überlieferung in alle Richtungen zu allen Lebewesenausgestrahlt werden sollen:

1. liebendes Wohlwollen (maitri)2. heilende Hinwendung zu allen Wesen (karuna)3. Freude (mudita)4. Gleich-Gültigkeit (upeksha)

Upeksha ist nicht moralische Indifferenz, wie Max Weberund viele andere meinten, sondern Gleichgewicht des Geistesjenseits von unterscheidenden Bewertungen. Unter der Prä-misse, dass alle Lebewesen ein Netz von Beziehungen dar-stellen und in gewisser Weise miteinander identisch sind(Pflanzen nicht eingeschlossen), wird der Anthropozentris-mus sowohl kognitiv wie emotional und als handlungsleiten-de Maxime aufgehoben.

Auf den eben dargestellten Grundlagen baut der StaatAshokas (304–232 v.Chr.) auf, der wohl erste Wohlfahrts-staat in der Geschichte der Menschheit. Ashokas Denkenkennen wir durch seine berühmten Säulen- und Felsenedikte,die er überall in seinem Großreich, das fast den ganzen Sub-kontinent Indiens außer dem äußersten Süden umfasste, auf-stellen ließ. Sie beinhalten allgemeine ethische Werte, die al-lerdings aus der buddhistischen Geisteshaltung abgeleitetsind, vor allem geht es um die Gewaltlosigkeit gegenüberMenschen und allen anderen Lebewesen.25

Ashoka ließ Brunnen bohren und organisierte eine umfas-

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sende medizinische Versorgung für Menschen und Tiere. Erregierte nicht mit Gewalt (danda), sondern durch Bildungund Erziehung zur Einsicht (dharma). Einen solchen Paradig-menwechsel der Politik führt er ausdrücklich auf sein Er-schrecken über die von ihm geführten blutigen Kriege zurEinigung des indischen Subkontinent zurück. Er gewährteReligionsfreiheit, was im indischen Kontexte der damaligenZeit keineswegs selbstverständlich war, da die Könige jeweilsverschiedene Formen von Religion patronisierten, um ihreHerrschaft auch religiös-ideologisch zu festigen. Zusammen-gefasst kann man zu Ashoka sagen: »Ashokas Ideal ist nichteinfach die Bruderschaft der Menschen, sondern die aller Le-bewesen. Er fühlt sich mit der gesamten beseelten Welt ver-bunden.«26 Durch Ashoka also wurde der Wohlfahrtsstaatbegründet, der alle Lebewesen einschloss.

Ashokas Ideal hat weitergewirkt in der Staatsräson thera-vada-buddhistischer Länder. So loben ceylonesische Chroni-ken die dortigen buddhistischen Könige nicht nur für ihremilitärischen Taten, sondern ausdrücklich für ihr ökologi-sches und soziales Engagement.27

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25 Edikt 7 lautet: »So habe ich zum Beispiel durch Gesetzgebung an-geordnet, dass einige Arten von Tieren nicht getötet werden dürfen.Aber die Menschen haben ihre Hingabe an den Dharma sogar noch ver-stärkt, indem sie überzeugt sind, dass überhaupt keine Lebewesen ver-letzt oder getötet werden dürfen.«26 D. R. Bhandarkar, Ashoka, Calcutta 1925, 220 f.27 Sirimeghavanna (362–409) baute Teiche, die immer Wasser enthiel-ten, aus Barmherzigkeit für alle Lebewesen. (Culavamsa 37,98); Mahin-da II (772–792) unterstützte (heimlich) die Armen, die sich schämtenbetteln zu gehen, und es gab auf der Insel niemanden, der nicht vonihm unterstützt wurde, außerdem habe er für das Vieh Vorsorge getra-gen. (Culavamsa 48, 146–147); Mahinda IV (956–972) errichtete einAlmosenhaus und gab den Bettlern Nahrung und Obdach, in den Kran-kenhäusern verteilte er Medizin und Betten. Außerdem versorgte erregelmäßig die Kriminellen im Gefängnis. Für Affen, Wildschweine,Gazellen und Hunde hatte er Mitgefühl und verteilte Reis und Kuchenan sie. (Culavamsa 54, 30–33)

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Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang der Maitreya-Mythos, die eschatologische Hoffnung auf einen kommendenBuddha, der von der (heute ausgestorbenen) Schule der Sar-vastivadins entwickelt und mit dem Bodhisattva-Ideal ver-bunden wurde, das auch im Theravada existiert. Im Therava-da wird der Bodhisattva als werdender Buddha verstanden,der zwar Barmherzigkeit übt, seine daraus resultierendenVerdienste aber nicht, wie im Mahayana, auf andere übertra-gen kann. Bereits in Ceylon wurde die Vorstellung vom ge-rechten, guten, heilsspendenden kommenden Buddha, ebenMaitreya, mit der Königsideologie verbunden und auf die je-weiligen Herrscher übertragen, die dann als möglicher kom-mender Buddha verehrt wurden. Unter ihrer gerechten Herr-schaft befinden sich Natur und Mensch in Harmonie.28

Ein gutesBeispiel für dieVerknüpfung vonPolitik und öko-logisch stabiler Natur im südostasiatischen Buddhismus bis indie neuere Geschichte ist auch die Krönungszeremonie (abhi-sheka) des Königs Mindon (1853–1878) von Birma (heuteMyanmar). Dort wird dem König zeremoniell mitgeteilt:

»Solltest du den Eid brechen, den du in der Krönungszeremonie ge-schworen hast, wird die Welt in Jammer verfaulen, das Land wirdverdunkelt und staubig … Unruhe und Diebstahl wird das Landüberziehen …«29

Das alte Birma kannte kein Privateigentum des Landes, son-dern ein Pachtsystem, das königlicher Aufsicht unterstand.Der König verlangte Steuern, die halbjährlich verteilt wur-

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28 Die Schilderungen ähneln eschatologisch-paradiesischen Zuständen,wie wir sie aus semitischen Quellen kennen. So heißt es beispielsweisein Berichten über die Könige aus Ceylon, Kampuchea und Thailand(nach dem 14. Jahrhundert, in der Sukhotai und Ayutthya-Periode): sieließen Tiere (Elefanten) frei, sie ließen Kriegsgefangene (Sklaven) freiund galten als Garanten der Harmonie von Mensch und Natur (vgl.auch Mahavamsa 21, 29 f.).29 Der birmesische Text wird zitiert von Sarkisyanz, Buddhist Back-grounds of the Burmese Revolution, a. a.O., 50.

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den, wer bei schlechter Ernte nicht steuerfähig war, wurdevon den Abgaben befreit. Es gab keine Finanzwirtschaft, undso konnte kein Kapital angehäuft werden, das zur Zerstörungdes Gleichgewichts in der Gesellschaft sowie zwischen Naturund Gesellschaft geführt hätte. Wirtschaftliche Wohlfahrtund Zufriedenheit für alle war das erklärte Ziel des Staates.30Das aber wiederum nicht als Selbstzweck, sondern damit derSamgha mit Almosen unterstützt werden konnte und jeder-mann Zeit hätte, sich religiösen Zielen zu widmen. (Es istnicht verwunderlich, daß der Ökonom E. F. Schumacher zuseinem Buch »Small is beautiful« von diesem birmesischenwirtschaftlich-politischen Gemeinwesen angeregt wurde.)Die Briten hingegen zählten zu den Errungenschaften ihrerKolonialherrschaft, dass wirtschaftlicher Wettbewerbsgeistsich langsam durchzusetzen begann, indem die Kolonial-macht die Steuerlast derart drastisch erhöhte, dass die Bauernzusätzliches Land, das zur Ernährung bisher nicht benötigtworden war, im Raubbau bebauen mussten. Howard Malcomurteilt stolz: »Privateigentum ist jetzt heilig.« Zuvor galt, wiegesagt, der Boden als heilig, nicht veräußerbar und mensch-lichem Gewinnstreben entzogen. Das traditionelle buddhisti-sche Ethos in Birma überlebte bis ins 19. und 20. Jahrhundertund stieß mit den an Gewinnmaximierung orientierten Idea-len der British East India Company in krasser Konfrontationzusammen.31

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30 Vgl. ebd., 56 f.31 So schreibt der britische Kolonial-Beamte H. Fielding-Hall 1906 überden birmesischen Buddhismus (ebd.): »Eine großartige Religion, vollvon erhabenen Gedanken … Sie gibt den Gefallenen und SchwachenTrost, eine sichere Zuflucht für die am Leben Zerbrochenen. Sie schütztdie Buchten, wo die vom Sturm geschüttelten Seelen ausruhen können.Es ist das Evangelium der Kranken, Verwundeten, Sterbenden … Aber… Die erste und größte Wahrheit ist, diese schöne Welt, die uns Gottgegeben hat, auszunutzen. Die größte Sünde ist es, unnütz zu sein … Esist unsere Pflicht, die Feigen, die Untüchtigen, die Schwachen, die nichts(mit der Welt anzufangen wissen) hinwegzufegen und sie durch Starke

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Aus birmesischer Sicht vertraten die Engländer ein Natur-recht des Stärkeren gegen alle Kreatur. So ließ die Kolonial-macht in Mandalay streunende Hunde zu Tausenden vergif-ten und Wälder für Reispflanzungen abholzen, wodurch dieBirmesen ärmer wurden – zwischen 1870 und 1930 fielen dieReallöhne um 20%. Die Geschichte Birmas liefert also Bei-spiele für eine buddhistische Sozialethik, die die Natur, zu-mindest die belebte, einschließt und die durchaus wirtschafts-praktikabel und politisch wirksam war.

Wie wir sahen, zeichnet das Ideal der Barmherzigkeit ge-genüber allen Lebewesen schon den frühen Buddhismus aus(z.B. Verbot des Wanderns während der Regenzeit, damitkeine Insekten zertreten werden (Vinaya 1, 137 und Maha-vagga 3, 1–2)). Man kann von einer umfassenden Ehrfurchtvor dem Leben sprechen. Pflanzen gelten zwar im indischenBuddhismus nicht als Lebewesen (was sich in China unterdaoistischem Einfluss ändern sollte), aber als Basis der Nah-rung und Lebensraum von Tieren und Geistern sind sie eben-falls geschützt.

Mahayana – die Lehre von der LeerheitDie im frühen Buddhismus angelegte Idee der Barmherzig-keit des Bodhisattva wurde im Großen Fahrzeug (Mahayana)weitergeführt, wobei die Grundhaltung des Altruismus in-tensiviert wird.

Der Mahayana-Buddhismus war vor allem auch (aber

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und Nützliche zu ersetzen. Der Burmese hat zu viel Glauben. Er ist vielzu viel gehegt und gepflegt worden, und man hat ihm zu viel gepredigt.Er muß aufstehen und kämpfen. Er darf vor den Schlägen derWelt nichtzusammensinken und sich verstecken, sondern muß herauskommen zurKonfrontation. Er muß seine windelweichen Bande des Glaubens ab-schütteln und den natürlichen Krieger darunter entdecken. Er muß eslernen, roh und grausam zu sein, wenn notwendig zu zerstören,Schmerz zu verursachen und sich rücksichtslos durchzusetzen. Er mußlernen, mannhaft zu sein … Das würde ihre Augen zu einer neuen Le-benssicht öffnen. Aber ihr Glaube steht ihnen dabei im Wege …«

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nicht nur) eine Laienbewegung, die das rituelle und kultischeElement betonte, während das Mönchtum vor allem aus demEinhalten der Mönchsregel seine Identität gewann. Unterbeiden Gesichtspunkten lässt sich historisch belegen, dassdas grundlegend partnerschaftliche Verhältnis zur naturhaf-ten Mitwelt praktisch und gegenüber herkömmlichen Ver-haltensweisen neu geordnet wird, wenn ein entsprechendesInteresse besteht und dasselbe plausibel kommuniziert wer-den kann: Den Laien oblag das »delegierte Töten« von Tieren,denn am Anfang waren die indischen Buddhisten keineswegsVegetarier (erst im China des 6. und 7. Jahrhunderts setztesich der Vegetarismus durch). Die Vorstellung von der Ge-meinschaft aller Lebewesen hat das reale Verhalten ganzerGesellschaften umgeformt und geprägt.

Im Folgenden seien nur einige Mahayana-Entwicklungenbeschrieben, die das altruistische Handeln in und für die Weltin einem nochmals anderen Licht beleuchten.

a) Tathagatagarbha»Garbha« bedeutet Schoß, und »tathagata« ist ein Titel desBuddha, wörtlich der So-Gekommene, der in die WahrheitEingegangene und aus ihr Hervorgehende. Es geht um dieErkenntnis, dass alle Lebewesen das Potential der Buddha-schaft in sich tragen, auch Tiere und Geister, dass letztlich alleschon Buddhas sind, es aber noch nicht wissen. Auch dieseVorstellung wird wohl soziologisch mit dem erstarkendenSelbstbewusstsein der Laien zusammenhängen. Diese Lehrewurde später in China aufgegriffen und radikalisiert: Dassz.B. auch ein Hund die Buddha-Natur habe, war neu und eineProvokation, geht es doch hier nicht nur um die biologischeVerwandtschaft aller Wesen, sondern um eine Heilsgemein-schaft von Mensch und Tier. Dies hat sich auf den Tierschutzausgewirkt, während die Pflanzen als Lebensraum der Tierenur mittelbar betroffen waren. Allerdings geht es hier nichtum Schutz und Pflege des individuellen Tieres, denn das Tier

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(wie auch der Mensch) ist als Gefäß oder Körper für dieBuddha-Natur mit Ehrfurcht zu behandeln, nicht um seinesspezifischen Tierseins willen.

b) Identität von samsara und nirvanaEs war der Philosoph Nagarjuna (2. Jahrhundert n.Chr.), derdie Identität von samsara (leidvoller Lebenskreislauf) undnirvana (Befreiung) nicht nur aus logischen Gründen, son-dern aufgrund meditativer Erfahrung zum Prinzip seinesDenkens machte. Was bedeutet das? Nirvana kann nicht einBereich neben einem anderen sein, denn dann wäre das nir-vana begrenzt bzw. bedingt. Außerdem erscheint in der Me-ditationserfahrung keine andere, phantasierte Welt, sonderneben diese eineWelt in anderem »Licht«, in ihrer Einheit. DieLeerheit der Wirklichkeit, shunyata, bedeutet, dass die Dingenicht für sich selbst existieren, sondern alles mit allem nichtnur in Zusammenhang steht, sondern die Existenz aus demanderen hat. Geist und Natur, Mensch und die ihn umgeben-de Wirklichkeit, das Absolute und das Relative existieren alsdas, was sie sind, in wechselseitiger Abhängigkeit.

c) Das Reine LandZu erwähnen ist auch die Tradition vom Buddhismus des Rei-nen Landes, die sich in Indien entwickelte und eintausendJahre später in Ostasien als die mächtigste und wichtigsteStrömung des Buddhismus überhaupt etablieren konnte.Sukhavati, das Glücks-Land Buddha Amitabhas, ist ein Ort,zu dem alle gelangen, die Amitabha (in Japan: Amida) gläubiganrufen und um Beistand bitten. Beim »Reinen Land« han-delt es sich nicht um das nirvana, sondern um eine spirituelleSphäre, die noch unter dem Gesetz des Kreislaufs der Gebur-ten (samsara) steht, aber mit idealen Bedingungen für dasErlangen der Buddhaschaft. Es ist ein Paradies, wo es keineAblenkungen von der Meditation gibt, keine Versuchungenan Sinnesdingen anzuhaften.

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Wie sieht nun die Natur in diesem Reinen Land aus? Esgibt weder Hügel und Berge noch Sonne, Mond und Sterne,auch keine organische Umwelt, alles besteht aus Edelsteinenund Kristallen, wie es der Sukhavativyuha beschreibt. Es istein Ort ohne Leid, also folgerichtig auch ohne Natur. DennNatur bedeutet Vergänglichkeit und damit Leid. Die konkre-ten Vorstellungen entsprechen der indischen, klimatisch be-dingten Naturerfahrung, und in China und Japan, wo ein an-deres, angenehmeres und gemäßigtes Klima herrscht, siehtdas Reine Land anders aus und trägt eher die Züge eines Gar-tens, wie sich in der ostasiatischen Gartenkultur zeigt. Andiesem Wechsel des Bildes von der Natur zeigt sich, daß diekonkreten Lebensbedingungen normative Erzählungen ver-ändern und die Motivation zu gesellschaftlich-kulturellenUmbrüchen plausiblisieren können.

