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G Zeitschrift für GERMANISTIK Neue Folge XXX 2/2020 Peter Lang Internationaler Verlag der Wissenschaften

ISSN 0323-7982 Internationaler Verlag der Wissenschaften...Klang – Ton – Wort. Akustische Dimensionen im Schaffen von Marcel Beyer (Symposium in Jena v. 4.–5.11.2019) (Tobias

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    GZeitschrift fürGERMANISTIKNeue Folge • XXX 2/2020Peter LangInternationaler Verlag der Wissenschaften

    Wabernstrasse 40, CH-3007 Bern, SchweizISSN 0323-7982

    Z F G 0 2 2 0 2 0

    D as Werk des Hamburger Ratsherrn Barthold Heinrich Brockes hat in der Forschung einige wirkungsmächtige Deutungen erfahren. Sie betonen seinen Stellenwert als wichtigen Dich-ter der Frühaufklärung. Gleichzeitig neigen sie dazu, sein umfangreiches Werk jeweils im Licht bestimmter Traditionslinien zu erschließen, dabei aber andere, ebenso zentrale Traditionslinien und Fragen auszublenden.

    Der Band möchte gegenüber solchen übergreifenden Einordnungen einen Schritt zurücktre-ten. Die Beiträge versuchen, sich stärker in die außerordentliche Komplexität der Texte und auch der Paratexte der Originaldrucke einzulassen. Sie rekonstruieren deren politische und kulturel-le Kontexte, zeichnen detailliert poetische und rhetorische Verfahren einzelner Gedichte nach, folgen ihren Gattungsreferenzen und den Lektüremodi, die sie vorführen und einüben wollen. Das Themenspektrum umfasst u. a. Poetik, Musik, Bildende Kunst, Politik, Diplomatie, Naturge-schichte, Medizin und Theologie.

    Inhalt: Kevin Hilliard: «Dieß Ungefehr ist nicht von ungefehr.» Theologie und Ästhetik der ‹spie-lenden Natur› bei Barthold Heinrich Brockes • Hans Graubner: Brockes’ Theologie der ästhetischen Erfahrung der Natur als «Kinderphysik» • Daniel Zimmer: Brockes als Hofdichter. «Betrachtung des Blanckenburgischen Marmors» (1731) zwischen Naturdichtung und höfischer Repräsentation • Marc Chraplak: Brockes’ klandestines Bekenntnis im 8. Band seines «Irdischen Vergnügens in Gott» • Volkhard Wels: Brockes als galanter Dichter. Zur stilgeschichtlichen Verortung des «Irdi-schen Vergnügens in Gott» • Mark-Georg Dehrmann: Brockes’ Appell. Zu den poetisch-theologi-schen Strategien des «Irdischen Vergnügens» am Beispiel von «Der Wolken-und Luft-Himmel» • Martin Bäumel: Polit-Poesie. Brockes’ Gelegenheitsgedichte (1709–1721) • Tanja van Hoorn: Bro-ckes’ Ornithopoetik • Stefanie Stockhorst: Hippotheologie. Diskursgeschichtliche Kontexte von B. H. Brockes’ «Irdischem Vergnügen in Gott» am Beispiel des Pferdes • Alexander Košenina: Bro-ckes’ «Das Fieber» (1721) als ‹historia morbi› • Frieder von Ammon: Intermediales Vergnügen in Gott. Brockes’ Gewittergedicht im musikalischen Kontext • Barbara Thums: «ein Magazin von Gemählden und Bildern». Zur Schulung des idyllischen Blicks in Brockes’ «Irdischem Vergnügen in Gott» • Friederike Felicitas Günther: «Kann man denn ein Gruntzen sehn?» Brockes’ akusti-scher Beitrag zu Ridingers «Betrachtung der wilden Thiere» • Heinrich Detering: Der Planet als Höllenort. Brockes’ globale Gedankenexperimente.

    Mark-Georg Dehrmann • Friederike Felicitas Günther (Hrsg.)

    Brockes-Lektüren. Ästhetik – Religion – PolitikBern, 2020. 326 S., 6 s/w Abb., 2 farb. Abb.Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. Bd. 32Herausgegeben von der Philosophischen Fakultät II /Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin

    br.

    CHF 103.– / €D 89.95 / €A 91.50 / € 83.20 / £ 68.– / US-$ 100.95

    ISBN 978-3-0343-3682-6

    ISBN 978-3-0343-3923-0eBook

    CHF 103.– / €D 98.95 / €A 99.80 / € 83.20 / £ 68.– / US-$ 100.95

    €D inkl. MWSt. – gültig für Deutschland und Kunden in der EU ohne USt-IdNr· €A inkl.MWSt. – gültig für Österreich

    Peter Lang AG • Internationaler Verlag der WissenschaenMoosstrasse 1 • P. O. Box 350 • CH-2542 Pieterlen • SchweizTel : +41 (0) 32 376 17 17 • Fax : +41 (0) 32 376 17 [email protected] • www.peterlang.com

    Wabernstrasse 40, CH-3007 Bern, Schweiz

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    0GZeitschrift fürGERMANISTIKNeue Folge • XXX 1/2020

    Peter LangInternationaler Verlag der Wissenschaften

    Wabernstrasse 40, CH-3007 Bern, SchweizISSN 0323-7982

    Z F G 0 1 2 0 2 0

    D as Werk des Hamburger Ratsherrn Barthold Heinrich Brockes hat in der Forschung einige wirkungsmächtige Deutungen erfahren. Sie betonen seinen Stellenwert als wichtigen Dich-ter der Frühaufklärung. Gleichzeitig neigen sie dazu, sein umfangreiches Werk jeweils im Licht bestimmter Traditionslinien zu erschließen, dabei aber andere, ebenso zentrale Traditionslinien und Fragen auszublenden.

    Der Band möchte gegenüber solchen übergreifenden Einordnungen einen Schritt zurücktre-ten. Die Beiträge versuchen, sich stärker in die außerordentliche Komplexität der Texte und auch der Paratexte der Originaldrucke einzulassen. Sie rekonstruieren deren politische und kulturel-le Kontexte, zeichnen detailliert poetische und rhetorische Verfahren einzelner Gedichte nach, folgen ihren Gattungsreferenzen und den Lektüremodi, die sie vorführen und einüben wollen. Das Themenspektrum umfasst u. a. Poetik, Musik, Bildende Kunst, Politik, Diplomatie, Naturge-schichte, Medizin und Theologie.

    Inhalt: Kevin Hilliard: «Dieß Ungefehr ist nicht von ungefehr.» Theologie und Ästhetik der ‹spie-lenden Natur› bei Barthold Heinrich Brockes • Hans Graubner: Brockes’ Theologie der ästhetischen Erfahrung der Natur als «Kinderphysik» • Daniel Zimmer: Brockes als Hofdichter. «Betrachtung des Blanckenburgischen Marmors» (1731) zwischen Naturdichtung und höfischer Repräsentation • Marc Chraplak: Brockes’ klandestines Bekenntnis im 8. Band seines «Irdischen Vergnügens in Gott» • Volkhard Wels: Brockes als galanter Dichter. Zur stilgeschichtlichen Verortung des «Irdi-schen Vergnügens in Gott» • Mark-Georg Dehrmann: Brockes’ Appell. Zu den poetisch-theologi-schen Strategien des «Irdischen Vergnügens» am Beispiel von «Der Wolken-und Luft-Himmel» • Martin Bäumel: Polit-Poesie. Brockes’ Gelegenheitsgedichte (1709–1721) • Tanja van Hoorn: Bro-ckes’ Ornithopoetik • Stefanie Stockhorst: Hippotheologie. Diskursgeschichtliche Kontexte von B. H. Brockes’ «Irdischem Vergnügen in Gott» am Beispiel des Pferdes • Alexander Košenina: Bro-ckes’ «Das Fieber» (1721) als ‹historia morbi› • Frieder von Ammon: Intermediales Vergnügen in Gott. Brockes’ Gewittergedicht im musikalischen Kontext • Barbara Thums: «ein Magazin von Gemählden und Bildern». Zur Schulung des idyllischen Blicks in Brockes’ «Irdischem Vergnügen in Gott» • Friederike Felicitas Günther: «Kann man denn ein Gruntzen sehn?» Brockes’ akusti-scher Beitrag zu Ridingers «Betrachtung der wilden Thiere» • Heinrich Detering: Der Planet als Höllenort. Brockes’ globale Gedankenexperimente.

    Mark-Georg Dehrmann • Friederike Felicitas Günther (Hrsg.)

    Brockes-Lektüren. Ästhetik – Religion – PolitikBern, 2020. 326 S., 6 s/w Abb., 2 farb. Abb.Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. Bd. 32Herausgegeben von der Philosophischen Fakultät II /Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin

    br.

    CHF 103.– / €D 89.95 / €A 91.50 / € 83.20 / £ 68.– / US-$ 100.95

    ISBN 978-3-0343-3682-6

    ISBN 978-3-0343-3923-0eBook

    CHF 103.– / €D 98.95 / €A 99.80 / € 83.20 / £ 68.– / US-$ 100.95

    €D inkl. MWSt. – gültig für Deutschland und Kunden in der EU ohne USt-IdNr· €A inkl.MWSt. – gültig für Österreich

    Peter Lang AG • Internationaler Verlag der WissenschaenMoosstrasse 1 • P. O. Box 350 • CH-2542 Pieterlen • SchweizTel : +41 (0) 32 376 17 17 • Fax : +41 (0) 32 376 17 [email protected] • www.peterlang.com

    Wabernstrasse 40, CH-3007 Bern, Schweiz

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  • Zeitschrift für Germanistik

  • Zeitschrift für Germanistik

    Neue FolgeXXX – 2/2020

    PETER LANGInternationaler Verlag der Wissenschaften

    Bern · Berlin · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien

    Herausgeberkollegium

    Claudia Stockinger (Geschäftsführende Herausgeberin, Berlin)Mark-Georg Dehrmann (Berlin)Alexander Košenina (Hannover)

    Ulrike Vedder (Berlin)

  • ISSN 0323-7982

    penOpen Access: Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative

    Commons Namensnennung 4.0 Internationalen Lizenz (CC BY)

    Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ ISSN 0323-7982 – E-ISSN: 2235-1272

    © Peter Lang AGInternationaler Verlag der Wissenschaften, Bern 2020

    Wabernstrasse 40, CH-3007 Bern, [email protected], www.peterlang.com

    Herausgegeben von der Sprach- und literatur-wissenschaftlichen Fakultät / Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin

    Redaktion: Prof. Dr. Claudia Stockinger(Geschäftsführende Herausgeberin)Dr. Hannah [email protected]

    Anschrift der Redaktion:Zeitschrift für GermanistikHumboldt-Universität zu BerlinUniversitätsgebäude am Hegelplatz, Haus 3Dorotheenstr. 24D-10099 BerlinTel.: 0049 30 20939 609Fax: 0049 30 20939 630https://www.projekte.hu-berlin.de/zfgerm/

    Redaktionsschluss: 01.01.2020

    Erscheinungsweise: 3mal jährlichBezugsmöglichkeiten und Inseratenverwaltung:Peter Lang AGInternationaler Verlag der WissenschaftenWabernstrasse 40CH-3007 BernTel.: 0041 31 306 1717Fax: 0041 31 306 [email protected], [email protected]://www.peterlang.com/

    Manuskripte sind an die Redaktion zu schicken.

