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Während für viele Computerspieler das Prädikat „macht süchtig!“ als Qualitätsmerkmal eines Spiels gilt, wird in der Öffentlichkeit das Phänomen der Computerspielabhängigkeit seit einigen Jahren kontrovers diskutiert. Der Vortrag zeigt, wie „problematisches Computerspielen“ als individuelle Praxis reflektiert und als Phänomen von gesellschaftlicher Relevanz konstruiert wird. Dazu werden Befunde der wissenschaftlichen Forschung, Aussagen von Computerspielern über ihr eigenes Handeln sowie die Perspektive der professionellen Berater bzw. Therapeuten in einschlägigen Beratungseinrichtungen berücksichtigt. Grundlage des Vortrags ist ein Forschungprojekt, das u.a. fallstudienartige Spielanalysen, eine bevölkerungsrepräsentative Befragung sowie leitfadengestützte Interviews mit 40 Computerspielern und mit fünf Experten aus Beratungsstellen für Computerspielabhängigkeit umfasste und im Auftrag der Landesanstalt für Medien NRW durchgeführt wurde.
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Dr. Jan-Hinrik Schmidt
Wissenschaftlicher Referent für digitale interaktive Medien und politische Kommunikation
Hans-Bredow-Institut für Medienforschung
Berlin, 14.4.2011
Gibt es Computerspielabhängigkeit
?
Folie 2 von 15Gibt es Computerspielabhängigkeit? Berlin, 14.4.2011
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Worüber ich heute spreche
Perspektive: Fokus des Vortrags liegt auf der sozialen Konstruktion des Phänomens „Computerspielabhängigkeit“
1. Kontext
2. Die Sicht der Wissenschaft
3. Die Sicht der Spieler
4. Die Sicht der Beratungspraxis
5. Fazit
Folie 4 von 15Gibt es Computerspielabhängigkeit? Berlin, 14.4.2011
Kontext (1/3)
Forschungsprojekt „Kompetenzerwerb, exzessive Nutzung und Abhängigkeit von Computerspielen“
Auftraggeber: Landesanstalt für Medien NRW Durchführung: FH Köln & Hans-Bredow-Institut Zeitraum: Mai 2009 – Dezember 2010
Projektmodule1. Erfassung und Bewertung des Forschungsstands zu
Nutzung, Potentialen und Risiken von Computerspielen
2. Entwicklung einer modularen Theorie
3. Analyse der „Forderungsstruktur“ausgewählter Spiele (WOW, Counter-Strike, Sims3, FIFA, FarmVille)
4. Repräsentative Befragung der Computerspieler in Deutschland (ab 14 Jahren, n=600)
5. Leitfadengestützte Interviews mit Computerspielern (n=40)
6. Leitfadengespräche mit Experten aus Beratungspraxis (n=5)
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Kontext (2/3)
1. gesellschaftliche Etablierung von abweichendem Verhalten erfolgt in drei Stufen (nach Kloppe 2004, S. 334ff.)
a) Problemwahrnehmung und –thematisierung
b) Problemdefinition
c) Problemlegitimation
2. Designation einer spezifischen Form des abweichenden Verhaltens kann unterschiedlich erfolgen:
a) Moralisch-ethisch: „Böse“, „Sünde“
b) Recht: „Ungesetzlich“
c) Klinisch-Medizinisch: „Abhängigkeit“, „Sucht“
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Kontext (3/3)
1980er Jahre: Erweiterung des Abhängigkeitskonzepts auf „stoffungebundene Süchte“ bzw. „Verhaltenssüchte“ Toleranzentwicklung Euphorie bzw. Stimmungsmodifikation Salienz resultierende Konflikte Entzugserscheinungen Zurückfallen nach Phasen der Abstinenz (nach Brown
1993)
Existenz von Computerspielabhängigkeit als eigenständiges klinisches Störungsbild bislang umstritten – dies äußert sich bspw. auch in Debatte, ob sie in diagnostische Manuale (DSM, ICD) aufgenommen werden sollen
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Sicht der Wissenschaft (1/2)
Sichtung des Stands der Forschung (bis Herbst 2010) ergab ~35 Studien, die „Computerspielabhängigkeit“ operationalisieren
20 dieser Studien machen auch Angaben zur Prävalenz
Werte zur Verbreitung schwanken zwischen 1,2% und 15%
Aber: Deutliche Grenzen der Vergleichbarkeit und Aussagenreichweite der Studien, u.a. aufgrund… Abgrenzung des Gegenstandsbereichs (Spiele & Internet?
