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Friedrich Geiger

VERDIKTE ÜBER MUSIK

1950-2000

Eine Dokumentation

Verlag J. B. Metzler Stuttgart • Weimar

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Diese Arbeit ist im Sonderforschungsbereich 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« an der Freien Universität Berlin entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mitteln gedruckt.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http;fdnb.ddb.de> abrufbar.

ISBN-13: 978-3-476-02110-6 ISBN 978-3-476-00146-7 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-00146-7

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für VervieWiltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2005 Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprünglich erschienen bei J.B Metzler'sche Verlagsbuchhandlung und earl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2005

www.metzlerverlag.de [email protected]

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Inhalt

Vorwort 8

Dokumente 11

Louis Andriessen 11 Alice Cooper 45 Samuel Barber 11 Frank Corcoran 46 Bela Bart6k 12 Larry Coryell 47 The Beatles 13 Culture Club 47 Johnny Beecher 19 Ikuma Dan 48 Theodor Berger 19 Peter Maxwell Davies 49 Luciano Berio 20 J ose Luis de Deläs 49 Hector Berlioz 21 Paul Dessau 50 EImer Bernstein 23 Gaetano Donizetti 50 Leonard Bernstein 23 Earth, Wind and Fire 50 Georges Bizet 25 The Eels 51 Boris Blacher 25 WernerEgk 51 Karl-Birger Blomdahl 26 Gottfried von Einem 52 Pierre Boulez 26 Don EIlis 54 J ohannes Brahms 29 Hans-Ulrich Engelmann 55 Benjamin Britten 30 Eurythmics 55 Dave Brubeck 32 Maynard Ferguson 55 Eric Burdon 32 Carlisle Floyd 56 Emil Frantisek Burian 33 Wolfgang Fortner 56 PaulBurkhard 33 Lukas Foss 57 Ferruccio Busoni 34 Beat Furrer 58 Sylvano Bussotti 35 Gandalf 58 JohnCage 35 Henryk G6recki 59 Cornelius Cardew 39 Renato de Grandis 60 Gustave Charpentier 40 The Grateful Dead 61 Eric Clapton 40 Edvard Grieg 62 The Clash 41 NinaHagen 62 Joe Cocker 42 Peter Michael Hamel 62 Ornette Coleman 42 Herbie Hancock 63 John Coltrane 45 Karl Amadeus Hartmann 64

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Joseph Matthias Hauer 64 Paul McCartney 101 Joseph Haydn 65 JackMcDuff 102 Hermann Heiß 66 Gian Carlo Menotti 103 Hans Wemer Henze 66 Olivier Messiaen 108 Paul Hindemith 73 Metallica 113 E. T. A. Hoffmann 74 Giacomo Meyerbeer 114 Arthur Honegger 75 J an Meyerowitz 115 Klaus Huber 75 Darius Milhaud 115 Nicolaus A. Huber 75 Modest Mussorgskij 115 Engelbert Humperdinck 76 Manfred Niehaus 116 Michail Ippolitow-Iwanow 76 Luigi Nono 117 ThomasJahn 77 Oasis 118 Jefferson Airplane 77 earlOrff 119 EltonJohn 78 Hans Otte 121 Tom Jones 79 NamJune Paik 121 Janis Joplin 80 Krzysztof Penderecki 122 Mauricio Kagel 81 HarryPepl 125 Dieter Kaufmann 85 Oscar Peterson 125 Roland Kayn 85 Andreas Pflüger 126 Milko Kelemen 86 Henri Pousseur 126 StanKenton 86 Andre Previn 127 Erich Wolfgang Komgold 87 Sergej Prokofjew 128 EmstKrenek 88 Giacomo Puccini 129 Helmut Lachenmann 89 TheRamones 130 Alcides Lanza 91 Ottorino Respighi 131 Led Zeppelin 91 Wolfgang Rihm 131 Meade Lux Lewis 93 Richard Rodgers 131 Rolf Liebermann 93 Shorty Rogers 132 György Ligeti 93 The Rolling Stones 132 Abbey Lincoln 94 NedRorem 135 Franz Liszt 95 Frederic Rzewski 135 Mark Lothar 95 Saga 136 Witold Lutoslawski 96 Peter Sandloff 136 Peter Maffay 96 Pierre Schaeffer 137 Gustav Mahler 97 Alex. v. Schlippenbach 139 J ules Massenet 99 Artur Schnabel 139 Siegfried Matthus 99 Dieter Schnebel 139 LesMcCann 100 Dieter Schönbach 140

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Arnold Schänberg 141 Heinrich Sutermeister 174 Dmitrij Schostakowitsch 149 William Sydeman 175 Franz Schreker 151 Tangerine Dream 176 Franz Schubert 152 Camillo Togni 176 Gunther Schuller 152 Hemi Tomasi 177 Klaus Schulze 152 Peter Tschaikowsky 178 William Schuman 153 Ultravax 178 Robert Schumann 153 Ralph Vaughan Williams 179 Kurt Schwertsik 154 Richard Wagner 179 Archie Shepp 155 Rudolf Wagner-Regeny 180 Jean Sibelius 157 Mal Waldran 180 Martin Sierek 157 Konstantin Wecker 181 PaulSimon 158 KurtWeill 181 Frank Sinatra 158 Kai Winding 183 The Soft Machine 159 IsangYun 183 Karlheinz Stockhausen 159 FrankZappa 183 Richard Strauss 169 Bernd Alois Zimmermann 185 Igor Strawinsky 172 Walter Zimmermann 185 Sun Ra Arkestra 173

Index zu den Verdikten 189

Nachwort 225

Anhang

Werkdaten und Quellennachweise 239

Personen- und Werkregister 313

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Vorwort

Dieses Buch ist eine Dokumentation von Verdikten - vernichtenden Ur­teilen also - über Musik. Sie wurden sämtlich im Laufe der zweiten Hälf­te des vergangenen Jahrhunderts verfaßt. Damit schließen sie an eine ähn­lich konzipierte Sammlung an, die Nicolas Slonimsky (1894-1995), der vielseitige Musikschriftsteller und Dirigent etlicher Uraufführungen von Charles Ives bis Edgar Varese, vor einem halben Jahrhundert vorlegte (Le­xicon of Musical Invective. Critical Assaults on Composers Since Beethoven's Time, New York 1953). Während sich die von Slonimsky präsentierten Schmähungen fast ausnahmslos auf die Kunstmusik beschränkten, so wurde der vorliegende Band um zahlreiche Zeugnisse aus Pop, Rock und Jazz ergänzt.

Die Auswahl basiert vorwiegend auf der systematischen Durchsicht von Musikzeitschriften, die zwischen 1950 und 2000 erschienen, vor allem Melos, Österreichische Musikzeitschrijt (ÖMZ), Schweizerische Musikzeitschrijt (SMZ), Musica, Rolling Stone (amerikanische und deutsche Ausgabe), SOUNDS, Jazz-Podium und Down Beat (amerikanische Ausgabe). Punktuell wurde auf exemplarische fach- und populärwissenschaftliche Literatur sowie auf die Presse zurückgegriffen. Übersetzungen englischer Texte stammen von mir.

Die Textdokumentation ist alphabetisch nach den Namen von Kom­ponisten, Musikgruppen oder einzelnen Künstlern geordnet. Wurden Verdikte zu mehreren Werken derselben Person oder Band ausgewählt, so sind die Texte nach der Entstehungschronologie dieser Werke aufgeführt. Falls sich mehrere Textstellen auf dasselbe Werk beziehen, erscheinen auch sie in zeitlicher Reihenfolge. Um die Invektiven möglichst für sich sprechen zu lassen, ist ihnen lediglich eine orientierende Jahreszahl beige­geben. Die zugehörigen Autorinnen und Autoren verzeichnet der Ab­schnitt "Werkdaten und Quellennachweise" im Anhang.

Der Dokumentation folgt ein Index, der die Verdikte inhaltlich er­schließt. Er bietet, ebenfalls in alphabetischer Ordnung, die Beschimpfun­gen und Vorwürfe, mit denen Musik im einzelnen belegt wurde. Unter je­dem Eintrag finden sich die entsprechend gescholtenen Werke aufgelistet, wobei in der Regel jede Symphonie, Oper oder Compact Disc unter meh­reren Rubriken erscheint.

Um den Index nicht durch eine allzu feine Rastrierung auf Kosten der Konturen ausufern zu lassen, wurden vielfach Ausdrücke mit ähnlicher

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Vonuort 9

Zielrichtung zu einem Eintrag zusammengefaßt, beispielsweise "Ge­räuschekstasen" und "Geräuschmusik" unter "Geräusch-Kakophonien". Es muß sich also ein Ausdruck nicht wörtlich in allen Texten zu den je­weils angegebenen Werken finden, sondern oft nur sinngemäß. Anderer­seits wurde darauf geachtet, daß sämtliche Ausdrücke so, wie sie im Index aufgeführt sind, auch an wenigstens einer Stelle wörtlich erscheinen. Auf die Angabe von Seitenzahlen wurde im Index verzichtet, da die entspre­chenden TextsteIlen bei Bedarf leicht über das kombinierte Personen- und Werkregister im Anhang aufgefunden werden können.

