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Irakli Charkviani … · Irakli Charkviani Dahinschwimmen Aus dem Leben eines Königs Aus dem Georgischen von Iunona Guruli Dagyeli˘

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Irakli Charkviani

DahinschwimmenAus dem Leben eines Königs

Aus dem Georgischenvon Iunona Guruli

Dagyeli˘

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Sämtliche Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vorgehalten, verarbeitet, vervielfältigt oder reproduziert werden.

1. Auflage 2018© der deutschen Ausgabe by J & D Dagyeli Verlag GmbH Berlin

Lektorat: Mario PscheraLayout: Loki GraphikGesetzt aus der Faust RR Light

Druck & Bindung: BooksfactoryPrinted in Poland

ISBN 978-3-985597-93-7

Dieses Buch wurde mit freundlicher Unterstützung des Georgian National Book Center und des Ministeriums für Kultur und Denkmalschutz von Georgien veröffentlicht.

Originaltitel: მშვიდი ცურვა © Ketevan Popiashvili 2018© Intelekti Publishing 2018

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Autobiografischer RomanDagyeli˘

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Es ist noch dunkel. Im Schlafzimmer riecht es wie in ei-ner Gruft, und am Vorhang stehen zwei weißgekleidete Ge-stalten. Am Fuß des Bettes, auf einem hölzernen Stuhl liegt eine grobgestrickte Mütze, auf der eine halbgerauchte Zigarre und eine Streichholzschachtel einander wie Verliebte umar-men. Die im Zimmer herrschende Stille wird durch das Bellen eines Hundes gestört, der hinter dem Vorhang geschlafen hat. Kaum erklang seine kläffende Stimme, verschwanden augen-blicklich die zwei leuchtenden, weißgekleideten Wesen. Der Hund hatte anscheinend die beiden angebellt, denn sobald sie verschwanden, beruhigte er sich und setzte seinen Schlaf fort. Ein erster Lichtstrahl glitt ruhig den Fensterrahmen hin-ab und berührte die Schnauze des schlafenden Hundes. Der Hund öffnete kurz ein Auge, streckte seine pechschwarze Nase in den warmen Lichtstrom und schlief weiter. Der Son-nenstrahl erreichte allmählich das Bett, auf dem ein in sein Bettlaken wie eine Mumie eingewickelter Mann lag. Bewe-gungslos starrte er die Decke an. Durch das Fenster drang der nervtötende Sicherheitsalarm eines Autos, der Hund spitzte die Ohren und schaute zu seinem Herrchen, das immer noch regungslos da lag. Der Hund richtete sich auf und näherte sich dem Bett. Neben einem kleinen Holzhocker hielt er kurz inne, dann sprang er auf das Bett, leckte das Gesicht seines Herr-chens und legte sich neben ihn. Sie schauten einander wortlos an. Der Mann machte Anstalten aufzustehen, überlegte sich es aber anders und drehte sich mit dem Gesicht zu dem Hund.

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Mit einer Hand berührte er den Bauch des Hundes. Er spürte eine angenehme Wärme und den ruhigen Herzschlag. So la-gen sie einige Minuten, und der Mann lauschte dem Atmen des Tieres wie einer Musik, dann schnupperte er genussvoll an den zotteligen Nackenhaaren des Hundes. Er war sich si-cher, dass der rotbehaarte Kopf des Tieres auf seinem weißen Kissen genau die Art Kunstwerk war, das keiner stinkenden Ausstellungen und Museen bedarf, denn die Kunst ist in ihrem Wesen glücklicher als die Unsterblichkeit. Allmählich begann sich der neue Tag zu formen. Die Sonnenstrahlen schlichen mit ihren goldfarbigen Tentakeln leise zum Bett, auf dem die beiden lagen. Der Mann lauschte immer noch dem Herzklop-fen des Hundes. Ihm war, als hätten ihn die Wellen an eine unbewohnte Insel geschwemmt. Sein ganzer Körper tat ihm weh, er war erschöpft durch den Kampf mit den Naturgewal-ten, und es bedürfte übermenschlicher Anstrengung, seine Glieder zu bitten, ihm wieder zu gehorchen, ihm wieder die Möglichkeit zu geben, aufzustehen. Ziemlich schwer, das, was das »Selbst« genannt wird, beisammenzuhalten. Immer noch sträubten sich die Glieder dagegen und bevorzugten es, die Bewegungstrajektorie eigensinnig zu bestimmen. Er wandte den Blick von seinen Zehen ab, denn sogar die schauten ihn mit einem befremdlichen und kalten Ausdruck an. Rumi zog die Decke über sie, besser gesagt, tat das seine linke Hand, die zuvor mit dem Zählen der Herzschläge des Hundes beschäf-tigt war. Würde er sich doch fortbewegen können? Warum eigentlich nicht, da es böse Zehen gibt und eine gütige linke Hand, die den menschenverachtenden Blick der Zehen unter der Decke verbirgt. So oder so, zumindest war etwas passiert/geschehen; auf den ersten Blick vielleicht Unwichtiges, aber dennoch Hoffnungsstiftendes. Der Hund spitzte die Ohren: »Guten Morgen«, flüsterte der Mann seinem geliebten Tier zu. Er war sich sicher, dass genau das das Geheimnis war, dessen Offenbarung schon einen Sinn ergab. Im Zimmer roch es nach Körperausdünstungen. Es war eine stickige, trockene Hitze, die der Mann sich mit seinen Lippen abtupfte. Er erfreute sich an dem Duft einer Zigarre, die scheinbar vor einem ganzen

