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(Aus der Psychiatrischen Universiti~tsk]inik.) Irrenfiirsorge und Kulturentwicklung. Von W. Weygandt (Hamburg). Die Fiirsorge ffir psychisch Kranke, insbesondere dis Anstalts- unterbringung, stellt in jedem 5ffent]ichen, staatliehen oder kommu- nalen Organismus ein wenig beliebtes, undankbares Ressort dar, zu- n~chst sehon wegen der schwierigen Materie, besonders aber wegen de1 stets wachsenden Kosten, die eine durehaus unproduktive Kapitals- anlage scheinen und nur zum geringsten Teil wieder aus dem Betrieb herausgewirtschaftet werden kSnnen. Wenn auch nieht alle Betriebe so aul~erordentlich kostspielig geworden sind wie gegenwartig bei- spielsweise in Hamburg, wo die Selbstkosten ffir Kopf und Tag RM. 8,27 betragen, so ist doeh der Fall wie St. Lueas in Pau in Frankreich 1, wo Kostgelder und etwaige Bodenertriignisse, die durch Patienten-Hilfs- kr~fte gewonnen werden, die laufenden Ausgaben deeken, eine seltene Ausnahme. Gerade um deswillen kann aber eine intensive Irrenffirsorgr als ein Gradmesser fiir kulturelles Empfinden angesehen werden. Mit dem gleichen Recht, wie man gelegentlieh den Verbrauch an Seife als einen Barometer des Kulturstandes eines Landes bezeichnet hat, kann man auch sagen, da~ die Fiirsorge ~fir die Hilflosen, insbesondere dis psychiseh Defekten, einen solchen Index darstellt. Aber wir mfissen uns doch hfiten, diese Parallele als eine strenge Gesetzmi~l~igkeit anzusehen. Dann wiirde beispielsweise das christliche Mittelalter recht ungfinstig abschneiden. W~hrend der Islam in Kairo, Damaskus, Bagdad, Fez, Coldova usw. Ffirsorgeeinrichtungen ffir Irre getroffen hatte, bestand in dem grSl~eren Teil des Mitre]alters in den christliehen Landern nichts dergleichen, so gut ~e die Strafjustiz und auch dis Hilflosenffirsorge noeh yon einer uns nieht mehr fal~baren Grausamkeit war. Anstaltsartige Einrichtungen ffir Geisteskranke erstanden erst 1246 in Bedlam zu London, 1326 in Elbing, 1376 in Hamburg, 1460 in Niirn- berg usw. Zweifellos wurde die Zahl der Geisteskranken gerade durch 1 Whiteway, Eine 5ffentliche Irrenanstalt, die sich wirtschaftlich selbstandig erh~lt. Psychiatr.-neur. Wschr. ], Nr 26 (]900).

Irrenfürsorge und Kulturentwicklung

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(Aus der Psychiatrischen Universiti~tsk]inik.)

Irrenfiirsorge und Kulturentwicklung. Von

W. Weygandt (Hamburg).

Die Fiirsorge ffir psychisch Kranke, insbesondere dis Anstalts- unterbringung, stellt in jedem 5ffent]ichen, staatliehen oder kommu- nalen Organismus ein wenig beliebtes, undankbares Ressort dar, zu- n~chst sehon wegen der schwierigen Materie, besonders aber wegen de1 stets wachsenden Kosten, die eine durehaus unproduktive Kapitals- anlage scheinen und nur zum geringsten Teil wieder aus dem Betrieb herausgewirtschaftet werden kSnnen. Wenn auch nieht alle Betriebe so aul~erordentlich kostspielig geworden sind wie gegenwartig bei- spielsweise in Hamburg, wo die Selbstkosten ffir Kopf und Tag RM. 8,27 betragen, so ist doeh der Fall wie St. Lueas in Pau in Frankreich 1, wo Kostgelder und etwaige Bodenertriignisse, die durch Patienten-Hilfs- kr~fte gewonnen werden, die laufenden Ausgaben deeken, eine seltene Ausnahme. Gerade um deswillen kann aber eine intensive Irrenffirsorgr als ein Gradmesser fiir kulturelles Empfinden angesehen werden. Mit dem gleichen Recht, wie man gelegentlieh den Verbrauch an Seife als einen Barometer des Kulturstandes eines Landes bezeichnet hat, kann man auch sagen, da~ die Fiirsorge ~fir die Hilflosen, insbesondere dis psychiseh Defekten, einen solchen Index darstellt.