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  • Schwerpunkt: Provinz erzählen

    Claudia StoCkinger – Provinz erzählen. Zur Einleitung 295

    PhiliPP BöttCher – Fürstenfelde erzählt. Dörfli ch-keit und narrative Verfahren in Saša Stanišićs „Vor dem Fest“ 306

    MarC Weiland – Böse Bücher aus der Provinz. Der Anti-Heimatroman und das aktuelle Erzählen über Land 326

    Solv ejg nitzk e – Genealogie und Arbeit: Ökologisches Erzählen bei Franz Michael Felder und Ludwig Anzengruber 345

    Peter Braun, Caroline roSenthal – Landmar-ken: Das Konzept des Bioregionalismus bei Gary Snyder und Helmut Salzinger 363

    Felix knode – Poesie demokratischen Wider-stands. Das Wendland in Walter Mossmanns „Lied vom Lebensvogel“ 381

    ChriStian hiSSnauer – „Unser Dorf hat Wochen-ende“. Die mediale Aufwertung der Provinz und des Dörflichen im Fernsehdokumentarismus der Dritten Programme 399

    thoMaS klein – Doku-Kunst als narrative Form für Gestaltungsprozesse im ländlichen Mecklen-burg-Vorpommern 417

    *

    ingo Müller – Das Flackern der Zeichen: Iden-tität und Alterität in Heinrich Heines „Belsatzar“-Romanze 437

    Dossier

    dirk SangMeiSter – Der vergessene ‚Erfinder‘ des Bildungsromans. Zum 250. Geburtstag des Philo-logen Karl Morgenstern (1770–1852) 455

    Konferenzberichte

    Buchenwald in Europa (Internationale Tagung in Weimar v. 25.–28.8.2019) (Johannes Vogel) 461

    Systemwechsel, literarisch. Ost- und Westdeutsch-land um 1989 im internationalen Vergleich (Internationale Tagung in Marbach v. 3.–5.7.2019) (Dîlan Cakir) 464

    Klang – Ton – Wort. Akustische Dimensionen im Schaffen von Marcel Beyer (Symposium in Jena v. 4.–5.11.2019) (Tobias Schwessinger) 468

    Kanonbildung und Editionspraxis (Interdiszi-plinäre Tagung in Wuppertal v. 26.–28.6.2019) (Andreas Dittrich, Bastian Politycki) 470

    Besprechungen

    Werner nell, MarC Weiland (Hrsg.): Dorf. Ein interdisziplinäres Handbuch (Christian Hißnauer) 473

    MarCuS tWellMann: Dorfgeschichten. Wie die Welt zur Literatur kommt (Natalie Moser) 475

    Magdalena MarSzałek, Werner nell, MarC Weiland (Hrsg.): Über Land. Aktuelle literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Dorf und Ländlichkeit (Anton Knittel) 478

    *

    aChi M au r n h a M M er, niCol a S det er i ng: Deutsche Literatur der Frühen Neuzeit. Huma-nismus, Barock, Frühaufklärung (Lea Reiff) 481

    SiMon zeiSBerg: Das Handeln des Anderen. Pika-rischer Roman und Ökonomie im 17. Jahrhundert (Roman Widder) 484

    ingo SChWarz, oliver SChWarz (Hrsg.): Alex-ander von Humboldt und Friedrich Argelander: Briefwechsel (Thomas Nehrlich) 488

    Inhaltsverzeichnis

  • 294 | Inhaltsverzeichnis

    Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang

    anna ChriStina SChütz: Charakterbilder und Projektionsfiguren. Chodowieckis Kupfer, Goe-thes „Werther“ und die Darstellungstheorie in der Aufklärung (Alexander Košenina) 490

    ChriStoPher BuSCh: Unger-Fraktur und literari-sche Form. Studien zur buchmedialen Visualität der deutschen Literatur vom späten 18. bis ins 21. Jahrhundert (Ute Schneider) 492

    Claudia StreiM: Historisierende Bühnenpraxis im 19. Jahrhundert. Inszenierungen von Schillers „Wal-lenstein“ zwischen 1798 und 1914 (Goethe, Iffland, Brühl, die Meininger, Reinhardt) (Manuel Zink) 494

    urSula iSSelStein (Hrsg.): Rahel Levin Varnha-gen: Tagebücher und Aufzeichnungen (Alexander Košenina) 496

    inge StePhan: Eisige Helden. Kälte, Emotionen und Geschlecht in Literatur und Kunst vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart (Mandy Dröscher-Teille) 498

    Peter SPrengel (Hrsg.): Rudolf Borchardt: „Wie wortreich ist die Sehnsucht“. Liebesbriefe an Christa Winsloe 1912/13 (Alexander Nebrig) 500

    hannah arnold, Peter langMeyer (Hrsg.): Ernst Toller; nathalie lindauer: Traum, Tod und Trost. Studien zur Gefängnislyrik am Beispiel Albrecht Haushofers und Ernst Tollers; laura MokrohS: Dichtung ist Revolution. Kurt Eisner, Gustav Landauer, Erich Mühsam, Ernst Toller. Bilder – Do-kumente – Kommentare (Franziska Teubert) 503

    Ca r Men r eiChert: Poetische Selbstbilder. Deutsch-jüdische und Jiddische Lyrikanthologien 1900–1938 (Kathrin Stopp) 507

    udo BerMBaCh (Hrsg.): Hannah Arendt, Dolf Sternberger: „Ich bin Dir halt ein bißchen zu re-volutionär“. Briefwechsel 1946 bis 1975 (Hendrikje Schauer) 509

    Peter handke: Zeichnungen. Mit einem Essay von Giorgio Agamben (Tanja Angela Kunz) 511

    ChriStine MagerSki, ChriSta karPenStein-eSSBaCh: Literatursoziologie. Grundlagen, Pro-blemstellungen und Theorien (Jan Behrs) 514

    ChriStoPh BenjaMin SChulz (Hrsg.): Die Ge-schichte(n) gefalteter Bücher. Leporellos, Livres-Accordéon und Folded Panoramas in Literatur und bildender Kunst (Jörn Münkner) 516

    StePhanie BreMeriCh, dieter BurdorF, aBdalla eldiMagh (Hrsg.): Flucht, Exil und Migration in der Literatur. Syrische und deutsche Perspektiven (Annette Antoine) 518

    Informationen

    Eingegangene Literatur 520

    Vorankündigung XXX (2020), Heft 3: Schwer-punkt: Große Formen. Ästhetik und Epistemologie des extensiven Schreibens 523

  • Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXX (2020), Peter Lang, Bern | H. 2, S. 295–305

    © 2020 Claudia Stockinger - http://doi.org/10.3726/92166_295 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 Internationalen Lizenz Weitere Informationen: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0

    Claudia StoCkinger

    Provinz erzählen. Zur Einleitung

    Das Landleben ist derzeit populär – ob in Literatur oder Film, Publizistik (Gesellschafts-) Politik oder in Lebensentwürfen sich neu erfindender Großstädter*innen. Auch in der universitären Forschung hat das seit den 1980er Jahren einsetzende sozialwissenschaftliche Interesse an den Rural Studies1 die Kultur- und Literaturwissenschaften längst erreicht. Den state of the art der derzeitigen Landleben-Forschung markieren die Publikationen der Arbeitsgruppe Experimentierfeld Dorf um Werner Nell und Marc Weiland,2 v. a. die in diesem Kontext entstandenen, als Doppel-Bände lesbaren Bücher Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt3 und Über Land. Aktuelle lite-ratur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Dorf und Ländlichkeit4. Sie fächern das gegenwärtige, intermedial beobachtbare Interesse am Ländlichen an konkreten Beispielen auf, historisieren es und diskutieren dessen übergeordnete (u. a. gesellschaftspolitische) Funktionen, bezogen etwa auf ‚das Dorf ‘ als „Experimentierfeld“5, ‚gesellschaftlicher Aus-handlungsort‘ oder ‚Projektionsfläche‘6 aktueller Debatten.

    Wenn also Thomas Steinfeld einer jüngst erschienenen Monographie zum Thema Dorfgeschichten attestiert, sie behandle einen „gewaltigen Gegenstand“, der aber „zu groß“ sei „für ein einziges Buch“ und stattdessen „einer konzertierten Anstrengung würdig“,7 rennt er damit offene Türen ein.8 Gleichwohl formuliert er eine bedenkenswerte Frage, der sich die rezensierte Studie ebenso wie jedes Schwerpunktheft und jeder Sammelband zum Thema zu stellen hat: „Eines aber vermisst der Leser […] am Ende des Buches: ein Nachdenken darüber, warum ein Literaturwissenschaftler in diesen Zeiten ein Buch über

    1 Vgl. das 1985 gegründete sozialwissenschaftliche Journal of Rural Studies, , zuletzt: 18.10.2019; vgl. auch MarSden (2006).

    2 Vgl. , zuletzt: 18.10.2019. Das Forschungsprojekt mit dem Untertitel Die Wiederkehr des Dörflichen als Imaginations-, Projektions- und Handlungsraum wird seit 2015 von der Volkswa-genStiftung im Programm „Schlüsselthema für Wissenschaft und Gesellschaft“ gefördert und nimmt sich des Themas u. a. mit Tagungen, Ausstellungen, gemeinsamen Landgängen, einer eigenen Buchreihe (Rurale Topo-grafien; zuletzt: 18.10.2019) und einem gewichtigen Handbuch (Nell, Weiland [2019]; vgl. dazu die Besprechung von Christian Hißnauer in diesem Heft) von inter- wie transdisziplinärer Seite an.

    3 Nell, Weiland (2014a).4 MarSzałek, Nell, Weiland (2017a).5 Nell, Weiland (2014b, 35).6 MarSzałek, Nell, Weiland (2017b, 9, 15).7 Steinfeld (27.9.2019).8 Gründe dafür mögen im besprochenen Buch selbst zu finden sein, dessen Verfasser, Marcus Twellmann, zwar zur

    o. g. Forschergruppe gehört. Seine Arbeit zur ‚Dorfgeschichte‘ als einer „Gattung der Weltliteratur“ (Twellmann [2019, 9]) bezieht deren Aktivitäten und Ergebnisse aber nicht ein; vgl. dazu auch die Besprechung von Natalie Moser in diesem Heft.

    pen

  • Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020) Peter Lang

    296 | Claudia Stockinger: Provinz erzählen. Zur Einleitung

    ‚Dorfgeschichten‘ schreibt“.9 – Worin also liegt dieses seit vielen Jahren bestehende und nach wie vor anhaltende Fachinteresse begründet?