3.2 Mahatma Gandhi

Mohandas Karamchand Gandhi (1869–1948)32 gilt nicht nurals der führende Kopf der indischen Unabhängigkeitsbewe-gung und »Vater« (bapu) des indischen Staates, sondern alsVordenker der politischen Strategie der Gewaltfreiheit(ahimsa), die in einem systemischen Verständnis der Wirk-lichkeit ihre Wurzel hat. Dieses Prinzip nannte er »Ergreifender Wahrheit« (satyagraha), weil es nicht nur einem mora-lischen Imperativ entspringt, sondern einer rationalen wieemotionalen Einsicht in die Wirklichkeit. Man kann GandhisStrategie als ökologisch-soziales Systemhandeln bezeichnen,bei dem Kooperation über Konkurrenz herrscht, so dass beider Lösung von Konflikten grundsätzlich win-win-Situatio-

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32 Zum Folgenden: M. Chatterjee, Gewaltfrei widerstehen. Gandhis re-ligiöses Denken – Seine Bedeutung für unsere Zeit. Übers. v. Regina undMichael von Brück, Gütersloh 1994, bes. 130–146.

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nen entstehen. Alle andern Lösungen hält Gandhi für un-tauglich, weil sie Konflikte nur temporär zudecken und oftnoch massiver wieder aufbrechen lassen. Gandhi ist kein ro-mantischer Träumer eines »Zurück zur Natur«, sondern eindurch und durch rationaler Denker, der die Potentiale der in-dischen Religionen (Hinduismus, Jainismus, Buddhismus)geschickt so verschmilzt, dass sie als Faktoren der Motivationzu politischen und ökonomischen Strategien werden, die diezerstörerischen Kräfte der modernen Industriegesellschaftenzumindest eindämmen. Die Stärkung einer dezentralisiertenProduktionsweise auf dem Dorf ist keine naive Simplifizie-rung komplexer ökonomischer Zusammenhänge, sondernder Versuch, Grundlagen für eine Demokratie zu schaffen,die nur bestehen kann, wenn sie auf wirtschaftlich dezentra-lisierter Macht und Eigenverantwortung des Individuumsberuht. Sein Werben für eine vegetarische Lebensweise be-gründet er mit der ökonomischen Erwägung, dass die not-wendige Kalorienmenge aus vegetarischer Lebensweise mitwesentlich geringerem Verbrauch von natürlichen Ressour-cen erzeugt werden kann als durch Tierhaltung, dass alsonur eine vegetarische Lebensweise dem demographischenDruck gerecht werden kann. Er baut auf der Wert- und nichtnur Marktorientierung des wirtschaftlichen Handelns auf,wie sie John Ruskin in England entwickelt und Tolstoi inRussland sowie R. W. Emerson und H. D. Thoreau in Neu-England (USA) vorangetrieben hatten, und war bei seinen»Experimenten mit der Wahrheit« interkulturell vernetzt.Ruskin und Gandhi gehen von einer »Metaphysik der Exis-tenz« aus, die Anorganisches und Organisches, das Indivi-duelle und die Gesellschaft umfasst. Diese Dimensionenmüssen aufeinander abgestimmt sein, sonst bricht die Gesell-schaft auseinander. Die moderne politische Ökonomie, diesich allein auf Profitmaximierung gründet, kann dies nur er-folgreich tun, wenn sie durch den wirtschaftlich-militaristi-schen Komplex der Rüstung und des Exports von Rüstungs-

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gütern am Laufen gehalten wird, und dies führt zwangsläufigzu imperialistischen Handelspraktiken und politischen Kon-flikten, die auf Grund der modernen Technologie flächen-deckend destruktiv ausgetragen werden. Gewalt kann deshalbkein Mittel der Politik sein, und sie ist auch im Wirtschafts-handeln rational nicht vertretbar, weil sie die Ressourcen soschädigt, dass der menschlichen Tätigkeit des Wirtschaftensselbst der Boden entzogen wird. Wo Gier die Natur zerstört,handeln die Menschen gegen ihre eigenen Interessen, abge-sehen davon, dass sie ihre Identität untergraben, weil keineder Religionen, die heute den Ton angeben, ein solches Han-deln rechtfertigt. Der Mensch befindet sich also im prinzi-piellen Dauerkonflikt zwischen den Werten, auf die er sichberuft, und seinem realen Handeln, was zur Zerstörung vonNatur, Geist und Kultur führt. Das Schicksal des Individuumsund das »Training des Geistes«, so schreibt er in seiner Auto-biographie, sind der Ausgangspunkt für ein integriertes Han-deln, das sich dann in konzentrischen Kreisen in die nächsteweitere Ebene ausbreitet – die Dorfgemeinschaft, die Stadt,den Distrikt, das Land, die Welt. Das bedeutet, dass derMensch Empathie und Sympathie kultivieren muss, um derTendenz zur Gier entgegenzuwirken, die zerstörerisch ist.Die Entwicklung von Sympathie verbindet er interessanter-weise mit der Kultivierung von Imagination. Kognitive undemotionale Entwicklung werden mit dem Ästhetischen ver-knüpft, damit eine neue Fähigkeit zur sozialen Verantwor-tung in einem wahrhaftigen Gemeinschaftsleben entstehenkann. Gandhi experimentiert in seinen Ashram-Gründungen(vom Phoenix-Settlement und der Tolstoi-Farm in Südafrikabis zum Satyagraha Ashram bei Ahmedabad in Indien), umAlternativen zu einer ausschließlich erwerbsorientierten Ge-sellschaft zu finden. Diese Ashram-Experimente versteht erals Bildungsorte für künftige Eliten. Der systemische Ansatzführt dazu, dass er erkennt, wie Vereinfachung des Alltags-lebens, Speisegewohnheiten, Abfallbeseitigung, frühe Kin-

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dererziehung, Spracherwerb und politischer gewaltfreierKampf miteinander zusammenhängen. Frauen gebührt dabeieine ebenso aktive öffentliche politische Rolle wie Männern(wenngleich Gandhi den Gedanken der Gleichberechtigungim Sinne der geschlechtlich-psychologisch-sozialen Selbst-bestimmung von Frauen nicht denken und umsetzen konn-te). Konstruktives Handeln, auf welchem Feld auch immer,muss sich auf innere Verwirklichung einer spirituellen Reifeund äußere Transformation der Besitz- und Nutzungsver-hältnisse von Gütern gleichzeitig gründen, sonst kann esnicht konstruktiv sein. Der Begriff der Solidarität bezieht sichauf die ganze Welt, wobei er, wie gesagt, die Verantwortungals Selbsthingabe der kleineren an die umfassendere Ebenevon Vergemeinschaftung, also vom Individuum über die Fa-milie bis zum Staat und der Weltgemeinschaft im Sinne desSubsidiaritäts-Prinzips interpretiert. Er denkt die Beziehun-gen in Gesellschaft und Politik nicht hierarchisch, sondern inkonzentrischen Kreisen und Wechselwirkungen. Allein diesmacht ihn zu einem zeitgenössischen Denker.

Indien hat sich zwar während der Jahrzehnte, die der Un-abhängigkeit 1948 folgten, einer stark zentralisierten Indus-trialisierung verschrieben, die das ökologische Gleichgewichtbesonders in den Städten zerstört hat, damit ist aber GandhisImpuls keineswegs hinfällig geworden, und er ist in Indienauch nie völlig verstummt. Gandhi im heutigen Horizontneu zu lesen, könnte Wege zur notwendigen Transformationaufzeigen.

3.3 Das chinesische Modell der »Harmonie«

China unterscheidet sich von den bisher genannten Kulturen.Diese aufstrebende Weltmacht an europäischen (oder auchindischen) Kulturstandards zu messen wäre ein grober Feh-ler, sowohl was die Analyse der Gesellschaftsdynamik betrifft

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als auch hinsichtlich der Möglichkeiten zukünftiger Entwick-lungen. Auch in China ist ein fast ungebremstes materialisti-sches Konsumverhalten zur treibenden Kraft der gesell-schaftlichen Dynamik geworden, aber nicht zur einzigen.Man kann die Potentiale dieser Kultur wohl am ehesten er-fassen, wenn man einen Rahmen identifiziert für die sehrunterschiedlichen Konflikte und die Methode, mit denen die-selben gelöst werden sollen, nämlich das Streben nach »Har-monie«. Es ist, bildlich gesprochen, die Harmonie von »Him-mel und Erde«. Nur in diesem Rahmen lässt sich einer dermarkantesten Konflikte sinnvoll analysieren, der chinesischeKulturen in Geschichte und Gegenwart immer betrifft: derKonflikt zwischen Individuum und Gruppe. Es wäre viel zukurz gegriffen, das konfuzianische System der (fast) bedin-gungslosen Eingliederung des individuellen Interesses in daskollektive System nur als Zwangsreglement zu interpretie-ren. Es beruht vielmer auf einem über Jahrtausende gewach-senen Lebensgefühl der universalen Harmonik: Wie im Him-mel so auf Erden! So liefern die (in China gesellschaftlichaußerordentlich wichtige) Literatur und Literatur-TheorienAbbilder harmonischer Beziehungen, die ungeachtet der Dif-ferenzen von konfuzianischen, buddhistischen bis hin zumaoistischen Deutungen das gesamte chinesische Empfindender Stellung des Menschen im Kosmos und in der Gesell-schaft nachhaltig prägen, sie sind Kulturstandards. Ein Bei-spiel: Der goldene Vogel und der Hase im Mond sind nichtnur literarisch-fiktive Bilder, sondern Symbole der Identifi-zierung, wie man z.B. an der einflussreichen Koan-Samm-lung Biyan Lu (Bi-Yän-Lu) sehen kann (12. Beispiel): In derSonne erkennt man in China einen goldenen Vogel, der auf-steigt, am Himmel entlangzieht und wieder absteigt, so wieHelios, der Sonnengott der Griechen, oder Surya, der Son-nengott im vedischen Pantheon der Inder, im Wagen amHimmel entlangfahren. Am südlichen Nachthimmel er-scheint der Mond in China (wie übrigens auch in Indien)

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wie eine Kugel, die in sich das Bild eines Hasen trägt. Wenndie Sonne aufgeht, verschwindet der Mond, und wenn dieSonne sich senkt, geht der Mond auf. Die Rhythmen der Na-tur erzeugen komplementäre Konstellationen, aus denen sicheine angemessene Wahrnehmung der gültigen Gesellschafts-Ordnungen von selbst ergibt. Daraus erwächst das Vertrau-en, dass das Leben sich ebenso gestaltet, wie Sonne undMondihre Bahnen ziehen, auch wenn sie unserem Blick zeitweiseentzogen sind. Die gesamte chinesische Kultur ist davon in-spiriert zu zeigen, dass und wie sich diese Harmonik desHimmelsgewölbes im Leben der Menschen und der Gesell-schaft widerspiegeln soll. Wenn sich einzelne Menschen oderganze Gesellschaften gegen die Gesetze der Natur und gegendiese Harmonik durchzusetzen versuchen mit Macht, Gewaltund Gier, wird alles zerstört. Individuum und Gruppeninte-resse in Einklang zu bringen, ist in der chinesischen KulturZeichen gelingender Herrschaft, wie das daoistische Daode-jing eindrücklich darlegt. Und es wird nicht als ein Zwangs-system empfunden, sondern als die notwendige Folge vonEinsicht und Erfahrung. Der Vorrang des Gemeinwohls istein so stark verinnerlichter Grundzug der chinesischen Le-benswirklichkeit, dass es sich kaum ein Mensch leisten kann,aus diesem Verbund von Regeln und Zwängen einerseits undsolidarischem Verhalten andererseits auszubrechen.

Auch der chinesische Buddhismus ist von solchen Kultur-standards und vor allem von der daoistischen Naturmystikgeprägt. Schon in der ersten Periode der Übersetzungen, alsovon der Mitte des 1. Jahrhunderts n.Chr. bis zum Jahre 402,der Ankunft des Gelehrten Kumarajiva in der HauptstadtChang-an, wurde die Angleichung buddhistischer Ideale anden Daoismus bewusst gesucht. Natur wird hier nicht alswilder Dschungel, sondern, dem Harmonieideal der chinesi-schen Kultur entsprechend, als lieblicher Garten wahrge-nommen. Das Land sukhavati, ein Garten mit Tieren, Pflan-zen und angelegten Teichen, ist gestaltete Natur, wie wir den

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Pinselzeichnungen der Song-Zeit im 10. und 11. Jahrhundertentnehmen können. Aber schon vorher war es zu einer Neu-bewertung der Natur im ostasiatischen Buddhismus gekom-men, wo nun auch die Pflanzen als Lebewesen galten, und dasgeht auf zwei Schulbildungen zurück: In der Tiantai-Schule(der ersten eigenständigen Schule des chinesischen Buddhis-mus) wird die universale Buddha-Natur für alle Wirklich-keitsbereiche, nicht nur für die Lebewesen, gelehrt. Damitist die prinzipielle Differenz von belebten und unbelebtenWesen verschwunden, und man kann sagen, dass dies eineRadikalisierung der indischen tathagatagarbha-Tradition be-deutet, wie wir sie oben dargestellt hatten. In der Mitte des8. Jahrhunderts wurde diese Anschauung von der Ochsen-kopf-Schule des Ch’an (Zen) übernommen und dann wohlin der Nordschule des Ch’an vertreten.

Die kosmologische Begründung aber lieferte die Hua-Yen-Schule, die auf das indische Avatamsaka-Sutra zurückgehtund den Kosmotheismus dieses Sutra sowie des Lotos-Sutraphilosophisch-systematisch ausarbeitet: Alles ist in allementhalten, ja alles ist letztlich alles, weil die Wirklichkeitnicht ein Zusammenspiel von Substanzen ist (wie schon dieshunyata-Lehre der Prajnaparamita-Sutras erkannt hatte),sondern ein Wechselverhältnis von Beziehungen. In dem be-rühmten Avatamsaka-Sutra wird dieses Motiv in immerneuen Symbolen und Parabeln erläutert, zum Beispiel in derGeschichte vom Netz Indras, das sich aus Perlen zusammen-setzt, wo jede einzelne Perle alle anderen spiegelt: Die Perlenals Erscheinungen der Wirklichkeit, die jeweils Widerspiege-lungen aller anderen Wirklichkeiten sind. Darauf aufbauendmachte der berühmte chinesische Philosoph Fazang (643–712) ein Experiment: Er wurde von der Kaiserin Wu Zetiangebeten, das Wesen des Wirklichkeitsverständnisses imBuddhismus darzulegen. Der Mönch führte die Kaiserin ineinen Raum, dessen Wände, Fußboden und Decke völlig mitSpiegeln bedeckt waren. In die Mitte des Raumes stellte der

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Meister eine Buddha-Figur, die er mit einer Lampe beleuch-tete. In den Spiegeln erschien das Bild der Buddha-Statue,und jedes Spiegelbild spiegelte alle anderen wider, in unend-licher gegenseitiger Spiegelung und Durchdringung. Sofortbegriff die Kaiserin die Lehre von der Totalität und gegen-seitigen Durchdringung aller Dinge im Mahayana-Buddhis-mus. Mehr noch, Fazang nahm eine winzige Kristallkugel indie Hand, und die Kaiserin sah, dass die kleine Kugel all dieunendlichen Spiegelbilder enthalten konnte.