Aber wir mfissen uns doch hfiten, diese Parallele als eine strenge Gesetzmi~l~igkeit anzusehen. Dann wiirde beispielsweise das christliche Mittelalter recht ungfinstig abschneiden. W~hrend der Islam in Kairo, Damaskus, Bagdad, Fez, Coldova usw. Ffirsorgeeinrichtungen ffir Irre getroffen hatte, bestand in dem grSl~eren Teil des Mitre]alters in den christliehen Landern nichts dergleichen, so gut ~ e die Strafjustiz und auch dis Hilflosenffirsorge noeh yon einer uns nieht mehr fal~baren Grausamkeit war.

Anstaltsartige Einrichtungen ffir Geisteskranke erstanden erst 1246 in Bedlam zu London, 1326 in Elbing, 1376 in Hamburg, 1460 in Niirn- berg usw. Zweifellos wurde die Zahl der Geisteskranken gerade durch

1 Whiteway, Eine 5ffentliche Irrenanstalt, die sich wirtschaftlich selbstandig erh~lt. Psychiatr.-neur. Wschr. ], Nr 26 (]900).

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den Mangel an Fiirsorge niedrig gehalten, indem viele, die antisozial wurden, durch Richterspruch wegen irgendwelcher Handlungen, die heute unter den Unzurechnungsf~higkeitsparagraphen fallen wiirden, ausgemerzt wurden. Auch dem Suicid und besonders dem Tod durch Ver- wahrlosung fielen unstreitig viele Geisteskranke anheim. Schwer zu beur- teilen ist die Zahl der den Hexenprozessen zum Opfer Gefallenen, jedoch ist sie gewil~ nicht niedrig einzusch~tzen.

Die Kulturfortschritte auf dem Gebiet des Irrenwesens kommen in den verschiedenen L~ndern uicht gleichmiif3ig allen Abarten der Ffir- sorge zugute: Vielfach wurde im Bereich der Hauptstadt ein Asyl ge- schaffen, w~hrend die Provinzen noch zurfickblieben, wie es sich auch wohl mit Bedlam in London verhalten hat, das 1246 gegrfindet wurde und erst vor wenigen Jahren yon seinem ungeheuer wertvollen Gel~nde auf dem rechten Themseufer, unweit den Zentren des Verkehrs, auf- gehoben wurde.

In Frankreich, wo die Befreiung der Geisteskranken aus ihren Ketten durch Pinel am 24. V. 1798 nicht als Folge der revolution~ren Frei- heitstendenzen einsetzte, sondern geradezu den Machthabern der Republik abgerungen werden muBte, erstanden vor 2--3 Menschenaltern eine Reihe ansehnlicher Irrenanstalten, denen aber nicht eine gleichm~$ig fortschreitende Entwicklung der Ffirsorge nachfolgte. Das Prinzip, dab in den Anstalten mehrere Chefi~rzte je einen Service haben, wi~hrend als zusammenfassende und dadureh superordinierte PersSnlichkeit ein Verwaltungschef darfiber sehwebte, wobei vielfach PersSnliehkeiten ohne die geringsteVorbi]dung eine solche Stelle aus politischen Grfinden, fast als eine Art Sinekure, erhielten, hat gewiB zu der Hemmung einer Entwicklung beigetragen, die in Deutschland unter der ausschlaggeben- den Leitung sachkundiger ~rzte sich unstreitig kulturwfirdiger ge- staltet hat.