    Mehrerlei ist hier anzuführen: 1. Die literaturwissenschaftliche Forschung reagiert auf Effekte fundamentaler ökonomischer Veränderungen. Migrationsbewegungen zwischen ländlichen und städtischen Räumen bzw. von ländlichen in städtische Räume gelten als „‚the greatest mass migration in human history‘“.10 Phänomene der Landflucht werden dabei als Folge von Industrialisierung – der sich die Literatur seit dem 19. Jahrhundert und die Literaturwissenschaft seit den 1960er Jahren zugewendet haben – ins Globale gewendet. In kleinerem Maßstab richtet sich das öffentliche Interesse hierzulande in jüngerer Zeit besonders auf Transformationen ländlicher Räume zwischen gentrifizierter Idylle und Verödung ganzer Landstriche, hervorgerufen unter anderem durch die Abwanderung der einheimischen Bevölkerung im Zuge des Wandels zur Dienstleistungsgesellschaft. Die ökonomisch motivierten Bevölkerungsbewegungen korrelieren mit nicht weniger drasti-schen ökologischen Veränderungen, die sich insbesondere auf die Monokulturalisierung des ländlichen Raums zurückführen lassen. Der Wissenschaftsjournalist Stefan Klein, der 2011 ein Haus in der Uckermark erwarb, hat diesen Zusammenhang quasi am eigenen Leib erfahren; seine Reportage gehört zu den eindringlichsten Zeugnissen des in den 2010er Jahren nochmals beschleunigten Wandels auf dem Land. Zunächst überwältigt von der Vielfalt der heimischen Tier- und Pflanzenwelt „nur 100 Kilometer nördlich der Haupt-stadt“, musste Klein in wenigen Jahren erleben, „wie sein Paradies verschwindet. Vögel hört er heute keine mehr. Aber Mähdrescher“.11

    2. Vor diesem Hintergrund geraten traditionelle Kategorien und Dichotomien in Un-ordnung und bedürfen einer begrifflichen Neujustierung. So sind etwa die Landlust-Kon-junkturen, die einer Ernüchterung wie derjenigen Kleins vorausgehen oder parallel dazu stattfinden,12 selbst wieder Effekte einer Urbanisierung dörflicher Strukturen, die, wie auch die Ruralisierung des Städtischen, Journalismus und Wissenschaft gleichermaßen beschäftigen. Dass die oftmals polarisierend eingesetzten Kategorien Urbanität und Ru-ralität zur Beschreibung von Räumen nicht länger hinreichen, ist Konsens. Stattdessen werden derzeit Tendenzen der „Rurbanisierung“13 oder der „Glokalisierung“14 intensiv be-fragt, die angesichts steigender Bevölkerungszahlen, zunehmendem Arbeitskräftebedarf, weiterer Verteuerung des Lebens in den Städten oder der „Dezentralisierung von Leben und Arbeiten“ im Zeitalter der Digitalisierung „die bisherigen Gegensätze Urbanisierung und Regionalisierung“ vereinen: „Wir sind global unterwegs und lokal zu Hause. Wir leben in der Heimat, überblicken aber einen weiten Horizont. Aufs Land ziehen ist kein Umzug mehr zurück in die Provinz, sondern nach vorne in die Zukunft“.15 Diese Überlegungen gehen einher mit Beobachtungen einer neuerlichen Teilung Deutschlands in wirtschaftlich

    9 Steinfeld (27.9.2019).10 Helliwell, Layard, SaChS (2018, 4).11 Klein (11./12.11.2017, 13).12 Vgl. dazu Baumann (2018).13 Zum Beispiel henkel (2012, 180); Nell (2014); KerSting, Zimmermann (2015, 9–31); Langner, FröliCh-

    Kulik (2018).14 robertSon (1998).15 dettling (24.5.2018).

  • Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)

    Claudia Stockinger: Provinz erzählen. Zur Einleitung | 297

    abgehängte und boomende Regionen. Ob diese nun städtisch oder ländlich situiert sind, ist demnach von nur noch nachrangiger Bedeutung.16 Dennoch prägen tendenziell dichotome Unterscheidungen von Stadt und Land nach wie vor die Debatte, z. B. in prominenten, auch hierzulande vieldiskutierten Beiträgen zur Erklärung von (rechts-) populistischen Entwicklungen in Frankreich17 oder den USA18.

    3. Die Literaturwissenschaft hat sich regelmäßig mit den Ausformungen der bis in die Antike zurückreichenden Landlebendichtung und deren laus ruris-Elementen auseinander-gesetzt, mit Schwerpunkten allerdings in der Literatur der Frühen Neuzeit.19 Die „Welt der vita rustica“ entwarf sich dort als reales „Gegenbild“ zu den sozialen Normen des Stadt-lebens: „In den oppositionellen Topoi ,Wunschbild Land‘ und ,Schreckbild Stadt‘ findet diese Darstellungsstrategie ihren sinnfälligen Ausdruck“.20 Die Geselligkeitsformen der Stadt wurden dabei weniger durch diejenigen des Dorfes abgelöst als vielmehr durch die Familie, mit deren „moralische[r] Vollkommenheit und Vorbildlichkeit“ es „keine gesell-schaftliche Existenzform […] aufzunehmen“ vermochte.21 Eine andere, damit verschränkte Opposition zielte auf das Verhältnis von Land- und Hofleben. Hier wurde der Rückzug zeitweilig vollzogen (etwa als Rückzug in die Sommerresidenz) oder sollte ein permanentes Sich-Fernhalten von der als korrupt erlebten Sphäre der Macht in der Residenz einleiten22. Wenn heutzutage in Landidyllen-Broschüren oder in fiktionalen erzählenden Texten, in denen die Werbebotschaften gespiegelt werden, z. B. das ehemalige Schulgebäude eines Dorfs (gern mit originalen Materialien) zu einer behaglich-imposanten Familienresidenz ausgebaut23 oder in ein Hotel umgewandelt24 wird, dann scheinen diese tradierten Modelle in den neu gestalteten Räumen palimpsestartig durch. Man flieht jetzt bloß nicht mehr vor moralischen Herausforderungen und Gefahren fürs transzendent ausgerichtete Seelenheil, die ein Leben in der (politischen) Öffentlichkeit der Machtzentren birgt. Vielmehr flieht man vor den Herausforderungen und Gefahren für die rein immanent gedachte körperli-che wie seelische Gesundheit, wie sie das beschleunigte, verdichtete, durch Autoabgase vergiftete, von Konkurrenzen, Lärm und Licht bestimmte Leben in der Stadt mit sich zu bringen droht. Dieser ‚neue Land-Adel‘ gentrifiziert die Provinz und erobert jene Dörfer, die ohne sein Engagement nicht selten dem Untergang geweiht wären. Ob das Engagement

    16 So Bollmann, Kloepfer (25.2.2018); vgl. auch Neu (2016, 8).17 eribon (2016) – im Original 2009; louiS (2015) – im Original 2014.18 VanCe (2017) – im Original 2016.19 Vgl. klassisch Lohmeier (1981) (zur Kritik am engen Gattungsbegriff Lohmeiers vgl. Garber [1986, 194 f.]);

    Niefanger (1997). – Oder neuerdings Mróz-JabłeCka (2016); broCkStieger (2018); gerStner (2019).20 eCker (1998, 184 f.). Vgl. auch Sengle (1963).21 lohmeier (1977, 125).22 Nach dem Modell ‚Graf Appiani‘ aus Lessings Emilia Galotti, bezogen auf den „Entschluß“ des Grafen, die

    „Nähe des Hofes“ künftig zu meiden und „in seinen väterlichen Thälern sich selbst zu leben“ (hier in einer For-mulierung Odoardo Galottis; LeSSing [1772, 39]). Zu einem Beispiel aus dem faktualen Bereich vgl. RiChter (2010, 108 f.).

    23 Als (fiktionales) Beispiel hierfür vgl. Seddig (2017, 62): „Jetzt ist die alte Schule an jemanden aus der Stadt verkauft, jetzt ist sie ein Schmuckstück“.

    24 Als (faktuales) Beispiel hierfür vgl. die Bewerbung des zum Hotel umgebauten Schulgebäudes in Stegelitz, bei dessen Instandsetzung man auf eine „naturbelassene Bauweise“ Wert gelegt hatte (, zuletzt: 21.10.2019).

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    298 | Claudia Stockinger: Provinz erzählen. Zur Einleitung

    nachhaltig ist, bleibt abzuwarten. Die Begeisterung für ländliche Räume gerade von Zuge-zogenen aus angrenzenden Großstädten lässt derzeit, wie das zitierte Beispiel Stefan Kleins zeigt, gelegentlich schon wieder nach.

    4. Die Dorf-Erzählung hat in der deutschen Literaturgeschichte ihre regelmäßigen Hoch-zeiten, seit der Jahrtausendwende wurde daraus ein anhaltendes Interesse – von Andreas Maiers Wäldchestag (2000), Rocko Schamonis Dorfpunks (2004), Antje Ràvic Strubels Vom Dorf (2007), Patrick Hofmanns Die letzte Sau (2009), Stephan Thomes Grenzgang (2009) bis zu Katharina Hackers Eine Dorfgeschichte (2011), Vea Kaisers Blasmusikpop (2012) oder Bernd Schroeders Auf Amerika (2012) u. a. Neben und mit dem Dorf spielte dabei ‚die Provinz‘ gelegentlich explizit eine Rolle, so u. a. in Johano Strassers Bossa Nova. Ein Provinz-roman (2008); und Norbert Scheuer schreibt seit 1999 (Der Steinesammler) bis zu seinem jüngsten Roman, Winterbienen (2019), an „seinem einen Buch“ über die Eifel.25 Spitzentitel wie Saša Stanišićs Vor dem Fest (2014) und Juli Zehs Unterleuten (2016) sorgten für eine neuerliche Fokussierung der Aufmerksamkeit auf das erzählte Dorf. Mit Blick auf letzteren Roman wurde gar ein „neues Literaturgenre“, der „Brandenburg-Roman“, ausgerufen,26 und im Bücherherbst 2019 kam man dann ‚am Dorf‘ überhaupt nicht mehr vorbei. „Würde man ‚das Dorf ‘ als Thema aus der Longlist des Deutschen Buchpreises herausstreichen, wäre sie im Handumdrehen eine Shortlist“, stellte Uwe Ebbinghaus nicht unkritisch fest – ins-besondere komme die Verarbeitung von Themen, die in der „Provinz“, im „Phantasieraum ‚Land‘“, angesiedelt seien, doch allzu unpolitisch daher. Stattdessen regiere die Beliebigkeit: „Das Dorf selbst ist zum Komposthaufen der deutschen Literatur geworden. Alles Mögliche kann auf ihn draufgeworfen, projiziert und von ihm abgeerntet werden.“27 Folgt man dieser Darstellung weiter, hat der Rurbanisierungsdiskurs nun auch die deutschsprachige Gegenwartsliteratur erreicht. Ob Autor*innen wie Saša Stanišić, Raphaela Edelbauer und Angela Lehner die Stadt oder das Land bevorzugten, sei nämlich „schwer zu entscheiden“. Bei Lola Randl (Der große Garten, 2019) beobachtet der FAZ-Redakteur ein regelrechtes „Stadt-Land-Stadt-Land-Hopping“, das „in beide Richtungen“ „Fluchtmöglichkeiten“ bereithalte, es also erlaube, Städtisches ins Ländliche hinein zu verlängern.28

    Wenn die Faszination des Gegenstands in der Annahme gründet, dass sich mit Mitteln z. B. der Dorferzählung in gesellschaftlicher, politischer, religiöser, räumlicher und kul-tureller Hinsicht etwas zeigen lässt, das mit anderen Mitteln nicht oder weniger gut ge-zeigt werden kann, dann wird in der Regel das epistemische Potential ländlicher sowie provinzieller Räume insgesamt aufgerufen und angespielt. In diesem Sinne versteht sich vorliegendes Schwerpunktheft als Angebot, die momentanen Auseinandersetzungen mit Ländlichkeit, Rurbanität und Urbanität zum einen vorzustellen, zum anderen voranzutrei-ben – perspektiviert auf den Beitrag von Literatur und Film/Fernsehen zu den Verfahren,

    25 Clauer (Oktober 2012).26 Tatsächlich bezogen nicht schon auf Stanišićs Vor dem Fest (was ebenso eingeleuchtet hätte), sondern erst auf

    Zehs Unterleuten: „In den vergangenen Jahren haben sich Dutzende Schriftsteller nach Brandenburg aufge-macht. […] Die große Aufmerksamkeit begann 2016, mit Unterleuten von Juli Zeh, das einen fiktiven Ort in der Prignitz beschreibt. Danach erschien vieles mehr“ (PontiuS, Theile [13.6.2019, 8]).