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Jahrhundert ausgedrückt worden war. Auch sein Hund sah wie aus Rauch geknetet aus – wie eine dicke kubanische Zi-garre mit Ohren und Schwanz. Und noch eine angebrannte Zigarre war im Zimmer zugegen. Sie lag auf der Strickmütze, auf dem kleinen Stuhl. Noch hatte sie die Aufmerksamkeit des Hundes nicht auf sich ziehen können, der Vergnügen daran fand, die braunen Stummel zu kauen, womit er regelmäßig den Zorn seines Herrchens erntete. Der Zorn äußerte sich da-rin, dass der Mann den Zeigefinger zur Decke richtete und ein »Lass das!« sagte. Aber in letzter Zeit kam das kaum noch vor. Schweigend und liebevoll schaute der Mann den Hund an, der die bitteren Blätter mit seinen schneeweißen Eckzähnen ge-nießerisch zu zerkauen pflegte. In der Regel tat er dies nach dem Fressen, also drohte der Zigarre noch keine Gefahr. Noch schlief sie auf der gefalteten Mütze und sah im Traum eines kubanischen Fidels warme Finger, die ihren Körper ruhig hin und her rollten. Der Mann schloss die Augen. Volle Konzentra-tion. Ziele auf die Vagina des heutigen Tages, dir sind Geschick und Schönheit genug gegeben, um sie zu erobern, die Gegen-wart mit deinem Dasein zu befruchten, denn du bist bereit, heldenhaft zu sterben.

Wieder beginnt ein neues Jahrhundert. Alles um dich he-rum ist rein und jungfräulich. Steh auf und nimm die Gegen-wart in Angriff! »Nein«, flüsterte der Mann dem neben ihm auf dem Kissen liegenden Hund zu. »Wie, leugnest du mich etwa?«, fragte der Hund. Bis zu diesem Tag redete der Hund nur in den Nachtträumen, nun begann er auch in der Wach-zeit zu sprechen. »Die zwei in Weiß, die am Fenster standen, wer waren sie? Waren sie Engel?« fragte der Hund. »Wahr-scheinlich kamen sie, um mich mitzunehmen«, antwortete der Mann. »Was für Engel sollen das denn gewesen sein? Sie fürch-teten sich vor meinem Bellen und verschwanden«, murmelte der Hund bedrückt und legte den Kopf auf die Brust seines Herrchens. Die beiden lagen bewegungslos und schienen das sich hinziehende Schweigen zu genießen. Dem Mann bereite-te es Freude, wortlos dazuliegen und darüber zu sinnieren,

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dass das größte Unglück der Menschheit ihre unentschiedene Haltung zur Stille war. Den meisten Menschen mangelte es einfach an Geduld, der Stille die Chance zu geben, sich zu zei-gen; diese göttliche Gabe anzunehmen, besser zuzuhören und weniger der Stille eine Schuld zu geben, vor allem am eigenen Misserfolg. Es gibt keinen Grund, die Stille zu bekämpfen, ganz im Gegenteil, man sollte sich mit ihr versöhnen, ihr fol-gen, wenn man zumindest für einen Augenblick Zeuge wer-den will, wie das wahrhafte Glück geboren wird. Gott sei Dank, dass zumindest wir ihren Wert kennen, dass zumindest wir glücklich sind, dachte der Mann und streichelte den Hund. »Du hast recht, obgleich die Gabe, Stille in dem Umfang wahr-zunehmen, wie sie der Umgebung entspringt, nur sehr weni-gen zuteil wird«, dachte der Hund – diesmal sagte er kein Wort, sondern gähnte nur und erging sich weiter im Denken. Der Mann schickte sich an, sich im Bett aufzusetzen, obgleich er diese Stellung nicht mochte, denn dann kam er sich beson-ders desolat vor, vor allem, wenn er eine weiße Unterhose trug. Aber vielleicht würde es ganz anders kommen und er würde auf dem Bett sitzend eine verrückte, endlose Freude verspüren. Noch roch er am Nacken seines Hundes und ver-suchte den Faden zu durchtrennen, der seine Vergangenheit an die Gegenwart knüpfte; Tausende auf dem Bett sitzende Ichs, mit weißen Unterhosen bekleidet, waren wie eine Perlen-kette in seinem Gehirn aufgereiht und letzte Perle in der Kette war der heutige Tag, auch er löste sich vom Faden, landete auf den Boden und rollte unters Bett. Für gewöhnlich würde der Hund ihm nachlaufen, mit ihm spielen, ihn schlimmstenfalls herunterschlucken. Kurz gesagt, es war um einiges angeneh-mer, auf dem Bett liegenzubleiben, vor allem des sonntags. »Heute ist doch Ostern«, sprach der Hund leise. Der Mann dachte nach, sagte aber kein Wort. Ostern ist doch eine äu-ßerst diffizile Angelegenheit, vor allem sonntags, wenn keiner zu irgendetwas Lust hat. Die Gedanken des Mannes purzelten durchereinander und er erblickte Vincent Van Gogh, der in das Gewand eines orientalischen Paschas gehüllt war und sein Selbstporträt für zweiundfünfzig Millionen Dollar