An den Index schließt sich ein Nachwort an, in dem die Verdikte ins­gesamt betrachtet werden. In seiner zusammenfassend-synoptischen An­lage ist es als Ergänzung zu dem analytischen Blick gedacht, den der Index ermöglicht.

Die Idee zu diesem Buch stammte von Albrecht Riethmüller, dem ich auch für die weitere Begleitung des Vorhabens sehr herzlich danken möchte. Es konnte innerhalb des von ihm geleiteten Forschungsprojekts "Musikalisches Urteil und ästhetische Erfahrung" verwirklicht werden, mithin im Rahmen des Sonderforschungsbereiches 626 der Deutschen For­schungsgemeinschaft Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste an der Freien Universität Berlin. Der Deutschen Forschungsge­meinschaft danke ich auch für einen Zuschuß zu den Druckkosten. Ganz besonders danke ich meinem Projektkollegen Michael Custodis für vielfäl­tige Hilfe und eingehende Gespräche, in denen sich Entscheidendes klärte. Für wertvollen Rat danke ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Forschungskolloquiums am Musikwissenschaftlichen Seminar der FU Ber­lin, allen voran Frank Hentschel.

Es halfen die studentischen Mitarbeiter Anja Berninger, Markus Ket­tern, Lore Knapp und Finn Martin, denen dafür sehr herzlich gedankt sei - ganz besonders Dahlia Borsche für ihren unermüdlichen Einsatz. Ich danke auch dem Jazz-Institut Darmstadt e. V. und seinem Leiter Wolfgang Knauer für freundliche Hilfe bei der Recherche. Last but not least geht ein herzlicher Dank an Oliver Schütze, den zuständigen Lektor beim Metzler­Verlag, für die ausgezeichnete Zusammenarbeit.

Berlin, im September 2005

Friedrich Geiger

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Dokumente 11

Louis Andriessen

Reconstructie "Unbeschreiblich ist der Lärm, den fünf ,Komponisten' - im Lebensalter zwischen dem 30. und 35. Jahr stehend - zu produzieren vorschreiben. Ihr Gruppenfoto im Programmheft gemahnt an gewisse Bilder in den Straßen Kopenhagens, wp langmähnige und ungewaschene Ausreißer auf Gartenbänken nächtigen. Das ,Libretto' haben zwei ältere Semester auf dem Gewissen [ ... Hugo Claus und Harry Mulisch]. Schrei- und Sprech­chöre wechseln von deutsch auf italienisch, von holländisch auf lateinisch, von Horaz über Goethe zu Guevara, ganz abgesehen von Firmennamen, Kalenderaufzählungen und ähnlichem Unfug. Der ,Höhepunkt': eine elek­tronische Computer,umformung' von angeblich 292 Takten der Ouvertüre zu Don Giovanni für eine Mini-Oper. Sechzehn Monate brauchte diese Par­titur zum Entstehen (Ort der genialen Kompilationen: ein Trappistenklos­ter in den Niederlanden). Rund 200.000 $ haben die Produktionskosten verschlungen und - was stärker wiegt - etliche starke Begabungen, die sich zur Interpretation hergaben. [ ... ]

Das Ganze gleicht einer überdimensionierten ,dramatisierten' Matura­zeitung. [ ... ] Das Tragische an derlei Summierungen ist die unleugbare Tatsache, daß ein kenntnisloser Großteil des Publikums der beabsichtigten Täuschung erliegt, es handle sich um eine ,moderne Oper' [ ... ]. Die künst­lerischen Selbstmord versuche der Interpreten auf der Bühne und rund­herum taten das ihre dazu, für Ahnungslose die Glaubwürdigkeit der üb­len Tendenzmache zu stützen. Was nützte es schon? Drei Stunden vergin­gen in ohrenbetäubender Gaukelei [ ... ] Nichts blieb als die Erinnerung an nutzlos vertane Zeit!" (1969)

Samuel Barber

Vanessa "Das Stück war nicht unbekannt: die dollarumwitterte Metropolitan Ope­ra New York führt es in ihrem Repertoire. Als ein Gesamtgastspiel des In­stituts kam es nach Salzburg und damit in eine Atmosphäre, in der es sich nach Gehalt und Gestalt als nicht lebensfähig erwies. Das hätte man vo­raussehen können; denn schon vom Libretto her, für das Gian-Carlo Me­notti verantwortlich zeichnet, ergab sich die Unmöglichkeit der Existenz.

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12 Dokumente

Das Stück spielt 1905, und genau aus der geistigen Situation jener Zeit war die Handlung konzipiert, die Strindberg- und Wedekind-Komplexe in falsch verstandener Aktualität mit Einflüssen von Courts-Mahler zu akti­vieren versucht. [ ... ] Für so viel antiquiertes und pseudopsychologisches Geschehen hat Samuel Barber eine Musik geschrieben, die Charakteristika der Opernmusik des 19. Jahrhunderts zusammemafft und mit Routine verarbeitet. Die aufdringlichen Reminiszenzen sind einfach nicht zu über­hören, auch wenn es sich bei Barber um dessen Opernerstling handelt. Daß der Komponist ein versierter, hier meist eklektischer Musiker ist, wurde offenkundig. Streckenweise weiß er zwar sprachmelodische Wen­dungen geschickt zu deklamieren und zu illustrieren; dennoch bleibt das Ganze ein stilistisches Konglomerat, das für europäische Ohren nicht zu genießen ist. Das Stück mag für Amerika seine Berechtigung haben, für Salzburg war es fehl am Platze". (1958)

Antony and Cleopatra "Von musikalischen Innovationen ist keine Rede; die monotone Tonalität der Partitur führt mitunter zu Dissonanzen, die sie mehr verunglimpfen als die Langeweile des Hörers verscheuchen [ ... ]. Kompromißler oder Lei­setreter - Barber hat an der mit Vanessa begonnenen Linie gewaltsam festgehalten. [ ... ] Spricht man von musikalischer ,Atmosphäre', ist die Par­titur ein Rendezvousplatz, wo man späten Puccini [ ... ], filigran instrumen­tierten Britten, unheilschwangeren Salome-Strauss und selbst die für Pon­chielli charakteristische Italianita (in der Arie des Enobarbus) fröhlich zu­sammengekoppelt vorfindet. Eine Mischung, der - bis auf die eklekti­schen und elegischen Aufschwünge des Schlußaktes - Substanzlosigkeit als Bezeichnung dienen muß." (1966)

Bela Bart6k

Cantata profana "Es ist keines der stärksten Werke Bart6ks, zumal in der Nachbarschaft des Violinkonzerts [ ... ] wirkte diese 1930 komponierte Musik, in der sich ungarische Folklore mit reich verbrämtem Kontrapunkt etwas im Raume stoßen, ziemlich matt. Dazu kommt, daß bei aller handwerklichen Meis­terschaft der Chors atz nie recht zum Klingen kommen will". (1951)

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The Beatles

Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band "Obwohl noch immer der Rock/n/Roll als musikalisches Gerüst verwendet wurde, griffen die Beatles hier auf alle möglichen anderen Stilrichtungen zurück - östliche Musik, Kammermusik, den Stil aus den englischen Mu­sic Halls, die modern-klassische elektronische Musik - und machten dar­aus eine Montage. Das ging weit über Pop hinaus, war jenseits von In­stinkt und reiner Energie. Schlaff und von sich selbst besessen, war es Kunst. Nicht nur Kunst, sondern KUNST.