    27 EbbinghauS (7.9.2019).28 EbbinghauS (7.9.2019).

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    Claudia Stockinger: Provinz erzählen. Zur Einleitung | 299

    Prozessen, Funktionen und Konsequenzen der Erzeugung provinzieller Räume. Dass in den angeführten Debatten Kategorien wie Dörflichkeit, Ländlichkeit und Provinzialität gleichgesetzt werden, um etwa – wie zitiert – die bevorzugten Stofflieferanten der benannten Longlist-Texte zu bestimmen, verwundert nicht. Auch sonst wird in Literatur, Literaturwis-senschaft oder Publizistik aus guten Gründen wenig Wert auf Trennschärfe gelegt, sobald es um die Frage geht, was ‚Dorf ‘, ‚Provinz‘ und ‚Land‘ als Darstellungsmedien leisten können.

    Auf ‚die Provinz‘ als (historisch ohnehin längst obsolete) amtliche Bezeichnung für einen „Herrschafts- und Verwaltungsbezirk“29 spielt der Titel des Hefts, Provinz erzählen, dabei ebenso wenig an wie auf die mit der Begrifflichkeit assoziierte Semantik der Rückstän-digkeit – zumal „Defizitnarrationen“30 nicht für Auffassungen von ‚Provinzialität‘ allein reserviert sind, sondern sich gleichermaßen mit gängigen Vorstellungen von ‚Ländlichkeit‘ wie ‚Dörflichkeit‘ verbinden. Vielmehr verstehe ich ‚Provinz‘ mit Werner Nell als „regional, landschaftlich, historisch und kulturell abhebbaren Erfahrungs-, Handlungs- und Bezugs-raum[]“, der „durch eine spezifische ‚mittlere‘ Dichte der Strukturen und Beziehungen […] und der jeweils individuellen sowie gruppenspezifischen Bezugnahmen und wechselseiti-gen Handlungen gekennzeichnet ist“.31 ‚Provinz‘ wird in diesem Schwerpunkt demnach als Kategorie gebraucht, die es erlaubt, eben diese – in literarischen, televisuellen oder künstlerischen Formaten gestalteten, erzeugten und transformierten – „Lebensräume und Lebenswelten […] jenseits und außerhalb der ‚großen Städte‘“32 angemessen zu beschrei-ben und zu interpretieren. Erkenntnisgewinne, die sich z. B. aus der Analyse bestimmter Verfahren des Provinzerzählens ergeben, beruhen demnach zum einen auf einer jeweiligen genauen lokalen Anbindung, zum anderen zielen sie, etwa im Modus des Vergleichens, auf Verallgemeinerung. Ihr hermeneutisches Potential speist ‚die Provinz‘ dabei zumeist – ex-plizit oder implizit – in Opposition zur ‚Nicht-Provinz‘, zur Stadt.33

    Ob nun als Sehnsuchtsort oder Ort der Landflucht, ob als „der sichere und ruhige Ort des gehaltvollen Lebens“ oder der „Verbannung ins kulturlose Abseits“34 – stets wird ‚Provinz‘ ‚im Erzählen‘ erzeugt. Sie ist Gegenstand des Erzählens und wird selbst zur Erzählerin. In diesem Sinne verdeutlicht philipp böttCher in seinem Beitrag, wie ein fiktives, in der Uckermark angesiedeltes Dorf die Funktion der Erzählinstanz eines übergeordneten „Erzähler-Wir“ als vielstimmiges dörfliches Kollektiv übernimmt („Fürstenfelde erzählt. Dörflichkeit und narrative Verfahren in Saša Stanišićs Vor dem Fest“). Die Frage nach den Ermöglichungsbe-dingungen des Dorferzählens wird selbst ins Geschehen integriert, indem sie auf allen Ebenen angespielt und schließlich zum Zielpunkt der Handlung wird. Anders gesagt: Das in der

    29 MeCklenburg (1982, 16).30 FenSke, Hemme (2015, 14).31 Nell (23.–25.11.2018, Ms., 2 f., 17); Vortrag auf der Tagung Die literarische Provinz. Das Allgäu und die Lite-

    ratur in Sonthofen; vgl. dazu den Konferenzbericht von Martin Ingenfeld in ZfGerm NF XXIX (2019), H. 3, 622–625. – Für die freundliche Überlassung des Vortragsmanuskripts danke ich dem Verfasser herzlich.

    32 Nell (23.–25.11.2018, Ms., 25).33 „Provinzialismus und Urbanität sind hermeneutische Größen, mit denen sich der komplexe Zusammenhang

    von Lebensraum, Lebensweise, Lebensgefühl sowie bewussten und unbewussten Lebenseinstellungen polar ordnen lässt“ – wobei sich, wie erwähnt, „Urbanität“ „dank der Verkehr- und Kommunikationstechnik“ auch auf dem Dorf und „Provinzialismus“ im städtischen Raum (mit seinen „Stadtteilzentren und Lokalfernsehen“) „ausbilden kann“ (Burdorf, MatuSChek [2008, 9]).

    34 Burdorf, MatuSChek (2008, 11).

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    aktuell boomenden Landleben-Literatur viel besprochene Dorf wehrt sich. Es schwingt sich zur Herrin der Diskurse auf, nicht ohne auch diesen im Wortsinn ‚kons truktiven‘ Vorgang stets selbstironisch auszustellen. Lebt der multiepisodale, unterschiedliche Textsorten und Darstellungsweisen erprobende Roman in seinem Verlauf davon, dass das D orfgedächtnis alle Phasen der Dorfgeschichte gleichermaßen präsent hält, so macht sein Finale mit die-ser Erkenntnis Ernst und begründet eine eigene, quasi-göttliche „Dorfzeit“ jenseits aller Chronologie. Die in den erzählerischen Experimenten des 19. Jahrhunderts angelegte, auf kulturübergreifende Verallgemeinerung hin abzielende Geschlossenheit des Dorfs wird so konsequent zu Ende gebracht. Die Dörfer der Gegenwart mögen vom Aussterben bedroht sein, Fürstenfelde aber „lebt weiter, indem von ihm erzählt wird“.

    Dem neuesten Trend im Provinz- als Dorferzählen widmet sich der Beitrag von marC weiland („Böse Bücher aus der Provinz. Der Anti-Heimatroman und das aktuelle Erzählen über Land“). Das Konzept der ‚bösen Bücher‘ ist mit Blick auf aktuelle Dorfromane in-sofern aufschlussreich, als es für jüngste Veröffentlichungen in diesem Bereich ein bemer-kenswert tragfähiges Deutungsangebot liefert. ‚Böse Bücher‘ sind solche, die sich weigern, „hehre Ziele“ zu verfolgen und etwa „alle Menschen auf ihrem Weg zur Glückseligkeit zu begleiten“ – Bücher, die in den ‚Giftschränken‘ von Bibliotheken lagern, weil sie gegen die Gebote einer herrschenden moralischen, religiösen oder staatlichen Doktrin verstoßen oder die Grenzen des jeweils anerkannten ‚guten Geschmacks‘ auch in ästhetischen Fragen überschreiten.35 Dieses Konzept ist ‚der Dorfgeschichte‘ in der Version eines Anti-Heimat-romans in Anlage und Darstellungsabsicht von vornherein inhärent. Gegenwärtig sind es v. a. Autorinnen, die sich seiner bedienen, um aktuelle Landlust-Idyllen zu entlarven und endgültig zu erledigen – mit einer je eigenen Lust an der Darstellung eines Landlebens, das rückständig ist, schmutzig, krude körperlich, und im Wortsinn zum Himmel stinkt. Für die Protagonistinnen gilt, mit Blick auf das Genre: Nur ‚böse Mädchen‘ können dort überleben. An drei Beispielen, Petra Piuks Toni und Moni. Oder: Anleitung zum Heimat-roman (2017), Kathrin Gerlofs Nenn mich November (2018) und Alina Herbings Niemand ist bei den Kälbern (2017), zeichnet der Beitrag diese spezifische Ausgestaltung aktuellen (v. a. weiblichen) Provinzerzählens in je unterschiedlichen „Versuchsanordnungen“ nach, die, sei es in sozialkritischer, sei es in polemisch-provokativer Absicht, ‚provinzielle‘ Um-gangsweisen mit der Natur, mit Fremden, mit Schwachen als für die gesamte Gesellschaft virulente Problemlagen vorführen.

    Eine weitere, ebenfalls historisch wie aktuell interessante Form des deutschsprachigen Provinzerzählens arbeitet der Beitrag von SolVeJg nitzke heraus („Genealogie und Arbeit. Ökologisches Erzählen bei Franz Michael Felder und Ludwig Anzengruber“). Am Beispiel zweier bedeutender österreichischer Dorf-Erzähler des 19. Jahrhunderts zeigt sie die Teilhabe von fiktionaler, ästhetisch komponierter Literatur an der zeitgenössischen Debatte über die zunehmend als prekär wahrgenommene Natur auf. Dafür induziert sie am beobachteten Material die Variationen des ‚ökologischen‘ als ‚sozialen‘ ‚Erzählens‘, mithin eines Erzählens, das die gesamte Lebenswelt umspannt, diese einfängt, kommentiert und allererst erzeugt – in Form eines Netzwerks aller daran beteiligten menschlichen wie nicht-menschlichen Akteure. Zu letzteren gehören auch die Aushandlungsmedien und deren Darstellungsformen

    35 KraJewSki, MaJe (2019, 10 f.).

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    selbst. Genauer macht der Beitrag mit Blick auf die Spezifika des ökologischen Erzählens drei Verfahrensweisen dingfest: das „Verknüpfen“, das „Skalieren“ und das „Austarieren“ im Verhältnis von Natur, Mensch, Herausforderungen der Moderne und den Möglichkeiten des Erzählens. „Erst im Zusammenspiel der drei Verfahren erscheint Ökologisches Erzählen als eine Praxis, die ihre inneren Widersprüche produktiv“ werden lässt. Dabei tendieren die Erzählungen Felders eher dazu, ‚das Dorf‘ zu reformieren, an die Gegebenheiten anzupassen und künftige Erfordernisse vorwegzunehmen, wohingegen Anzengrubers Texte individuelle Lösungen ausprobieren und illustrieren (z. B. anhand von Auf- oder Aussteigergeschichten).