Dies hatte Folgen für die gesamtkulturelle Entwicklung inChina: Im Synkretismus der Song-Zeit (960–1279), in dervom Buddhismus beeinflussten neo-konfuzianischen Phi-losophie, gibt es eine deutliche Hinwendung zur Natur: Sosoll sich der Philosoph Zhou Dunyi (1017–1073) geweigerthaben, das Gras zu schneiden, weil er sich allem Lebendigenverwandt fühlte. Typisch ist auch der Dichter Su Tung-Po,der die Erleuchtung während eines Nachtspaziergangs inden Bergen erfuhr, als er das Rauschen des Flusses hörte.33

In der chinesischenModerne sind diese Traditionen gewal-tigen Erschütterungen ausgesetzt gewesen, zunächst durchdie ganz unterschiedlichen Revolutionen und Reform-Bewe-gungen im 19. Jahrhundert, die das Ende der Kaiserzeit unddie Begegnung mit dem Westen eingeläutet haben, dann be-sonders durch den Kommunismus und die maoistische Poli-tik der Kulturrevolution und späteren ökonomischen Umge-staltung. Doch auch hier sind diese Wurzeln noch erkennbar,und so ist der Maoismus nicht zu Unrecht als eine Variantekonfuzianischer Ideologie und Verknüpfung mit modernerpolitischer totalitärer Doktrin interpretiert worden. Großpro-jekte lassen sich diktatorisch effizienter umsetzen, so die

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33 Die Erleuchtungsstrophe, mit der er vor seinen Ch’an (Zen)-Meistertrat, lautet: »Das Rauschen der Bäche im Tal ist seine lange, breite Zun-ge; / Die Formen der Berge sind sein reiner Leib. / In der Nacht hörte ichdas Summen von Myriaden von Sutra-Versen, / Wie kann ich anderenihre Bedeutung sagen?«

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Ausrottung krankheitsübertragender Fliegen in den 50er Jah-ren, die desaströse Kollektivierung der Landwirtschaft unterMao oder die ökonomische Revolution unter Deng. Ob auchdas von der gegenwärtigen Regierung ausgerufene ökologi-sche Großprojekt dazu zählt?

Um die teils gewalttätigen Auseinandersetzungen um dieAdaption chinesischer Kultur an die westliche Moderne im19./20. Jahrhundert zu verstehen, müssen wir etwas weiterausholen. Es geht hier nicht nur um intellektuelle Rechtfer-tigungs- und Anpassungsprozesse, sondern um einen kapi-tialistisch-individualistischen Lebensstil der Konkurrenzund Gewinnmaximierung gegenüber dem chinesischen Le-bensstil der Harmonie und des Ausgleichs, wobei es bezeich-nend ist, dass es im klassischen China verpönt war, dassWohlhabende ihren Besitz öffentlich zeigen, d.h. Reichtumsolle nicht dem Prestigebedürfnis dienen. Diese Auseinander-setzungen führten zu mehreren politischen Umstürzen, zuChaos und kreativen Neuanfängen, zu entsetzlichen Hun-gersnöten einerseits und wirtschaftlichem Aufschwung an-dererseits, so dass sie uns im Kontext der Suche nach einemnachhaltigen Lebensstil interessieren sollten.

Während der Qing-Dynastie (1644–1911) verfiel die feu-dalistisch organisierte Naturalwirtschaft, gleichzeitig ent-wickelten sich Zentren der Industrie. Die europäischenMächte öffneten seit Mitte des 19. Jahrhunderts gewaltsamdie Märkte Chinas (Opium-Kriege). Um die Reparationenzahlen und den Staat refinanzieren zu können, wurde dieSteuerlast dramatisch erhöht, was zu Aufständen und öko-nomischen Verwerfungen führte, auch wurde die lokaleWirtschaft durch Export-Dumping der europäischen Mächtegeschwächt. Besonders die Taiping-Revolte (1851–1864)führte zu einem Zusammenbruch der traditionellen Struktu-ren, so dass der Ruf nach einer vollständigen Übernahmewestlicher Lebensmodelle (Wirtschaft, Kultur und Politik)seit den 1860er Jahren laut wurde. Die Verwestlichungs-Be-

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wegung (Yangwu Yundong) wurde von der kaiserlichen Ad-ministration inszeniert, um nach innen die Herrschaft zustärken und nach außen die von europäischen Mächten undJapan (Krieg von 1894/95) ausgehenden Aggressionen ab-zuwehren (Aufbau von Schwerindustrie, modernem Militärund Verwaltungssystem). Damit war das Motiv nicht unähn-lich der Meiji-Reform in Japan (ab 1868). Das Bildungswesen(Schulen und Universitäten) und Medien wurden nach west-lichem Vorbild gestaltet. Auch die Hundert-Tage-Reform inChina (1898) hinterließ trotz ihres Scheiterns nachhaltigeWirkungen. So änderten sich die an der Großfamilie orien-tierten sozialen Verhältnisse zu kleineren Einheiten der indi-vidualistisch-kapitalistischen und urbanen Struktur. Wäh-rend die Bauernrevolten Reformen bei der Landverteilungforderten, war die westliche Industrialisierung von den Elitengetragen und verschärfte das Gerechtigkeits-Problem. Chinaging nicht den Weg einer gleichgewichtigen Modernisierung.Die (konservative) Hundert-Tage-Reform von 1898 versuch-te im Rahmen der monarchischen Struktur eine westlicheVerwaltung aufzubauen, was misslang und schließlich 1911zum Sturz des Kaisers und zur Errichtung der Republik führ-te. Die Reform von 1898 schaffte 1905 das kaiserliche Prü-fungssystem ab, das über 1300 Jahre bestanden hatte; damitwar der kulturelle Bruch und Umbruch unvermeidlich undeine neue Werteordnung vorprogrammiert. In erbittertenDebatten war darum gefochten worden, ob China reif sei fürdie Staatsform der Republik, oder ob nicht zuvor eine Schu-lung der Bürger notwendig sei. Bereits in der Hundert-Tage-Reform war von dem einflussreichen Philosophen und Refor-mer Kang Youwei eine »Aufklärung zu bürgerlicher Moral,Intelligenz und Motivationskraft« gefordert worden, die sichdann in verschiedenen Strömungen der Neu-Kulturbewe-gung (Xinwenhua Yundong) um Hu Shi (1891–1962), demberühmten Historiker des chinesischen Buddhismus, der inder Vierte-Mai-Bewegung (1919–1924) eine führende Rolle

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gespielt hat, Chen Duxiu und anderen Bahn brechen konnte.Hier wurde zugunsten des westlichen Rationalitätsmodellseine totale Abkehr von chinesischen Traditionen gefordert.Es kam zu massiven Gegenbewegungen. Vor allem Gu Hong-ming (1857–1928) wandte sich gegen westliche Wissen-schaft, Technologie und Ökonomie, weil deren Nützlichkeits-denken Not und Elend der Menschheit zur Folge habenwürde. Tang Hualong (1874–1918)34 schrieb 1914 in einer»Bittschrift an den Präsidenten hinsichtlich des Bildungssys-tems« (Shang Dazongtong Yan Jiaoyu Shu):

»Jedes Land hat seine eigenen kulturellen Wurzeln … diese habendie tiefste Beziehung zumGeist eines Volkes. Das Ziel des Dao ist es,die Wahrheit über die Welt zu entdecken und zur vollen Entfaltungzu bringen, um dem Geist der Völker einen Rahmen zu geben. Dassoll die Bildung des Menschen sein.«

Und er fährt fort: Die Neu-Kulturbewegung zerstöre Chinaund führe zum Verfall der fundamentalen menschlichen Be-ziehungen, wie sie durch Loyalität, Pietät, moralischerStandhaftigkeit und Treue gekennzeichnet seien. Man müsseden Konfuzianismus stärken und dem Konzept von Wechsel-wirkungen aller Erscheinungen in Natur und Gesellschaft(ganying) wieder zur Geltung verhelfen, statt einseitige hie-rarchische Modelle und den ungebremsten Individualismuszu propagieren. Dies schließe das buddhistische Konzept derNatur (xing) und das konfuzianische Prinzip des Prinzips (li)ein. Der Reformer Yinguang (1862–1940) hingegen glaubtenicht an die Wirksamkeit des konfuzianischen Ideals, durchBildung und Moral die Gesellschaft zu harmonisieren. Ersetzte vielmehr auf das buddhistische Karma-Prinzip, wo-nach die Menschen erkennen müssten, dass jede ihrer Hand-

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34 Die Daten und Texte finden sich bei: Minna Xi, Ist eine konfuzianis-tische Moderne mit einer unsichtbaren Massen-Aufklärung durch»Buddhanamenrezitation« möglich?, Diss. Universität München 2018,28 ff.

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lungen auf sie selbst zurückfalle, denn der reziproken Kausa-lität zufolge nütze altruistisch-moralisches Handeln – inlangfristiger Perspektive – dem Eigeninteresse. Er optiertefür einen ent-institutionalisierten und doch an die Traditio-nen gebundenen Buddhismus für die Volksmassen, mit deut-licher Kritik an den »elitären Religionen« der Konfuzianerund des etablierten Buddhismus. Die Demokratie müssevom Selbstbewusstsein des Individuums ausgehen, das nurdurch die Übernahme von Eigenverantwortung entstehenund gestärkt werden könne.

Die kulturell-politischen Modelle Mao Zedongs (1893–1976) und seiner Nachfolger sind eine Fortsetzung dieserAuseinandersetzung in neuen Kontexten und mit anderenAkteuren: Es geht tatsächlich nicht nur um Kulturrevolutio-nen, sondern um Umkehr der Lebensstile. Das rasante öko-nomische Wachstum der letzten Jahrzehnte, das für Chinaökonomische Ungleichgewichte zwischen Stadt und Land so-wie ein großes ökologisches Desaster zur Folge hat, wird inChina als Aufholjagd um den Platz an der Sonne gesehen,den dieses Land meint erobern zu müssen – im Jahre 2050will man die Nummer Eins in der Welt sein. Die Rhetorikvon Harmonie, Gerechtigkeit und ökologisch nachhaltigemLeben ist auf dem Hintergrund der chinesischen Kultur undGeschichte anders konnotiert als ähnliche Ideale im Westen;im interkulturellen Disput muss es um die Pragmatik derUmsetzung im heutigen wirtschaftlich-kulturellen Handelngehen.

Auf Japan wollen wir im Einzelnen nicht weiter eingehen,wo die chinesischen Ansätze weiterentwickelt wurden. ImKontext der allgegenwärtigen Shinto-Frömmigkeit wird Na-tur als Kultur erfahren und umgekehrt, was sich zum Bei-spiel in der Gestaltung des japanischen Gartens darstellt, derdurchaus verschieden vom wilderen chinesischen Garten ist.Dass diese Traditionen in Japan ausgestorben seien, wird mannicht sagen können, aber sie sind unter dem Druck der öko-

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nomischen Zwänge, die zur Urbanisierung und einer kon-sumorientierten Massengesellschaft geführt haben, in Be-drängnis geraten. Die großen Reformbewegungen des poli-tisch engagierten Buddhismus in Japan, vor allem SokaGakkai und Rissho Koseikai, versuchen, das klassische Erbedurch ästhetische Erziehung und Praxis neu zu beleben, unddas mit einigem Erfolg.

Allgemein können wir festhalten: Die jeweilige (kulturbe-dingte) Verbindung der buddhistischen Spiritualität mit derDaseinsanalyse erzeugt eine ehrfurchtsvolle Haltung gegen-über der Natur und Mitwelt. Buddhismus ist und bleibt amMenschen orientiert, denn nur von dieser (menschlichen)Stufe aus ist derWeg zum nirvanamöglich. Aber derMenschhat Verantwortung für alle Lebewesen. Das bedeutet:

1. Der Buddhismus kennt die Natur nicht als Selbstzweck,sie ist desakralisiert und Teil des Leidenskreislaufs. Diebuddhistische Haltung ist dabei ambivalent: Das (frühe)monastische Ideal ist eher leibfeindlich, die von Laien mit-getragenen Mahayana-Strömungen hingegen tendierenzu einer ganzheitlichen Spiritualität, bei der die Natureingeschlossen ist.

2. Je nach derwohl klimatisch bedingtenNaturerfahrung (In-dien – China) wird Natur als bedrohend oder heilend erlebtund dementsprechend entweder ausgeblendet oder aber alsMetapher für die letztgültige Harmonie empfunden.

3. Die Ideale von ahimsa (Gewaltfreiheit) und karuna (hei-lende Hinwendung zu allen Wesen) verpflichten denMenschen gegenüber der gesamten Mitwelt.

4. Der Theravada-Buddhismus deutet anatta/anatman(Nicht-Selbst) als Verwandtschaft aller Lebewesen, wassich im Mahayana unter der Erfahrung von shunyata(Leere) noch verstärkt zur vollkommenen Einheitsschauder Wirklichkeit.

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5. Die (allgemein indische) Lehre von den Weltzeitaltern(yuga) macht aber deutlich, dass im Zeitalter des Verfallsdes dharma auch die Harmonie zwischenMensch und Na-tur zerbricht. Dies ist allerdings nicht fatalistisch hin-zunehmen, sondern im bodhisattva-Geist zu verändern.

6. Ob der heutige Buddhismus die Kraft hat, diese Schau sozu formulieren, dass sie die entsprechenden Gesellschaf-ten prägt, ist offen – Naturzerstörung gibt es auch inAsien überall.

3.4 Zusammenfassende Thesen und Applikation

Einige Erfahrungen aus der Religionsgeschichte Indiens undChinas (Hinduismus, Buddhismus, Daoismus und Konfuzia-nismus) sowie auch des Westens könnten für folgende Berei-che des Kulturwandels hilfreich sein:

ErnährungDie indischen Religionskulturen (durch den Buddhismus ver-mittelt auch China) plädieren für vegetarische Ernährung.Die Begründungen sind sowohl religionsspezifisch (die Ein-heit aller Lebewesen im Kreislauf der Wiedergeburten, Be-seeltheit von Tieren) als auch allgemein human-medizinisch(Ausgleich der Energien im Ayurveda) oder harmonikal-öko-logisch (wesentlich geringerer Ressourcenverbrauch [Landund Energie] für die gleiche Kalorienmenge bei vegetarischerKost). Die Kombination der Argumente ist hilfreich, um zu-mindest bewussteren und damit geringeren Fleischkonsumim Sinne der genannten Faktoren zu erzielen. Qualität undhöhere Preise für nicht-vegetarische Nahrung müssen alsAnliegen der Konsumenten wie der Hersteller wahrgenom-men werden.

Qualität lässt sich in lokalen Kreisläufen besser erzielenund kontrollieren. Dezentralisierung und Subsidiarität bei

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der Erzeugung von Nahrungsmitteln kann zum Qualitäts-gewinn beitragen. Die Schönheit des Lebens auch durch re-gionale Differenz bei der Erzeugung von Nahrungsmitteln,das bewusstere Kochen (slow-food-Bewegung) usw. solltenals religiöse Anliegen erkannt und propagiert werden, umMotivation zu erzeugen.

EnergieIn allen alten Religionskulturen sind Wasser, Wind, Feuerund Erde Energien, die göttliche Qualität haben. Der sakraleCharakter der Lebensgrundlagen soll nicht nur verbal be-schworen, sondern in Ritualen eingeübt werden. Rituale prä-gen das Leben nachhaltig. Im Hinduismus z.B. gibt es Litur-gien der Elemente, die als Energien (shakti) ritualisiertwerden. Dadurch entsteht emotionale Bindung, die wieder-um pfleglichen Umgang zur Selbstverständlichkeit macht. Indiesem Sinne ist die franziskanische Spiritualität zu ver-stehen, die Papst Franziskus in seiner Schrift »Laudato si«aufgenommen hat. Die Bedeutung dieses Dokuments stehtaußer Frage, die intellektuelle Klarheit ist beeindruckend.Um Motivation zum Handeln zu verstärken, wäre auch hierdie Ritualisierung hilfreich. Der Text sollte und könnte poe-tisch geformt und bildnerisch so wie musikalisch in Pop wieklassischer Kunst dargestellt werden. Entsprechende Preiseund Preisausschreiben könnten dafür eine schöpferischeDynamik entfalten, analog zu den Filmpreisen von Cannes,Venedig, Berlin usw. Stiftungen und Sponsoren sollten ange-sprochen werden. Auch ein Nobelpreis für ökologische Inno-vation im Energiesektor wäre analog zum Friedensnobelpreis– und als Verstärkung des Alternativen Nobelpreises – denk-bar.