Was war passiert? Allgemein war es vielleicht die unausweichliche Folge davon, daß soviel Unsinn über sie geschrieben wurde - man sagte ihnen so oft, sie seien Genies, daß sie es schließlich selbst glaubten und anfingen, sich auch als solche aufzuführen." (1969)

The Beatles "Das klassische Beispiel unglücklicher Vermischung von ästhetischer Prä­tention und Unterwerfung unter den Kommerz sind die Beatles. [ ... ] Denn keine ihrer Regungen hat der kommerziellen Ausbeutung sich widerset­zen können, und im Maße, in dem die Beatles ihre Musik bewußt markt­gerecht zu konzipieren begannen, verlor sie ihren bockigen Ton und ver­legte sich auf ästhetische Spielereien mit extravaganten Klängen. Im Ge­gensatz zu wesentlichen neueren Werken der avancierten Komponisten -etwa zu Berios Visage für Altstimme und elektronische Klänge - bleiben die ungewohnten Klänge bei den Beatles so dekorativ wie ehedem die der Hammond-Orgel in der Unterhaltungsmusik. Weder werden die musika­lischen Konsequenzen aus dem technischen Modus der Hervorbringung solcher Klänge gezogen, noch werden sie formal integriert. Darüber hin­aus haben sie nichts von der Härte oder Aggressivität an sich, die sie in den relevanten Kompositionen der avancierten Musik besitzen. Die letzte Platte, die die Beatles produziert haben, bietet eine Art Panorama der musikalischen und gesellschaftlichen Entwicklung dieser Gruppe. Sie zeigt, daß es den Beatles weder gelungen ist, die Prinzipien musikalischer Konventionen zu durchbrechen, noch die Stellung der Unterhaltungs­musik innerhalb der Gesellschaft zu revidieren, was freilich musikalisch geschehen müßte. Selbst an den schlimmsten Relikten musikalischer Ar­beitsteilung wird festgehalten, an Relikten, die symbolisch für die man-

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gelnde Authentizität dieser Musik stehen: zum Beispiel ist die Arbeitstei­lung zwischen Komponist und Bearbeiter - typisch für den Dilettantis­mus, in welchen die Musik der niederen Sphäre im Lauf der letzten 150 Jahre hineinmanövriert wurde - bei den Beatles respektiert; die Or­chestration der Songs ist vom Produzenten der Platte, George Martin, der wohl ein Interesse daran hat, die kapitalistische und künstlerische Funkti­on zu vereinen, denn die in musikalischer Hinsicht reaktionäre Trennung der Instrumentation von der Komposition bringt dem Instrumentator in finanzieller Hinsicht manchen Vorteil. Die erwähnte Platte, die repräsenta­tiv für den künstlerischen Werdegang der Beatles steht, spricht nur von Versöhnung und singt jeglichen Konflikt hinweg. Wiewohl John Lennon die Musik Cages und Stockhausens schätzt - zu letzterem haben die Beat­les sogar, nachdem er ihnen seine literarischen Werke zugesandt hatte, Kontakt aufgenommen -, haben die Beatles die emanzipatorischen Ten­denzen der elektronischen Musik umgebogen zu gefallsüchtigem, süßli­chem Kunstgewerbe.

Technisch ist das geschickt gemacht, doch darf man die musikalischen Resultate nicht an jenen Formen technischer Kunst messen, zu denen e­lektronische oder konkrete Musik rechnen. Im Gegensatz zu diesen näm­lich geht es in der Musik der Beatles nicht um die Emanzipation des Klangmaterials, sondern um dessen bruchlose Einpassung in die ästhe­tisch recht bornierten Normen der Pop-Musik. Wie manche Zitat­Komposition von der Süße klassischer Musik oder unterhaltender Kompo­sitionen zehrt und deren Erfolg für sich zu verbuchen trachtet, so bedient die- Musik der Beatles sich des Pfeffers ungewohnter Klänge, um zumin­dest äußerlich jenem Begriffe gerecht zu werden, den der Markt für sie prägte, dem Begriff der Pop-Revolution.

Der Sache nach jedoch betreibt die Musik der Beatles das Gegenteil von Revolution, sowohl in gesellschaftlicher wie auch in musikalischer Hinsicht. Die asiatischen Klänge und das elektronische Klangmaterial, mit welchen sie sich dekoriert, erinnern in mancher Hinsicht an die ,chinoise­ries' der Kunstrnusik der Jahrhundertwende. Im Falle der Beatles wirken die Klangdekorationen marktgerecht. [ ... ] Man wird in der Musik der Beat­les keinen Text finden, der es ernst meinte mit einer Änderung der gesell­schaftlichen Verhältnisse, oder der auch nur etwas kritisch den Zustand reflektiert, in welchen Kunst-Musik und populäre Musik geschichtlich ge­raten sind. Die Aufhebung der Trennung der musikalischen Sphären wird in der Musik der Beatles verdeckt durch unablässiges Kokettieren mit al-

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len Materialien avancierter Musik, deren Reiz noch nicht abgeschliffen ist und von denen sie nur das Reizmoment begreifen.

Angesichts des enormen Erfolges, welchen die Musik der Beatles verbuchen kann, ist oft bemerkt worden, daß durch diesen die Klangwelt neuer Musik einem sonst von dieser Musik völlig isolierten Publikum vermittelt würde und somit die Chance einer umfassenderen Rezeption avancierter Musik gegeben sei. Das Argument ist naiv, denn erstens sind Klänge ähnlichen Charakters in der avancierten Musik und in der der Beatles so verschiedenartig konzipiert, daß ein Vergleich zwischen ihnen kaum noch möglich ist. Ein elektronischer Klang aus einem Generator zum Beispiel ist keine Qualität an sich; er kann klingen wie eine Mund­harmonika oder aber wie einer der aus avancierter elektronischer Musik bekannten Klänge. Zweitens wäre, selbst im Fall, daß die Musik der Beat­les der avancierten einige Zuhörer zutrüge, das eigentliche Problem nicht gelöst, welches im Verhältnis neuer Musik zu den gesellschaftlichen Struk­turen besteht und nicht darin sich erschöpft, daß mehr oder weniger Men­schen für neue Musik sich erwärmen. Drittens wird kein Klang unabhän­gig von seiner musikalisch-ideologischen Funktion apperzipiert. Die Technik der rezenten Beatles-Produktionen tendiert dahin, jeden unge­wohnten Klang einer Art von Background-Panorama einzuverleiben, das ihn unschädlich macht. Er geht entweder in diesem Panorama, welches mit elektroakustischen Manipulationen recht glatt geschliffen wird, bruch­los auf, oder aber er wird als etwas exotisch Fremdes in die Stücke herein­geholt, als etwas, welches genau von jener Aura, jener magischen Distanz zum Zuhörer zehrt, deren Liquidation in der auf technischer Basis konzi­pierten reproduzierbaren Kunst Benjamin einst begrüßte. Reaktionär in den Stücken der Beatles ist nicht nur die marktgerechte Konzeption des musikalischen Materials, die auf eine Befestigung der bestehenden Zu­stände aus ist und beschwichtigen möchte, militant reaktionär sind auch die Texte. Waren sie in den früheren Songs rein ästhetisch und wollten mit Wirklichkeit und Problemen sich nicht abgeben, so sind sie mittlerweile die Übersetzung der Situation geworden, in welche die Musik der Gruppe geriet. Hatte das ästhetisierende Kunstgewerbe der früheren Texte zum ersten Male in jenem reaktionären Slogan von ,Love, love, love' sich kon­kretisiert, jenem Kampfruf der Konterrevolution, der sich einbildet, mit lieb sein zueinander ließen die Mängel der ökonomischen Ausbeutung sich reparieren, so gewinnt das reaktionäre Moment in den jüngsten Tex­ten aggressive Züge. Sie könnten Leitartikel einer Springer-Zeitung sein,

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wie etwa jenes scheußliche Lied ,Revolution I', in welchem die mittlerwei­le zu Großkapitalisten avancierten Sänger mit jenen revolutionären Bewe­gungen abrechnen, die in den letzten zwei Jahren gegen das System sich wendeten, dessen Nutznießer die Pop-Revolutionäre geworden sind und dem sie ideologisch sich anbiederten: ,You say you'll change the constitu­tion I WeH you know I We all want to change your head I You tell me it's the institution I WeH you know I You better free your mind instead I But if you go carrying pictures of chairman Mao I You ain' t going to make it with anyone any-how I Don't you know it's gonna be alright.' Die schmalzige Musik, mit welcher dererlei vorgebracht wird, macht die In­tentionen der Gruppe noch deutlicher. Die Songs der Beatles stehen nicht im geringsten für einen Aufstand der Musik der unteren Sphäre. Sie ver­längern die Situation dieser Musik und verleihen ihr ihre Funktion inner­halb der existenten Ordnungen der Industriegesellschaft: süß plädieren sie für den bloß subjektiven, nicht aber füi den gesellschaftlich relevanten Aufstand des Individuums. [ ... ]

Die vorgebliche Synthese oder gar Aufhebung von niederer und hö­herer Kultur vollzieht in der Musik der Beatles sich im altem Ritus: einige unwesentliche Momente der höheren Kultur werden, geschickt verpackt, der niederen Kultur einverleibt, auf daß deren zum Konsum verurteilte Hörerschichten sich einbilden können, Teilhabe an der Kunst gewonnen zu haben, die ihnen faktisch verwehrt bleibt. Die Musik der Beatles hat in den bestehenden Verhältnissen häuslich sich eingerichtet und die Mauern, die diese Verhältnisse umfrieden, mit Blumentapeten verziert." (1970)

Abbey Road "Die Beatles erschaffen einen Sound, der außerhalb eines Studios unmög­lich existieren könnte. Elektronisch verfremdete Stimmen singen im Chor la la la, riesige Orchester legen üppige Teppiche aus und die eigentlichen Instrumente, die wirklich von den Beatles selbst gespielt werden, gehen darin völlig unter. Und in der Tat ist ,Abbey Road' die Adresse eines Stu­dios in London. Auf dem Album schwirren Tonbandfetzen vorüber und das Ohr müht sich damit ab, die übereinander aufgenommenen Schichten zu zergliedern. Zum ersten Mal spielen sie mit ihrem neuen Moog­Synthesizer, der ihren Sound körperlos und künstlich macht. Allzu oft ist das Ergebnis nicht komplex, sondern kompliziert.