    In gewisser Weise lässt sich ‚ökologisches Erzählen‘ als eine Form des „Nature Writing“ beschreiben, das mit Bestsellern wie Peter Wohllebens Das geheime Leben der Bäume (2015) oder Maja Lundes Die Geschichte der Bienen (2017) derzeit aktuell ist wie nie. In ihrem Bei-trag widmen sich Caroline roSenthal und peter braun der wirkmächtigen Grundlegung des Phänomens in den alternativen Szenen der 1970er und 1980er Jahre („Landmarken. Das Konzept des Bioregionalismus bei Gary Snyder und Helmut Salzinger“). Mit Blick auf dieses Konzept wird eine Vorstellung von ‚Provinz‘ profiliert, die weniger auf politische, soziale oder kulturelle Gegebenheiten (und deren Ermöglichungsbedingungen) setzt denn auf die je natürliche Formation der Erdoberfläche und des Geländes. Gary Schneiders Turtle Island, eine Art lyrisches Angebot, den Frontier-Mythos zu überschreiben und das US-amerikanische Selbstverständnis im Erfahrungsraum der Gedichte und mit deren Hilfe ökologisch zu sensibilisieren, hatte enormen Einfluss auf die westdeutsche Alternativkultur um 1980, die sich über die sozialen und politischen Protestbewegungen seit den 1960er Jahren hinausgehend als Ökologie- und Anti-Atomkraft-Bewegung profilierte. An zentralen Gelenkstellen der Beat Poets-Rezeption, allen voran der Zeitschrift Falk sowie dem lyrischen und essayistischen Werk von deren Herausgeber Helmut Salzinger, erhellt der Beitrag die spezifische Ausprägung des darin ausgehandelten bioregionalistischen Konzepts. Salzingers Bioregionalismus setzt auf sinnliche Teilhabe am bewohnten und zu bewohnenden Land-schaftsraum, verwahrt sich – wie neuerdings in Randls Der große Garten (2019) wieder propagiert und ins Selbstironische gewendet – gegen die „agrikulturelle[] Zurichtung“ der Natur und propagiert einen „biologischen Realismus“, der die Möglichkeiten und Grenzen des Machbaren stets mit auslotet.

    Einen genaueren Blick auf die Anti-Atomkraft-Bewegung der 1980er Jahre wirft der Beitrag von felix knode, dessen close reading von Walter Moosmanns Lied vom Lebens-vogel den Stellenwert und die Funktion der Balladen-Form für die – gelesene, rezitierte und gesungene – Auseinandersetzung mit den Bedrohungen von Mensch und Umwelt durch die atomare Energiegewinnung extrapoliert („Poesie demokratischen Widerstands. Das Wendland in Walter Moosmanns Lied vom Lebensvogel“). Selten war Lyrik in der west-deutschen Nachkriegszeit so engagiert wie in diesem Fall, der u. a. in der Frage nach einem demokratischen Mitspracherecht jenseits der Wahlurne mit der ‚Gründung‘ der immerhin für kurze Zeit bestehenden Republik Freies Wendland (1980) konkret politisch wurde. Die Ballade handelt demnach nicht in erster Linie vom Widerstand gegen die Errichtung eines Atommüll-Endlagers im Salzstock Gorleben, berichtet über diesen und archiviert ihn; viel-mehr ist sie Teil dieses Widerstands, den sie auf nachhaltige, immersive Weise gestaltet und beeinflusst. Am Beispiel des Wendlands, eines Zonenrandgebiets in unmittelbarer Nähe zur Grenze der DDR, wird das Potential der ‚Provinz‘ als eines „politisch demokratischen

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    Reflexionsraum[s]“ historisch entfaltet. Das dabei entwickelte Bild einer immerwährenden latenten und realen Bedrohung kollidiert mit der zeitgleich (u. a. touristisch) praktizierten und gepflegten Vorstellung eines landschaftlichen Erholungsraums. Zum einen macht der Beitrag damit deutlich, wie Moosmanns Text das Wendland als ‚Provinz‘-Raum lyrisch hervorbringt und dadurch zugleich – im Rahmen eines bestimmten Anliegens in einer genau benennbaren historischen Situation – politisch funktionalisiert. Zum anderen verweist er auf die verallgemeinerbare, gattungssystematisch angelegte Dimension der Frage nach einer spezifischen Verwendung der Ballade für ein politisch wie ökologisch motiviertes Programm. Zu dessen Umsetzung bedarf es eines geographisch einzigartigen provinziellen Raums – des Wendlands – sowie einer realitätsgesättigten und zeithistorisch präzise verorteten Idylle – in Balladenform.

    Provinzerzählen, das mit Blick auf seinen Verbreitungsgrad als ‚populär‘ bezeichnet werden kann, findet derzeit nicht zuletzt im Fernsehen statt. Umso bemerkenswerter ist, dass sich die Filmwissenschaft für Formen, Verfahren, Funktionen und Folgen der medialen Produktion ländlicher Räume bislang kaum interessierte.36 Am Beispiel v. a. der seit 2016 ausgestrahlten MDR-Doku-Reihe Unser Dorf hat Wochenende analysiert ChriS-tian hiSSnauer die Darstellungsstrategien eines TV-Formats. Die Serie konterkariert die landläufig eher negativen Vorstellungen über aufgegebene ländliche Räume im Osten Deutschlands, indem sie ‚das Dorf‘ als Realisationsort je unterschiedlich gelingenden Lebens in ein stets positives Licht rückt („Unser Dorf hat Wochenende. Die mediale Aufwertung der Provinz und des Dörflichen im Fernsehdokumentarismus der Dritten Programme“). In Unser Dorf hat Wochenende geht es dabei weniger um die Frage, ob ländliche Regionen im Osten überhaupt eine Zukunft haben und wie diese aussehen könnte bzw. sollte. Am Beispiel der jeweils gezeigten, überaus lebendigen Dorfgemeinschaften, in denen sich der/die Einzelne stets an den Belangen des Gemeinwohls orientiert, tun die Beiträge implizit vielmehr so, als sei diese Frage bereits positiv beschieden – und als könne man seinem Publikum mehr auch nicht zumuten. Unser Dorf hat Wochenende „normalisiert“ in völlig unkritischer, rein affirmativer Weise „die Vorstellung einer ethnisch homogenen Dorfge-meinschaft“ und erklärt jene „(konservativ-heteronormative[]) Ordnung“ zum Ideal, für die ‚das Dorf ‘ demnach als ein scheinbar tradierter, in der und durch die Sendung bereits (und damit ‚erneut‘) realisierter Sehnsuchtsort herhalten muss. Ganz anders dagegen ist die SWR-Reihe Landleben4.0 (ebenfalls seit 2016) aufgestellt. Hier bestimmt die Frage nach der Zukunftsfähigkeit der Provinz das Programm der Sendung, die explizit darstellen will, „[w]ie Dörfer attraktiv bleiben“.37 Im Fokus der Reihe steht die Darstellung innovativer Ideen und vielfältiger Interessen (etwa gilt ihr Zuwanderung als Bereicherung und nicht als Bedrohung – um nur ein Beispiel zu nennen).

    Wie eine nachhaltige Landaneignung und die damit einhergehende Transformation ländlicher Räume in der Praxis aussehen kann, beschreibt thomaS klein am Beispiel der Internationalen Sommeruniversität Transmedia Storytelling | Kultur des Klimawandels – Kommunizieren für die Zukunft des Climate Culture Communications Lab („Doku-Kunst

    36 Vgl. hiSSnauer (2018); StoCkinger (2018).37 , zuletzt:

    27.10.2019.

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    als narrative Form für Gestaltungsprozesse im ländlichen Mecklenburg-Vorpommern“). Ihre Angebote zielen darauf, die Verflechtung von globaler und lokaler Ebene (bevorzugt situiert in der Mecklenburgischen Schweiz um den Kummerower See) nicht nur ins Bewusstsein zu bringen, sondern konkret künstlerisch zu gestalten und zu präsentieren. Genauer geht der Beitrag dabei auf ein dokumentarisches Laien-Kunstprojekt mit dem Titel Erben des Fortschritts ein, das 2014–2016 die Region und ihre Bewohner*innen in Foto-Text-Kombi-nationen mit Blick auf den Klimawandel einzufangen versuchte, um die Mitwirkenden für das Thema zu sensibilisieren und sie zugleich über die medialen Techniken der Nachhal-tigkeits- und Umweltkommunikation zu informieren sowie in deren Nutzung auszubilden.

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    mailto:[email protected]

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    PhiliPP Böttcher

    Fürstenfelde erzählt.Dörflichkeit und narrative Verfahren in Saša Stanišićs„Vor dem Fest“

    I. Hinführung und Überblick. Hugo von Hofmannsthals Dictum, wonach „von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie“ führe,1 wird man im brandenburgischen Fürstenwerder so sicher nicht bestätigen können. Immerhin verdankt das uckermärkische Dorf, das Saša Stanišić als Anschauungs- und Inspirationsraum für sein Buch Vor dem Fest (2014) und dessen literarischen Handlungsort Fürstenfelde diente, dem Roman einen beträchtlichen Image-Gewinn und Tourismus-Boom: „Im Ort gibt es eine Zeit vor dem Buch und nach dem Buch. Vor dem Roman gab es zehn Radtouristen im Jahr. […] Heute laufen die Leute mit den Rezensionen des Romans ‚Vor dem Fest‘ […] durch den Ort“, weiß man beim Tourismus-Marketing Brandenburg über „[d]as Dorf aus dem Roman ‚Vor dem Fest‘“ zu berichten.2 Entsprechend wirbt auch der örtliche Touris-musverein in Fürstenwerder mit Stanišićs Roman und empfiehlt die rund 800 Einwohner zählende Gemeinde als literaturtouristischen Anziehungspunkt.3

    Im Jahr nach der Veröffentlichung des Bestsellers wurde in Fürstenwerder erstmals das Literaturfestival Wortgarten veranstaltet. Dass man dabei versichert, „kein Festival von Berlinern für Berliner“ zu sein, sondern stattdessen die eigene Identität und Stimme betont (wie sie etwa die ortsansässige Autorin Karin Cieslicki repräsentiere);4 dass man in Fürstenwerder im Jahr 2019 – gegenüber dem fiktiven Fürstenfelde um acht Jahre später5 – nun das 700-jährige Dorfjubiläum begeht und die Bedeutung der eigenen ereignisreichen Geschichte im Lauf der Jahrhunderte herausstellt;6 dass sich, analog zum Roman, vor allem einst Zugezogene als wichtige Impulsgeber für den Ort erwiesen haben;7 dass das Dorf Fürstenwerder mithin aus und mittels der Literatur wichtige Erneuerungsenergien gewon-nen hat; dass Stanišić diese realen Entwicklungen in seiner Erzählung Fallensteller (2016) wiederum überzeichnend in Literatur übersetzt, wenn das seit dem „Jugo-Schriftsteller“ vom Literaturtourismus heimgesuchte Fürstenfelde darin ironisch als „Literaturmetropole“ mit „[m]ehr Literaten als Nazis“8 beschrieben wird – all diese Umstände deuten auf weit mehr hin denn auf bloße Übereinstimmungen oder Wechselspiele von Literatur und Wirklichkeit.