Im ganzen hat England durch die dem gesamten Land eigene, grfindliche Durchffihrung hygienischer Mal]regeln auch die Irrenfiir- sorge zu hygienisch gut ausgestatteten Einrichtungen gefiihrt, wenn- schon die Zahl der Anstalts~rzte im allgemeinen geringer ist als bei uns. Immerhin sind an den gr51]eren Anstalten wissenschaftliehe Einrich- tungen und spezialistiseh vorgebildete Theoretiker. Allerdings weieht das Behandlungsprinzip nicht unwesentlich yon dem unsrigen ab, in- dem der Naehdruck auf die zwei extremen Kategorien gelegt wird: erregte und unsoziale Isolierbedfirftige einerseits und soziale Aufkranke andererseits, w~hrend die in unseren Aufnahmeanstalten wichtigste Gruppe der Bettkranken in Wachsi~len dagegen ganz zurficktritt.

In Italien sind die Anstalten vielfach baulich nach dem Muster vieler franz6sischer als Korridorbauten ausgeffihrt undes ist zweifellos noch nicht der Entwicklungsstand der ffihrenden deutschen Anstalten

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erreicht. Noch anfangs des Jahrhunderts waren in S. Servolo bei Venedig viele Ket ten im Betrieb 1.

Bescheidener noch ist der Betrieb in Spanien und Portugal, ob- wohl schon dort gelegentlich durch die Initiative einzelner J~rzte unter schwierigen Bedingungen betr~chtliche Fortschritte gemacht sind, so in der Anstalt Miraflores bei Sevilla durch Prof. Affuilar.

Gelegentlich haben manche Staaten durch einmalige Aufbringung betr~chtlicher Mittel ffir eine meist der Haupts tadt zugeordnete An- stalt geglaubt, ihre Verpflichtungen abreagieren zu kSnnen. So hat Griechenland eine ansehnliche Anstalt westlich yon Athen, an der heiligen Stral~e nach Eleusis, in der man vor einer Reihe von Jahren noch besonders stolz war auf die Einrichtung einer ffir teures Geld aus Frankreich hezogenen Gummizelle, w~thrend dieses fiberflfissige Requisit in Deutschland eigentlich nur im Volksmunde, in Filmen und bei Roman- schreibern existiert, so da{~ es mir auf zahllosen Besichtigungsreisen nicht m6glich war, eine solche Zellc in Giner deutschen Anstalt zu Ge- sicht zu bekommen.

Die kleineren west- und nordeurop~ischen Staaten, Holland, Dane- mark, Norwegen usw. streben danach, mustergtiltige Anstalten zu fiihren, und Holland zeichnet sich auch durch cin geschicktes staatliches Aufsichtssystem aus. In der Schweiz ist es offenbar dadurch, dal~ die fiirsorgepflichtigGn Instanzen die verhMtnismi~i~ig kleinen Kantone sind, noch nicht zu besonders stattlichen Anstalten grSI3eren Stils gekommen.

0sterrGich hat in einzelnen seiner Li~nder vorbildliche Einrichtungen, wiG Mauer-Ohling in Ober6sterrcich, wi~hrend die mit groi~zfigigen Ab- sichten durchgeftihrte Errichtung der Mammuth-Anstalt am Steinhof sich mancher Kritik, so hinsichtlich allzu reichlicher Sicherheitsvor- richtungen, nicht entziehen kann.

In Deutschland hat die Vielstaaterei doch die gfinstige Folge gehabt, dal3 in einem gewissen Wettstreit an vielen Pl~tzen recht gute Anstalten eingerichtet worden sind und nur noch wenige der vor 3 Menschenaltern noch beliebten adaptierten Anstalten bestehen, die in friiher anderen Zwecken dienenden Geb~uden, K15stern, Schl6ssern usw. errichtet waren.