In direktem Kontrast dazu stehen die Stones. [ ... ] Auch sie verwenden viel Zeit auf das Mixing und Overdubbing, aber das Endergebnis ist im-

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mer glaubwürdig - man kann sich vorstellen, daß kleine Stones in den Lautsprecherboxen spielen. [ ... ]

Auf ,Come together', das erste Stück [ ... auf Abbey Road], folgt unglück­licherweise ,Something' von George Harrison. Das Magazin Time behaup­tet, das sei das beste Stück auf der Platte, und es ist leicht festzustellen, warum. Es hat eine hübsche easy-listening-Melodie, einen faden Text und eine gigantisches Streicher arrangement, das sich wie süßer Kartoffelbrei darüber ergießt. Die Glut des Gesangsvortrags erinnert an GIen Camp eIl. Es ist so abscheulich, daß es mit Sicherheit demnächst von acht oder zehn Künstlern gecovert werden und zusammen mit ,Yesterday' und ,Michelle' zu den Top-Goldgruben der Fab Four zählen wird.

Ein bißchen besser wird es (schlechter hätte es nicht werden können) mit dem nächsten Song, ,Maxwell's Silver Hammer'. [ ... ] Er ist putzig und recht nett gemacht, aber nicht besonders denkwürdig.

Die zweite Plattenseite ist ein Desaster [ ... ]. Der Absturz beginnt mit ,Because', einem Nichts von einem Lied, das eine Menge kleiner Pauls präsentiert. Sie singen in einem Ellington-Saxophonsatz Harmonien, die den Hi-Los nicht unähnlich sind. Der Hintergrund, der Text, alles außer dem Leadgesang klingt wie die Bee Gees - aber es sind nicht die Bee Gees, es sind die Beatles. ,You Never Give Me Your Money' ist ein Song mit so vielen Abschnitten, daß daraus gar nichts wird, aber der größte Kracher auf dem Album ist ,Sun King'. Es strotzt vor Akkorden mit Sexten und Nonen und entartet am Ende in eine Art Muzak mit italienischem Text. Das ist wahrscheinlich der größte Mist, den die Beatles seit dem Wechsel des Drummers gebaut haben. Daran schließt sich die ,Suite' an, die den Schluß der Seite bildet. Sie besteht aus sechs kleinen Songs, jeder knapp unter zwei Minuten, die sämtlich so gewaltig überproduziert sind, daß man sie sich kaum anhören kann. Nur zwei davon haben anständige Melodien: ,Golden Slumbers', das eine große Streichergruppe aufbietet, ohne dafür zu entschädigen, und ,Carry That Weight', das ziemlich anste­ckend ist. Die Plattenseite schließt mit dem obligatorischen spaßigen Trick (wenn man denkt, es sei zu Ende, kommt noch was), und das war's dann." (1969)

Let It Be "Alle, die ihre Erzeugnisse seit dem Weißen Album emotional genauso öde fanden wie technisch atemberaubend, schöpften bei der Nachricht

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Hoffnung, daß die Beatles planten, uns ein Album voller Rohdiamanten zu bescheren, die sie nicht bis zur Unkenntlichkeit poliert hätten. Wer von uns würde schließlich nicht ein gutes, altes, schludriges ,Save The Last Dance For Me' dem selbstzufriedenen und leblosen ,Oh! Darlin" vorzie­hen, mit dem sie sich zuletzt abgaben?

Nun gut, es war zu schön, um wahr zu sein. Irgendjemand konnte das offensichtlich nicht geschehen lassen [Let It Be], mit dem Ergebnis, daß sie die Verantwortung ihrem neuen Freund P.[hil] Spector aufbürdeten, der im Gegenzug sein Orchester mit Chor aus dem Hut zauberte und sich an­schickte, etliche der Rohdiamanten auf dem besten Beatles-Album aller Zeiten in billige Klunker zu verwandeln.

Selbst wenn man ihm zugutehält, daß er das Projekt lieber von Anfang an begleitet hätte, als das Ganze acht Monate nach dem angekündigten Veröffentlichungstermin in die Hand gedrückt zu bekommen (in diesem Fall hätten wir niemals Spontaneität erwartet und seine Reputation wäre nicht beschädigt), fragt man sich, weshalb er sich überhaupt darauf einließ - und wie er auf den Gedanken kam, daß die verschwenderische Dekora­tion etlicher Tracks die Geradlinigkeit des Albums befördern könnte. [ ... ]

,The Long And Winding Road' beispielsweise machte er praktisch un­anhörbar, durch abscheulich widerwärtige Streicher und einen lachhaften Chor, die nur noch dazu beitragen, die Lustlosigkeit von Pauls Gesang zu unterstreichen - und dazu das Potential des Songs für weitere Verstüm­melungen durch die Hände zahlloser Ramschhändler, die sich ohne Zwei­fel auf die Füße treten werden vor lauter Eile, das Stück zu covern. [ ... ]

,I Me Mine', dessen Walzerabschnitte einen ziemlich entschieden an die rührseligeren Momente der Al Jolson Story erinnern, profitiert fast von einer solchen Behandlung. Hätte Spector die dreckige Gitarre mit den klebrigen Streichern verdeckt, mit denen er den Rest so generös überhäuf­te, wäre es am Ende genau so lächerlich geworden wie ,Good Night'. Nachdem er es bleiben ließ, ist es trotzdem, wie ,Winding' Road', so ko­misch geworden, daß man es abscheulich finden kann, aber nicht komisch genug, um wenigstens darüber zu lachen.

Anderswo verbindet Spector seine Fixierung auf Klangbrei mit der Unfähigkeit, den richtigen Take auszuwählen (wie man hört, stammt nichts auf dem ,offiziellen' Album aus den Sessions, die im Film zu sehen sind, wohlgemerkt). Unerklärlicherweise unzufrieden mit der Single­Version von ,Let It Be' beispielsweise, stöberte er einen Take auf, in dem irgendeine besoffene Gitarre und absurd unpassende Percussion die gan-

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Dokumente 19

ze Angelegenheit schon fast zum Kentern bringen, beschloß, daß es richtig Klasse hätte, den Gesang mit Orchester zu verschönern, und schmierte deshalb - jawohl! - Blechbläser hinein. Hier ist der Effekt nicht einmal humoristisch. Spector erinnerte sich offenkundig zu verbissen an die Blä­ser in ,Hey Jude', um noch ausreichend zu hören, daß sie hier ungefähr so gut passen wie Piccoloflöten auf ,HeIter Skelter'." (1970)

J ohnny Beecher

Sax 5th Ave. "Haben Sie schon einmal versucht, in einem Pool voller Erdöl zu schwimmen? Ich habe den Verdacht, daß diese Erfahrung ein bißchen der gleichen würde, die man macht, wenn man die erste Seite dieser LP durchsteht. Ein öliges Tenorsaxophon und eine Seifenoper-Orgel, die in Zeitlupe Balladen spielen, summieren sich zu einer ziemlich widerwärti­gen Session.