Transport und KommunikationEffiziente Transportsysteme haben kulturellen Wandel ini-tiiert, und kultureller Wandel hat zu neuen verkehrstech-

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nischen Lösungen beigetragen (antiker Kulturaustausch,Seidenstraße, Seefahrt zu Beginn der Neuzeit, Entdeckungs-reisen, moderner Tourismus). Allerdings sind die technologi-schen Möglichkeiten für Verkehr und Kommunikation heutevöllig anders, so dass jeder historische Vergleich ungenügendist. Deutlich ist allerdings, dass veränderte Kommunikationunmittelbare Folgen für eine Veränderung der sozialen Be-ziehungen hat, weil Verkehr den Handel mit Gütern und Ide-en gleichzeitig befördert. Das Andere wird angeeignet, auchwenn aus Identitäts- und Sicherheitsbedürfnissen Grenzengezogen und stereotype Fremdbilder entwickelt werden.Häufig wechseln Perioden des integrativen und dissoziativenAusgleichs einander ab. Die enorme Masse an Kontakten, dieder heutige Mensch hat und haben kann, bedarf eines Aus-gleichs in der Suche nach überschaubaren und verlässlichenKommunikationsnetzen, nach sozialer Beheimatung also.Eine solche ist unerlässlich und darf nicht als rückwärts-gewandte oder gar reaktionäre Nostalgie abgetan werden.

Geistige EntwicklungRessourcen aus den kulturell/religiösen Traditionen zur qua-litativen Ausrichtung ökologisch/ökosophischen Denkensbestehen vor allem in den nicht-dualistischen DenkformenAsiens. Hier geht es wesentlich um eine gleichberechtigteEntwicklung von Kognition und Emotion, die in ihrer Einheitdas hervorbringen kann, was wir soziale Intelligenz nennen.Die »soziale Intelligenz« beruht auf einem Spannungs-verhältnis bzw. einer konträren Grundmotivation, die ver-mutlich als anthropologische Konstante jenseits kulturellerEigenprägungen gelten kann: Zugehörigkeit zu einer sozialenGruppe und Anerkennung als Einzelner. Erstere macht denMenschen zu einem sozialen Wesen, letztere zum Individu-um, das den Eigenwert sucht. Zugehörigkeitsbedürfnis lässtMenschen in einer Gruppenidentität aufgehen, im Eingebun-densein und Verschmelzen Lustgewinn empfinden, wie z.B.

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in den heutigen Ritualen des regional, national wie weltweitorganisierten Fußballs. Gruppenidentität befriedigt das Ge-rechtigkeitsbedürfnis und egalitäres Verlangen, das derMensch instinktiv ausbilden kann. Individuelle Anerken-nung beflügelt das Streben nach Macht und hat ihren Lust-gewinn in Dominanz, wie sie z.B. in der heutigen Wirt-schaftsdynamik und Bildungskonkurrenz inszeniert wird.Die Anerkennung von Eigenwert tendiert zur Befriedigungin Hierarchien, das Gerechtigkeitsbedürfnis wird am Ver-dienst gemessen, d.h. gerecht ist, was auf Grund individuel-ler Leistung zusteht.

Dieses Spannungsverhältnis allerdings erscheint zumin-dest in einigen der genannten Kulturen (besonders in demvon der griechischen Antike geprägten Europa) als Antwortauf das noch fundamentalere Dilemma zwischen Vergäng-lichkeit des Menschen, philosophisch repräsentiert durch He-raklit (»alles fließt«), und seiner Sehnsucht nach Dauer, phi-losophisch repräsentiert durch Parmenides (»Denken undSein sind dasselbe«). Vergänglichkeit ist aber die Vorausset-zung für Neugier, denn dass das Neue und noch nicht Reali-sierte als Wert erscheint, ist nicht selbstverständlich, wie manan weiten Strängen der indischen aber auch der chinesischenTraditionen erkennen kann. Dynamik ist gefährlich undführt ins Heimatlose, aber genau das ist für griechischesEmpfinden aufregend gewesen, und die europäische Ge-schichtsdynamik ist ein Erbe dieser Haltung. Verstärkt wurdeund wird diese Tendenz auch durch die hebräisch-jüdischeGeschichtsmetaphysik, nach der Gott sich in der Geschichteentfaltend zeigt oder gar selbst im Werden gedacht wird(Eberhard Jüngel: »Gottes Sein ist im Werden«). Dasmenschliche Sicherheitsbedürfnis artikuliert sich in der Su-che nach Dauer und drückt sich heute vornehmlich durchAnhäufung von Besitz aus. Wenn man also ausuferndes Be-sitzstreben begrenzen will, müssen diese kulturpsychologi-schen Hintergründe bedacht und in Rechnung gestellt wer-

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den, auch hier ist nicht Verdrängung, sondern Ausgleich diemögliche Lösung.

Kurz, was vonnöten ist, kann Mut zur Positionierung ge-nannt werden. Eine solche Haltung knüpft an die hebräischenPropheten (einschließlich Jesus) an, ebenso an wie an Sokra-tes, die Künstler-Wissenschaftler der Renaissance, die Strei-ter in der Reformation und die Revolutionäre des Wissens im19. und beginnende 20. Jahrhundert (von Darwin über Freudbis zu Einstein und Heisenberg). Dabei ist klar, dass ein uni-versaler Anspruch der These vom notwendigen Umbau derLebensverhältnisse in ein neues ökologisch-soziales Gesell-schaftsmuster nicht autoritär, sondern allein auf Vernunftbegründet sein kann. Alles Handeln kann nur dann mit RechtThemen und Inhalte setzen, wenn es vernünftig und amgrößtmöglichen Gemeinwohl orientiert ist.

Fazit: Wenn wir die hier analysierten kulturellen Dynami-ken in Asien und dem Mittelmeerraum bzw. Europa darauf-hin untersuchen, wie ein Ausgleich der Gegensätze von Ver-änderung und Stabilität erzielt wird, zeigt sich eine hoheKonstanz dieser Dynamik, mit je unterschiedlichen Ausprä-gungen. Beide pendeln sich immer wieder auf einen relativstabilen Ausgleich ein und sind als kulturpsychologische Fak-toren politisch zu berücksichtigen. Kulturelle Transformatio-nen werden demnach nur gelingen, wenn in ihnen der Aus-gleich dieser Dynamik gelingt.

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VI Grundlagen der Therapie

Die vereinzelten Blicke in die Geschichte zeigen, dass lokaleDifferenzen bei der Lösung allgemeiner Probleme wichtigsein können. Dies ergibt sich aus klimatischen, historischenund sprachlich-kulturellen Bedingungen. Religionen reflek-tieren diese Differenzierungen mythisch und rituell. DieGrundfragen für die Zukunft der Menschheit haben globalenCharakter und können auch nur global gelöst werden, diesaber unter Berücksichtigung kulturell-religiöser Differenzie-rung auf der lokalen Ebene.

Zwei fundamentale Erkenntnisse für die Frage nach einerTransformation heutiger Gesellschaften lassen sich aus denkulturgeschichtlichen Analysen gewinnen:

1. Am Beispiel Ashokas in der indischen Antike und Mahat-ma Gandhis im modernen Indien kann gezeigt werden,dass Einsicht, wenn sie klug kommuniziert wird, die poli-tische und soziale Landschaft verändern kann. Ein Para-digmenwechsel in den politischen Steuerungssystemender Gesellschaft ist möglich, und zwar vor allem dann,wenn zentrale Ideen lokal bzw. dezentralisiert umgesetztwerden.

2. Das Streben nach materiellem Reichtum und Besitz ist al-len menschlichen Gesellschaften in historischer Zeit ei-gen. Ob dies als empirischer Beweis für eine anthropolo-gische Konstante zu interpretieren ist, kann nichtentschieden werden – der Blick in die Geschichte geht da-für nicht weit genug zurück. Allerdings lassen sich Grün-de für das Streben nach quantitativem Besitz angeben, essind vor allem Sicherheitsbedürfnis und Status. Beide Be-

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dürfnisse können auch anders befriedigt werden und sindanders befriedigt worden: Sicherheit kann durch sozialeBeziehungen, die im Wohlfahrtsstaat nach dem Prinzipder Gerechtigkeit organisiert werden, zumindest tenden-ziell gewährleistet werden. Was unter Gerechtigkeit zuverstehen ist, wird strittig bleiben, aber dieser Streit kannund soll in gesellschaftlichen Diskursen immer neu ge-führt werden. Der Staat als Organisator des Ausgleichsmuss nur denMut aufbringen und die notwendigen Kom-munikationsstrategien entwickeln. Statusbedürfnisse for-men sich kulturell variant aus. Es muss statusrelevantwerden, ob und wie man nachhaltig lebt. Dass dies mög-lich ist, zeigt sich am Besitzverzicht der Mönchs- undNonnenorden (Buddhisten, Sufis, Benediktiner, Franzis-kaner usw.) weltweit. Auch die indische Idee der vierAshrama (Bildungsphase, Familienphase, Rückzug in spi-rituelle Lebensgemeinschaften, Einsamkeit als wan-dernder Einsiedler) setzt dieses Prinzip praktisch auch fürLaien um: Wenn nach einer Zeit der Familien- und Haus-haltsgründung die Kinder erwachsen sind, zieht sich dasEhepaar in eine Lebensgemeinschaft mit anderen (Ash-ram) zurück, die quantitativ verzichtend und qualitativorientiert lebt, man widmet sich der Entwicklung desGeistes. Auch das chinesische Ideal, den Besitz nicht zurSchau zu stellen, um die Harmonie in der Gesellschaftnicht zu gefährden, kann aus einem übergeordneten Prin-zip abgeleitet werden. Ein weiteres historisches Beispiel istdie Übernahme der vegetarischen Lebensweise durchBuddhisten, die Statusgewinn mit Besitzverzicht einge-tauscht haben. Eine übergeordnete Idee kann also hand-lungsleitend wirksam werden für den Verzicht auf quan-titatives Wachstum beim Besitzstreben, um dagegenqualitativen Gewinn an Lebensglück zu erzielen.

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Grundlagen der Therapie

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Als die fundamentalen Grundprobleme, die nur in Abhängig-keit voneinander gelöst werden können, diagnostizieren wir:

a. Klimawandelb. Biodiversitätc. Kulturelle Vielfaltd. Energie- und Wasserversorgung,e. Landerosionf. Armut und »Polarisierung« bzw. Partizipation von Unter-

privilegierteng. Gesundheit für alleh. Bildung für alle

Die kulturelle Transformation muss sich auf diese Problem-felder unmittelbar beziehen, sonst ist sie irrelevant. Als Bei-spiele betrachten wir 11 Felder religionskultureller Ressour-cen, die, sprachlich und rituell sowie medial transformiert,die heutigen Umgestaltungsprozesse anregen, motivierenund wirkungsvoll machen können:

1. Sakramentales Leben. Dieser traditionelle Begriff bedarfder Erläuterung, denn es geht hier gerade nicht um be-stimmte Zeichen, die einer Religion gegenüber anderendie abgrenzende Identität ermöglichen, um etwas religiösSpezifisches also, sondern um eine universale Lebenshal-tung. Alle Religionen kennen Sakramente, was bedeutet,dass der höchste Wert in der Welt rituell und sinnlichgreifbar vergegenwärtigt wird. Der höchste Wert im reli-giösen wie humanistischen Sinn ist das Leben, weshalb dieveneratio vitae »Ehrfurcht vor dem Leben in Freiheit«(Albert Schweitzer) die umfassendste Maxime allen Han-delns sein sollte. Als theoretische Einsicht dürfte dieskaum strittig sein, und zwar weltweit. Kulturelle Erneue-rung bestünde nun aber darin, diesen Wert so plausibel zumachen, dass er sinnlich erfahrbar und somit pädagogisch

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wirksam wird. Dazu gehört eine praktikable Abwägungvon Lebensinteressen und Lebensrechten: Leben lebt vonLeben, wobei allerdings alle Religionskulturen wussten,dass tierisches Leben höher zu bewerten wäre als pflanzli-ches und das Leben von emotionsgesteuerten Säugetierenhöher als das von Insekten. Eine stufenweise Abwägung,die immer auch strittig ist, gehört zu einer ökologischenBewusstheit.Bewusstheit kann rituell eingeübt werden: Ein monatli-cher oder vierteljährlicher »Tag der ökologischen Acht-samkeit« könnte einen Anfang darstellen, um Aufmerk-samkeit für das Thema zu wecken. Wir sagten oben, dassim sakramentalen Ritual das, was von der Zukunft erwar-tet wird, als Zielpunkt der Sehnsucht, der Motivation unddes Handelns vergegenwärtig wird. Über die UNO oderzunächst nationale Netzwerke könnte dieser Gedanke zueinem Menschheitsritual führen, das motivierend wirkt.Kunst, Medien, ökologische Projekte könnten eingebrachtund prämiert werden. Durch Mut zum Handeln wird wei-tere Motivation und Kreativität freigesetzt. Damit könnteeine neue ökosophische Utopie entstehen, die konkretesHandeln beflügelt und weltgemeinschaftliche Solidaritätgeneriert, und zwar jenseits der institutionalisierten Reli-gionen, aber unter Einschluss der Erfahrung der Religio-nen, die jeweils auch ihr traditionelles mythisches und ri-tuelles Kolorit darin neu bewahren und bewähren können.

2. Leit- und Weltbilder. Handeln beginnt im Kopf, d.h., es istkritisch zu prüfen, nach welchen Leit- bzw. Weltbildernwir handeln. Es ist falsch zu behaupten, dass die Mehrheitder Menschheit einem individualistisch-egozentrischenKonsumerismus folge. Dies mag auf die so genannten ent-wickelten Volkswirtschaften des Westens zutreffen, nichtaber auf asiatische und afrikanische Gesellschaften, diewesentlich von Gemeinschaftssinn geprägt sind. Solcheanderen Lebensmodelle erzeugten schon bei den europäi-

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schen Entdeckungsreisenden seit dem 15. Jahrhundertund heute durch Tourismus Neugier und Sehnsüchte auchin Europa und Amerika, die aber im Alltag marginalisiertbzw. verdrängt werden. Es ist möglich, Gemeinschafts-modelle, wie sie etwa auch schon in Mehrgenerationen-häusern, in Betreuungsgemeinschaften usw. gelebt wer-den, stärker bewusst zu machen. Möglicherweise könneninternetgestützte soziale Netzwerke eingerichtet werden,die solche Modelle propagieren, Anregungen geben undInteressierte miteinander in Kontakt bringen. Kommuni-kationsmodelle zu erneuern und in universalen Mythenzu verorten, war ein klassisches Anliegen von Religionen.Dieses Potential kann neu erschlossen werden.Um das Potential differenzierter in den Blick zu nehmen,sollen vier Modelle von Weltbildern unterschieden wer-den:35a) Das chinesisch-daoistische Modell favorisiert die Ba-

lance von polaren Kräften wie Aktivität und Ruhe, Na-tur und Kultur, Individuum und Gesellschaft. Gleich-gewichte stellen sich nur her durch Zurücknahme. Fürmoderne Gesellschaften, die an Hektik leiden, wärehier vor allem die Schönheit der Muße zu lernen, d.h.die Zurücknahme muss als Gewinn von Lebensqualitäterfahrbar werden.

b) Das indisch-hinduistische Modell des Kreislaufs desleidvollen Lebens (samsara) favorisiert die Einheit derWirklichkeit trotz des Leidens-Kreislaufs von Armut,Alter, Krankheit und Tod. Wenn der Mensch auf eingrößeres Ganzes ausgerichtet ist, das die Religionenals die transzendente göttliche Dimension beschreiben,können Egozentrismus und die damit verbundenen zer-störerischen Dynamiken eingedämmt werden. Eine

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35 C. Ponting, A New Green History of the World. The Environmentand the Collapse of Great Civilisations, London 2007, 127 f.