    1 hofmannsthal (1979, 16).2 lehmann (2014).3 Vgl. , zuletzt: 24.9.2019.4 neumann (2019).5 Vgl Stanišić (2014a, 142) – im Folgenden zitiert unter Verwendung der Sigle: VdF.6 , zuletzt:

    24.9.2019.7 Vgl. neumann (2019).8 Stanišić (2016, 173, 175).

    pen

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    Philipp Böttcher Dörflichkeit und narrative Verfahren in Saša Stanišićs „Vor dem Fest“ | 307

    Neben dem so übergängigen wie zugleich brüchig-unzuverlässigen Verhältnis von Fiktion und Realität verweisen solche Pointen und doppelbödigen Analogien auf zentrale Erzähl- und Sinngebungsverfahren in Vor dem Fest, die im Folgenden genauer analysiert werden. Hierbei soll gezeigt werden, wie das Dorf als ein sich auf spezifische Weise selbst erzählender – und damit Deutungshoheit über sich selbst gewinnender – Imaginationsraum entworfen wird, dessen Fortbestand gerade daran gekoppelt ist, dass von ihm erzählt wird. Historische ‚Wahrheit‘ erweist sich dabei als ebenso nachrangig wie problematisch und unzuverlässig; dies offenbart sich u. a. dort, wo der Autor sich historischer Quellen wie der ‚Prenzlauer Chronik‘ bedient. Die Vorstellung vom Dorf als „Gegenmodell zu dem [Modell, P. B.] fluider, un-bestimmter, offener Identität“9 bzw. als ‚urdeutschem‘10 Sujet wird hier trotz bzw. besonders wegen solcher historischen Rückgriffe gerade nicht bedient. Vielmehr wird in Saša Stanišićs Vor dem Fest selbstreflexiv ein fiktives Dorf konstruiert, wird am Beispiel Fürstenfelde eine – letztlich universale – lokale Identität kreiert,11 die nicht immer schon vorgegeben ist, sondern erst durch Erzählung und Tradierung gestiftet wird, und deren beständiger Kern sich nicht zuletzt in der Fähigkeit zur Erneuerung im historisch krisenhaften Wandel der Jahrhunderte bekundet.

    II. Fürstenfelde ‚verschwindet‘. Einem schleichenden krisenhaften Wandel sieht sich das Dorf Fürstenfelde auch in der Erzählgegenwart ausgesetzt: „Es gehen mehr tot, als ge-boren werden. Wir hören die Alten vereinsamen. Sehen den Jungen beim Schmieden zu von keinem Plan. Oder vom Plan, wegzugehen. Im Frühling haben wir den Stun-dentakt vom 419er eingebüßt.“ (VdF, 12) Demographischer Wandel, Landeinsamkeit, Abwanderung, Perspektivlosigkeit, zunehmende Abgeschnittenheit vom öffentlichen Nahverkehr – das sind die Merkmale und publizistischen Schlagwörter, die Stanišićs Vor dem Fest in der Einführung seines Handlungsortes aufwirft. Fürstenfeldes Probleme gleichen denen des realen Fürstenwerder und spiegeln mit den Stichwörtern „Hoch-leistungs-Landwirtschaft, Überalterung, Landflucht, Arbeitslosigkeit“ zugleich Lebens-welten, die der zeitgenössischen Publizistik zufolge typisch für die Uckermark sind.12 Im Zusammenhang mit seinem Roman hat Stanišić darauf hingewiesen, dass es sich bei den so benannten ländlichen Strukturproblemen um ein überregionales, sogar gesamt-europäisches Phänomen handelt:

    In Bosnien habe er sich […] zum ersten Mal intensiv mit den strukturellen Problemen und der zu-nehmenden Abwanderung junger Menschen beschäftigt. „In meiner Heimatstadt [i.e. Višegrad in Bosnien und Herzegowina, P. B.] herrscht eine hohe Arbeitslosigkeit, ganze Landstriche werden alt, und die Jugend geht weg“. Diese Problematik mache ihm Sorgen, und darum setze er sich damit auseinander13

    9 märz (2017).10 Vgl. dagegen Biller (2014).11 Vgl. in diesem Sinne auch Bernstorff (2018), SandBerg (2018, 93 f.), Stanišić (2014b).12 lehmann (2014).13 , zuletzt: 24.9.2019.

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    – so eine Pressemitteilung des Verlags zu Stanišićs Provinznarration. Gleichwohl evoziert die Dorf-Darstellung in Stanišićs Roman insbesondere jene Diskurstopoi, die im Kontext der formelartig beklagten sozialen Tatsache des ‚Verschwindens‘ bzw. ‚Aussterbens der Dörfer‘14 – vor allem in den ostdeutschen Landstrichen – verhandelt werden. Bei dem Handlungsort in Vor dem Fest, „Fürstenfelde, Brandenburg. Einwohnerzahl: sinkend“ (VdF, 63), handelt es sich um solch ein sterbendes, vom Verschwinden bedrohtes Dorf. Diese Entwicklung lässt sich dort allerorten beobachten. Übereinstimmend mit der dörflichen Realität in der Uckermark15 verlassen im Roman die jungen Leute, insbesondere junge Frauen wie die Figur der Anna Geher (vgl. VdF 185, 262, 281), das Dorf und kehren nicht mehr zurück – so etwa die drei Töchter des Tischlers Eddie, die „ihre Zukunftschancen woanders höher eingeschätzt“ haben (VdF, 263), oder die berühmteste ‚Tochter‘ des Dorfes, Britta Hansen aus dem SAT1-Frühstücksfernsehen (VdF, 160). Ordentliche Beschäftigungsverhältnisse sind rar, die Schweinezucht bildet das einzige größere Gewerbe (VdF, 34). Für Rentner wie Herrn Schramm wird es im Alter eng (VdF, 268), so dass der ehemaliger NVA-Leutnant und Förster (VdF, 25) ausgerechnet beim adligen Landbesitzer und -maschinenvertreiber von Blankenburg ‚schwarz‘ dazuverdienen muss und sich entschlossen hat, wahlweise mit Zigaretten oder einer Pistole das eigene Verschwinden zu beschleunigen (vgl. VdF, 28, 108).

    Verschwunden sind neben der Tankstelle (VdF, 14) auch sechs der einst sieben Gaststätten und Kneipen im Ort,16 die normalerweise den institutionellen Kern und das gesellschaftliche Zentrum dörflicher Gemeinschaften bilden. Dass an ihnen letztlich die Bevölkerungs-entwicklung und mittelbar die sonstige Dorfinfrastruktur hängt, versucht die malende Dorfchronistin Frau Kranz einem Journalisten begreiflich zu machen: „Und ihr schreibt dann, Geburtenrückgang und Schulsterben. Ja, Himmelherrgott! Wenn die Gastronomie stirbt! Weniger Gaststätten – weniger Kinder, so einfach ist das.“ (VdF, 93) Für dieses konkrete Defizit sich verringernder privater und öffentlicher Grundversorgung, wie sie allgemein als Hauptproblematik des Dorflebens diskutiert wird,17 wird im Roman eine ‚Lösung‘ präsentiert, die den dörflichen ‚Ersatzwirtschaften‘, wie sie in Realität existieren, auf frappierende Weise gleicht. So wird in Die Zeit unter der Überschrift Gehen oder bleiben im August 2017 das niedersächsische Werpeloh geschildert, in dem die Dorfjugend auf den Verlust der Dorfkneipe damit reagiert, dass ein Schweinestall als Behelf dient.18 In Stanišićs Fürstenfelde nutzt man vergleichbar Ullis Garage als Kneipenersatz (VdF, 19). Darin hält sich besonders regelmäßig Lada als Phänotyp der Fürstenfelder Dorfjugend auf, die ihrem von der Zeit beschriebenen Pendant aus der westdeutschen Realität durchaus ähnelt. Lada muss schon früh den Impuls nach Landflucht verspürt haben – seinen Spitznamen trägt

    14 Vgl. dazu Weiland (2018), richter (2019, 129–134).15 Vgl. die entsprechenden Statistiken unter , zuletzt: 24.9.2019.

    16 VdF, 93. – Nur das die Gaststätte Gleis 1 gibt es noch. „In Gleis 1 willst du aber nicht picheln“, kommentiert der Dorf-Erzähler (VdF, 19).

    17 Vgl. reichert-schick (2019, 197 f.).18 mcminn (2017).

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    Philipp Böttcher Dörflichkeit und narrative Verfahren in Saša Stanišićs „Vor dem Fest“ | 309

    er, weil er als Dreizehnjähriger mit dem Auto seines Großvaters nach Dänemark gefahren ist (VdF, 14). In der Erzählgegenwart lebt er nun von denen, die tatsächlich verschwunden sind, denn er verdient sein Geld mit Entrümpelungsarbeiten (VdF, 262).

    Das Aussterben des Dorfes lässt sich ebenso an dessen zentralen Funktionsstellen be-obachten. Dass der Fährmann gestorben ist, wird mit den ersten Sätzen des Romans be-trauert: „Wir sind traurig. Wir haben keinen Fährmann mehr. Der Fährmann ist tot.“ (VdF, 11; vgl. auch 13). Und dass dem seit 1943 amtierenden, zunehmend altersschwachen Dorfglöckner mindestens bald das berufliche Ende bevorsteht, wird gleich auf der zweiten Seite des Buches angedeutet (VdF, 12; vgl. auch 73 u. 75). Der Tod des Tischlers und Elektrikers liegt wiederum schon Monate zurück, für ihn hat sich bisher kein Ersatz gefun-den.19 Das ‚Verschwinden‘, das in Stanišićs Fürstenfelder Fortsetzungserzählung Fallensteller anhält,20 betrifft indes nicht nur die Dorfinstitutionen und Menschen; lokales Wissen, Geschichten und Traditionen sind ebenso davon bedroht. Der Tod des Fährmanns, auf dessen vielschichtige Funktion für das Dorf – allen voran die des Geschichtenerzählers – der Text immer wieder hinweist,21 hat in dieser Hinsicht eine Leerstelle hinterlassen; nicht zufällig verbindet die Figur im Roman durch ihr Auftreten im Erzählpanorama (darin der Fähe ähnlich) verschiedene Zeit- und Erzählebenen. Das Einsetzen des Erzählaktes wird nicht zuletzt durch diesen Verlust motiviert, der vice versa durch die Geschichten vom Fährmann wieder kompensiert bzw. rückgängig gemacht wird.

    Darüber hinaus trägt Fürstenfelde auf den ersten Blick das Gepräge eines postsozia-listischen und postmythischen Ortes, der unausweichlich sowohl einer fortschreitenden Profanisierung, einer nicht nur transzendentalen Obdachlosigkeit, als auch einem bis weit ins Gemeinschaftsleben hineinreichenden allumfassenden Sinn- und Bedeutungsvaku-um entgegenzugehen droht. So jedenfalls befürchtet es der Glöckner nach dem Tod des Fährmanns:

    Der Steg leer, das Häuschen verlassen, den Ruf der Glocke hatte niemand gehört. Das ist das eigentliche Nichts […]: Dass etwas existiert und funktioniert, aber für niemanden einen Nutzen hat. Gegenstände, Geräte, ein ganzer Ort. Die Glocken. Dass die einfach nur noch sind.Früher haben die Glöckner wichtigen Ereignissen Anfang und Ende gesetzt, haben vor Gefahren gewarnt, vor Feind und den Elementen. […] Nachts, in einer Welt, die nicht so übervoll mit Licht war, waren die Glocken ein Leuchtturm aus Klang für alle, die durch die Finsternis irrten. […] Und heute? Glocken sind die akustische Erinnerung, dass die Kirche noch steht. Ein Weckruf, den niemand bestellt hat. (VdF, 74 f.)

    Wenngleich die düsteren Diagnosen des Glöckners weder in der konkreten Handlungs-situation (vgl. VdF, 75 f.) noch im Folgenden bestätigt werden, sich das (schließlich von Johann Schwermuth übernommene) Glöckneramt sowie die Funktion der Glocken für Dorf

    19 Vgl. VdF, 262–267. Dass Lada später einmal diese Funktionsstelle übernehmen könnte, wird zumindest von ihm selbst für möglich gehalten (267).

    20 „WIR WERDEN WENIGER, DIE TIERE WERDEN MEHR“, heißt es da – und weiter: „Es gibt nichts zu tun oder es gibt zu viel zu tun und niemanden, der es tun will. Jetzt hat auch die Gitty dichtgemacht. Wir haben keinen Kiosk mehr“ (Stanišić [2016, 171]).