Auf der Rückseite versucht Beecher ein paar lebhaftere Soli, erreicht damit aber bloß, daß sich seine vielen Mängel als Jazzmusiker deutlich abzeichnen. Die einzig erträglichen Momente gibt es während einiger kur­zer Soli von [Emil] Richards." (1963)

Theodor Berger

Vokalysen "Der Hörer traut seinen Ohren nicht: Eine 1959 auf Anregung der Musik­abteilung einer westdeutschen Rundfunkanstalt und unterm Antrieb von Natureindrücken entstandene Komposition greift um ein halbes Jahrhun­dert zurück [ ... ]. Die Technik einer mehr oder weniger reinen Klangfar­benmusik, darunter auch die an Vokalisen gebundene Angleichung von Laut- und Tonsprache, ist im Prinzip aktuell geblieben. Sie hat aber, nicht zuletzt auf dem Wege einer Auseinandersetzung mit Debussy und Mal­larme, mittlerweile wesentlich andere Ergebnisse gezeitigt. An ihnen kann nicht blind und taub vorbeikomponieren, wer Naturmagie mit abstraktem Silben- oder reinem Vokalklang plus Intrumentalfarben zu übertragen sucht. Muß man noch sagen, einem Fünfundfünzigjährigen sagen, daß niemand technisch nahezu genau so komponieren kann wie die großen

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Meister der Musik zur Zeit seiner Geburt, ohne unglaubwürdig zu wer­den?" (1960)

Luciano Berio

Nones per orchestra "Die Proportionen dieser fünf Orchestervariationen scheinen darunter zu leiden, daß die ursprünglich zu ihnen gehörigen vokalen Teile eines Ora­toriums Nones nachträglich weggelassen wurden. Der Spannungsbogen ist jetzt ,unerhört' verklammert, die Beziehung zu der zugrundeliegenden Dichtung Nones von W. H. Auden unkenntlich geworden. [ ... Der Inhalt, in Berios Deutung ,]die Passion des Menschen in dem raschen und hefti­gen Zwang einer geschichtlichen Stunde' [ ... , wird] hier um so weniger Klanggestalt im Sinne eines Alban Berg etwa, als sich dieses Schockstück als kraß konstruktionstechnischer, zwölftönig überkontrollierter Verände­rungsvorgang abspielt." (1956)

Allelujah I "Eine ,Initial-Struktur' von 21 Takten wird [ ... ] orchestral beständig abge­wandelt, mit keinem anderen Ziel als dem, ein bisher noch nicht dagewe­senes Klangfarbenprisma zu erreichen: für sieben Minuten eine hörakus­tisch schärfste, punktuell gezielte Facettierung. Sie steht mit ihrer nadel­spitzen Wirkung in paradoxem Verhältnis zu dem Mammutaufgebot ei­nes vorwiegend mit Holz- und Blechbläsern, Schlag- und Zupfinstrumen­ten bestückten, in dreifach gestaffeltem, nach vorne offenem Rechteck pla­cierten Orchesterapparates. Die dynamischen und rhythmischen ,Werte' der Notation sind, schon intonatorisch, derart überzogen, daß sie ,orga­nisch' kaum mehr exakt spielbar sind. [ ... ] Die Grenze von der ,traditionel­len' (lies: organischen) Musik in die Bezirke elektronischer (lies: syntheti­scher) Para-Musik wird hier, vermessen oder nicht, jedenfalls aber ent­schieden überschritten, der Klangfarben-Paroxysmus ist komplett." (1957)

Sinfonia (1) "Die eiskalte Mache der Sinfonia von Luciano Berio bildete den Abschluß. [ ... ] smarter hat noch keiner modisches Experiment, protestie­rendes Engagement, pseudophilosophische Textverkopplung und Appell

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an die Melodie- und Konsonanzsehnsüchte des Normalhörers unter einen Hut gebracht als dieser Italoamerikaner. Vieles an dem Stück ist gekonnt, weniges gemußt, alles gewollt." (1971)

(2) "Wahrscheinlich ist es müßig, danach zu fragen, ob es nun Kalkül, in­nere Disposition oder eine besonders ausgeprägte Zeitfühligkeit gewesen sei, was Luciano Berio [ ... ] darauf gebracht habe, [ ... ] bunt gemischt gleich das ganze Spektrum gerade aktueller Gegenwartsströmungen herbeizuzi­tieren [ ... Auf Gustav Mahlers] Scherzo aus der Auferstehungssymphonie, das Berio als durchlaufende Grundlage nun für seinen Mittelsatz (den dritten von insgesamt fünf) übernahm, montierte er in einer Art Hucke­packverfahren nochmals einen umfänglichen Zitatenkatalog auf [ ... ]. Wo Bilder, Worte, musikalische Formulierungen zu behende mit schnell auf­geblendetem Hintersinn und wechselnden Bedeutungen operieren wollen, geraten sie in Gefahr, sich gegenseitig zu neutralisieren. Es ergeht dann solchem Aufblättern eines vielseitigen Angebots wie der Beredsamkeit des Antonius von Padua bei seiner Fischpredigt, die ja über Mahlers Wunder­horn-Lied in dessen Scherzo und damit in Berios Sinfonia-Satz Einzug hielt: ,die Predigt geendet, ein jeder sich wendet', und also verpufft die Wirkung, alles bleibt genau wie zuvor. Vollends die politischen, gesell­schaftlichen, auf ein Umdenken zielenden Implikationen von Berios Mu­sik haben in einer derart polyvalent ausgestatteten Umgebung kaum eine Chance, je Resonanz zu finden oder verstanden zu werden." (1988)

Hector Berlioz

Symphonie fantastique ,,[Berlioz] behielt das mehrsätzige ,Formschema' der klassischen Sympho­nie bei und interpretierte die einzelnen Sätze durch das Programm etwa wie die einzelnen Kapitel eines Romans. Der Charakter der Musik verän­derte sich dadurch natürlich wesentlich, da das beschreibende, illustrie­rende, novellistische Element das eigentlich musiksubstantielle überwu­cherte. Natürlich fielen bei diesem Verfahren Sein und Bedeuten der Mu­sik merkbar auseinander. Von dieser Gespaltenheit gezeichnet sind die Werke, mit denen Hector Berlioz [ ... ] in schon recht neuzeitlich­willkürlichem Sinne ,Geschichte machte'. Ein uriger Vertreter der phantas­tischen, bizarren Variante französischer Romantik, verstieg er sich [ ... ] in

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der Phantastischen Symphonie [ ... ] gar zu einer Art autobiographischen Mu­sikdichtung, in welcher eine des öfteren wiederkehrende Melodie (,idee fixe') die begehrte Geliebte (Harriet Smithson, spätere Gattin, nach un­glücklicher siebenjähriger Ehe geschieden ... ) darstellen sollte. [ ... Berlioz war] ein Musiker, dem es weder an Einfällen noch gar an Intelligenz fehl­te, nur leider allzu oft an Geschmack." (1969)

La damnation de Faust ,,[Ein Werk, das man] nicht mehr mit ungeteiltem künstlerischen Genuß zu hören vermag. Es fehlt dieser recht ungoetheschen ,dramatischen Le­gende' zwar gewiß weder an poetischer Inspiration noch an dämonischen Zügen, wohl aber an der inneren Geschlossenheit, am organischen Wach­sen einer großen Form. Man vermißt die Bindung der heterogenen, ent­weder locker gereihten oder nur oberflächlich verkitteten Teile; sie sind weder im Stil noch in den Proportionen wirklich aufeinander bezogen". (1950)

Les Troyens (1) "Interessant als historisches Dokument, aber als Drama gleichgültig." (1958)

(2) ,,[ Bei Berlioz' Oper handelte es sich] um ein Werk, das niemand kann­te und das somit durchaus imstande sein sollte, ,den Spielplan zu berei­chern'. Jetzt wissen wir es: Zu Recht kennt man es nicht, es wird auch nicht den Spielplan bereichern, sondern nach wenigen Vorstellungen sang- und klanglos abserviert werden.

Es gehört zum guten Ton, Berlioz zu loben. Die Wertschätzung, die Ri­chard Strauss seiner Instrumentierungskunst entgegenbrachte, besteht auch sicher zu Recht, und ebenso die historische Bedeutung des Kompo­nisten im Fluß der Entwicklung, speziell im Hinblick auf die französische Musik. [ ... ] In den Trojanern freilich geriet allzuviel daneben, wahrschein­lich weil er darin alles überdimensional gestalten wollte. Ein Blick auf die monströsen Längen, die auch durch Striche nur unzureichend bekämpft wurden, hätte zumindest von der dramaturgischen Untauglichkeit des Werkes unterrichtet. Schlimmer aber fällt die Zerrissenheit der Musik ins Gewicht, ihre mangelnde Fähigkeit, mit den Mitteln der Tonalität Form zu bilden; das soll nicht heißen, daß Berlioz dies nicht versuchte - im Ge­genteil, er versuchte es noch weitgehend mit den Mitteln der Opera seria.