Freilich besteht auf einem Gebiet noch nicht die als Ideal anzu- sehende staatliche bzw. 5ffentliche Fiirsorge: die Schwachsinnigen- anstalten sind meistens noch reine Wohltatigkeitsanstalten, yon einem wohlti~tigen Verein oder yon geistlichen KSrperschaften gegrfindet, oder aber sie sind von riihrigen Unternehmern als Privatanstalten ge- griindet. Gewi~ arbeiten diese Anstalten billiger als die staatlichen, aber die gesamten Einrichtungen, dig ~rztliche Versorgung, die wissen- schaftliche Durchdringung pflegen doch gegeniiber den 5ffentlichen

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Anstalten zurfickzustehen. Allerdings sind die verschiedenen ~rztlich geleiteten Schwaehsinnigenanstalten in Frankreich und England durch ihrc J~rzteknappheit auch keineswegs ein Ideal.

Ru$1and 1 strebte vielfach deutschem Vorbilde naeh, ohne allerdings unter seinen so viel schwierigeren Verhgltnissen Schritt halten zu k6n- hen. Die Anstaltsbediirftigkeit ist ja auch auf Grund der viel weit- rKumigeren Verhgltnisse keineswegs so dringend. Zur Zeit werden wohl kaum neue Anstalten errichtet, die bestehenden bleiben im Gange, sind allerdings wesentlich bescheidener in ihren Einrichtungen und Be- trieb; da$ das Personal als ,,Schwerstarbeiter" eine sehr kurze Arbeits- zeit hat, etwa 5 Stunden t~glich, l~ftt fiir den Betrieb sicher keinen Vorteil erwarten. In den Groftst~,dten existieren allerdings noch andere Einrichtungen, Kliniken, riesige Ambulatorien, Spezialinstitute usw. Selbst psyehologisehe Laboratorien sind in den Kliniken im Betrieb.

Eine interessante Rolle spielen die Kolonialstaaten. Bei dem Be- streben, aus einem mehr oder weniger jungfrhulichen Boden den Le- bensbedarf herauszuwirtschaften, miissen selbstverst~ndlich die Be- dfirfnisse einer verfeinerten Kultur zuriicktreten, die Pflege der Kiinste kann noch nicht nennenswert geiibt werden und die Bildungsaufgaben werden nur mit Miihe erffillt, in erster Linie eine Elementarschulbildung der Kinder und dann allenfalls Berufsschulen, w~hrend Hoehschul- bildung erst sparer in Betracht kommt. Auch die Bet~tigung der So- zialaufgaben ist zun~chst noch eingeschr~nkt. Im allgemeinen steht der einzelne im Kolonialgebiet auf sich selbst angewiesen und kann nicht erwarten, nach jeder Hinsicht derart betreut und beffirsorgt zu werden, wie es in den alteurop~ischen Staaten geschieht. Selbstver- st~ndlich werden bald Bedfirfnisse nach einer Fiirsorge bei kSrperlicher Krankheit empfunden und nach MSglichkeit befriedigt. Aber die Irren- fiirsorge wird dabei begreiflicherweise noch betrhchtlich zuriickstehen miissen.

Immerhin waren zahlreiehe Staaten dieser Art bestrebt, mit der all- m/~hlich erstarkenden Finanzlage wenigstens die eine oder andere An- stalt nach modernen, europ~ischen Gesichtspunkten zu errichten, vor- nehmlich in der Hauptstadt und anderen groften St~dten.

Eine besonders prunkvolte, geraumige Anstalt in seiner Hauptstadt errichtete Brasihen, das National-Krankenhaus, mit geradezu luxuriSsen Geb~tuden, Laboratorien, Bechaftigungstherapie usw., seit 1903 ge- leitet von dem auch in Deutschland hochgesch~tzten Prof. Dr. Juliano

Moreira. Jedoch aueh anderw~rts erstrebte man Fortschritte, so in der Anstalt Juquery zu S. Paulo. ~hnlich bemfiht sich die chilenische Anstalt Casa de Orates in Santiago mit den Fortschritten der euro- p~ischen Irrenfiirsorge Schritt zu halten. In Montevideo, der auf-

1 Weygandt, Psychohygienisches aus Rul~land. Z. psych. Hyg. 1, B. 1 (1928}.

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strebenden Hauptstadt Uruguays, besteht die Ansalt Valesdebo, die allerdings unter ihren 1500 Patienten aul3er Irren auch Luiker enth~tlt.