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erstand. Stets muss sich der Mensch um sich selbst kümmern. Du gehst weg, um daraufhin zurückzukehren, nur um dein ei-genes Gemälde für teures Geld zu erwerben. Der Mann lächel-te, er hatte Mitleid mit jedem Wesen, das keine Bleibe hatte. Wenn man auch nur einen Baum pflanzt, bleibt man für im-mer in seiner Nähe, egal ob tot oder lebendig. Kein Mensch würde so viele Millionen für ein Bild von Van Gogh bezahlen außer Van Gogh selbst. Da musste auch der Hund lächeln, der sich an den Humor seines Herrchens und an die eigene wort-lose, telepathische Gabe gewöhnt hatte. Sie lagen immer noch nebeneinander und lauschten den durchs Fenster hereinströ-menden Geräuschen. Das einzige, was diese Geräusche ihnen zu verstehen gaben, war, dass Milliarden ihnen ähnlicher Ge-schöpfe noch eine Chance gegeben wurde, Luft ein- und aus-zuatmen. In genau diesem Augenblick machten alle ihre Mün-der auf, bliesen ihre Nasenlöcher und Kiemen auf und saugten tonnenweise Sauerstoff, Wasser, Erdöl ein, um alles möglichst bald auszuleeren und in dem Cocktailglas, das die Welt heißt, keinen einzigen Tropfen zurückzulassen. Das alles nur, weil sie aufgewacht waren und den Wunsch hatten, es noch ein-mal zu versuchen. Das, was Rumi bis jetzt gierig eingeatmet hatte, war ein von letzter Nacht übrig gebliebener Sauerstoff von schlechter Qualität und der Geruch des Hundes, der ihm großes Vergnügen bereitete, ihm Kräfte verlieh wie ein vita-mingeschwängerter Cocktail. Der behaarte, zigarrendicke Hinterkopf des Hundes war warm und geheimnisvoll wie das Paradies. Rumis Vorstellung nach würde im Paradies ein eben-solcher Hundegeruch herrschen. Dann stellte er sich vor, wie er in einer weißen Unterhose, mit dem Hund auf dem Arm, von einer Dimension in eine andere überginge. Vielleicht wür-den sehr bald schon die Billets zum Paradies verkauft (für Hunde natürlich zum halben Preis). Das Unangenehmste wäre wahrscheinlich, wenn das Paradies gar nicht als eine Art Ku-rort existierte und der Tod nur eine Trennung bedeutete, die Trennung von dem geliebten Hund. »Das kommt gar nicht in Frage«, sprach Rumi und erhob sich vom Bett. Die Sonnen-strahlen hatten das ganze Zimmer erwärmt, vor allem aber

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heizten sie den Stuhl auf, auf dem die Strickmütze und die angebrannte Zigarre lagen. Der Mann verspürte das Verlan-gen zu rauchen. Der erste und deutlichst definierte Wunsch, den er an jenem Sonntagmorgen hegte, war exakt das Inhalie-ren des heißen, kräftigen kubanischen Duftes. Auch die Zigar-re schien nicht abgeneigt und wartete ruhig, mit ihrem leicht angekokelten Gesichtsausdruck, auf das vertraute Klickge-räusch des Feuerzeugs, obgleich sie sich nicht ganz sicher war, was an diesem Morgen klicken würde, denn in dieser Nacht hatten weder Feuerzeug noch Streichholz neben ihr geschla-fen. Einsam und allein lag sie auf ihrem Strickbett, das vom unbekümmerten Duft der Körperausdünstungen durchtränkt war. Der Mann blickte auf die Zigarre und erspürte ihr Aroma, er spürte das von irgendeinem fröhlichen kubanischen Mäd-chen geformte Glied, in welches Sonnenstrahlen eingerollt wa-ren. Das heiße Gold, rot im Körper flimmernd, bringt das Ge-hirn wie ein Kaminschlot zum Schmelzen und macht dich dürsten, dürsten nach einem lustvollen Spaziergang an Oze-anwellen entlang. Dort flaniert ein junges Paar, Hand in Hand, weder wissen sie, dass sie einander lieben noch können sie sich vorstellen, dass ein eben erwachter Mann in einem frem-den Land sie beobachtet. Ein Mann, der besser als sie weiß, wie ihr gemächliches Flanieren am Strand von Havanna seine Fortsetzung findet. Die Reise hatte in Kuba begonnen und führte über Russland zu dem weißen Bett, auf dem ein dicker Hund liegt. Einmal noch musst du die Füße anheben und dich erinnern, wo die Socken liegen. Dann wirst du wie über die Köpfe von Bankräubern Masken über die Füße ziehen, noch einmal würden dich die Zehen mit bekümmertem Gesichts-ausdruck ansehen und dann gezwungen, maskiert in die Hausschuhe zu schlüpfen. Auf dem warmen Fußboden stehen zwei Schiffe, sehr bald schon würde von achtern ein Wind zu wehen anheben und eins nach dem anderen würden die Schif-fe losschwimmen. Dahinschwimmen auf einem warmen Holz-boden … Er holte die Socken hervor, die unterm Kissen gelegen hatten, versteckt vor seinem geliebten Tier, das einfach alles zerkaute, vor allem Sachen, die intensiv nach Herrchen