    21 Vgl. etwa VdF 36, 95, 233. Kumlehn (2016, 144) bezeichnet den „Fährmann als paradigmatischen Prototyp des Erzählers, Identitätsstifters und Retters“ im Roman.

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    und Bewohner vielmehr im Textverlauf als lebendig und wichtig erweisen, wird auch das Annenfest als bestimmender Handlungsfluchtpunkt durch den Verlust tradierten – ins-besondere religiösen – Wissens charakterisiert:

    Unser Annenfest. Was wir feiern, weiß niemand so recht. Nichts jährt sich, nichts endet oder hat an genau diesem Tag begonnen. Die Heilige Anna ist irgendwann im Sommer, und die Heiligen sind uns heilig nicht mehr. Vielleicht feiern wir einfach, dass es das gibt: Fürstenfelde. Und was wir uns davon erzählen. (VdF, 30)

    So wie in einer späteren Passage aufgezählt wird, welche traditionellen Bräuche des An-nenkults das Dorf nicht mehr durchführt bzw. über welches dazugehörige Wissen, etwa Bauernregeln, es nicht mehr verfügt (vgl. VdF, 292 f.) und dieses Wissen dadurch zugleich ex negativo erinnert, verweisen die zitierten Sätze selbstreferentiell auf das Erzählprogramm und die Erzählsituation des Textes sowie die Bedingungen seiner Möglichkeiten. Schon weil dem Annenfest im Ort keinerlei religiöse Bedeutung mehr zukommt, feiert man es in Fürstenfelde nicht, wie gemeinhin üblich, am 26. Juli, dem Tag der heiligen Anna.22 Das Datum des Fürstenfelder Annenfestes ist stattdessen der 21. September. Genauer gesagt reicht die Zeit der Handlung von der Nacht vor dem Fest bis zum Annenfest am folgen-den Tag: Samstag, 21. September 2013.23 Mag es sich bei dem Annenfest in Fürstenfelde auch inzwischen um eine säkularisierte Tradition handeln, so erfüllt es doch den Zweck der Selbstvergewisserung der dörflichen Gemeinschaft,24 die ihre Existenz, ihr Überleben feiert und sich von sich selbst erzählt. In seinem metapoetischen Aussagewert deutet das obige Zitat mithin nicht nur auf den Zweck des Erzählens, sondern ebenso auf die spezi-fische Erzählhaltung, den Erzählzeitpunkt und den Erzählanlass hin. Sinngebungs- und Erzählverfahren sind im Roman eng miteinander verknüpft.

    III. Zeit, Modus, Stimme – erste Befunde. Innerhalb der Rahmenhandlung liegt der Darstel-lungsfokus des Textes vor allem auf jenen Dorfbewohnern, die in der Nacht vor dem Fest noch auf den Beinen sind – sei es, dass sie ruhelos sind, sei es, dass, sie noch etwas zu erle-digen haben oder ihren Beitrag zum Fest vorbereiten müssen. Auf dieser Ebene überwiegt das simultane Erzählen im Präsens, in erster Linie unterbrochen durch Analepsen im Präteritum, gelegentlich auch durch Prolepsen im Futur (vgl. VdF, 29 f.) oder im futurischen Präsens (vgl. VdF, 34). Bezeichnend für die Aufhebung herkömmlicher Zeitordnungen sind

    22 Vgl. zur heiligen Anna ausführlich Wrede (1927).23 Wie detmers, ostheimer (2016, 66, 90 [Anm.115]) überzeugend dargelegt haben, lässt sich das Datum wie

    folgt herleiten: Auf sein Plakat, das den Beginn des neuen Grundkurses des christlichen Glaubens für den „21.09.um 17:30 Uhr“ ankündigt, schreibt Uwe Hirtentäschel „mit einem roten Marker: HEUTE!!!“. Im Plakattext heißt es zudem ausdrücklich „am Annenfeste“ (VdF, 147). Rückschlüsse auf das Jahr 2013 erlauben wiederum die siebzigjährige Dienstzeit des Glöckners seit 1943 (vgl. VdF, 73) sowie die Episode um Frau Kranz und den Rumänen, die durch die Wendungen „ein Morgen in der Uckermark 2012“ (VdF, 291) und „letztes Jahr“ (VdF, 290) zeitlich bestimmt ist. – Dass das Fest auf einen Samstag fällt, bestätigt der Dialog zwischen Ditzsche und dem Frühstücksfernsehen: „Das Frühstücksfernsehen sagt, es könne nur ein Sonnabend sein, und Ditzsche gibt zurück: ‚Dann kommen Sie doch zum Fest‘ (VdF, 250).

    24 Nicht zufällig kam das Dorf ausgerechnet am Tag vor dem letzten Annenfest auf die Idee, in Ullis Garage eine Ersatzkneipe einzurichten (VdF, 19).

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    Philipp Böttcher Dörflichkeit und narrative Verfahren in Saša Stanišićs „Vor dem Fest“ | 311

    die Abweichungen: In einem Fall bspw. wird eine Episode aus der eigentlichen Erzählge-genwart in der Nacht vor dem Fest untypisch retrospektiv in der Vergangenheit geschil-dert, nachdem sie zuvor – eingebettet ins gleichzeitige Erzählen – im Futur I angekündigt wurde.25 Umgekehrt findet sich z. B. eine knappe Nebenhandlung (vermutlich aus dem letzten Kriegsjahr 1945), die im historischen Präsens vergegenwärtigt wird und sodann über eine eingeschobene Vorzeitigkeit wieder in die eigentliche Erzählgegenwart wechselt (vgl. VdF, 102).26 Die metapoetische Selbstbeschreibungslosung „die nacht trägt heute drei livreen: Was War, Was Ist, Was Wird Geschehen“ (VdF, 64) findet demnach bereits in den Zeitformen der Rahmengeschichte ihre Entsprechungen und intrikaten Verdichtungen. Dass die normalen Zeitordnungen im Verlauf der Nacht weiter aufgehoben werden, die Vergangenheit in die Gegenwart vordringt und beide aufeinander perspektiviert werden, begründet ein Erzählen, in dem und mit dem das Dorf seinen künftigen Bestand sicherstellt.

    Der schon auf Ebene der Rahmenhandlung im Hinblick auf Zeit, Modus und Stimme der Darstellung durch eine große Bandbreite gekennzeichnete Roman gewinnt durch die historisch situierten Binnenerzählungen in Form von „zwanzig […] (Pseudo-)Dokumenten“27 – z. B. Chronikauszüge, Berichte, historische Quellen oder deren Exzerpte28 – aus und über die Vergangenheit des Dorfes zusätzlich an narrativer Komplexität. Weitere, nicht vorgeb-lich quellenbasierte und nicht notwendig einen Wechsel der Erzählebene suggerierende, historische Analepsen29 verstärken diese außerdem. Gleiches gilt für jene sieben, aus der Sicht eines heterodiegetischen Erzählers intern auf eine Fähe fokalisierten Kapitel,30 die parallel zur Haupthandlung liegen und beschreiben, wie das Tier in der Nacht vor dem Fest Eier für seine Jungen stehlen will. Auch sie könnten zunächst den Eindruck erwecken, man habe es hier mit einem eigenständigen Erzählakt zu tun. Diesen Schluss mag ebenfalls ziehen, wer das Kapitel, in dem die Figur des Johann Schwermuth – anders als sonst (vgl. VdF, 48–51, 155 f.) – als homodiegetischer Ich-Erzähler auftritt (VdF, 130–135), losgelöst von der Gesamtfaktur des Romans betrachtet. Zur möglichen Verunsicherung des Lesers tragen überdies bei, dass in den historischen (Pseudo-)Dokumenten Erzählerfigur, Erzählhaltung und Erzählperspektive variieren, dass historische Quellen, Fähe und Rahmenhandlung nicht durchweg getrennt, sondern verwoben werden;31 dass zum Teil Zeitebenen zusammengezogen werden (vgl. VdF, 169–172); dass der Text sich immerzu metareferentiell selbst ausstellt – und vor allem, dass bereits die Erzählinstanz der Rahmenerzählung sich als so einzigartig präsentiert, dass sie gängige erzähltheoretische Beschreibungsmuster vor Herausforderungen stellt.

    25 Es handelt sich um Burkard Imbodens Versuch, in der Garage eine Geschichte bzw. seine Geschichte zu erzählen. Die im Präteritum erzählte Episode (VdF, 57–61) knüpft hier an das im Präsens erzählte Geschehen (VdF, 19 f.) an, wo es proleptisch heißt: „Heute Abend, letzte Runde, wird der alte Imboden erzählen“ (VdF, 20). Der Wechsel ins Präteritum ermöglicht es der Erzählinstanz hier, den Fokus auf Imboden zu lenken und die Unter-brechungen durch die Zuhörer nicht oder nur summarisch wiederzugeben („Imboden wartete höflich ab, bis zu Blissau und Gitty alles gesagt war, und erzählte weiter“ [VdF, 58]).

    26 Für ein weiteres Beispiel vgl. Kumlehn (2016, 137).27 detmers, ostheimer (2016, 66).28 Vgl. z. B. VdF, 82, 228.29 Vgl. z. B. VdF, 95, 99, 102. 192.30 Vgl. auch detmers, ostheimer (2016, 66).31 Vgl. z. B. VdF, 68, 80, 146, 172, 178, 233 f., 260 f.

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    Das erste Wort des Textes nämlich lautet „Wir“, und damit wird eine Erzählinstanz installiert, die im Folgenden zwar nicht singulär, wohl aber dominant bleibt. Die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse, mit dem Vor dem Fest prämiert wurde, hat dieses „Wir“ als „Chorgesang in Prosa“ bezeichnet.32 Wenngleich der Roman durch die Einheit des Ortes, die Einheit der Zeit und die Einteilung in fünf Kapitel derartige Fährten selbst legt, scheint weder die Analogie zum Dramenchor noch zum musikalischen Chor sonderlich weit zu führen. Stanišić, der u. a. eine stark rezeptionslenkende Homepage zu seinem Roman ins Netz gestellt hat,33 erörtert in einer seiner zahlreichen paratextuellen Äußerungen zum Werk ausführlich seine Überlegungen zur Konzeption des Textes und dessen Erzählinstanz:

    Das war die Frage, die ich mir bei den ersten Ideen gestellt hatte, was ist einem Dorf wichtig, um Dorf zu sein. Und dieses „Wir“ eines Dorfes sollte beschrieben sein in einer Fülle von Elementar-teilchen, die es dann letzten Endes ausmachen. Vielleicht klingt es seltsam, aber ich habe mir immer einen Körper vorgestellt, […] eine Art von Anatomie eines Dorfes, das war das Vorhaben.Ich hatte eine Skizze an der Wand, auf die ich jederzeit schauen konnte, die mir die einzel-nen Bestandteile des Körpers […] gezeichnet haben [sic]. Und was gehört jetzt eigentlich dazu, außer dem ganz Gegenwärtigen einer Kneipe, […] eines Heimatmuseums, […] den Menschen natürlich, und ich dachte mir, die Vollkommenheit von einem Dorf ist eben auch die Geschich-te, und nicht nur die Geschichte als gelebte Vergangenheit, sondern auch das, was man sich in der Geschichte erzählt hatte, die Überlieferungen der Gegend, die mythologischen Geschichten, aber auch das, was die Pfarrer in der alten Zeit aufgeschrieben haben. […]Und am Ende habe ich gedacht, jetzt fehlt ja auch noch eine Stimme. Was ist die Stimme eines Dorfes? Ich habe lange überlegt, und die Antwort ist relativ banal, das Dorf sagt „wir“. Alles, was „wir“ ist, ist Dorfbewusstsein, muss auch einen Charakter haben. Wer „wir“ sagt, meint viele „Iche“ und diese vielen „Iche“ oder „Ichs“ sind charakterbildend für das Dorf. Das heißt auch, auch das Wir-Sagen eines Dorfes bekommt ein charakterbildendes Merkmal. Wenn man das alles zusammenbaut, die Natur, die das Dorf umgibt, die Stimme des Dorfes, hat man diesen lebenden Körper, der seit 700 Jahren wach ist.34