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Gluck und noch deutlicher Cherubini stehen im Hintergrunde. Mißlungen ist ihm jedoch das Resultat. Und so werden immer wieder harmonische Ausweichungen zu Modulationen, Nebengeleise zu Hauptfahrbahnen, so daß eine Labilität der Tonalität eintritt, wie sie nach dem damaligen Stand der Entwicklung - und der harmonischen Mittel - nicht gerechtfertigt war. Spätere Generationen haben freilich diese Tonalität mehr und mehr verdünnt, sie haben sie aber gleichmäßig verdünnt, so daß der Gleichge­wichtszustand stets erhalten blieb - bei Berlioz fehlt der Gleichgewichts­zustand. Es gibt zwar jene Art von schaffenden Künstlern, die berufen sind, alles bisher Erreichte in Frage zu stellen, damit Neues gefunden werden kann. Ihre Größe mißt sich aber daran, inwieweit sie selbst ihre eigene Problematik erkannten und den Ausgleich zu finden bestrebt wa­ren. Berlioz ist dies, zumindest in den Trojanern, nicht gelungen." (1976)

EImer Bernstein

Paris Swings "EImer Bernstein ist ein sehr talentierter Komponist und klassischer Pia­nist. Auf dem Gebiet der Filmmusik hat er viel getan, um die Verwendung von Jazzthemen und -partituren zu fördern, dank der Dramatik und Spannung seiner Musik zu The Man With The Golden Arm, die das Feld für solche Musik beträchtlich zu bestellen half. Trotzdem ist er kein Jazz­Writer, und in dieser trivialen Sammlung von Liedern mit Frankreich­Bezug beweist er das derart, daß kein vernünftiger Zweifel möglich ist.

Die Gruppe, die er angeheuert hat, [ ... ] besteht aus erstklassigen Hol­lywood-Studiomusikern (wie es heißt). Die Jungs tun ihr Bestes, um durch regelmäßige Soli die Schwächen der Arrangements zu verdecken. Aber selbst die Knappen des Duke oder des Count müßten unter diesen Um­ständen die Waffen strecken. Das Album ist hoffnungslos vollgestopft und swingt eben gerade nicht." (1960)

Leonard Bernstein

The Age of Anxiety "Leonard Bernstein [ ... ] kann sich auch als Komponist keine avantgardisti­sche, sprich: unverkäufliche Musik vorstellen. [ ... ] Nicht die handwerkli­che Cleverness ist anzulasten, mit der Bernstein die Orchestrations-Tricks

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der letzten achtzig Jahre imitiert, ebensowenig die stilistische Unbedenk­lichkeit, mit der Jazz, Rachmaninow und Schostakowitsch gemischt wer­den. Im Gegenteil: nicht von Brüchen ist hier zu reden, sondern von einem beängstigend homogenen Produkt, dessen auseinanderstrebende Teile -Banalitäten, eklektizistische Funde, Orchesterfarben aus zweiter Hand -konsequent zum subjektiven ,Kunstwerk' emporstilisiert sind. Derlei ist ehrlich insofern, als es die totale Verdinglichung von Kunst kaum ka­schiert. Versöhnlichkeit gegenüber dem an Tschaikowsky geschulten Ohr zahlt sich für den Autor mit dem Gefühl aus, konform mit dem Bedürfnis aller Musikfreunde zu gehen, welche die böse Moderne verachten. Selbst im modisch-existentialistischen Titel (nach einem Gedicht von H. W. Au­den) drückt sich noch das Credo solchen Bewußtseins aus: Anpassung." (1968)

Mass (1) "Was zunächst an Bernsteins Musik auffällt und stört, ist der unbe­kümmerte Synkretismus. Das scheint ein wenig nach der Devise zubereitet zu sein: ,Mich, den Amerikaner, interessieren Unterschiede nicht. Mir gilt alle Musik gleich viel!' Da werden Volkstümliches und Symphonisches, Musica viva und Rock nicht mehr auseinandergehalten, vielmehr in einer Weise durcheinandergemischt, die jede Sensibilität stillstellt, aber auch je­des Reinheitsgebot beiseite schiebt." (1976)

(2) "Nicht so sehr der Umstand, daß seine Kunst keine Entwicklung, kein. formales Voranschreiten kennt, als vielmehr ihre offenkundige Trivialität, ihre naive Blauäugigkeit und auch ihr ,Sound', ihre durch den Film längst schon entwertete Klanglichkeit, machen diese [lyrischen] Teile für histo­risch belastete europäische Ohren peinlich und zum Teil unerträglich. Schließlich fand Bernstein auch für die Peripetie des Dramas keine adä­quate musikalische Lösung: der Zelebrant, unter der Wucht der Beweise für ein völliges Versagen Gottes zusammengebrochen und halb irrsinnig geworden, kann seine Niederlage nur in stammelndem Rezitativ formulie­ren und braucht dazu eine kleine Ewigkeit, nach welcher die Messe, wie als ob nichts gewesen wäre, zügig ihrem Ende zu vorangetrieben wird." (1981)

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Georges Bizet

2. Sinfonie "Die 2. Sinfonie C-Dur von Georges Bizet spricht uns nicht mehr unmit­telbar an. Echt französisch in vollendeter Form und gekonnter Instrumen­tierung grenzen doch Thematik und Melodik in ihrer volkstümlichen Un­kompliziertheit für unser Gefühl stark ans Triviale, obwohl es [Samuel] Baud-Bovy in seiner straff zusammengefaßten Aufführung verstand, die Musik in eine geistvoll elegante Sphäre zu erheben und jeden banalen Ge­fühlsüberschwang in unbeschwerte Heiterkeit abzubiegen." (1950)

Boris Blacher

Romeo und Julia (1) ,,[Im Innern unangesprochen und reserviert blieb man] gegen das Kammeroratorium Romeo und Julia von Boris Blacher, dessen textlicher Extrakt aus dem Shakespeare-Drama doch kaum mehr als ein schlechter Witz ist. Was die musikalische Seite dieses Opus angeht, so steht man sprachlos vor einer solchen Diskrepanz zwischen kompositionstechni­schem Können und erfinderischem Versagen." (1950)

(2) "Boris Blacher, der Kammeroper, Oratorium und gesungenes Ballett in einem geben will, stellte sich aus Shakespeares Romeo und Julia-Text 18 streng in sich geschlossene kurze ,Nummern' zusammen. [ ... ] Die musik­dramatischen werden durch rein architektonische Gestaltungsprinzipien ersetzt, Gefühlspathos, Klangprunk und musikalische Aufschwellung streng gemieden. Konsequenz in der Verfolgung der stilistischen Absich­ten wird man Blacher gewiß nicht absprechen, ebensowenig aber überse­hen können, daß der Geist der Negation stärker wirksam ist als die positi­ve musikalisch-schöpferische Kraft. Die preziös aussparende Zeichnung seiner rhythmisch agilen Musik erscheint erkauft mit Blutleere. Als cha­rakteristisch für die Mischung von Primitivismus und Artistik, auf die sich der an der Dramatik des Stoffes bewußt (aber warum eigentlich?) vorü­bergehende Komponist in diesem musikalisch-theatralischen Experiment kapriziert, kann die reichliche Anwendung von Ostinatos und Sequenzen gelten." (1950)

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Die Gesänge des Seeräubers O'Rourke und seiner Geliebten Sally Brown "Ein gutes Beispiel, um zu belegen, warum Blacher nie zu größerer Popu­larität gelangte: Jene Passagen, die den Hörer von der Konzeption her an­sprechen, kennt man in originellerer Form bereits von Schönberg (Pierrot lunaire) oder WeiH (Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny)./I (1990)

Zwischenfälle bei einer Notlandung ,,[Ist] denn das moderne Musik, nur weil Blacher elektronische Mittel verwendet hat? Das erinnert mich an die Theaterstücke zu Anfang des Jahrhunderts, als man glaubte, modern zu sein, weil man ein Telephon auf die Bühne brachte. Diese Notlandungs-Oper ist einfach Filmkulissenmu­sik./I (1967)

Karl-Birger Blomdahl

Aniara "Aniara, eine akustisch-visuelle Kolportage aus den galaktischen Regionen von Science-fiktion [sic], mit Seelenschmalz geölt, reibungslos, kapriziös und mit artistischer Fertigkeit, der äquilibristischen Astronautenmühsal zum Hohn, sich von Fixstern zu Fixstern schwingend, als seien auch die Milchstraßen fest in der bestehenden Herrschaftsordnung verankert [ ... ] Da lugt unter einem gelüfteten Zipfel des purpurnen Zaubermantels eine klassenlose Gesellschaft hervor, in welcher alle einzelnen gleichermaßen und gleichmäßig von der Ratio sachlicher Notwendigkeiten reguliert sein sollen. In Aniara wird dieses Endziel nicht allein durch Text und Hand­lung visiert; es wird durch das fugenlose Kontinuum von instrumentalen, vokalen und elektronischen Klängen als hier und jetzt erreicht hingestellt, durch ein Kontinuum, das die realen Zusammenhänge der Klänge auf ei­ne Formel reduziert, die dem Ohr kein Entweichen aus der zwanghaften Ordnung gestattet./I (1967)

Pierre Boulez

1. Klaviersonate "Bei Boulez [ ... ] herrschen ausschließlich die meist in schroffesten dynami­schen Kontrasten gegeneinander gesetzten, hart und brutal geschlagenen