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rochen. Socken waren für den Hund eine traumhafte Delikat-esse, für die er sogar bereitwillig Schläge in Kauf nahm. Die Ermahnung fiel, als er diesmal nach den Socken schnappte, einigermaßen moderat aus. In gewisser Weise gibt so ein Na-senstüber einem Hund das Gefühl von Stabilität und Sicher-heit. Nicht nur das, er erinnert ihn daran, dass das Leben wei-tergeht, dass der heutige Tag keine Ausnahme darstellt. Das Einzige, was den Hund ein wenig zu irritieren schien, war der unerwartete Besuch der Engel, die zu merkwürdiger Tageszeit und aus unerfindlichem Grunde bei dem purpurroten Vor-hang erschienen waren. Alles andere hingegen schien völlig normal zu sein, auch der Stups auf die Schnauze mit den inei-nandergestülpten Socken. Will heißen, ein neuer Tag begann. Rumi saß auf der Bettkante, ein Fuß steckte im Hausschuh, mit dem anderen berührte er die angenehme Oberfläche des von der Sonne aufgeheizten Fußbodens. Er vertraute ganz auf dieses angenehme Gefühl und begann den Sonntag mit dem linken Fuß. Für eine Sekunde hielt er inne und dachte, es wäre kein gutes Omen, den Tag mit dem linken Fuß zu beginnen, aber da war es bereits zu spät, schon war er auf den Beinen und setzte sich die Strickmütze auf. Die Mütze diente ihm seit Jahren schon treu ergeben, sie beruhigte ihn, er war sich sogar sicher, dass die Mütze ihn vor negativen Gedanken beschütz-te, kurz, sein Kopf war wahrhaftig für diese Mütze erschaffen worden. Er pflegte des öfteren zu sagen, dass die Mütze sein eigentlicher Kopf sei, während dieser einen unverständlichen Auswuchs darstelle. Nur der Hund und die auf der Strickmüt-ze übernachtenden Zigarren durften Herrchen ohne seine Kopfbedeckung zu Gesicht bekommen. Mit einem Schwung war Rumi auf den Beinen und schaute in den Spiegel. In seiner weißen Unterhose glich er eher einem von den Toten Aufer-standenen als einem frisch Aufgestandenen. Er selbst befand, dass er einem Taucher glich, der sich anschickte, mit dem Tau-cherhelm auf dem Kopf die Untiefen des Ozeans zu ergrün-den. Der Hund stand an Deck und wartete auf das Kommando des Kapitäns. Er sah gigantische tiefblaue Wellen und verrück-te Möwen, die das Schiff umkreisten. Und da, der Kapitän!

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Mit einem Lächeln ermunterte er den Taucher, klopfte ihm auf die Schulter und sagt bedächtig: Spring hinein! Was folgt, sind Stille und ein bis zur Schwärze blaues Wasser, ein stilles Dahinschwimmen. Alles, woran du dich unter Wasser erin-nerst, ist, dass es dir, indem du mit ruhigen Bewegungen vol-ler Vertrauen der Strömung folgst, noch besser gelingt, die Un-terwasserwelt zu ergründen und nach einer bestimmten Zeit an einem sicheren Ufer aufzutauchen, wo eine kleine, von tro-pischen Pflanzen umgebene Holzhütte sowie eine dich lieben-de Ehefrau und eure Kinder auf dich warten, die bis zum Tod bei dir bleiben und dir Fürsorge und Liebe angedeihen lassen, das aber nur unter der Voraussetzung, dass du auf dein Herz hörst und nicht etwa planst, eine neue Poesie zu erfinden, den Helden zu spielen, dich sinnlos kreuzigen zu lassen – was an-dere stets mehr erfreut als die deinigen. Das wirkliche Helden-tum besteht doch darin, auf das Heldsein zu verzichten.