Glücksspiel?) Dynamik des Gegenstandsbereichs (technologische Dynamik) Kulturelle Unterschiede (USA – Europa – Asien) Unterschiedliche Methoden (stand. Befragungen dominieren) Repräsentativität (meist nur eingeschränkt verallgemeinerbar) Operationalisierung (keine etablierte Skala; problematische
Einzelitems)
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Sicht der Wissenschaft (2/2)
Vorliegende Studie griff auf Skala „KFN-CSAS-II“ zurück 14 Items in Anlehnung an etablierte diagnostische Kriterien
(z.B. „Ich beschäftige mich auch während der Zeit, in der ich nicht spiele, gedanklich sehr viel mit Spielen.“ oder „Meine Leistungen in der Schule, Ausbildung, Studium oder Beruf leiden unter meinen Spielgewohnheiten.“)
Anwendung in Stichprobe von Neuntklässlern (2007): 1,7% (3% der Jungen und 0,3% der Mädchen) seien computerspielabhängig
Ergebnisse aus unserer repräsentativen Befragung (n=600, 14 Jahre und älter)Männlich Weiblich 14-19 20-
29
30-39
Über 40
Gesamt
Unauffällig 98,8 98,5 95,7 98,0 99,2 100,0 98,7
„Gefährdet“
0,9 0,8 3,5 1,4 -- -- 0,9
„Abhängig“
0,3 0,8 0,9 0,7 0,8 -- 0,5 Geringe Fallzahlen; keine klinische Diagnose möglich
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Die Sicht der Spieler (1/2)
Interviewte Computerspieler berichten von Phasen unterschiedlicher Intensität in ihrer Spielbiographie
Eigene Wahrnehmung möglicher Einflüsse: Spielextern: weniger strukturierte Lebensphasen,
schwierige Lebenssituationen, fehlende soziale Beziehungen
Spielbezogen: Aufgabenstruktur, Möglichkeit zum Ausleben von Leistungsorientierung, Kopplung mit sozialen Gemeinschaften
Verschiedene Befragte berichten von Ereignissen, Phasen oder Episoden, die mit diagnostischen Indikatoren für Computerspiel-abhängigkeit korrespondieren
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Die Sicht der Spieler (2/2)
Vernachlässigung von Pflichten Z.B. „von zwölf bis fünfzehn, wo ich so wirklich jeden Tag gespielt
habe, [habe ich] eigentlich gar keine Hausaufgaben mehr gemacht […], für Arbeiten gar nicht mehr gelernt […], mich da irgendwie trotzdem durchgeschlagen […], was ich heute auch kaum nachvollziehen kann. “ (20 Jahre, Auszubildende)
Beeinträchtigung von sozialen Beziehungen Z.B. Intensive Spielphase von FarmVille führte dazu, dass
„nicht mehr viel Zeit für meinen Freund abends“ blieb; „der hat dann auch schon mal genörgelt, wenn ich mal wieder drin war, aber jetzt hat sich das wieder relativiert“ (25 Jahre, Studentin)
Gesundheitliche Beeinträchtigungen Z.B. „Ich hab mich falsch ernährt. [...] Teils nur Pizza [...] und hast
dann auch noch deine LANs, wo du dann da hinfährst und hast dann definitiv deine Chips, deine Pizza, dein Bier, Bewegungsmangel ist dann sowieso gegeben, da hab ich dann in einem Jahr mal eben so dreißig Kilo zugenommen“ (27 Jahre, Lackierer)
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Die Sicht der Experten (1/2)
Unter den befragten Experten aus Beratungsstellen zur Computerspielabhängigkeit besteht weitgehend Einigkeit über die ungefähre Gestalt des Störungsbilds Meist ältere männliche Jugendliche oder junge Erwachsene,
die sich in Phasen geringerer äußerer Strukturierung befinden
Oft ausgeprägte soziale Ängstlichkeit, die sich beispielsweise auf familiäre Trennungserfahrungen zurückführen lässt Schwierigkeit, in realweltlichen Situationen mit anderen Menschen zu interagieren.