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solche Haltung ist durch Bewusstseinstraining erlern-bar. Für moderne Gesellschaften, die an der Verengungdes Rationalen und Zerstreuung durch ein Übermaß anSinnesreizen leiden, wäre hier vor allem die Ausschöp-fung des Geistestrainings zu lernen, bei dem Kognitionund Emotion in Übereinstimmung mit der Leiblichkeitdes Menschen erfahrbar werden. Auch die Praxis de-zentralisierter Netzwerke hat in diesem Modell einestarke Stütze.

c) Die Modelle von schriftlosen Völkern, die meist inStammesgesellschaften leben, beruhen auf der Erfah-rung der wechselseitigen Abhängigkeit von Pflanzen-welt, Tierwelt und menschlicher Gesellschaft sowieder reziproken flach-hierarchischen sozialen Beziehun-gen. Für moderne Gesellschaften, die an Vereinsamungder Individuen leiden, wäre hier vor allem die Wechsel-seitigkeit kreativ gestalteten Gebens und Nehmens z.B.in generationenübergreifenden und auf Tauschbasis or-ganisierten sozialen Hilfsmodellen zu lernen.

d) Das moderne westliche Modell des kompetitiven Indi-vidualismus und ungebremsten quantitativen Wachs-tums ist wegen der Begrenztheit von Ressourcen nichtzukunftsfähig. Es ist ein Geschichtsdenken, das denFortschritt in eine Zukunft durch quantitativen Mehr-verbrauch von Ressourcen beinhaltet, während dasder Natur inhärente Kreislaufmodell von einseitigerGeschichtsdynamik buchstäblich aufgefressen wird.Gleichwohl hat das westliche Modell die individuellund rational begründete Eigenverantwortung heraus-gebildet, wonach sich der Mensch als einsichts- undlernfähig erweist, was Voraussetzung für begründeteUmgestaltungsprozesse ist, ein hohes Gut also! Im 19.und 20. Jahrhundert waren die westlichen Religionenstolz auf ihren Individualismus, die Entfaltung der Ra-tionalität und ihr scheinbar überlegenes Geschichts-

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denken, das gegen ein angeblich minderwertiges Kreis-laufdenken Asiens in Stellung gebracht und missiona-risch ausgenutzt wurde. Beide Modelle und Erfahrun-gen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern einekulturelle Evolution analog zur Evolution der Naturzu denken, die sich dementsprechend in Kreisläufenund Rückkopplungen vollzieht und auf diese Weisekreative Emergenzen ermöglicht, wäre Inbegriff einerdialogischen interreligiösen Kulturanalytik.Allerdings ist offenkundig, dass auch die indischen undchinesischen Gesellschaften und möglicherweise auchStammesgesellschaften ihre jeweilige Mitwelt quanti-tativ ausgebeutet und ökologisch angegriffen, in Teil-aspekten sogar zerstört haben.36 Einige Daten weisendarauf hin, dass sich die alt-indische Induskultur mög-licherweise wortwörtlich das Wasser selbst abgegrabenhat. Es wäre naiv, traditionalistisch zu argumentierenund alte kulturelle Modelle auf moderne Verhältnisseübertragen zu wollen, denn weder haben alte Kulturenökologisch nachhaltig gewirtschaftet, noch sind dieProbleme moderner Urbanität und Globalität mit tra-ditionellen begrenzten Kulturmustern lösbar.Das heißt aber nicht, dass nicht doch bestimmte Denk-formen rational erwogen und bewusst für heutige Um-gestaltungen fruchtbar gemacht werden können, unddies ist insbesondere die Erkenntnis der wechselseiti-gen Abhängigkeit aller Erscheinungen, die wir nun ineinigen Konkretisierungen aktualisieren wollen:

3. Eine neue »Grundrechenart« für alle Kulturen. Diebuddhistische Einsicht des »Entstehens aller Erscheinun-gen in wechselseitiger Abhängigkeit« (pratityasamutpa-da, co-dependent origination) ist ein systemischer Gedan-

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36 J. Diamond, Kollaps: Warum Gesellschaften untergehen oder über-leben, Frankfurt 2005.

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ke, der eine »Grundrechenart« für alle kulturellen Aktivi-täten der zukünftigen Menschheit werden könnte. Initia-tiven, Workshops, Bildungsprogramme, kulturelle Festi-vals, Tanzdramen, Filmepen usw. können diese Gedankensinnlich darstellbar machen und so allmählich zu einemGrundmodus der Wahrnehmung gestalten. Es geht umsystemisches, nicht um substantialistisches Denken. Aller-dings wird eine Veränderung des Denkens nicht genügen.Emotionen können motivierend sein, wenn sie durch Ver-nunft geleitet sind, und genau darum geht es. Es gibt be-reits viele Branchen (wie z.B. »Design Thinking«, »SocialPresencing Theater«), die solche Möglichkeiten realisie-ren, dies sollte zu einer kulturellen Gesamtbewegung füh-ren, die von der Politik, den Kirchen, Stiftungen und derFilmbranche gezielt angestoßen, umgesetzt und begleitetwerden kann.

4. Natur und Kultur als Einheit. Nur zwei Beispiele sollenverdeutlichen, dass eine scharfe Trennung von Natur undKultur, von »Basis« und »Überbau«, von wirtschaftlichemund kulturellem Handeln keineswegs zwangsläufig, son-dern ein problematisches Denkmuster ist. Die alte ägyp-tische Kultur steht und fällt mit dem Nil. Er ist frucht-bringend und zerstörerisch. Gerade diese Ambivalenzkulturell einzuhegen und zu gestalten ist das, was Ägyp-ten ausmacht. Das politische wie wirtschaftliche Handelnim alten Ägypten folgt dem Naturkreislauf, es ist keinGegenentwurf zur Natur. Die Beachtung dieses Kreislaufsund die Legitimation zur Herrschaft bedingen einander.Das zweite Beispiel ist der chinesisch-japanische Garten.Hier soll man nicht auf den ersten Blick erkennen können,wo Natur aufhört und Kultur beginnt, denn beide sindaufs Engste miteinander verwoben. Dies könnte ein Mo-dell sein nicht nur für die Landschaftspflege, sondern fürein anderes Design in vielen Lebensbereichen. Auch hiersollte der Staat Rahmenbedingungen für diejenigen for-

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mulieren, die im Wettbewerb um elegante Lösungen rin-gen. Öffentliche Aufträge wären dann nicht nur nach fi-nanziellen, sondern auch nach ästhetischen und ökologi-schen Kriterien zu vergeben.

5. Utopien und Fortschritt. Utopien haben, eingebettet inMythen, gesellschaftlichen Zusammenhalt ermöglicht.Traditionelle Gesellschaften waren überschaubar undstrukturell stabil, sie waren in Gemeinschaften organi-siert, die wenig durchlässig waren, dafür aber Sicherheitdes Lebensrahmens gewährleisteten. Seit der Industriali-sierung und Urbanisierung lebt ein Großteil der Mensch-heit in anonymen Gesellschaften, deren Zusammenspielinstitutionell geregelt wird und ständiger Veränderungunterworfen ist. Die Beschleunigung aller Lebensbereiche(Hartmut Rosa), prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse,Anonymität in der Urbanität, die Forderung nach Flexibi-lität, das unvermeidliche lebenslange Lernen – all dies be-wirkt das Gefühl von Heimatlosigkeit, Überforderung,Unsicherheit. So entsteht teils in bewusster Abkehr vomIdeal der Freiheit ein Ruf nach totalitär gestützten Syste-men, die Sicherheit versprechen. Lethargie und Angst be-hindern kreatives Handeln; der Glaube an den automati-schen Fortschritt verblasst. Es gibt genug Beispiele desRückschritts in Barbarei, Totalitarismus und Armut. Uto-pien zeigen einen Gegenentwurf. Europa ist durch diechristliche Utopie einer besseren Welt (»Reich Gottes«)geprägt worden, wie unterschiedlich diese Vision auch im-mer gedeutet wurde – sie motiviert zum Handeln, indivi-duell wie gesellschaftlich. Utopien werden allerdings dannzu gewaltbereiten Ideologien, wenn sie mit allen Mittelnin absehbarer Zeit radikal umgesetzt werden sollen. Dannwerden sie repressiv – der Kommunismus und der Natio-nalsozialismus sind erschreckende Beispiele dafür. Uto-pien können sich aber auch als produktiver Motor fürmutiges Engagement in evolutionären Umgestaltungs-

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prozessen erweisen, die kreativ und gewaltfrei, pluralis-tisch und kompetitiv die Lebensbedingungen und dieWirtschaft reformieren. Dies ist in der Religionsgeschich-te durch Rituale erreicht worden. Die zum materialisti-schen Rausch verkommene Fest- und Feiertagskulturkönnte sich aus solchem utopischen Bewusstsein erneu-ern. Sinnentleertes Konsumverhalten könnte sich in ziel-orientiertes Handeln verwandeln, weil die Ziele in derUtopie angegeben werden. Auch hier spielen künstleri-sche Gestaltungsmöglichkeiten eine entscheidende Rolle.

6. Institution und Charisma. Wenn wir die Kulturgeschichte(einschließlich der Religionsgeschichte als fundamen-talem Aspekt von Kultur) betrachten, so sind häufigeWendepunkte in der Geschichte (aus heutiger Sicht posi-tiv wie negativ) dann möglich geworden, wenn charisma-tische Persönlichkeiten und die Schaffung neuer Institu-tionen Hand in Hand gehen. Dies zeigt sich zum Beispielan Gestalten wie Ashoka, Franziskus, Luther, Nichiren,Marx, Gandhi, in neuerer Zeit auch Albert Schweitzer,Nelson Mandela, dem XIV. Dalai Lama, und vielenanderen.Eine genauere Analyse zeigt, dass Faktoren eine Rollespielen, die auch für den heutigen Kulturwandel relevantsind. Solche Faktoren müssen erkannt werden. Auch hierwären gezielte Darstellungen in den sozialen Medien hilf-reich, gestützt durch konkrete Projekte in den Brenn-punkten gesellschaftlichen Lebens. So könnten z.B. dieAktivitäten der Preisträger des Right Livelihood Award(Alternativer Nobelpreis) in Schulen und Weiterbildungs-einrichtungen vorgestellt werden. Preisausschreiben fürentsprechende Projekte in der je eigenen Umgebungkönnten von den Regierungsinstitutionen (wie bisher dieEhrungen von Menschen mit zivilem Engagement) aus-gelobt werden. Entscheidend wäre auch hier, dass die Me-dien eine pädagogische Aufgabe darin erkennen zu berich-

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ten und anzuregen. Folgenden Faktoren, deren Aufzäh-lung keineswegs vollständig ist, kommt Bedeutung zu:• Analyse der möglichen Akteure, die mobilisiert werden

können, weil sie besonders leiden (Marx: das Prole-tariat).

• Eine zündende Idee, die den jeweiligen Bereich (Ener-gie, Demographie, nachhaltiges Wirtschaften usw.)prinzipiell betrifft.

• Medien, die diese Idee transportieren (Luther: Guten-berg, Anagarika Dharmapala in Ceylon: Druckerpresse,Mahatma Gandhi: die kritische englische Presse, heutedas Internet).

• Charismatische Persönlichkeiten, die den Mit-Akteu-ren das Gefühl von Zugehörigkeit zu einer größerenBewegung (Sinnstiftung) geben (Gandhi, Thich NhatHanh, Dalai Lama).

7. Elite und allgemeine Bildung. Am Beispiel Chinas kanngezeigt werden, wie die chinesische Beamtenprüfung etwa1300 Jahre lang das Land stabilisiert hat. Zwar war auchdieses System herrschaftsorientiert und korrumpierbarund wurde mangels seiner Flexibilität, auf die Modernezu reagieren, im Jahre 1905 abgeschafft, aber das Systemberuhte auf Bildung (klassische Schriften besonders derKonfuzianer, Literatur, Künste, historisches Wissen) undwar ein wesentlicher Faktor für die Herausbildung natio-naler kultureller Identität, die den typisch chinesischenKultur-Patriotismus hervorgebracht hat. Die Kritik, dasshier nur Allgemeinwissen verlangt werde und es am Spe-zialwissen fehle, tauchte freilich schon im 11. Jahrhundertauf. Gleichwohl sind Erfahrung mit diesem auf Leistungberuhenden politischen Auswahlsystem übertragbar:Wenn es denn »europäische Werte« gibt, dann müssensie in einem solchen Kanon langfristig vermittelt werdenund das moderne (Aus)Bildungswesen fundamental er-gänzen. Dass dabei der Begriff der Bildungs- und Gesin-

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nungselite einen positiven Beiklang finden könnte, wärenicht zum Nachteil der Gesellschaft.

8. Herrschaftslegitimation qualitativ begründen. Am Staats-Modell des indischen Kaisers Ashoka kann man zeigen,wie eine Transformation der Gesellschaft für dieselbeplausibel und akzeptabel gemacht werden kann, wenn dieGrundwerte und wesentlichen Erzählungen der Kultur,die vertraut sind und zumindest als Standards gelten, insöffentliche Bewusstsein gerückt werden. Zwei Aspektesind hier bezeichnend: Die Reue über seine militärischeGewalt, die Ashoka öffentlich bekundete, und die Pro-pagierung von Alternativen. Die ethischen Maximen blei-ben allgemein und pluralistisch begründet, d.h. er etab-liert keine Staatsreligion. Wohl aber ist das öffentlicheHandeln an der buddhistischen Ethik orientiert. Das plu-ralistische Ritual- und Religionsmodell und die Verbind-lichkeit von ethischen Prinzipien (Gewaltfreiheit, Gerech-tigkeit, Wohlstand für alle, Verantwortung des Staates fürdie Infrastruktur einschließlich des Schutzes der Tiere)schließen einander nicht aus. Ashoka erreicht dies mittelseiner klugen Kommunikationsstrategie: Er lässt seine Ma-nifeste überall auf Felsen und Säulen eingravieren undschickt »Dharma-Beamte« als Lehrer aus. Die Parallelenzu einem heute möglichen Regierungshandeln sind evi-dent. Dies setzt voraus, dass Bewerber um öffentlicheÄmter und Mandatsträger in Wahlen Mehrheiten er-ringen, ihre Kompetenz, die auf Bildung beruht, öffentlichnachzuweisen haben.

9. Kooperation und Konfrontation. Statt bei Konfrontatio-nen zu bleiben, gilt es Strategien der Kooperation zu ent-wickeln. Einer der einflussreichsten Texte der Religions-geschichte ist die indische Bhagavad Gita. Hier geht esum die Aufforderung zu einem »gerechten Krieg«, derdie verletzte Ordnung wiederherstellen und Unrecht be-enden soll. Gleichwohl hat Mahatma Gandhi diesen Text

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als sein »Evangelium der Gewaltlosigkeit« interpretiert.Wie ist das möglich? Zwei Argumente werden vor-gebracht: Erstens darf zur Gewalt nur dann gegriffen wer-den, wenn die Akteure ohne jedes Eigeninteresse handeln.Zweitens erweist sich Gott Krishna, der den zögerndenPrinzen Arjuna belehrt, als das nicht rational erschließ-bare Mysterium der Welt. Gleichwohl bietet der Gottdem Menschen seine Freundschaft an. Das bedeutet, dassdie Welt im letzten Grunde nicht dem rationalen Kalkülunterzogen werden kann, sondern dass der Mensch ihrmit staunender Bescheidenheit und Achtung gegenüber-treten soll, wobei im heutigen Erfahrungshorizont militä-rische Gewalt keine Option sein darf. Dennoch muss derMensch handeln, indem er mit den lebenserhaltendenKräften kooperiert. Jede Konfrontation ist nur ein Durch-gangsstadium für Kooperation in größeren Zusammen-hängen. Das gilt für jedes politische wie wirtschaftlicheHandeln. Ein Paradigmenwechsel vom kurzfristigen Ge-winn zu langfristiger Wohlfahrtsmehrung ist angezeigt.Die Wechselwirkungen globaler Interdependenz müssenin Rechnung gestellt werden. Das entspricht einer umfas-senden Deutung des indischen Kreislaufdenkens. Dem-nach ist die Menschenwelt eingebettet in die Bereiche derTiere, der Geister und Götter, d.h. die belebte Welt beruhtauf einem Wechselspiel der Kräfte und jedes Handeln istreziprok, denn es wirkt auf den Handelnden zurück. DieseDenkform wird in der indischen Kultur an unzähligenMythen, Erzählungen und Gleichnissen verdeutlicht undin Ritualen vergegenwärtigt. Dies nicht als Duktus einerfernen Religionswelt zu begreifen, sondern als Möglich-keit der kulturellen Erneuerung neu zu formulieren, diesich auf die Fragen nach dem Klima, der Energiebilanz,der Recyclingwirtschaft usw. auswirkt, ist die Aufgabe.