In Argentinien besitzt die t taupts tadt zwei grol3e Anstalten ffir M~nner und ffir :Frauen. Neben ansehnlichen wissenschaftlichen Ein- richtungen, Laboratorien und Sammlungen sind vor ahem auch die Vorkehrungen zur Besch~ftigungstherapie beachtenswert, insonderheit die Herstellung yon Kunststeinplatten zum Bodenbelag mit gef~lligen Mustern und die Anfertigung yon eisernen Bettstellen durch m~nnliche Patienten. Oazu hat der organisatorisch regsame Prof. Cabred auf dem Land die sehr ansehnliche Anstalt Opendoor errichtet. Auch ffir Jugendliche ist Ffirsorge getroffen, so in Lujan durch ein Asilo colonia regional de retardados und in Buenos Aires durch das Privatinstitut ffir schwer erziehbare Kinder yon Prof. Ciampi.

Kolumbien hat in Sibate bei Bogata die moderne Anstalt E1 Tablon errichtet. In Guatemala wird eine moderne Anstalt nach deutschen Anregungen gebaut.

In den Vereinigten Staaten ist die Intensiti~t der Irrenffirsorge yon den weniger entwickelten Gebirgsstaaten fiber die Zentralstaaten nach den Oststaaten zu gesteigert. New York hat seiner ungeheuren Volks- ziffer entsprechend zahlreiche und reeht groBe Anstalten, darunter die grSl~te aller existierenden, Manhattan State Hospital auf Long Island, mit etwa 8000 Kranken. Aueh bier kommt die englische Vorliebe fiir Unterbringung Unruhiger in Einzelri~umen zum wenig anheimelnden Ausdruck, jedoeh ist die moderne Beschi~ftigungstherapie reeht gut ent- wickelt. Unter den mannigfachen Handwerks- und ttandfertigkeits- arbeiten sind besonders hervorzuheben die schmucken Webearbeiten, Anfertigung yon Mosaikplatten und MetaHtreibarbeiten. Beaehtens- wert ist aber auch die Herstellung von Teppichen usw. aus kleinen Flieken von lgberresten, besonders aus Damenkleidern und -strfimpfen, um so mehr als es gerade der amerikanischen I-Iauswirtschaftsweise wenig entspricht, die Reste zu verwerten, sondern frfihzeitiges Weg- werfen das l~bliche ist. Noch ein Punkt ist zu beachten : Auch die Kran- ken aus sozial hSheren Schichten, so in der eleganten Anstalt Bloming- dale, nSrdlieh yon New York, werden durchweg zur Beschiiftigung an- gehalten, was wohl mit der allgemeinen amerikanischen Sitte zusammen- hiingt, naeh der mSgiiehst jedermann auf seinem Lebensweg eigenes ttandanlegen gelernt hat.

J~gypten 1 hat vor mehreren Jahrzehnten die grol~e Anstalt Abbassiya bei Kairo errichtet, jetzt mit ann~ihernd 1700 Kranken belegt, darunter vielen Kriminellen, und sparer einen Ableger, die Anstalt Khemka, ffir gegen 1000 Kranke. Die Hauptanstal t wurde auf einem Geli~nde eines

1 Reiseeindriicke yon der Irrenfiirsorge in ~gypten, Pal~stina und der Ttirkei. Z. psych. Hyg. 2, H, 6 (1929).

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alten Palasts erbaut, jedoch sind vorwiegend neue Geb~i.ude errichtet worden, die dem englischen Muster der zahlreichen Einzelriiume folgen.

In dem neuerstandenen, von England gef5rderten und vielfaeh auf amerikanische Zuwendungen angewiesenen Zionistenstaat Pali~stina ist die Irrenfiirsorge erst in frfiher Entwicklung begriffen. Au2er der etwa 80 Betten za.hlenden, in mancher Hinsicht behelfsma{~ig arbeitenden Anstalt des wohlti~tigen Frauenvereins Esrath Nazim, die yon dem deutschen Psyehiater Dr. H. Hermann erfolgreich geleitet wird, existiert noch eine kleinere Regierungsanstalt in Bethlehem.