Spielumgebungen, gerade komplexe MMORPGs wie WoW, bieten… einerseits Ablenkung und ggfs. auch Kompensation für
Misserfolge andererseits Einbettung in soziale Gemeinschaften, in denen
Menschen ziel- und leistungsorientiert zusammenarbeiten und daraus hohen Status ableiten können
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Die Sicht der Experten (2/2)
Erster Beratungsschritt: zwischen pathologischem Computerspielen einerseits und anderen Konfliktkonstellationen (z. B. gestörte innerfamiliale Kommunikation oder psychologischen Komorbiditäten) zu unterscheiden
Behandlungsziel ist nicht per se Computerspielabstinenz, sondern das Erlernen eines verantwortungsvollen Umgangs mit Computerspielen
Meist Kombinationen von Einzelgesprächen und gruppen- bzw. erlebnispädagogischen Maßnahmen, um … … attraktive Alternativen zum Spielen zu entdecken bzw. zu
erarbeiten … vorhandene Kompetenzen (z. B. strategische und
planerische Fähigkeiten oder auch soziale Sensibilität) herauszuarbeiten und für andere Situationen nutzbar zu machen (intermondialer Transfer)
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Fazit (1/2)
Die Debatte um Computerspiele und ihre individuellen wie gesellschaftlichen Auswirkungen enthalten in der Regel auch moralische Urteile über die Angemessenheit bestimmter Formen des Handelns
Drei Kontraste sind hierbei besonders relevant1. „Realität“ vs. „Virtualität“ 2. „Arbeit“ vs. „Spiel“3. „Wertvoll“ vs. „Wertlos“
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Fazit (2/2)
Phänomen der „Computerspielabhängigkeit“ ist gesellschaftlich konstruiert und setzt bestimmte Formen des zeitlich ausgedehnten Spielens in einen spezifischen Kontext (klinisch diagnostizierbare und therapierbare Störung) Dies bedeutet nicht, dass die Probleme, aufgrund von zeitlich
ausgedehntem Spielen entstehen können, vernachlässigbar seien Durch die nach wie vor vorherrschende Vorstellung einer
„Abhängigkeit von einem Suchtstoff“ fokussiert die Debatte allerdings oft nur auf die Computerspiele selbst, statt die Kombination von Spieler, Spiel und Spielkontext in den Blick zu nehmen
Die Frage „Gibt es Computerspielabhängigkeit?“ ist daher zwar verständlich, aber sie greift zu kurz!
Besser: Wie können Computerspieler in die Lage versetzt werden, selbstbestimmt zu spielen, also ihr Spielverhalten mit anderen Anforderungen ihres Lebens in Einklang zu bringen?
Folie 15 von 15Gibt es Computerspielabhängigkeit? Berlin, 14.4.2011
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Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Projektteam Hans-Bredow-InstitutDr. Uwe HasebrinkClaudia LampertJan-Hinrik SchmidtNils DargelMarius DrosselmeierWiebke RohdeChristiane Schwinge
Projektteam FH Köln
Jürgen FritzTanja WittingSheela Teredesai
Jan-Hinrik Schmidt
Hans-Bredow-InstitutWarburgstr. 8-10, 20354 [email protected]
www.hans-bredow-institut.dewww.schmidtmitdete.de
www.dasneuenetz.de