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oder hauchzart hingesetzten ,Tonpunkte', deren gegenseitige Zuordnung auf Grund der Zwölftonreiche sowie rhythmischer und dynamischer Rela­tionen erfolgt. Bindung im Sinne von melodisch-kantabler Zusammenfas­sung mehrerer Töne kennt diese Musik, die sich in rascher Folge extremer Lagen bedient und Kontraste nur mehr innerhalb engsten Raumes, aber nicht mehr in der formalen Großgliederung zu erzeugen vermag, grund­sätzlich nicht. Die Polyphonie dieser ,Strukturen' ist nicht Linienkunst, sondern beruht auf einem Tonpunktsystem, zu dessen Erfassung es eines genauen Studiums der Methoden, mit anderen Worten: der Einweihung in die diversen ,Geheimwissenschaften' bedarf." (1955)

Polyphonie X IIPierre Boulez ist Zwölftöner esoterischer Richtung. Seine Polyphonie X für 17 Soloinstrumente geht modernste, abseitigste Wege. Von dieser Musik zu dem Publikum bestehen heute noch keine Verbindungen." (1951)

Structures "In seinen Structures [ ... zielt Boulez] auf Züchtung eines ,abstrakten Im­pressionismus'. Das läßt sich aus dem Notenbild zwar als seriell, als rei­hentechnisch rigoros ineinander gespannt nachrechnen, aus dem Hörbild aber (auch bei öfterem klavieristisch mitwirkenden Nachvollzug) nicht als Einheit erleben, weil für alle drei Sätze (la, Ib, Ic) die ständigen riesigen In­tervallsprünge derart aphoristisch, eben punktuell, aufgerissen erscheinen, daß äußere wie innere Zusammenhänge für den Hörer unkenntlich blei­ben. Auch die taktliche Organisation führt sich bei andauernden Verschie­bungen von kaleidoskop artig geschüttelten Unterwerten einer irrational fluktuierenden Viertel-, Achtel-, Sechzehntel-, Zweiunddreißigstel-No­tation für rhythmisch authentische Darstellungen ad absurdum. Mit den forcierten Vortragsbezeichnungen ist es ähnlich: auf die vierzehn Klang­punkte der ersten drei Takte der Struktur Ic z. B. fallen dreiundsechzig dynamische Zeichenangaben!" (1956)

Le visage nuptial "Ein Pandämonium stammelnd, hauchend, singend, schreiend aufklin­gender Stimmen, eine einzige 25minütige Ekstase schlagender, blasender,

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drohender, flirrend-flatternder, girrend-gellender Blechbläser, Hölzer, Streicher, Zupfer, Schläger, Stampfer. Aus Rene Chars surrealem Zyklus Fureur et Mystere schlug Pierre Boulez die Stichflammen einer totalen Ent­fesselung der Klangmaterie. Frauenchor und Streicherchöre schwingen und schwimmen in Vierteltonhöhen, die Bläser interpunktieren den Klangfetzenteppich diatonisch. [ ... ] Die Klangkomplexe zerfasern, sie fä­chern sich spektralartig. Jaulende Crescendi und Decrescendi elektroni­scher Klangwelten schießen ein. Diffus schillernde Orgelpunkte grundie­ren die verschiedenen Sing- und Sprechebenen des Chores und zweier Solostimmen. Rondo und Refrain, Kanon und Imitation zeichnen sich als Gliedansätze in den amorphen Klangzuckungen ab. [ ... ] Die Betäubungs­starre der Hörer entlud sich in einem Beifall der erschrockenen Bewunde­rung." (1958)

Le Marteau sans Maftre ,,[Man glaubte] sich zunächst in der Tür geirrt zu haben, und statt in ein Konzertlokal in eine Klinik, Abteilung für Schizophrenie geraten zu sein, wo - mangels jeglichen Anhaltspunktes zu sachlich fachlicher Betrach­tung - nicht mehr der Musikreferent, sondern der Krankenwärter zu­ständig ist. [ ... ] Pierre Boulez' Le Marteau sans Maftre [ ... ] blieb immer so ziemlich das gleiche: ein ,elliptische Zerstäubung' (siehe Programmheft!) auch des letzten Atoms Musik. Das besorgen der Hauptsache nach die vielen Pausen, die das monotone Einerlei eines aus sonderbaren Kapriolen und Stoßseufzern der mißbrauchten Instrumente bestehenden Tonflusses zu Häcksel machen. [ ... Das Ergebnis ist] ein surrealistisch-dadaistisches Konglomerat, an dessen Lallen eine [ ... ] Altstimme maßgeblich beteiligt ist. [ ... ] Soweit also ging es noch mit Humor. Es wird bitter bei dem Ge­danken, daß jenseits aller Bemühungen maßgeblicher Stellen um Pflege und Reinerhaltung unserer Kunst so etwas passieren kann, das weder mit Kunst, noch mit einem ernst zu nehmenden Experiment auch nur das Ge­ringste zu tun hat. Und, nicht zuletzt, welch ein massives Stück Geld diese von einem wohlorganisierten und finanzierten Klüngel inszenierte De­monstration wider die Musik und den guten Geschmack einer uralten Kulturstadt gekostet haben mag. Solange es bei uns auch nur einen Künst­ler gibt (und es sind ihrer viele), der um Brot und Anerkennung zu kämp­fen hat, so lange können Abende wie dieser nur als Provokation empfun­den und gewertet werden." (1957)

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Poesie pour pouvoir "Auch bei Pierre Boulez blieb die angekündigte Sensation - sofern es ei­ne schöpferische sein sollte - aus. Allerdings war sein Experiment, die Verkoppelung des Instrumentalklangs mit elektronischen Geräuschen, interessanter [als Gruppen von Karlheinz Stockhausen in demselben Kon­zert]. Aber das bloß Interessante zieht nicht mehr. Das Experiment als sol­ches ist obendrein mißlungen: die Klangverschmelzung funktioniert nicht.

Selbst die mißbrauchtesten Instrumente behalten noch einen Anflug ihrer ursprünglichen Würde. Aber die elektronischen Geräusche klingen immer nur wie bei RingeInatz jene Worte ,eines Durchfallkranken, in ei­nen Waschkübel gesprochen'. Da ist es noch ein Trost, daß die Worte des Dichters [ ... Henri Michaux] unverständlich bleiben und auch bleiben sol­len. Es sollen nicht einmal Gefühle musikalisch reflektiert werden, son­dern nur ein ,Denken des Gefühls'.

Für diese potenzierte Abstraktion, diese wiederum greisenhafte Armut an Impulsen gab es abermals ein exorbitantes Aufgebot: zwei im Zentrum des Saales, mit dem Rücken gegeneinander, postierte große Orchester [ ... ]. Rund herum sah man geballte Batterien von Lautsprechern mehrerlei Ka­libers: in der Mitte über dem Ganzen ein rotierendes Doppelpaar, einmal links herum, einmal rechts herum, mal schneller, mal langsamer.

Das Auge kann sich über Mangel an Beschäftigung nicht beklagen. Und das Ohr - eigentlich: doch, es kann! Denn das Klanggestammel er­müdet rasch, und die erwartete Emotion bleibt aus. [ ... ] Tatsächlich ist hier nichts mehr logisch, nichts mehr in einem tieferen Sinne zusammenhän­gend. Und es ist ein kurioser Widerspruch, daß für den organisierten Zu­fall eine solche Präzisionsmaschine nötig ist, wie sie hier montiert war." (1958)

J ohannes Brahms

Ein Deutsches Requiem "Dieses Werk bereitet ja sogar ausgesprochenen Brahms-Enthusiasten manchmal Verlegenheit. Die etwas nazarenerhafte Süße des ersten Satzes, diese vorbildlich tränenschwere Verhärmtheit, dieses milde Unglücklich­sein-Können einer vor lauter Ergriffenheit schwerfälligen Musik wirkt -trotz aller melodischen Kraft und Diskretion - weichlich gefühlvoll." (1973)

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Benjamin Britten

Violinkonzert "Brittens Violinkonzert [ ... ] ist zweifellos ein interessantes Stück, doch scheint es zu jenen Instrumentalwerken des erfolgreichen Engländers zu gehören, in denen die angewandten technischen Mittel die musikalische Substanz erdrücken. Es gibt tatsächlich kaum ein Requisit neuerer Kom­positionstechnik, das hier nicht benutzt wird. Das Soloinstrument ist mit einer Fülle schwierigster Aufgaben bedacht worden, mit kompliziertesten Lauf- und Doppelgriffpassagen, raffinierten Pizzicati der rechten und lin­ken Hand, mit Glissandi und Sprüngen und mit - auch in anderen Wer­ken Brittens anzutreffenden - vielfältigen gläsernen Flageolettklängen. Das Orchester ist kaum stiefmütterlicher behandelt worden. Das ganze Werk gibt sich höchst anspruchsvoll. Trotz frappierender Wiedergabe [ ... ] konnte man sich jedoch nicht erwärmen, weil die eklektische Vielfalt der Wirkungen durch den Komponisten nicht bewältigt erscheint. Man muß sich ernstlich fragen, wozu denn eine so differenzierte Sprache entwickelt wird, wenn es so wenig und zum Teil so Banales auszusagen gibt." (1957)