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WLADIMIR ILJITSCH (DER FÜHRER)

Der charakteristische Geruch einer Flugzeugtoilette ist die simple Bestätigung dessen, dass du noch immer ein schwe-rer Stein bist, der eines eisernen Vogels bedarf, um sich zwi-schen Wolken fortzubewegen. Dir bleibt nichts anderes übrig, als ein Theaterstück in mehreren Akten aufzuführen, mit ei-nem gespielten Lächeln, nervösem Gang und natürlich medit-ativem Erstarren in einem Sessel, der dich mit seinen Gurthän-den seit einer Ewigkeit um den Bauch gepackt hält und mit dem metallenen Gurtschloss deinem Penis Schmerzen berei-tet. Du schließt die Augen und versuchst nach Kräften, dich deiner selbst anzunähern. Alles kannst du dir vorstellen: Schnee, eine Wolke, sogar Waschpulver, und nun kannst du mit dem Schrubben und Putzen deiner schmutzigen Vergan-genheit beginnen. So eine Seelenreinigung ist zwar eine müh-selige Angelegenheit, aber es heißt, dass diese Prozedur viel effektiver im Himmel gelinge als auf der sündigen Erde. Beden-ke stets: Je höher der eiserne Vogel steigt, desto weniger wer-den Ausscheidungen dein Bewusstsein beschmutzen. Das al-les hilft dir, damit aus verschrumpelten Gefühlen eine zarte Schönheit ohne Vergangenheit geboren wird, damit der rosige Jüngling – die erste Stufe der Erleuchtung – wie eine Knospe aufspringt. Mit einem zufriedenen Lächeln schaute Rumi auf seine Sitznachbarn. Sollen die anderen doch schwatzen, nach Wasser oder Kaffee verlangen. Er würde die Augen schließen und über das rosige Baby nachdenken, das in seinem Herzen ausgebrütet wurde, er würde sich jenem unendlichen Glück überlassen, einer Erleuchtung teilhaftig zu werden. Während er sich ganz diesen Gedanken hingab, sah er in den Händen seines Sitznachbarn einen winzigen Radioempfänger und starrte unwillkürlich auf den Zeigefinger des Mannes, der ver-schiedene Sender auf seinem Radio suchte. Rumi spürte einen unerträglichen Schmerz im Rücken, als sein Nachbar den da-hingleitenden Pfeil seines Radioempfängers auf einem der

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Sender stehen ließ. Er konnte die Radiostimme nicht hören, denn der Mann hatte Kopfhörer aufgesetzt. Rumi starrte nur auf den Zeigefinger, der den Pfeil auf einen anderen Sender umschalten ließ. Der Schmerz verschwand. Erleichtert atmete er auf, wischte sich den kalten Schweiß ab, und ihn überkam das Gefühl, dass sein Schmerz auf irgendeine Weise mit den unbekannten Radiofrequenzen und dem Zeigefinger des Rei-senden in direkter Verbindung stand. Der Nachbar konnte von einer Sekunde auf die andere die Empfindungen von Rumi ändern. Mit einer Fingerbewegung schickte er ihn mal in die Hölle, mal ins Paradies. Im Grunde genommen ist jeder Mensch ein Radioempfänger und empfängt verschiedene Sen-der auf verschiedene Frequenzen; aber welcher Sender es sein würde, wird durch den Finger eines Fremden bestimmt und nicht durch die eigenen Wünsche. Für den Finger spielt es wahrscheinlich gar keine Rolle, ob du dich gut oder schlecht benimmst, oder ob du dich in der Hölle oder im Paradies befin-dest. »Ich bin Sklave der unbewussten Bewegung von irgend-jemandem«, dachte Rumi, während er auf den Zeigefinger des Fremden starrte und schließlich erleichtert aufatmete, als der Reisende den Radioempfänger auf dem Sitz liegen ließ und in den hinteren Teil des Flugzeuges ging. Rumi schloss die Augen und sah einen blassen Lichtkreis. Das Licht verstärkte sich zu-sehends und, als sei es explodiert, zerstreute es sich, vermisch-te sich mit der Luft und verlor sich. Rumi spürte, wie alles, was ihm in der jüngsten Vergangenheit so wichtig vorgekommen war, sich von ihm entfernte. Jede nachfolgende Sekunde ver-tiefte den Abgrund zwischen ihm und seinem Leben. Die Dis-tanz wurde so groß, dass er sich bemühte, die Augen aufzu-machen, aber vergebens – beziehungsweise, er hatte die Augen bereits weit geöffnet, nur sah er nichts außer in der Dunkelheit aufblinkende Pünktchen. »Vielleicht bin ich gestor-ben?« dachte er und versuchte noch einmal, und wieder verge-bens, aufzuwachen. »Hab keine Angst, du bist noch nicht tot. Der Tod ist wesentlich angenehmer«, sagte ein Russisch spre-chender Mann, der in einiger Entfernung von Rumi auf einem Sargdeckel saß und sich mit einer Zahnbürste den Bart