Die moderne Ttirkei hat Mfihe, die auBerordentlich riicksti~ndige Anstaltsfiirsorge aus der Sultanzeit durch moderne Einrichtungen zu ersetzen. Immerhin sind beachtenswerte Anfange zu verzeichnen, so in der Psychiatrischen Klinik, die in dem groi~en Bau der Medizinischen Fakulti~t zu Haidarpascha untergebracht ist und yon Professor Rashid Tahsim geleitet wird, wie auch in der in einer frfiheren Kaserne unter- gebrachten Anstalt BakirkSi westlich yon Istanbul, unter Leitung von Prof. Mazhar Osman. Eine Reihe tfichtiger Spezialisten, grSStenteils in Deutschland ausgebildet, wie Prof. Fahreddin Kerim, Schi~kri u. a., bieten den Anschlu2 an die moderne psychiatrische Forschung. Die alten kleineren Anstalten in Manissa usw. cntsprechen noch der weniger entwickelten Kulturstufe, wie sie auf den Landgebieten der Ttirkei bis- her geherrscht hat und noch zu Anfang des Jahrhunderts die Fesselung erregter Irrer an gro2e Steinbl6cke zuliel~ 1.

Von groBem Interesse ist die Irrenffirsorge in dem alten Kulturland Japan, das erst vor 2 Menschenaltern aus einem in sich abgesehlossenen Feudalstaat begonnen hat, sich durch ~bcruahme der wesentlichen Fak- toren des westlichen Fortschrittes zu einem ganz modernen Staat zu entwickeln. Eine organisierte Irrenanstaltspflege wurde frfiher nicht als dringendes Bedfirfnis empfunden, um so mehr als die psychische Ver- anlagung des Japaners keineswegs zur Erregung neigt, vielmehr Selbst- beherrschung in h6herem Grade geiibt wird als in den westlichen Lan- dern, dann aber auch, weft es dem Charakter der BevSlkerung ent- spricht, ein engabgeschlossenes Familienleben zu ffihren, in dessen l~ahmen die Pflege psychisch Kranker in eigener Familie weft eher durchftihrbar war als im Westen. Wie Prof. Shuzo Kure ~ darlegte, ist erst 1875 eine Irrenanstalt errichtet worden, yon der Stadt Kyoto, in deren Nahe allerdings bereits die Anfi~nge einer Familienpflege in Ver- bindung mit einem Tempel, von dessen Besuch sich die BevSlkerung eine wundertatige Wirkung versprach, bis in alte Zeiten zuriickreichen. Es

1 Weygandt, Eine Irrenanstalt in der Levante. Psychiatr.-neur. Wschr. 4, 162.

2 Heil- und Pflegeanstalten ftir psychisch Kranke in Wort und Bild. Redi- giert yon Bresler. I, 236. Halle: C. Marholds Verlag 1914.

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erstanden in dem letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts in verschie- denen Sti~dten Anstalten ; insbesondere aber wurde die betri~chtliche Zahl yon 28 Privatanstalten meist kleineren Umfanges errichtet. Im all- gemeinen herrscht in den Anstalten die altgewohnte Lebensweise vor, indem die Insassen in grSl3eren R/~umcn mit einem Minimum an Mobiliar verweilen, und zwar nach altjapanischem Brauch ohne Bettstellen, nur auf der Reisstrohmatte gelagert und naehts in warme Decken gewickelt. Tagsfiber sitzen die Kranken mit untergeschlagenen Beinen auf der Matte oder einem untergelegten Kissen, in einfaeher Kleidung, im Ki- mono, unbeschuht. ~berwiegend verhalten sie sich ganz ruhig, sie sitzen hiufig in Reih' und Glied, so dab es begreiflich ist, wenn vielfach die Frauenpflegc auch bei minnlichen Kranken gut durehffihrbar ist. Nur vereinzelt wird Isolierung notwendig. Irgendeine lebhaftere Er- regung oder gar eine ZerstSrung von Gegenstandcn, wie Scheiben- einschlagen, gehSrt zu den Seltenheiten.