10. Nicht Drohung, sondern Transformation. Nicht durchDrohung, sondern durch Einsicht wird der Mensch zur

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Transformation bewegt. Einsicht aber darf nicht nur ko-gnitiv sein, sondern muss auch Emotionen und Gestal-tungswillen umfassen. Das bedeutet, dass der Kulturwan-del eine wesentlich ästhetische Grundlage hat: Nachhaltigbzw. reziprok zu denken, zu leben und zu wirtschaften istschön. Es schafft Befriedigung und Qualität. Eine ästheti-sche Umwertung braucht Zeit, wenn sie die Gesellschaftinsgesamt betreffen soll, aber sie kann klug initiiert wer-den, wie z.B. aus den Dynamiken vonMode undWerbungbekannt ist. Durch spielerische EinübungMotivationen zugenerieren, die das Konsumverhalten verändern, ist mög-lich: Computer-Games, die intelligente Verkehrsvernet-zungen erproben; Holzbaukästen und -modelle, die stattPlastik zunächst im Spiel, dann auch in der Realität öko-logisch sinnvolles und ökonomisch erschwingliches Baueneinüben; Wettbewerbe zur Energiebilanz nicht nur beimBetrieb, sondern auch beim Bau von Wohn- und Ver-kehrssystemen; die gezielte Stimulation für die Nachfragenach Bio-Produkten; die Werbung für die Vorzüge vonTelefonkonferenzen statt unnötige Reisen, und vielesmehr. Es muss nicht nur für die Ober- und Mittelschich-ten, sondern für die breite Bevölkerung »chic« werden,entsprechenden Orientierungen zu folgen, was nicht nurdurch Anreizsysteme wie Preisgestaltung und Steuerent-lastungen erreichbar wird, sondern auch durch Wett-bewerbe, Trendsetter, Rituale und andere ästhetische In-terventionen.

11. Ambiguitätstoleranz. Wichtig ist, Ambiguitätstoleranzzu kultivieren. Menschen tendieren wohl aus dem Bedürf-nis kognitiv-emotionaler Selbstvergewisserung dazu,Vielfalt und Komplexität zu reduzieren. Die Suche nachEindeutigkeit kann Sicherheit und Macht verleihen, siehat aber monokausales Denken zur Folge, das in die Irreführt. Stattdessen muss man lernen, mit »vielfältigenWahrheiten in einer uneindeutigen Welt« (Thomas Bau-

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er) umzugehen. Zeichen und Umstände können demnachmehrere Bedeutungen haben, und die Uneindeutigkeit istes, die den Geist zu kreativen Leistungen antreibt. Aber sieist unbequem. Ambiguität ist der Spiegel, in dem die Viel-falt von Natur und Kultur erscheint. Alle Mythen mit ja-nusköpfigen Gestalten oder unvorhersehbaren Metamor-phosen göttlicher Wirkkraft stellen diese unerschöpflicheRealität in Rechnung. Sie zu kultivieren ermöglicht inte-grales Denken gegenüber einem bloß linearen Abspulendes ohnehin Bekannten.

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VII Therapievorschlag:Elf Implementierungen

Mit den »Grundlagen der Therapie« haben wir zentralemenschliche Erfahrungen als wesentliche Ressourcen identi-fiziert, die sich aus historischen Analysen unterschiedlicherKulturen ergeben. Wenn dieselben nun spezifisch auf die ge-genwärtige ökologische Transformation angewendet werden,können wir konkreter werden: Der ökologische Umbau dermodernen Industriegesellschaften muss vor allem als Chancezu mehr Lebensqualität durch gesteigerte Kreativität begrif-fen werden. Und das in doppelter Ausrichtung: als techno-logische Innovation, die weitgehend bereits im Gange ist,und als soziale Transformation. Denn der erforderliche Um-bau kann von dem Problem der Gerechtigkeit und Lastenver-teilung nicht abgekoppelt werden. Daran hängen vor allemdie Akzeptanz und die Erarbeitung eines möglichst breitengesellschaftlichen Konsenses. Dafür bedarf es des Mutes unddes Geschickes sowie der Zivilcourage. Das heißt, wir brau-chen vor allem:– eine positive Zukunftsvision,– groß angelegte Investitionsprogramme (grüner Wasser-

stoff, neue Transportsysteme, kluge Gebäudesanierungusw.),

– eine Steuerung von Investitionen (und Subventionen) innachhaltige Land-, Wasser- und Forstwirtschaft, die dieErhaltung der Artenvielfalt und des Lebensraums derWildtiere als wesentliches Ziel des Wirtschaftens begreift(Eindämmung von Zoonosen als einer Quelle von Pande-mien),

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– einen wirksam hohen Preis für Emissionen von CO2 undanderer Schadstoffe (für Unternehmen und privaten Ver-brauch unterschiedlich angepasst),

– staatliche Förderungen, die Anreize setzen und sektoren-spezifisch differenziert sein müssen,

– faire Lastenverteilung, die den Strukturwandel regionalund sozial differenziert abfedert (z.B. beim Wohnungs-bau- und Mietrecht sowie bei Verkehrs-Tarifen).

Dabei ist es unumgänglich, institutionelle Strukturen zuschaffen, die die Vernetztheit dieser Aspekte abbilden undimplementieren.

Angesichts der Komplexität der Probleme, mit denen dieheutige Menschheit konfrontiert ist, erscheint es sinnvoll,zunächst eine Reduktion auf wesentliche Gesichtspunkte zuversuchen, um eine gewisse Überschaubarkeit in die Gemen-gelage zu bringen, weil sonst die Motivation zum Handelngedämpft werden könnte. So unterscheiden wir:• das Zeitproblem, wonach nicht kurzfristig, sondern lang-

fristig zu denken und zu rechnen ist;• das Demographie-Problem, das nur lösbar ist, wenn Ge-

sellschaften Stabilität und langfristig konzipierte Sicher-heit vermitteln können;

• das Problem quantitativen Wachstums, dem qualitativesWachstum entgegengesetzt werden muss, was nur in zy-klischen Modellen (Recycling, Energiekreisläufe, Wasser-nutzungskreisläufe, ökologische Stadtplanung, die keineÜbernutzung der Landflächen zulässt usw.) funktionierenkann.

Den hier genannten Problemen ist ein gemeinsames Merk-mal eigen: die einlinige Kausalität oder »Monokausalitis«(Ernst Pöppel). Systemische und vernetzte Lösungsansätzegewinnen in (fast) allen Lebensbereichen an Bedeutung. Die-selben zu verstärken und durch interreligiös vergleichbareErzählungen plausibel zu machen, damit Motivationen zumHandeln geweckt werden, ist die Aufgabe. Wir ordnen die

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Therapievorschlag: Elf Implementierungen

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Vorschläge nach drei Feldern kultureller Erneuerung, weilErneuerung ein Handeln impliziert, das durch veränderteWahrnehmung vorbereitet und motiviert, durch Kommuni-kation vergesellschaftet und durch wirtschaftliches wie kul-turelles Engagement praktiziert wird, wobei Bildung eineVoraussetzung dafür ist, dass sich das Handeln in einem Zu-sammenhang von Raum und Zeit vollziehen kann, der dieErfahrung des Individuums übersteigt. Allerdings hängenalle drei Felder miteinander zusammen und setzen wechsel-seitige Motivationen frei. Es geht also um:a) Steuerung von Wahrnehmung und Kommunikation

(1.–4.)b) Steuerung der Wirtschaftspolitik (5.–8.)c) Steuerung der Bildung (9.–11.)

1. Langfristige Vision – konkrete Ziele

Die desaströse Zerstörung von nachhaltigen Kreisläufen inNatur und Gesellschaft ist auch ein Problem der Zeitwahr-nehmung: Um der kurzfristigen Gewinnmaximierung undEffizienzsteigerung willen werden langfristige Strategienignoriert. Nachhaltiges Denken und Verhalten setzt hin-gegen längere Zeitperspektiven voraus. Entsprechendes Den-ken ist erlernbar. In Schulen und weiterführenden Bildungs-einrichtungen können durch Stiftungen gezielte Programmeeingeführt werden, die diese Zeit-Perspektiven-Differenz inWissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft verdeut-lichen und einüben. Unternehmen sollen ermutigt werden,entsprechende Besoldungsanreize für Management und Mit-arbeiter zu setzen. Besonders die irrational-zerstörerischespekulative Finanzwirtschaft muss durch Reglement verlang-samt und an die Realwirtschaft rückgekoppelt werden. Ge-winn durch pure Spekulation muss durch Besteuerung dras-tisch eingeschränkt werden. Kulturell hängt dies mit dem

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Langfristige Vision – konkrete Ziele

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oben beschriebenen »sakramentalen Denken« zusammen. In(fast) allen universitären Disziplinen können Arbeiten ange-regt und ausgelobt werden, die ein solches Denken in gegen-wärtige Sprache und Lebens-Strategien übersetzen. Viel-leicht wäre es möglich, an einer der deutschen Hochschulenein Institut für modernes bzw. säkulares sakrales Denken zuetablieren, das entsprechende kreative Impulse freisetzt. Au-ßerdem könnte national und international ein Welt-Lebens-Tag etabliert werden, der durch performative Aktivitäten aufdie ungenutzten Möglichkeiten dieses Zeit-Perspektiven-wechsels verweist.

Gleichzeitig allerdings muss im Blick behalten werden,dass langfristige Perspektiven verblassen, wenn nicht kon-krete überschaubare Ziele gesetzt werden, deren kurzfristigerlebbarer Erfolg motiviert. So wie heute bereits Energie-beratung als neue Strategie etabliert ist, könnte es Institutezur Zeit- und Strategieberatung geben, die diese beidenAspekte in differenzierter Weise implementieren hilft.

2. Rahmenbedingungen für Kooperation und Konkurrenz

Wettbewerb ist die Triebkraft der Evolution. Die Frage aller-dings, ob menschliche Individuen selbstbezogen nur den ei-genen Vorteil suchen oder in Kooperation mit anderen eineangepasste Lebensstrategie entwickeln, ist so alt wie die do-kumentierte Geschichte. Der analytische Blick in die Ge-schichte, anthropologische Vergleiche und psychologischeExperimente zeigen, dass es beides gibt. Stehen beide Prinzi-pien im Widerspruch zueinander? Die moderne Ökonomiescheint davon auszugehen. Adam Smith formuliert das Prin-zip, dass der Markt die ökonomischen Beziehungen reguliertund die Akteure am Markt dann am effektivsten handeln,wenn sie sich vom Eigeninteresse leiten lassen und ihrenEigennutzen optimieren. Altruismus sei demnach kein öko-

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Therapievorschlag: Elf Implementierungen

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nomisches Prinzip. Diese Unterscheidung als Gegensatz zubegreifen, hängt allerdings an einer Voraussetzung, die kei-neswegs ein allgemeingültiges Naturgesetz bezeichnet: andem Gegensatz des Eigenen und des Anderen. Wie wir argu-mentiert hatten, wird in vielen asiatischen Denkformen, ganzbesonders im Buddhismus, genau dieser Gegensatz als dielogisch bestreitbare Illusion begriffen: Demnach entwickeltsich das Eigene nämlich nur mit und an dem Anderen undumgekehrt, beide sind Pole an einer wechselseitigen Abhän-gigkeitsbeziehung. Das verändert die Perspektive auf unter-schiedliche Interessen gesellschaftlicher Akteure, einschließ-lich der ökonomischen Verhältnisse, grundlegend: Interessenentstehen miteinander, der Gegensatz ist Teil einer umfas-senderen Dynamik der wechselseitigen Stabilisierung desdynamischen Systems! Auch die wissenschaftlich-techno-logische Zivilisation konnte sich seit Renaissance und Auf-klärung nur in dieser Dynamik von Differenz und Koopera-tion entwickeln, sie bedarf bis heute eines »Lebensraumes«,der nur durch ein hohes Maß an Kooperation geschaffen wer-den kann. Konkurrenz ist ein Mittel, diese Kooperation zuoptimieren, nicht umgekehrt, d.h. das kooperative Verhaltenist der Rahmen, in dem Teil-Konkurrenzsysteme im Wett-bewerb um die besseren Lösungen ringen. Die tradiertenMythen, Erzählungen und ethischen Maximen der Reli-gionskulturen wären nicht das, was sie sind, wenn dem Ein-zelnen diese Einsicht nicht offenbar schwerfallen würde, d.h.wenn nicht die egozentrische Abkapselung eine andauerndeVersuchung wäre. Dennoch weisen alle soziologischen Datendarauf hin, dass auch heutige Menschen ihr Glück vor allemdarin sehen, dass sie in Familien- und Freundschaftsbezie-hungen die Verwirklichung individuellen Glücks suchen, d.h.individuelles wie soziales Glück sind aufeinander bezogen.Allerdings hat sich der Bezugsrahmen gewandelt: Kleinfami-lie, Clan, Großfamilie, Dorf, Gegend, Nationalstaat, Kon-tinent usw. markieren jeweilige Identitätsgruppen, auf die

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Rahmenbedingungen für Kooperation und Konkurrenz

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sich der Kooperationsrahmen beziehen kann, und der jeweilsnicht im System Integrierte ist dann als Konkurrent aus-gegrenzt. Das heutige Aktionsfeld vonWirtschaft und Politikist die gesamte Erde, und dennoch behalten lokale Koopera-tionsstrukturen ihren Sinn, weil sie Überschaubarkeit undemotionale Bindungen ermöglichen, auch hier gilt ein iden-titätsstiftendes Subsidiaritätsprinzip. Die großen Wirt-schafts- und Organisations- wie Kommunikationskreisläufeund vor allem die ökologischen Probleme verlangen ein glo-bales funktionales System. Sowohl in der Erziehung als auchbei der Gesetzgebung müssen Rahmenbedingungen bzw.Spielregeln geschaffen werden, die das Lokale und das Globa-le so miteinander vermitteln, dass staatlich kontrollierte An-reizsysteme ein Optimum an Kooperation bei gleichzeitig ra-tional gezügelter Konkurrenz ermöglichen. In Anlehnung anRegelwerke zum internationalen Handel wie das der WTOkann es international gültige Regeln für global wirksameNachhaltigkeit geben. Nur so kann die Gestaltungskraft desEinzelnen eingefordert, realisiert und in die Zyklen der Ge-staltung von Kultur eingebunden werden.