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kämmte. Er sprach zu ihm ohne einen Laut, indes Rumi er-staunt auf den gläsernen Sarg und den winzigen Mann schau-te, der in der ihm fremden, aus irgendeinem Grunde dennoch verständlichen Sprache mit ihm weiterredete. »Deiner spiritu-ellen Entwicklung wegen gehörst du den Auserwählten an, deshalb sollst du, so wie jeder von uns, davon wissen. Zuwei-len wirst du etwas sehen, was andere nicht sehen können, da-rum solltest du besser schweigen und nicht herausposaunen, dass du ein Auserwählter bist. Du musst begreifen, dass alles, was dir zuteil wird, nur für dich bestimmt ist und dass du es mit anderen nicht teilen darfst, weil du sonst zu einen Ver-rückten erklärt und ins Irrenhaus gesperrt oder gar gekreuzigt wirst … Du verstehst mich schon … Hauptsache ist, dass du mit deinen Visionen die Menschen nicht daran hinderst, sich selbst zu erkennen.« Urplötzlich fiel dem auf dem Sargdeckel sitzenden Mann die Nase ab, die er jedoch äußerst geschickt in der Luft fangen und wieder an ihrem Platz zu befestigen wuss-te. Sein Gesichtsausdruck blieb unverändert, dennoch spürte Rumi, dass der Mann ihm zulächelte. Die Erkenntnis der Menschheit darf die für sie bestimmten Grenzen nicht über-schreiten. Die Menschen dürfen nicht massenhaft durch die Zeit reisen, das ist ein Vergnügen, dass den Auserwählten vor-behalten ist. Ihre Fortbewegung gefährdet nicht das natürli-che Gleichgewicht, die massenhafte Reise der Menschen hin-gegen würde die Erde zugrunde richten. Also mögen sie dort bleiben, wo sie sind«, sagte der Mann und stand auf. »Wie vie-le Auserwählte gibt es zusammengenommen?«, fragte Rumi. »Ungefähr bis zu einhundert. Das ist alles, was ich weiß … Sie wissen viel mehr«, er zeigte mit der Hand zur Decke. »Wer sind sie?« fragte Rumi. »Die, die uns erschaffen haben. Sie sind unsichtbar. Auf ihrem Planeten ist alles unsichtbar. Sie sind schwerelos. Überhaupt haben sie kein Gewicht. Das ist alles, was ich weiß«, sagte der Mann und schwebte in der Luft. Rumi starrte ihn verblüfft an, ließ sich seine Verwunderung gleich-wohl nicht anmerken, denn er war ja bereits ein Auserwählter, und vielleicht wäre auch er imstande zu fliegen. Zaghaft ver-suchte er, die Gesetze der Schwerkraft zu überwinden und zu

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springen, was ihm jedoch misslang. Bekümmert stand er ne-ben dem Sarg und fand sich mit der Tatsache ab, dass Schwe-relosigkeit zu erlangen ihm noch nicht vergönnt war. Der Flie-gende schien nicht mehr auf den Boden zurückkehren zu wollen, und seine unangenehm quäkende Stimme war aus der entferntesten Ecke des mit Granit ausgelegten Raumes zu hö-ren. »In jener idiotischen Alltagsroutine, die dich gleich einem Zigarettenqualm erstarren lässt, gibt es noch eine andere, un-gleich subtilere Realität, die nur die Auserwählten wahrneh-men können. Eben in dieser Minute befindest du dich darin! Wisse, dass in jeder Dimension eine andere Dimension ver-borgen ist. Wichtig allein ist, dass der Nebel sich legt, dass die Aura deiner Seele den Nebel überwindet, dann wirst du dort landen, wo es viel angenehmer ist als dort, wo du bisher gelebt hast. Sie sitzen ineinander, wie Matrjoschkas1!« – der Mann sprach das russische Wort mit einem ganz eigenen Akzent. »Wer?«, fragte Rumi. »Die Dimensionen«, hörte er aus der Fer-ne die Stimme des fliegenden Mannes. In das Gebäude, in dem sie sich auf aufhielten, legte sich eine weiße Wolke, es war ihm nicht mehr möglich, den fliegenden Mann auszumachen. Rumi hörte allein seine Stimme, und auch das nur aus sehr weiter Ferne, als käme sie aus der Vergangenheit. Er versuch-te, die Luft einzuatmen, aber die leuchtend weiße Wolke war schwerer als Luft und schmeckte nach einer merkwürdigen Milch. Nach einigen Minuten hörte Rumi auf zu atmen, er trank einfach nur das für ihn bestimmte weiße Getränk. Einige Schlucke noch, und er spürte, dass er kein Gewicht mehr hat-te. Er löste sich von der Erde. Rumi schwebte gemächlich durch den Raum und betrachtete die Wände des Saales. Ein kalter Schauer lief über seinen Rücken, als er eine Inschrift in russi-scher Sprache erblickte. Wie sich herausstellte, war er die gan-ze Zeit bei niemand Geringerem als dem Großen Führer des Proletariats, Wladimir Iljitsch Lenin zu Gast, und der granitge-pflasterte Saal war nichts anderes als das im Moskauer Zent-rum errichtete Mausoleum. Völlig sinnlos, darüber nachzu-grübeln, wie er hierhergekommen war, denn Rumi war damit