    Stanišić formuliert den Anspruch, die gleichermaßen einzigartige und repräsentative Dörflichkeit seines Handlungsschauplatzes möglichst umfassend literarisch ins Werk zu setzen – bestimmen doch die Möglichkeiten erzählerischer Totalität und Geschlossenheit des Erzählkosmos Dorf schon im 19. Jahrhundert Reiz und Programm des Provinzerzählens.35 Für die Erzählanlage von Vor dem Fest ist die Abbildung gegenwärtiger Dörflichkeit eben-so konstitutiv wie die Darstellung der umgebenden Natur sowie der Vergangenheit bzw. ihrer Repräsentationen und Narrative. Im Interview beansprucht Stanišić, all dies in seiner Erzählinstanz zu vereinigen. Als Sammlungsorgan und zugleich Kollektivpersönlichkeit verkörpere sie „die Stimme des Dorfes“. So betrachtet handelt es sich bei der Erzählinstanz um einen „Kollektivnarrator“,36 um ein einerseits stellvertretend, andererseits gesammelt – überwiegend in der ersten Person Plural – sprechendes Erzähler-Wir, das sich innerhalb

    32 , zuletzt: 24.9.2019.

    33 , zuletzt: 24.9.2019.34 Stanišić (2014b).35 Vgl. Böttcher, trilcke (2013).36 Weiland (2017, 114).

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    der erzählten Welt jedoch nicht konkretisiert. Zwar gibt die Erzählinstanz Auskunft über ihre Gefühle, bewertet und reflektiert Figuren, Handlung und eigenes Erzählen; verein-zelt deutet sie sogar – etwa im paradoxen Akt des Mitbietens (VdF, 315) – an, sich am Geschehen zu beteiligen.37 Von homodiegetischem Erzählen im engeren Sinne kann aber dennoch nicht die Rede sein. Obwohl der Erzähler den Leser zum Teil direkt anspricht, gewinnt dieser vom Erzähler keine Anschauung.

    Die bereits angesprochenen Fragen nach den Abweichungen in der Erzählperspektive und der Hierarchisierung der Erzählebenen bleiben damit zunächst bestehen. Variable interne Fokalisierungen mit je eigener Erzählweise und Darstellungsfokus scheinen auf den ersten Blick von der Stimme des Erzähler-Wir abzuweichen, besonders im Fall der homodiegetischen Ich-Erzählung Johann Schwermuths oder der Fähen-Abschnitte. Diese Abweichungen lassen sich nur dann zusammenbringen, wenn man sie als Elemente eines dörflichen Erzählkörpers begreift – wenn man das erzählerische ‚Wir‘ weniger als einen einheitlichen Kollektiverzähler, sondern als erzählerisches Sammelorgan, als „Stimmen-kollektiv“ 38 versteht, das hochgradig wandelbar ist und dem unterschiedliche Erzählst-immen letztlich zu- bzw. untergeordnet sind. Belege dafür finden sich in verschiedenen metapoetischen Selbstthematisierungen, wie sie das Buch allerorten durchziehen. Als in dieser Hinsicht und für die Erzählverfahren des Textes allgemein zentral erweist sich eine Schlüsselpassage zu Beginn des Romans, in der dessen Erzählstruktur, Erzählweise und Erzählprinzipien weitreichend offengelegt werden (VdF, 28–33). Ein stark gekürzter Zu-sammenschnitt daraus bildet den Ausgangspunkt der folgenden Deutungen.

    IV. Fürstenfelde erzählt – Verfahren eines ‚Erzähler-Wir‘.

    Das Dorf geht früh zu Bett. Lassen wir die Träumenden in Frieden. Vertreiben wir uns die Zeit mit den Ruhelosen. Mit unseren Seen, sie schlafen ohnehin nie. Mit den Tieren, sie ziehen in den Kampf. Im Schutz der Dunkelheit bricht die Fähe auf zu einer denkwürdigen Jagd. […] Herr Schramm wiegt die Pistole. Auch Frau Kranz ist wach […]. Unter dem Woldegker Tor nimmt sie einen Schluck aus der Thermoskanne, darin ist nicht nur Tee. […]Die Nacht vor dem Fest ist eine eigenartige Zeit […].[D]er Stadtherr ist nicht da: Poppo von Blankenburg, grob, laut, gerecht nach seinem Recht. […]Frau Schwermuth hält viele Fäden in der Hand. Das Mädchen jagt den Bruder um die Öfen. Anna, nennen wir sie Anna. […]Komm, wir nehmen dich mit. Zu deiner Namenvetterin, zu den Menschen, zum Tier. Zur Fähe, zu Schramm. […] Zum Brotgeruch und Kriegsgestank. […] Zu den Riesen, den Hexen, den Bra-ven, den Narren. Wir sind zuversichtlich, du wirst eine passable Heldin geben. Wir sind traurig, wir sind froh, richten wir, richten wir es an. (VdF, 30–33)

    Der in vielerlei Hinblick aufschlussreiche Ausschnitt entfaltet hier das multiperspektivische Panorama des eigenen Erzählens und durchquert es vorwegnehmend in Überschreitung der Zeitgrenzen (vgl. sehr ähnlich: VdF, 169–172). Deutlich wird, dass das die Rahmen-erzählung eröffnende Erzähler-Wir anderen, möglicherweise zunächst eigenständig

    37 Vgl. auch VdF, 39, 147, 197.38 Vgl. detmers, ostheimer (2016, 72).

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    314 | Philipp Böttcher: Dörflichkeit und narrative Verfahren in Saša Stanišićs „Vor dem Fest“

    erscheinenden Erzählstimmen gegenüber nicht gleichrangig, vielmehr übergeordnet ist und über diese Stimmen verfügt. Erzähltheoretisch besehen liegt also ein klares Einbet-tungsverhältnis vor.39 Die Erzählinstanz schweift durch ihr episodisch erzähltes Panorama, von dem etwa auch die Fähe ein Teil ist (vgl. VdF, 33, 172). Innerhalb des Dorfkosmos Fürstenfelde kann die Erzählinstanz Ort und Ausprägung wechseln, die Fokalisierung ändern und auf das Dorfwissen, darunter auch die Sagen, Erzählungen oder historischen Dokumente aus dem Haus der Heimat (vgl. auch VdF 123–128), zugreifen. „von hier oBen, Wo Wir schWeBen“ (VdF, 225) kann sie ebenso auf Herrn Schramm blenden wie auf die Fähe, Johann, die historischen Chronikgeschichten oder Frau Kranz. Das Erzähler-Wir als Kollektiverzähler kann demnach verschiedene Einzelstimmen und Ausprägungsformen annehmen. Der Konstruktcharakter dieses Erzählens wird dabei immerzu markiert und vorgeführt – u. a. durch obige Wendungen wie „Komm, wir nehmen dich mit“, „richten wir es an“, „nennen wir sie“, durch explizite Vereinnahmung einer Figur (Uwe Hirtentäschel verlässt in der Nacht vor dem Fest das Haus und wird dadurch vom Erzähler-Wir „in unseren Reigen gezogen“) oder durch Selbstkommentierung der Erzählinstanz (die sich mit „Wir schweifen ab“ zur Räson ruft; VdF, 147, 163).

    Für die unterschiedlichen Figuren, Zeitebenen und Textsorten entwirft der Roman der Logik seiner Faktur und Stimmenvielfalt gemäß je eigene Diktionen bzw. auf Denken, historischen Ort und Ausdrucksvermögen abgestimmte sprachliche Register (vgl. z. B. VdF, 48), deren Artifizialität allerdings fast durchgängig selbstreferentiell ausgestellt wird. Dadurch werden die für den Roman typischen Übereinstimmungen zwischen Figuren- und Erzählerrede aufgebrochen. Dies gilt für die Abschnitte zu Herrn Schramm, in denen dessen Lieblingswendung und Denkschema „im Schnitt“ im Schnitt etwas zu häufig ver-wendet wird (u. a. VdF 26 f., 44, 110, 137, 139, 172, 182) ebenso wie für das offenkundig modernisiert und literarisiert daherkommende Frühneuhochdeutsch der Chronikauszüge oder die eine zeitgemäße Künstlichkeit offensiv verballhornende (und sich überdies selbst thematisierende) Hip-Hop-Reimerei im Kapitel um Q und Henry (vgl. v. a. VdF 107 f.). Selbst die nicht exakt datierbare Passage aus dem letzten Kriegsjahr 1945 legt durch ihre sprachliche Gestaltung eine entsprechende zeitliche Bestimmung nahe, wenn darin in

    39 Zu diesem Verständnis von Erzählebenen, das den Roman m. E. am treffendsten beschreibbar macht, sowie der hier bewusst verwendeten Rede von ‚Rahmen- bzw. Binnenerzählung‘ vgl. genauer: KöPPe, Kindt (2014, 161–179).

    40 Um nur einige weitere Beispiele zu geben: Die Chronik-Episode von 1594 etwa spielt auf Sebastian Brants Das Narrenschiff (1494) an (VdF, 158 f.). Annas erneute Begegnung mit Q und Henry vor einem Grab mit Totenschädeln liest sich als spielerische Reminiszenz an die erste Szene des fünften Aktes von Shakespeares Hamlet, in der darüber hinaus ebenfalls vom Schiffbau und Galgentod die Rede ist (VdF, 281–283). Dass aus den Boxen von Q und Henrys Auto mit den Zeilen „Wir sind Legenden, wir selbst, gemeinsam vorm Ende der Welt“ tatsächlich „[s]o etwas wie Deutsch-Rap“ klingt, nämlich Caspers Song Hinterland von 2013, erweist sich wiederum als hochaktuelle und in mehrerlei Hinsicht gewitzte selbstironische Meta-Pointe. So plante Casper zunächst, sein Album Hinterland „Uckermark“ zu nennen. Das letztlich titelgebende Lied aus diesem Album kann im Kontext des Romans als auf mehreren Ebenen selbstreferentiell gedeutet werden – vom grundsätzlichen Charakter als ‚Provinz-Hymne‘ über die Übereinstimmungen zwischen Liedtext und Romantext (z. B: Darstellung der Provinz, „Kleinganovenbeichte“ aus dem Autoradio zweier Kleinganoven) bis hin zu Liedzeilen, die fast erzählprogrammatisch anmuten: „So müde von der Stadt, die nie schläft – Bleib in Bewegung / Hörst du den Chor? Schief und doch schön / Höhen leicht daneben, wir sind Tiefen gewöhnt / […] Und die Zeit scheinbar nie vergeht“ (vgl. sowie , zuletzt: 24.9.2019).

  • Peter Lang Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXX (2020)

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    deutlicher intertextueller Anspielung auf Günter Eichs Gedicht beim Fährmann ‚Inventur‘ gemacht wird (V