3. Postkonventionelle Formen des gemeinsamen Lebens

Unter dem Stichwort »Shared economy« geht es um »nutzenund tauschen statt besitzen« (Stefan Brunnhuber). Es gehtdarum, kommunitäre Produktions- und Verbrauchsverbündezu entwickeln, die nicht disruptiv das Gesellschaftssystemstürzen wollen, sondern eher »expansiv, komplementär,synergistisch, additiv und antizyklisch«, d.h. ergänzend zuden bisherigen Geschäftsmodellen und im Wettbewerb mitihnen Nachhaltigkeit implementieren. Es geht um Partizi-pation am schöpferischen Gestalten, erst in zweiter Linieund untergeordnet um Profitmaximierung, oder um »Teilenvor Konkurrenz, Zugang vor Profit, Entwicklung vor Wachs-

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Therapievorschlag: Elf Implementierungen

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tum, Qualität vor Quantität«.37 Dabei ist die »Lust am Ver-zicht«38 ein Gewinn an Lebensqualität, zumal solche Kreis-läufe gemeinsamer Nutzung von Geräten und Ressourcengemeinschaftlich und rituell so gestaltet werden können,dass ästhetische Qualität und das Gefühl von Zusammen-gehörigkeit in alltäglichen Lebensvollzügen (Verkehr, Nut-zung von Flächen und Gemeinschaftsräumen, Leihe von Ge-räten usw.) erfahrbar werden. Die »asketische Weltkultur«(C. F. von Weizsäcker) wird nur dann durchsetzbar sein,wenn sie mit lustvollen Erfahrungen im sozialen wie ästhe-tischen Bereich, also mit Gemeinschafts- und Schönheits-erfahrungen verbunden ist. Genau das zeigt eine Analysezahlreicher Projekte dieser Art, und auch die ErfahrungenGandhis könnten in diesem Kontext neue Bedeutung gewin-nen. Als heutiges Beispiel kann das Modell des »car sharing«,aber auch des »public viewing« gelten. Der Staat kann hierdurch Steueranreize und mediale Verstärkung sowie ein ri-tuell kreativ gestaltetes Belohnungssystem aktiv förderndeingreifen.

4. Bildungspotential der öffentlich-rechtlichen Medien

Um die mehrfach eingeforderte Bildungs-Kommunikation zuermöglichen, ist es unerlässlich, dass die öffentlich-recht-lichen Medien finanziell so ausgestattet werden, dass sie kei-ne kommerziellen Erwägungen an qualitativ hochwertigerProgrammgestaltung hindern. Rundfunk, Fernsehen undvor allem die vom Internet gestützten Medien müssen unterparlamentarischer Kontrolle klug, didaktisch sinnvoll und

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Bildungspotential der öffentlich-rechtlichen Medien

37 S. Brunnhuber, Die Kunst der Transformation. Wie wir lernen, dieWelt zu verändern, Freiburg 2016, 47–51. Anregungen aus diesem Buchsind hier von mir aufgenommen worden.38 Ebd., 250.

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mit Breitenwirkung so eingesetzt werden können, dass diegenannten Bildungsaufgaben wahrgenommen und nichtdurch seichtes Entertainment verwässert werden. So wie derStaat verpflichtet ist, die physische Infrastruktur der Ver-kehrswege (Schiene und Straße) bereitzustellen und zu pfle-gen, so hat er diese Pflicht auch für die kulturell-mediale undvor allem bildungsmäßige Infrastruktur zu erfüllen. Dabeisetzt er die Regeln und reguliert die prinzipiellen Inhalte,die sodann lokal differenziert und in kreativer Vielfalt durchdie jeweiligenMedien umgesetzt werden. Auch hier kann dasPrinzip der generellen zentralen Steuerung und höchstmög-lich pluralen Umsetzung kreative Potentiale fördern, die mitwenig Bürokratie ein Optimum an nachhaltigen Bildungs-inhalten vermitteln.

Dies ist allerdings auch eine internationale Aufgabe, dennNachhaltigkeit ist nicht nur ein ökologisches Problem, son-dern auch ein mental-emotionales auf individueller wie so-zialer Ebene. Eine aus dem Ruder geratene Emotions- undKommunikationskultur muss international reguliert undbei Verstößen strikt sanktioniert werden. Gemeint ist dieKontrolle des Internets vor Hass- und Gewalttiraden, dienicht tolerierbar sind. So wie es für Printmedien Restriktio-nen zumindest auf nationaler Ebene gibt, muss die inter-nationale Gemeinschaft Anstandsregeln für die Sprache imInternet finden. Was tolerierbar ist und was nicht, muss imstreitbaren Diskurs ausgehandelt werden. Eine InternetGovernance muss für Rechtsstaatlichkeit im Cyberspace sor-gen, wobei staatliche und nichtstaatliche Akteure (digitaleWirtschaft, Zivilgesellschaft) zusammenwirken können, umdie Freiheit und Kreativität des Internet gerade durch strikteKontrolle des Destruktiven zu erhalten, denn Cyberspaceund Menschenrechte sind miteinander verknüpft. Ein Blickin die Kultur- und Religionsgeschichte zeigt, dass die Kultu-ren dabei nicht weit auseinander liegen. Es sind hingegenkurzfristige politische Interessen, die den Anschein des Dis-

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senses in grundlegenden kulturellen Wertefragen erwecken.Dies offenzulegen und in rationaler Argumentation Gegen-strategien zu entwickeln, ist eine dringende weltweite Auf-gabe, derer sich die Institutionen der Politik, der Religionen,der Bildung und der Kommunikationssysteme annehmenmüssen.

5. Kreisläufe in Ökologie und Ökonomie

Bereits jetzt sind in zahlreichen Instituten, Unternehmenund Gemeinden Projekte etabliert, die Recycling-Systemepraktisch umsetzen. Es geht dabei um mehr als Modellpro-jekte, nämlich um die grundsätzliche Einheit von Ökologieund Ökonomie. Eine Ökonomie, die ökologisch zerstörerischwirkt, ist nicht nur lebensfeindlich, sondern auch öko-nomisch unrentabel – in langfristiger Perspektive. Die Rech-nungen müssen alle Parameter, vor allem den Verbrauch vonversteckten Ressourcen, einbeziehen. Durch vom Staat ge-setzte Rahmenbedingungen wie auch durch ein Umdenkenauf breiter Basis in der Bevölkerung sind entsprechende In-novationen möglich. Der Weg muss und wird gehen voneiner Ökonomie des Besitzens zu einer Ökonomie des Teilens(Jeremy Rifkin). Das betrifft vor allem die Vernetzung vonEnergie, Mobilität und Kommunikation durch das »Internetder Dinge«. Hier werden dank der Möglichkeiten der Digita-lisierung ressourceneffiziente Systeme entstehen, die nichtbesitz-, sondern nutzerorientiert sind sowie dezentrale Wirt-schafts- und Entscheidungsstrukturen erzwingen, was sichwiederum auf die Praxis von Demokratie auswirkt: DieDezentralisierung im Energiesektor durch die Nutzung er-neuerbarer Energien, lokale Wirtschaftskreisläufe und Re-cyclingsysteme im Verbund mit Energiegewinnung sindfunktionierende Beispiele dafür, wie technologisch-ökonomi-sche Entwicklungen die demokratische Partizipation von mit-

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Kreisläufe in Ökologie und Ökonomie

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verantwortlichen Bevölkerungsgruppen stärken können! Da-bei geht es um systemisch-intelligente Selbststeuerung, wiewir sie auch als Prinzip der Systeme Künstlicher Intelligenz(KI) kennen. Unternehmen und Unternehmensverbündesollten durch Anreizsysteme (Steuerentlastungen und Prä-mien, Boni bei Manager-Gehältern) entsprechend motiviertwerden, wobei die lokale, die nationale und die europäischeEbene die Aufgaben genau austarieren sollen. Möglicherwei-se können Gründungen von Kooperativen auf allen Ebeneneine günstige institutionelle Form sein, um nachhaltigesWirtschaften zu ermöglichen. Medien, Kirchen und Gewerk-schaften können eine aktive Rolle bei der Motivationsbildungspielen.

Entscheidende Schnittstelle der ökologischen Transforma-tion ist der ökologische Umbau der Wertschöpfungsketten,was durch technologische und strukturelle Innovationenmöglich ist, die wiederum Akzeptanz bei den Akteuren undin der weiteren Bevölkerung voraussetzen, denn sie implizie-ren mutige Entscheidungen, deren Konsequenzen das Ge-samtsystem Gesellschaft verändern, wobei die Details derResultate nicht im Detail vorausgesagt werden können. Des-halb ist der Umbau auch einMut zumWagnis, was wiederumeinen Bewusstseinswandel voraussetzt, denn die alleinigeSehnsucht nach Sicherheit, Berechenbarkeit und Vermei-dung des unternehmerischen Risikos hat Passivität und Träg-heit zur Folge, die dem angestrebten Bewusstseinswandelnicht förderlich ist. Die Überwindung von Trägheit setzt einBewusstsein voraus, das in der Einheit von Einsicht und Emo-tion, von analytischem Denken und Charisma, zu kreativenLösungen kommt. Und genau das ist ein wichtiger Aspekt dermeditativen Bewusstseinskultivierung: die enge Verknüp-fung von Intellekt und Emotion, von kognitiven und gefühls-mäßigen Impulsen.

Die Kette von Faktoren, die eine gesellschaftlich-öko-logisch/ökosophische Transformation beschreibt, kann in

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den folgenden 10 Gliedern veranschaulicht werden. JederSchritt erfordert allerdings eine eigene informationsgestützteund strukturelle Transformation, aber alle wirken auf die je-weils anderen ein, weil die strukturellen Dynamiken einan-der bedingen und stimulieren oder eben hemmen:

10 Dekarbonisierung, nachhaltig-systemische Landwirtschaft,effiziente Verkehrssysteme/Städtebau usw.

9 Umbau der Wertschöpfungsketten

8 Verursacherprinzip (CO2-Preis, Abfallentsorgung)

7 Innovation

6 Entscheidungs-Dynamik der industriellen und politischenAkteure

5 Akzeptanz in der Bevölkerung

4 Umdenken – Umwerten (was ein gutes nachhaltiges Leben ist,Generationengerechtigkeit)

3 Bewusstseinswandel

2 Einheit von Kognition (Einsicht) und Emotion

1 Kultivierung des Bewusstseins durch Meditation und multi-kausal komplexes Denken

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Kreisläufe in Ökologie und Ökonomie

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6. Ordnungspolitik international –Internationales Umwelt- und Finanz-Gericht

So wie beim Internationalen Gerichtshof Menschenrechteverteidigt werden, können es auch Umweltrechte sein. Es istkeineswegs der Fall, dass Markt und Moral nicht vereinbarwären. Wenn z.B. Wissenschaftler errechnen, dass die Mi-gration aus Afrika mit unfairen Handelspraktiken zu tun hat,die auch von der EU gestützt und betrieben werden, so ge-nügt nicht die Anklage, sondern es sollen und können Alter-nativen aufgezeigt werden, die Wohlstandsmehrung auf bei-den Seiten befördern. Auch hier geht es um die Umsetzungund Sichtbarmachung von Strategien und Projekten, die imPrinzip bekannt sind.

Wirtschaftshandeln wird wesentlich durch Kapitalströmebeeinflusst, und zwar durch reale wie fiktive, d.h. die Ana-lyse des Bestandes und die Erwartung hinsichtlich von Mög-lichkeiten beeinflussen die Kapitalmärkte gleichzeitig. Dieenormen Summen von Anlagekapital, das mit hoher Ge-schwindigkeit in Umlauf gesetzt, abgezogen, geparkt undneu investiert wird, können in kürzester Zeit ganze Wirt-schaftskreisläufe aufbauen oder vernichten, ohne dass ratio-nale Entscheidungen von realenMenschen diese beeinflussenwürden. Die Kurzfristigkeit spiegelt sich im Boni-System derManager, die für einen kurzfristigen und eingeengten Blickauf wenige Parameter belohnt, für langfristige Erwägungenhingegen bestraft werden. Die Situation hat sich während derletzten 30 Jahre derartig verschärft, dass internationale poli-tische restriktive Steuerung zu einer Überlebensfrage wird.Die Globalisierung hat weltweit zu viele Verlierer bzw. Unbe-teiligte hervorgebracht, was die Demokratien gefährdet. Einwesentlicher Grund ist die Zentralisierung, vor allem auch inder Finanzwirtschaft.

Geld sucht Anlage, Menschen suchen Gemeinschaft. BeideParameter müssen in einen sinnvollen Zusammenhang ge-

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bracht werden.39 Dem (unteren) Mittelstand in den wenigerentwickelten Ländern fehlt das Kapital, der Reichtum ist inden Kapitalflüssen zu stark zentralisiert und spekulativ an-gehäuft. So müssen etwa durch staatliche Eingriffe die speku-lativen Anlagen in Immobilien unattraktiv gemacht werden,damit der Verteuerung des Wohnraums in BallungszentrenEinhalt geboten wird. Nachhaltiges Wirtschaften ist kaummöglich, wenn nicht der Finanzverkehr rationalisiert undauf langfristige Parameter abgestellt wird. Dies erfordertkonkrete Strategien, die gleichwohl auf nationaler Ebene be-ginnen können und plurale Modelle von Zweitwährungenund Investitionskreisläufen auf lokalen und regionalen Ebe-nen ermöglichen. Beim hier zu beschreibenden ökologisch-sozialen Umbau der Industriegesellschaften kommt der»Zwischenebene« zwischen Staat und Bürger, also den loka-len und kommunalen Strukturen, eine Schlüsselstellung zu,weil hier dezentralisierte Gestaltungsmöglichkeiten ent-stehen: der Einzelne erlebt, dass sein Beitrag zählt, er wird»ermächtigt«, partizipiert und kann damit in seiner Verant-wortung gestärkt werden, d.h., er fühlt sich wahrgenommen,was Frustration und Gewaltbereitschaft abbaut und die De-mokratie stärkt – sei es durch Verbrauchsreduktion von fos-silen Energieträgern, die Produktion erneuerbarer Energien(Solarpanels auf dem Dach), die Stärkung der Kreisläufe vonRegionalwirtschaften, eine kleinteiligere dezentrale Land-wirtschaft usw. Ein Blick in die Kultur- und Wirtschafts-geschichte ganz unterschiedlicher Epochen und Regionenlehrt, dass Stabilität wächst, wo zentrale Aufsicht über strikteRegeln mit lokaler Pluralität von GestaltungsmöglichkeitenHand in Hand gehen. Es ist ähnlich wie die gebotene Struktur

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Ordnungspolitik international – Internationales Umwelt- und Finanz-Gericht

39 Hier gibt es Beispiele. Das Engagement der Sparda-Bank München,eine »Gemeinwohl-Bilanz« zu erstellen und durch entsprechende»Nachhaltigkeits-Berichte« Finanzströme so zu lenken, dass sie länger-fristig ökologisch-sozial verträgliche Projekte finanzieren, ist ein wich-tiges Modell.

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von Verkehrsregeln, die gleichwohl große Vielfalt der Ver-kehrsmittel, differente Geschwindigkeiten, Richtungen usw.nicht nur erlauben, sondern überhaupt erst ermöglichen. Einähnliches System mit einem internationalen Gericht alsoberster Instanz ist für die Wirtschaft, ganz besonders dieFinanzwirtschaft, denkbar.

So wäre es möglich, durch Internetbörsen Direktkontaktezwischen Anlegern und Kapitalbedürftigen auf dem Makler-prinzip herzustellen, eine Provision der Beteiligung gäbe eserst bei Gewinnen aus realwirtschaftlichem Handeln. Für dasKapital könnten staatliche Garantien (wie bei Bankeinlagen)die Kommunikation fördern. Um die Attraktivität der zu er-wartenden Kapitalstreuung zu erhöhen, könnten solcheTransaktionen, analog zu Aktivitäten von Stiftungen, steuer-begünstigt werden. Um die Kommunikation und Rück-kopplung zu fördern (»Menschen suchen Gemeinschaft bzw.Netzwerke«), könnte ein jährliches oder halbjährlichesRitual, das Mitgliedern und Interessierten online und offlineoffensteht, einen »Tag der Verantwortungsgemeinschaft« ze-lebrieren, der sakramentalen Charakter hätte. Es wäre eine»Sakramentalität im Säkularen« unter Nennung von Namenderer, die für kreative Innovation ausgezeichnet werden,einer Geschenkbörse für Notleidende und der medialen Dar-stellung der Innovationen in entsprechenden Performanzen(Musik-, Tanz- und Filmrituale). Das wäre eine »Globalisie-rung, bei der starke Regionen und Verbünde die Treibersind«, und nicht die unangreifbaren zentralisierten weltweitagierenden Monopolisten.40

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40 »Der Kapitalismus wird nicht mehr dominieren«. (Gespräch mit Jere-my Rifkin), SZ Wirtschaft Nr. 272, 26.11.2018, 24.