1 Ineinander steckende, bunt bemalte russische Holzpuppen

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beschäftigt, die Bewegungen einzuüben, die ihm die Bewe-gung im Raum ermöglichten. Er war ein guter Schwimmer und hätte sich doch nie vorstellen können, dass genau diese Erfahrung ihm beim Fliegen behilflich sein würde. Das Einzi-ge, woran er sich aus seiner Vergangenheit erinnerte, war der kleine Radioempfänger und der Zeigefinger des unbekannten Mitreisenden. Während er sich durch die Luft bewegte, über-kam ihn das Gefühl, immer noch in dem komfortablen Flug-zeugsessel zu sitzen, gleichzeitig aber trank er die milchüppige Luft und suchte nach Wladimir Iljitsch Lenin, der ihn mal von dieser, mal von jener Ecke zu sich rief. »Du hast noch keinen Schimmer, was das Leben ist!«, hörte er Lenins Stimme ganz von nahem. Der hing wie eine Fledermaus, kopfunter, tatsäch-lich neben ihm. »Du weißt es noch nicht, weil du noch nicht gestorben bist. Was die Menschen dem Tod nicht alles nach-gesagt haben. Sie haben ihn als Hölle betitelt, während der Tod in Wahrheit das größte Glück ist, der endgültige Sieg der Seele über das Fleisch. Er ist die höchste Stufe der Entwick-lung, die keines Gewichtes mehr bedarf, des Gewichtes des Körpers, du wirst befreit sein und dann fast genauso, wie sie«, der kopfunter hängende Lenin wies mit dem Finger in einen entfernten Winkel des Mausoleums. »Ich bin tot, und ich bin unsichtbar, während du mich gleichwohl siehst. Das geschieht nur, weil es eine Bedeutung für dich hat, aber in Wirklichkeit ist das gar nicht notwendig«, sagte Lenin mit kindlich erregter Stimme. Rumi ließ Lenins Worte unbeantwortet, denn es be-reitete ihm so viel Freude, sich im Raum zu bewegen, dass es ihm schwerfiel, überhaupt etwas zu sagen. Er schaukelte auf den unsichtbaren Wellen, er lag in der Luft wie auf Wasser, vertraute sich der weißen Wolke an, und ihn kümmerte nicht mehr, dass alles, was um ihn herum geschah, kein nächtlicher Traum war. Er wusste nun ganz sicher, dass er sich in Moskau auf dem Roten Platz im Mausoleum befand und mit dem zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts verstorbenen Führer des Proletariats nicht nur sprach, sondern mit ihm gemein-sam durch die Luft schwebte. Möglich, dass er gestorben war, aber wieso konnte er sich nicht daran erinnern, wann das

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passiert war? »Quäl dich nicht mit Gedanken an den Tod. Du bist noch am Leben, und wenn du erst stirbst, wirst du dich noch besser fühlen. Du bist ein Auserwählter, und du hast vor deinem Tod einen Auftrag zu erledigen.« »Einen Auftrag?«, hakte Rumi nach. »Du befindest dich in diesem Moment in dem Flugzeug, in dem über zweihundert Menschen sitzen. Auf dem Sitz neben dir liegt ein roter Radioempfänger, in den eine Bombe eingebaut ist. Du musst sie zünden«, sagte Lenin und schaute Rumi in die Augen. »Ich bin doch aber hier!« mur-melte Rumi verängstigt. »Sobald du die Augen schließt, wirst du wieder im Flugzeug sitzen. Bist du bereit?« »Bereit, um mich selbst und so viele andere Fluggäste in die Luft zu jagen? Nein!« »Aber du bist doch ein Auserwählter und du hast hel-denhaft zu sterben. Eines Tages wirst du es sowieso tun, des-halb rate ich dir, es nicht zu hinauszuzögern, sonst musst du viele sinnlose Jahre noch einmal hinter dich bringen, um letzt-lich wieder an diesen Punkt zu gelangen. Sagst du wieder ab, gehst du über noch eine Runde, und so weiter bis in alle Ewig-keit, bis du mutig genug bist, diesen heldenhaften Schritt zu tun.« »Ich kann die Menschen nicht töten«, erwiderte der ver-ängstigte Rumi leise. »Du bist so oder so gezwungen, es zu tun, denn es ist ihr Befehl!«, sagte Lenin und hob den Finger zur Decke hin. »Nein! Nein!« rief Rumi aus und schwebte in die Mitte des Saals. Mit nervösen Bewegungen versuchte er schnell voranzukommen, um zum Ausgang des Mausoleums zu finden. Ganz plötzlich fand er sich tatsächlich vor der Tür wieder, die sich vor seiner Nase öffnete. Rumi entkam dem Mausoleum, und Fliegen konnte er immer noch. Er erblickte die berühmten Pflastersteine, den Roten Platz, über den Besu-cher flanierten. Es war ein heißer Moskauer Juliabend, noch war es nicht dunkel und Rumi konnte alles sehr gut erkennen: Kinder mit roten Wimpeln in den Händen, verliebte Pärchen, die völlig unbeeindruckt dahinspazierten, während er über ih-nen hinwegflog. Er hatte den Platz bereits hinter sich gelassen, als er hinter sich Lenins Stimme hörte. Rumi blickte zurück und schrie vor Schreck auf, als er auf dem Roten Platz einen riesigen, fliegenden Teller sah, der wie ein Pilz den gesamten