Die erwihnte Familienpflege bei Kyoto besteht noch fort, mit etwa 100 Kranken in einer Reihe yon H/~usern, wiihrend die dicht da- bei liegende Anstalt Iwakura 400 Kranke beherbergt. Die Hausinhaber mit ihren Kindern und einer Anzahl Gehilfen versorgen die Familien- pfleglinge, bis zu 28 Kranken in einem Haus, dessen Inhaber sich schon seit 4 Generationen dieser Ffirsorgeart ~idmen.

Ganz modern, nach westlichem, bcsonders nach deutsehem Vor- bild sind allerdings die psychiatrischen Abteilungen in den akademi- schen Krankenhiusern, so die neuerstehende Klinik der Universitiit in Tokyo, ferner in Kyoto, Osaka, Okayama, auch an der modernen japanischen Medizinischen Akademie in Mukden. Die Professoren haben durehweg die westliche Psychiatrie, besonders die deutsche und 6sterreichische, an Ort und Stelle studiert, vor allem die klinische Richtung yon Kraepelin herrscht vor; die ausgedehnten Laboratorien verffigen erfreulicherweise auch fiber experimentalpsychologische Ein- richtungen und vorwiegend natfirlich fiber anatomische Arbeitsgelegen- heir.

Die Patienten sind hier zumeist in kleinen Zimmern und SMen unter- gebracht, mit europiisehen Betten, lingsachsigen Drehfenstern, Dauer- bidern, stets unter recht intensiver ~berwachung. Die Anzahl der F~lle ist verhMtnismil~ig klein.

W~hrend also in Japan einerseits noch die Irrenffirsorge einen patriarchalischen Zug, entsprechend der herk6mmliehen Lebensweise, zeigt, bieten die Kliniken in ihrem Bestreben, die westlichen For- schungen zu beti~tigen, auch ganz moderne westliche Einrichtungen, wie denn fiberhaupt der Kulturstand des Landes das Altbewi~hrte erh~lt und mit Geschick das Brauchbarste westlicher Entwicklung assimiliert.

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Demgegeniiber ist in China yon einer Irrenfiirsorge noch nicht die Rede. Gewil~ ist die westliehe Medizin in den Gesandtsehaftshospit~lern zu Peiping, ebenso wie in dem yon Rockefeller gestifteten opulenten Peiping medical College und in der Medizinsehule zu Shanghai trefflich vertreten, vielfach unter Mit~irkung tiichtiger deutscher J~rzte, aber eine eigentliche Irrenfiirsorge existiert kaum und ihre bescheidenen Anf~nge erinnern an unser frfihes Mittelalter. Die von der Polizei zur Unterbringung aufgegTiffener, stSrender Irrer geschaffene Institution in Peiping ist eine Verwahranstalt mit primitivster Ausstattung und bescheidenster Verpflegung, in der die erregten Kranken mit starken eisernen Handsehellen gefesselt werden, an die primitive Anwendung der Sklavengabel bei Geisteskranken in Innerafrika erinnernd.

Die Irrenffirsorge ]~Bt sich offenbar nicht gerade als ein untriigliches :Barometer ffir die HShe des Kulturstandes eines Landes auffassen, denn manche an sich zivilisatorisch fortgeschrittene VSlker sind hin- siehtlich der Irrenpflege noeh zurfickgeblieben. Insbesondere da, wo das Tempo der Hebung des Kulturniveaus besonders lebhaft ist, pflegen Aufgaben wie die Irrenfiirsorge vielfaeh noch zuriiekzubleiben und erst langsam dem sonstigen Lebensstandard nachzufolgen. Aber da, wo eine besonders entwickelte Irrenffirsorge existiert, ist aueh die ge- samte Kulturlage als hoeh entwiekelt zu bezeiehnen.