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BerWissGesch 3, 226-228 (1980)
Berichtezur WISSENSCHAFTSGESCHICHTE ( Akademische Vcrlagsgcsc\lschart 19~0
Internationaler Kongreß über Wissenschaftsentwicklung 1848-1918 Budapest 16.-19. September 1980
Diese viertägige Konferenz in Budapest zum Thema "Matters of the Development of Science and Technology in Central Europe during 1848-1918" ist wohl als der wichtigste internale Kongreß auf dem Gebiet der Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik zwischen den Weltkongressen in Edinburgh (1977) und Bukarest (1981) einzuschätzen. Organisiert von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften (Komplexe Kommission für Geschichte der Wissenschaft und der Technik), von der Föderation der technischen und wissenschaftlichen Gesellschaften (Kommission für Geschichte der Wissenschaft und der Technik), vom Technischen Nationalmuseum und der Technischen Universität Budapest vereinigte der Kongreß unter Beteiligung der "International Union of the History and Philosophy of Science" (IUHPS) - vertreten durch A. I. Grigorjan, UdSSR - rund 150 Historiker, Naturwissenschaflter, Ingenieure und Philosophen, von denen die überwiegende Mehrheit aus sozialistischen Staaten kam.
Die Referate wurden innerhalb der folgenden Sektion gehalten: Allgemeine Fragen des wissenschaftlichen FOrtschritts; Geschichte der Ingenieurwissenschaften; Geschichte der Landwirtschaft und der Nahrungsmittelindustrie; Geschichte der Biochemie, Biologie und Medizin; Geschichte der Chemie, der Physik und der mathematischen Wissenschaften; Geschichte der Bildung und der Institutionen.
Schon aus dieser thematischen Gliederung ist ersichtlich, daß disziplinäre Entwicklungen den gewichtigen Schwerpunkt bildeten. So war beispielsweise in der Sektion "Geschichte der Ingenieurwissenschaften" ein Großteil der Referate der technischen und industriellen Entwicklung in Ungarn gewidmet mit der Darstellung von Erfindungen und der Lösung spezieller technischer Probleme in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Dieser Sachverhalt zeigt, daß auch in sozialistischen Staaten innerhalb der Wissenschaftsund Technikgeschichte disziplin- und problembezogene Forschungen eine große Rolle spielen. Allerdings ist hier wie gerade die Entwicklung in der DDR seit 1978 belegt -die disziplinär ausgerichtete Wissenschaftsgeschichte mehr als in westlichen Ländern an gesellschaftliche Aufgaben wie Lehrerausbildung und Volksbildung angebunden. Gleichwohl kamen selbst in disziplinbezogenen Referaten die weltanschaulichen Positionen von Historikern sozialistischer Staaten deutlich zum Ausdruck; so in dem Referat von V. P. Vizgin (UdSSR) über "Leninsche Analyse der Physik im 19. und 20. Jahrhundert", in dem die Leninsche Untersuchung der wissenschaftlichen Revolution um 1900 anhand des Werkes "Materialismus und Empirio-Kritizismus" von 1909 erläutert wurde, oder bei H. Wussing (DDR), der über die "Grundlinie der Entwicklung der Mathematik in der Periode 1850-1920" sprach, die großen Entwicklungslinien in Geometrie, Algebra und Analysis aufzeigte und doch die politischen und sozialen Veränderungen der Periode mitreflektierte.
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War die Tendenz zur großen Detailliebe in der historischen Tätigkeit der " Jäger und Sammler" in etlichen Beiträgen auf der Konferenz in Budapest durchaus vorhanden, so wurden andererseits vor allem in der Sektion "Allgemeine Fragen des wissenschaftlichen Fortschritts" mehr gesellschaftsbezogene theoretische Ansätze der Wissenschaftsentwicklung erörtert. L. Novy (Prag) sprach zum Thema "Soziale und wissenschaftliche Beziehungen der Entwicklung wissenschaftlicher Institutionen". Er warnte in seinem beziehungsreichen Referat vor der Gefahr der methologischen Verengung, wenn nur die gnoseologischen Momente der Wissenschaftsentwicklung beachtet werden und damit das Komplexe der Wissenschaft als einer "relativ selbständigen, aber reich strukturierten gesellschaftlichen Erscheinung" für die historische Arbeit verloren geht. G. Ranki (Budapest) erörterte in seinem Beitrag Beziehungen zwischen dem technischen Fortschritt und der Sozialstruktur der Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts. So waren für das monarchistische Ungarn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die historischen Voraussetzungen für die Entwicklung von Wissenschaft und Technik nicht gegeben, weil mehr als ein Drittel der Bevölkerung weder lesen, noch schreiben konnte und eine Facharbeiterschaft fehlte.