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Platz überdeckte. Die Menschen bemerkten nichts davon. Sie spazierten ganz normal umher und durchschritten die un-sichtbaren Wände des fliegenden Objekts. »Außer dir kann niemand es sehen«, hörte er aus der Ferne Lenins Worte. Er wollte etwas sagen, aber sein Mund füllte sich mit Wasser und instinktiv bewegte er die Arme. Er schwamm. Rumi hatte zum ersten Mal geschafft, sich ohne Hilfe seiner Mutter auf dem Wasser treiben zu lassen. Er schrie vor Freude, schluckte da-bei Wasser und krallte sich mit einer Hand an das sandige Ufer. Dann erhob er sich und atmete erleichtert durch. Um ihn herum plantschten Kinder, seine Badelatschen lagen am Strand. Rumi kroch auf allen Vieren nach oben, und am son-nendurchglühten Strand angekommen, schob er seine Füße in die Latschen. Seine Mutter lag unter einem weißen Sonnen-schirm. Sie hob den Kopf und versuchte, ihr Kind zu erblicken. Als sie den dem Wasser entstiegenen Rumi sah, legte sie ihren Kopf wieder auf den Sand und schlief weiter. Der Junge näher-te sich wortlos seiner Mutter und legte sich auf das für ihn ausgebreitete gelbe Handtuch. Ihn überkam das Gefühl, dass die Luft, die er einatmete, keine ganz normale Luft war. Sie schmeckte merkwürdig süßlich. Rumi beobachtete das Meer und bekam vor Stolz eine Gänsehaut, als er sich vorstellte, wie er der Mutter sagen würde, dass er bereits schwimmen konn-te, dass er zum ersten Mal in seinem Leben geschafft hatte, sich auf der Wasseroberfläche treiben zu lassen. Rumi warte-te ungeduldig, dass die Mutter aufwachen würde. Er schaute still auf den riesigen Vogel, der still die Luft durchquerte und dessen Bewegung einem Schwimmen ähnelte, einem endlo-sen, stillen Dahinschwimmen in einem tiefblauen Himmel…

Während der Landung dachte er nur daran, dass der Pilot bloß keine zittrigen Hände bekommen möge und das Flugzeug sicher zu Boden bringe. Zusammen mit den anderen Fluggästen gab sich Rumi wohlig den Erschütterungen beim Aufsetzen hin. Er hatte seine Augen geschlossen und öffnete sie erst, als er den Applaus der Passagiere hörte. Am Flughafen wartete Klaus, der Brillenträger auf ihn, der ihm die Autotür

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öffnete. Das Auto setzte sich in Bewegung und bereits wenige Minuten später raste es mit enormer Geschwindigkeit dahin. Rumi zog sich die Mütze über die Augen und drehte den Ra-dioempfänger auf volle Lautstärke. Die Musik ließ Klaus ver-stummen, der wohl etwas sagen wollte, stattdessen aber sich eine Zigarette anzündete. Rumi war froh, dem Fahrer keine Möglichkeit zum Reden gegeben zu haben, denn Klaus redete in der Regel nur Unsinn, zudem stotterte er. Das Einzige, was er wirklich gut konnte, war Autofahren. Wahrscheinlich war er der schnellste Raser der ganzen Welt. Aus dem Auto ausge-stiegen, rannte Rumi die Treppen bis zur Türschwelle seines Zimmers hoch. Er schloss die Tür hinter sich und war endlich allein. Er liebte das Alleinsein, vor allem die Stille. Still saß er, schritt leise, genoss das Gefühl, für die Realität mehr und mehr unsichtbar zu werden. Erschöpft von der Reise, beschloss er, eine Dusche zu nehmen. Um sich dem Genuss des Wassers noch mehr hinzugeben, würde er in der Badewanne einen Joint rauchen. Das üppige Aroma des Rauches und der Dampf heißen Wassers würden sich in ein Eins verwandeln, das ihn für fünf Minuten verschlingen und erst in sauberem und be-ruhigtem Zustand aus einer angenehmen Gefangenschaft be-freien würde. Noch ist er im Moment ein Sklave von Visionen, er sitzt in einem Zug, der eine kosmische Form hat und gerade an einem tiefblauen Gleis angekommen ist. Im Speisewagen herrscht eine blaue Kühle. Hier, anstelle des bestellten Fisches bringt man dir einen gebratenen Apfel mit süßer Creme, du aber protestierst nicht, ganz im Gegenteil, du nimmst alles, was man dir anbietet, freudig entgegen. Du vertraust dich voll und ganz den sterilen Gesichtern der Kellner und der absolu-ten Sauberkeit an. Du bist dir sicher, dass das Purgatorium kein Ende haben wird. Fleischlos entwickelst du dich ruhiger, Hauptsache, du gibst dich dem Nachttraum vollkommen hin und machst es dir in dem Zug am tiefblauen Gleis bequem. Du sitzt nicht länger im Gefängnis deines eigenen Gehirns. Dein Geist ist bereit, sich mit dem Kosmos zu vereinen. Der in der violetten Dunkelheit versunkene Rumi stellte sich sei-nen brennenden Rücken vor. Als er seinen Rücken umquerte,