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7. Umweltministerium mit Vetorecht

Entscheidend ist, dass das Verursacherprinzip angewendetwird, wodurch sich Rentabilitätsrechnungen realistisch ver-schieben. Ressourcenverbrauch sowie Emissionen können sogenauer erfasst, dokumentiert und effizient eingepreist wer-den. Zentrale und unabhängige Institutionen können diesüberwachen, um auch mögliche Wettbewerbsverzerrungenzu vermeiden. Dies erfordert Kooperation aller Beteiligtensowie Transparenz, was wieder davon abhängig ist, was wirBewusstseinswandel nennen – privat und öffentlich.

Wie das Finanzministerium könnte ein Umweltministe-rium mit Vetorecht auf Projekte ausgestattet werden, um de-ren Nachhaltigkeit zu überprüfen und ökologisch sinnvolleOptimierungsvorschläge zu machen. Wie bei Ethikkommis-sionen sollte eine derartige Institution mit beratenden Wis-senschaftlern aus verschiedenen Disziplinen besetzt werden.Es existieren bereits zahlreiche Ansätze und Studien und In-stitute dieser Art. Es käme auf eine Bündelung, Sichtbarma-chung und mediale wie politische Wirksamkeit solcher Insti-tutionen an.

8. Qualität (Nachhaltigkeit) bei Rohstoffgewinnung –Produktion – Distribution – Recycling

Qualität statt Quantität ist die Formel für alle Lebensberei-che. Das setzt voraus, dass klassisch-kulturelle Werte in qua-litatives Denken übersetzt werden. Hierbei spielen zwei Fak-toren die entscheidende Rolle: der Zeitfaktor und diepsychisch-soziale Satisfaktion. Die Wirkung dieser Faktorenist durch unzählige Studien wissenschaftlich nachgewiesen,es wird aber zu wenig umgesetzt. Langfristiges Denken er-höht Stabilität und Nachhaltigkeit, Stabilität erhöht die Sa-tisfaktion und Leistungsbereitschaft, was wiederum öko-

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Umweltministerium mit Vetorecht

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nomische Vorteile bringt. Dies betrifft nicht nur die materiel-len Produktionsbedingungen, sondern auch die sozialen. Sokönnen und müssen ältere Menschen in die ökonomischenwie sozialen Wertschöpfungsketten eingebunden werden,z.B. durch besondere und flexiblere Arbeitsverhältnisse. Der»Jugendwahn« ist sozialer wie ökonomischer Unsinn, undgerade an diesem Punkt gibt es viel von asiatischen Kulturenzu lernen. Umgekehrt muss aber auch Jugendlichen und jun-gen Erwachsenen mehr Mitsprache und Entscheidungskom-petenz in politischen Prozessen übertragen werden (Senkungdes aktiven und passiven Wahlalters, Besetzung von Kom-missionen usw.). Erstens geht es um ihre Zukunft, zweitenswerden wissenschaftliche und technologische Entdeckungenoft von Menschen in der dritten Lebensdekade gemacht.

9. Bildung und Motivation durch Gestaltung undSchönheit

Angst ist kein guter Ratgeber. Die Szenarien eines ökologi-schen Desasters sind real, aber die Fixierung auf Katastro-phen bewirkt eher kognitive wie emotionale Lähmung. Eskommt vielmehr darauf an, die Herausforderungen zu einerkulturellen Erneuerung anzunehmen und mit Lust und Krea-tivität zu gestalten, d.h. die ästhetische Qualität indivi-duellen wie gesellschaftlichen Handelns in den Blick zu neh-men. Alle Kulturen haben einen eigenen Sinn für Schönheitentwickelt, die Erkennbarkeit und Zugehörigkeit vermittelt.In Formgebungen, Ritualen, Erzähltraditionen usw. wirdSchönheit kulturell deklamiert und vermittelt dem einzelnenMenschen Sinn und Heimat. Was aber ist »Schönheit«?Schönheit ist das Wiedererkennen von Mustern durch Ähn-lichkeit, d.h. die Darstellung von Ordnung in der (scheinbar)chaotischen Zufälligkeit wechselnder Erscheinungen. AmSchönen Anteil zu haben, erfordert Muße und den Sinn für

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Qualität. Sie liegt in den Übergängen von bewusster Gestal-tung und nicht-bewusstem Geschehenlassen. Der Genussvon Schönheit – ob aktiv oder passiv – bewirkt Gelassenheit,Innehalten, Konzentration, kurz: Qualität statt Quantität.Schönheit verlangt eine gewisse Askese, ein Fasten der Sinne,damit das Besondere bzw. Einmalige umso mehr genossenwerden kann, d.h., Schönheit ist ohne die Reduktion vonQuantität nicht zu haben, und eine solche erneuerte Wahr-nehmung kann durch gezieltes Bewusstseinstraining (Acht-samkeit, Meditation) eingeübt werden. Dies hat ökonomisch-ökologische Folgen: Nur wenn nachhaltiges Leben Freudemacht bzw. Genuss bereitet, werden Menschen ihre Lebens-praxis darauf einstellen. Genau dies ist aber der Fall, wenneine entsprechende Pädagogik die Aufmerksamkeit auf dieseZusammenhänge lenkt und erfahrbar macht. Nicht alleinWarnungen oder das Ausmalen von Katastrophen für die Zu-kunft sind wirksam, sondern der Hinweis auf die kreativeFreude bei der Gestaltung von Alternativen! Es geht um einebewusst andere soziale Konstruktion von Wirklichkeit, dennes ist das Bewusstsein, welches das Handeln bestimmt.

10. Bildung in Einheit von Kognition und Emotion

Kognition und Emotion hängen eng miteinander zusammen,wie asiatische psychologisch-philosophische Bewusstseins-modelle seit Jahrhunderten lehren. Die einseitige Entwick-lung des Kognitiven, und die dem Zufall überlassene Ausbil-dung von Emotionen wird nicht der menschlichen Situationgerecht. Emotionstraining ist möglich, Empathie ist erlern-bar, umgekehrt kann der konstruktive Umgang mit Impulsenwie Wut und Ärger ebenso erlernt werden. Studien am MPInstitut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Abtei-lung Soziale Neurowissenschaft (Leipzig) sowie die Studienam Lehrstuhl für Neuroökonomie (Universität Zürich) zei-

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Bildung und Motivation durch Gestaltung und Schönheit

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gen, dass hier pädagogische Möglichkeiten liegen, die z.B. ander Emory University in Atlanta (Center for ContemplativeScience and Compassion-based Ethics) und am MIT Boston(Social Presencing Theater) bereits umgesetzt werden. Mo-dellprojekte an Schulen können eingerichtet werden, um Er-fahrungen in der schulischen Alltagspraxis zu machen. Auchdies sollte im Wettbewerb zwischen Modellschulen imple-mentiert werden.

11. Bildung von langfristigem Zeitbewusstsein

Kurzfristiges Gewinndenken verzerrt die Beurteilung von Er-folg oder Misserfolg bei wirtschaftlichem (realwirtschaftlichwie finanzwirtschaftlich) und kulturellem Handeln. DieSpielräume für längerfristige Strategien sind auch unter heu-tigen Bedingungen vorhanden (Edzard Reuter). Medien undInternetplattformen sollen die langfristigen Wirkungen voneinseitigem nicht-nachhaltigem Handeln offenlegen. Alle»alten Kulturen« haben Rituale entwickelt, die ein Bewusst-sein von generationenübergreifenden Zusammenhängenwachhalten, im Falle der Totenrituale sind auch die Genera-tionen der Verstorbenen einbezogen. Solches Bewusstseinkann heute in Europa kaum noch auf metaphysischer Grund-lage vermittelt werden, wohl aber durch Einsicht in die öko-logische Interdependenz komplexer Systeme. Langfristigkeitund Bewusstsein von Komplexität bedingen einander. Diemediale Vermittlung komplexer Zusammenhänge in derEvolution ist möglich, sie löst Staunen aus. EntsprechendeProjekte in den Medien und Schulungsprogramme in Schu-len, Hochschulen, Volkshochschulen sollen gefördert wer-den, auch hier in der Bildung und Ausbildung von Kognitionund Emotion. Wissenschaftlich gestützte Darstellungen vonKomplexität können zur Bescheidenheit und Relativierungder Möglichkeiten unserer Rationalität beitragen. Dabei wird

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die notwendige Gelassenheit bzw. Distanz sich selbst gegen-über gefördert. Auch hier wiederum spielt die Erziehung zukünstlerischem Gestalten eine wesentliche Rolle. Es mussviel mehr in das Bewusstsein der Bildungsinstitutionen wieder Öffentlichkeit treten, dass Kunst kein Luxus für wenigeist, die nach Marktgesetzen Rendite abwirft, sondern ein in-tegraler Bestandteil der Erziehung zur Förderung von Nach-haltigkeit und Kreativität. In diesem Zusammenhang sei aufdas Hofer Modell zurMusikerziehung41 verwiesen, das in derwissenschaftlichen Evaluation signifikante Ergebnisse bei derFörderung kognitiver, emotionaler wie sozialer Kompetenzerbracht hat. Die Beispiele ließen sich fortsetzen, wie z.B.das Tanz-Projekt »Rhythm is it« der Berliner Philharmoniker(Simon Rattle) für Schüler aus sozialen Brennpunkten inBerlin. Ein Aspekt dieser Dimension von Bildung könnte einneues Zusammenführen von sogenannter klassischer Kunstund Pop-Kultur42 sein, denn die Trennung beider hat his-torisch-soziale Gründe in der europäischen Entwicklung, dieweder verallgemeinerbar noch zukunftsfähig ist.

Diese drei Aspekte der Schönheit, der Einheit von Emo-tion und Kognition sowie der gezielten Übung eines langfris-tigen Zeitbewusstseins durch Zeiterfahrung, die Qualität,

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Bildung von langfristigem Zeitbewusstsein

41 E. Pöppel/L. Welker/E. Gutyrchik/Th. Meindl/P. Carl, Ein andererTon – Das Hofer Modell. Neue Erkenntnisse der Hirnforschung – Mu-sische Ausbildung, kognitive Funktionen und die Neurobiologie derEmotionswahrnehmung, Humanwissenschaftliches Zentrum, LMUMünchen, 2007: »Die Untersuchung zeigte, dass das Erlernen eines In-struments und gemeinsames Musizieren Voraussetzungen schaffenkönnen, damit junge Leute zu geistig und emotional ausgereiften Men-schen heranwachsen. Es lassen sich Transfer-Effekte ableiten, die demSchul- und Erziehungssystem neue Impulse geben sollen.« Die Zahlähnlicher Studien mit ähnlichen Ergebnissen ist kaum noch über-schaubar.42 Ansätze dafür gibt es allenthalben in der Malerei, der Performance-Kunst, im Film und allgemein der Event-Kultur, für Literatur, Theaterund Musik ist es eine Frage der Ansprüche und diesbezügliche kreativeImpulse sollten durch Bildungsinstitutionen massiv gefördert werden.

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statt bloße Quantität beinhaltet, sind Einübungen in spiritu-elle Praxis. Spiritualität ist die gezielte Formung des Be-wusstseins durch sich selbst. Diese ist möglich durch die ver-schiedenen Übungsformen der Meditation. Sie gipfelt in derErfahrung der Einheit der Wirklichkeit, wobei das abgespal-tene Ich-Bewusstsein bzw. das »Ego« überwunden wird. DasIch ist zwar ein integrierter Bestandteil des Bewusstseins, derfür das Überleben des Individuums notwendig ist, aber beiweitem nicht die einzige und alles bestimmende Größe. Eswird vom Bewusstseinsstrom projiziert, spiegelt aber – wiealle Bewusstseins-Konstruktionen – nicht die Wirklichkeitwider, »wie sie ist«. Das Gewahrwerden einer tiefen Verbun-denheit allen Lebens drückt fundamentale Potentiale des Be-wusstseins aus. Es befreit von Angst. Die Überwindung vonAngst vermindert nicht nur Aggressivität, sondern setzt denMut zur Kreativität frei. Diese Potenziale zu wecken und zufördern, ist die Aufgabe der spirituellen Bildung. Sie ist einewichtige Voraussetzung dafür, dass die hier genannten Trans-formationsprozesse gelingen können.

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VIII Fazit

Wann und unter welchen Bedingungen sind Ideen, die zu-nächst nur von ganz wenigen Menschen erdacht und pro-pagiert wurden, bahnbrechend für die Umgestaltung von Le-bensbedingungen ganzer Gesellschaften geworden? Aus denkultur- bzw. religionsgeschichtlichen Umbrüchen der letztenJahrtausende (Entstehung und schnelle Ausbreitung vonBuddhismus, Christentum, Islam, in der Neuzeit Renaissanceim 15./16. Jh., Reformation im 16. Jh., Aufklärung im 18. Jh.und Marxismus im 19./20. Jh.) lassen sich vier Faktoren be-nennen:

• Wenn sie die passgenaue Antwort auf Sehnsüchte reprä-sentieren, die latent oder ausgesprochen vorhanden warenauf Grund von Lebens- und Leidensbedingungen vieler inden jeweiligen Gesellschaften.

• Wenn das Charisma Einzelner die Massen begeisternkonnte.

• Wenn die vorhandenen Kommunikationsmittel genutztoder durch effizientere ergänzt wurden.

• Wenn eine Förderungmit Ressourcen durch die jeweiligenEliten gegeben war.

In der Evolution des biologischen und kulturellen Lebens isteine neue Situation eingetreten: Die Menschheit kann durchihr Handeln die eigenen Lebensbedingungen zerstören (An-thropozän). Dem Schwund der biologischen Arten entsprichtein Schwund an kultureller Vielfalt. Beides ist für das Lebennicht förderlich. Anders als in der Vergangenheit kann aberdie heutige Menschheit durch Wissen und kognitive wie

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emotionale Selbstgestaltung den zerstörerischen KräftenEinhalt gebieten, denn noch nie hat es so viel quantitativesund qualitatives Wissen aus einem interkulturellen Erfah-rungsschatz über das Bewusstsein und die Bewusstseins-steuerung des Menschen gegeben, das fruchtbar gemachtwerden kann. Nicht nur die Möglichkeiten der Technik, son-dern die Weisheit im sozialen Verhalten des Menschen ent-scheiden über die Zukunft. Eine Umorientierung zu mehrLebensqualität statt quantitativem Wachstum ist möglich!Die Kulturen, besonders auch die Religionen, können Res-sourcen dafür bereitstellen, die in kreativen Aneignungspro-zessen wirksam werden. Allerdings ist diese Aufgabe einesfundamentalen Kulturwandels eine beispiellose Herausforde-rung für die »eine Menschheitsfamilie und Gemeinschaft derErdenbewohner mit einem gemeinsamen Schicksal«.43

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FAZIT

43 The Earth Charter, Preamble.

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Nachbemerkung

Die obigen Erörterungen sind einerseits das Resultat reli-gionswissenschaftlicher Analysen, andererseits das Ergebniszahlloser Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen aus denDisziplinen der Neurowissenschaften, der Mathematik, derPhysik, der Biologie, der Chronobiologie, der Soziologie, derPsychologie, der Philosophie, der Germanistik, der Rechts-wissenschaften, die ich am Humanwissenschaftlichen Zen-trum (HWZ) der Ludwig-Maximilians-Universität Münchenüber mehr als zwei Jahrzehnte hinweg führen konnte, undmit Vertretern der an Ökologie orientierten Disziplinen so-wie der Wirtschaftswissenschaften, die sich seit ca. 3 Jahrenum die Gründung der University for Life and Peace in Yan-gon/Myanmar bemühen, deren Schwerpunkt das Studiumder Möglichkeiten einer ökologischen Erneuerung ist. DieseKolleginnen und Kollegen kommen von der Yale University,der Peking University, der ETH in Zürich, der LMU in Mün-chen, der Universität von Manila, der Methodist Universityin Dallas, verschiedenen Universitäten in Taiwan usw. BeideInstitutionen sind in je eigener Weise internationale und in-terdisziplinäre Thinktanks, wie man sie sich produktiverkaum vorstellen kann. Ihnen allen bin ich dankbar für dieunzähligen Anregungen und Einsichten, die ich empfangenhabe.

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