Auch die Beiträge der Teilnehmer aus der Bundesrepublik Deutschland waren zwischen streng disziplinärer Ausrichtung und wissenschaftstheoretischer Anreicherung weit gestreut. K. H. Wiederkehr (Hamburg) behandelte für den vorgegebenen Zeitraum die Entwicklung der Vorstellungen von den magnetischen Eigenschaften der Materie, angefangen mit der Deutung der Sättigung bei der Magnetisierung von Eisen über die Drehungshypothese der Molekularmagnete durch W. Weber (1848) bis zum gyromagnetischen Effekt von Richardson, Einstein und de Haas (1915). W. Schäfer (Starnberg) sprach über die selektive Verwissenschaftlichung und partielle Vergesellschaftung. Seine Eingangsthese "Nicht alle sozialen Zwecke werden verwissenschaftlicht, nicht alle wissenschaftlichen Erkenntnisse werden vergesellschaftet" - erläuterte er an den Beispielen der von Virchow um 1848 konzipierten sozialen Medizin und der von Liebig zwischen 1840 und 1862 entwickelten, ökologisch orientierten Agrikulturchemie. E. Kroker (Bochum) referierte über Entscheidungsprozesse bei der Technisierung von Montanunternehmungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und ging auf einzelne Faktoren, wie Eigentumsverhältnisse und Entscheidungsträger, bei den Entscheidungsprozessen für die Technisierung des deutschen Steinkohleubergbaus ein. W. König (Düsseldorf) sprach über technische Intelligenz und Verwaltung und erörterte im Besonderen die Diskussion um den Beitrag der Technischen Hochschulen zur Ausbildung ftir den allgemeinen und technischen Verwaltungsdienst im Deutschen Kaiserreich. Chr. Hünemörder (Hamburg) erläuterte das Projekt einer ersten umfassenden Darstellung der Geschichte der biologischen Wissenschaften in Deutschland ( 1800-1945) und gab gewissermaßen mit der durch viele Namen und Zahlen befrachteten Beschreibung der Entwicklung der Zoologie an den deutschen Universitäten von 1848 bis 1918 ein Probestück. E. Hickel (Braunschweig) legte ihrem Referat über "Technische Berufe und biochemische Forschung" von vornherein die auf der Konferenz in Budapest allgemein akzeptierte These zugrunde, daß naturwissenschaftliche Erkenntnisse gesellschaftliche Voraussetzungen besitzen und daß ftir die Entwicklung einer wissenschaftlichen Disziplin praktische Bedürfnisse mitentscheidend sind. Vor diesem Hintergrund skizzierte sie ein in Braunschweig anlaufendes Forschungsprogramm zur Darstellung der Entwicklung der Biochemie. Schließlich diskutierte V. Bialas (München) den Zusammenhang zwischen der Gründung von internationalen Wissenschaftsorganisationen als Folge der zunehmenden Differenzierung der Wissenschaften im Zeitalter des entwickelten Industriekapitalismus und den politischen Entwicklungen der Epoche. Als Beispiel wurde auf die Arbeit der Europäischen Gradmessung zwischen 1861 und 1886 eingegangen und die Rolle des politisch und wirtschaftlich aufsteigenden Preußens in dieser Organisation untersucht.
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In vier Punkten seien einige wichtige Resultate des Krongresses in Budapest zusammengefaßt:
1. Heute existieren zwei eng miteinander verbundene und aufeinander angewiesene Bereiche innerhalb der Wissenschaftsgeschichte: einmal die disziplinär ausgerichtete und in den verschiedenen Gebieten des Wissenschaftsspektrums angesiedelte Wissenschaftsgeschichte; zum anderen die allgemeine Wissenschaftsgeschichte, die mehr das Prozeßhafte der historischen Vorgänge herausstellt und sich vorrangig um die Erörterung theoretischer und methodischer Fragen der Wissenschaftsentwicklung und der Wissenschaftshistoriographie bemüht. 2. Die Gegenüberstellung von Konzepten einer internalen und externalen Entwicklung der Wissenschaft bietet eine falsche Alternative. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt ist vielmehr als komplexer gesellschaftlicher Vorgang zu begreifen, der in dieser seiner Besonderheit durch die auf Abstraktionen und Verallgemeinerungen zurückgreifende Tätigkeit des Historikers allzu leicht verloren gehen kann. 3. Wie die Wissenschaftshistoriographie neben den bekannten Heroen der Geschichte zusehends mehr die "kleinen Größen" entdeckt, so werden neben den klassischen Ländern der Wissenschaftsentwicklung auch die weniger bedeutenden, ehemals in Unterdrückung und Abhängigkeit von den Großmächten befindlichen Staaten als Regionen einer noch weitgehend zu schreibenden nationalen Wissenschaftsgeschichte mehr und mehr gewürdigt. E. Olszewski (Warschau), der ehrwürdige Mitbegründer der "Science of Science", unterbreitete dazu den Vorschlag, vergleichende Studien der Wissenschaftsentwicklung im nationalen Rahmen verschiedener Länder anzustellen. 4. Fragen der aktuellen Wissenschaftsentwicklung, wie sie mit dem Terminus "Wissenschaftlich-technische Revolution" umschrieben sind, bleiben weiterhin eher dem philosophisch geschulten Theoretiker als dem spezialisierten Fachhistoriker überlassen. Jedoch kann die klassische Wissenschaftsgeschichte auch weiterhin durch die Erschließung von Quellen, Darbietung des historischen Materials und Darstellung der historischen Vorgänge in Wissenschaft und Technik der Vergangenheit den Theoretikern und Sozialwissenschaftlern bei deren Wissenschaftsanalysen und den daraus abzuleitenden Folgerungen wertvolle Hilfestellung geben.
Abschließend kann gesagt werden: Für jeden, der den Kongreß mit Aufmerksamkeit und Interesse verfolgen konnte, der daneben Muße fand, die ungebrochene Gastfreundschaft Budapests zu genießen und das bunte, pulsierende Leben der Stadt zu erleben, muß der kontrastreiche Aufenthalt in Ungarn ein eindrucksvolles Erlebnis gewesen sein.
Privatdozent Dr. Volker Bialas Kep!er-Kommission der Bayer. Akademie der Wissenschaften Marstallplatz 8 D-8000 München 22