Les illuminations "Hört man die Vertonung von Arthur Rimbauds Illuminations durch den 25jährigen Benjamin Britten, so hat man den Eindruck, daß der Komponist nicht einmal die einzelnen Worte dieser esoterischen Verse verstanden hat, geschweige denn der inneren Erleuchtung teilhaftig geworden ist, die sie erhellen könnte". (1958)

Billy Budd (1) "Die musikalische Substanz von Brittens Oper erschöpft sich in Äußer­lichkeiten. Die Wellen schlagen an die Schiffswände, der Wind und der Held singen ein allzu süßes Wiegenlied, aus rauhen Matrosenkehlen klin­gen die ,shanties', [ ... ] und der Lärm einer Schlacht im Nebel wird einge­fangen in Chören, Fetzen von Befehlen, Singsang vom Ausguck und einer Geschützsalve. [ ... ] Alles aber vollzieht sich in einem musikalischen Tem­po, das nicht durch Kontraste ordnend und gestaltend die Vorgänge formt, sondern sie mit einem gleichmäßigen Gewebe überzieht und in ei-

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ner Tonsprache, die den Reiz ihrer Neuheit infolge ihrer Billigkeit bald verlieren wird." (1952)

(2) "Brittens Musik bleibt [ ... ] weit schwächer als im Feter Grimes, unlo­gisch in den Zwischenspielen, die im zweiten Akt aufhören; volkstümlich im lyrischen Ton, der sich gelegentlich der süßlichen Unterhaltung nähert und zuletzt, bei Billys Abschied im Rosenlieder-Jugendstil, Männersenti­mentalitäten von beträchtlichen Ausmaßen verbreitet." (1966)

The Prince of the Pagodas "Daß das neue Ballett von Benjamin Britten [ ... ] keine kühnen Perspekti­ven für das zukünftige Tanztheater aufreißen würde, durfte man [ ... ] im voraus vermuten. Daß er sich aber so eng mit der Tradition des romanti­schen Tanztheaters aus dem 19. Jahrhundert verhaftet zeigen würde, ü­berraschte und enttäuschte doch. Inmitten der brennenden Entscheidun­gen der Gegenwart zieht sich Britten aus der schöpferischen Verantwort­lichkeit und wählt einen einfältigen, gleichgültigen Märchenstoff, ein bil­lig variiertes Klischee von berühmten, klassischen Erzählungen. [ ... ] In die Handlung ist eine Fülle von 5010- und Gruppentänzen eingebaut. Der ge­rade Handlungsablauf ist ständig unterbrochen, so daß sich als Ganzes ein merkwürdiges Zwitterding aus romantisch-gefühlvoller Ausdruckspoesie und kühler Ballett-Klassizität ergibt. Auch die Musik besitzt keinen orga­nisch einheitlichen Stil. Britten ist viel, fast zu viel eingefallen, er be­herrscht alle Ausdrucksformen, jedoch vermißt man ein klar umrissenes Profil." (1958)

Death in Venice "Der Stoff [ ... ] ist ganz und gar nicht opernträchtig. [ ... ] Brittens Musik hät­te da gestaltungsmächtig eingreifen müssen. Aber was bringt sie? Kleine, feine Musikbröckchen aus zweiter Hand, ein impressionistisches Kaleido­skop. Sie wirkt so ausgebrannt und auflösungssüchtig wie Aschenbach selber, spielt selbstgefällig mit Zitaten aus Brittens eigenem CEuvre, die beim erstenmal schon nachempfunden wirkten und bei dieser Wiederbe­gegnung nicht interessanter werden. Besonders enervierend die vielen, in Klang und Melodieführung so gar nicht wählerischen Chöre, peinlich die

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Schlußapotheose mit penetrantem Vibraphongeklingel, Dur-Tod und Dur­Verklärung." (1975)

Dave Brubeck

Time Further Out "Das Album trägt den Untertitel ,Mir6 Reflections', und im Einklang da­mit ziert die Reproduktion eines Gemäldes von Joan Mir6 das Cover. Laut Brubeck, der den Plattentext verfaßte, war die Musik als Blues-Suite ge­plant, ,jede Reflexion hat die Form eines 12taktigen Blues oder eine Varia­tion davon'. Viel Gewese wird um die Taktarten der Stücke gemacht (3/4, 4/4, 5/4, 6/4, 7/4, 8/8 und 9/8); das sind die Zahlen, die in dem Gemälde Mir6s zu sehen sind und die ,Verbindung' zwischen dem Gemälde und der Musik darstellen. Der Plattentext, die Reflexionen über Mir6 und die Musik kommen ein wenig angestrengt über - um nicht zu sagen aufge­blasen.

Zwei der Kompositionen, Raggy und Unsquare sind geistreich - nein, schlau. Die Melodielinie von Raggy erzeugt das Gefühl eines 4/4-Takts, der dem 3/4-Takt übergelagert ist. Das wirkt beim ersten oder zweiten Hören tricky und reizt das Ohr, verliert aber schnell seinen Neuigkeits­wert. Unsquare ist ein Leitfaden für den 7/4-Takt. Offensichtlich ist er aus einem 4/4- und einem 3/4-Takt zusammengesetzt, aber es bleibt nichts dem Zufall überlassen. Die ganze Zeit über ertönt Handclapping (umpf­patsch, umpf-patsch, umpf-patsch-patsch, bis zum Erbrechen), während [Eugene] Wright eine simple Blues-Figur wieder und wieder spielt. Der erste und letzte Chorus präsentieren einen ziemlich steif spielenden Bru­beck (es klingt, als ob er zähle); Uoe] Morello hat seinenAuftritt in der Mit­te, wo er, begleitet von Baß und Handclapping, auf den Rahmen seiner Trommeln spielt - es klingt wie eines dieser Drillkommandos der Ameri­can Legion in Aktion." (1962)

Eric Burdon

Survivor "Eric Burdon oder: Wie kommt eine Superröhre unter die Grasnarbe? Nach einem gar nicht so üblen Aufguß der ,Original Animals' ist die neue

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Burdon-LP eine Leichenschau [ ... ], die neben drei akzeptablen Songs, ,Woman Of The Rings', ,Tomb Of The Unknown Singer',,1 Was Born To Live The Blues' nichts als Unrat kommerzieller Machart enthält. Achtmal zeichnen BurdonjMoney als Komponisten verantwortlich - siebenmal geht's mit Volldampf (nee, nicht mal das!) in die vielzitierte Hose. Bur­dons einst hochbrisante Stimme - das Schwarze ist kaum noch Grau­schleier - pult in Belanglosigkeiten herum, die Riffs kommen vom Grab­beltisch of rock und Zoot Money kann gar nicht so viele Hände haben, um den dünnflüssigen Affigkeiten einige Spitzen aufzuklimpern.

Die LP ist laut PR ein Konzeptalbum. Wie wahr! In eine völlig rigide Schablone hineinkonstruiert, scheint die Musik mit der Brechstange auf die Texte aufgepfropft [ ... ]. Vor lauter Konzept wurde die Musik in die Ecke geschoben. Irgendwo zwischen Rock, Blues und Pop dümpelt die Scheibe in Seichtigkeiten umher, Kanalwechsel oder Auto-Brummbrumm geraten zur peinlichen Tünche, wie auch das ansehnliche Textheft aller­höchstens ablenken kann.

Dies ist keine LP von d-e-m Eric Burdon - d-e-r hat sich (,Survivor' ... !) endgültig selbst überlebt." (1978)

Emil Frantisek Burian

Der Krieg "Mit kurzatmiger Motivik, endlosen Ostinati und polytonal geschärfter Harmonik ergeht sich das halb gesungene, halb gesprochene 40-Minuten­Werk in einer Art von singsangseliger, expressionistisch eifernder Folklo­re, die in der Entwicklung des Komponisten seine einstigen Jazz­Eskapaden (Requiem für Voice-Band) verdrängt haben mag. Das plakathafte Lehrstück wird zuletzt um die Dimension des Realistischen erweitert, wo die Kunst nur noch nebenbei funktioniert." (1967)

Paul Burkhard

Spiegel, das Kätzchen (1) "Der Leser der Novelle Spiegel, das Kätzchen von Gottfried Keller wird kaum wissen, wie er aus ihr ein Theaterstück machen könnte. Fridolin Tschudi, der es tat, wußte es auch nicht. [ ... ] Paul Burkhard, [ ... ] der