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Jesper Juul Aus Erziehung wird Beziehung

Jesper Juul Aus Erziehung wird Beziehung · 2017. 7. 31. · Jesper Juul, 1948 in Dänemark geboren, Lehrer, Gruppen- und Familien-therapeut, leitete von 1979 bis 2004 das Kempler

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  • Jesper Juul

    Aus Erziehung wird Beziehung

  • Das Buch„Es geht darum, die Sprache der Kinder wahrzunehmen und sie ernst zunehmen, auch wenn das bedeutet, dass man als Erwachsener eine Praxisändern muss …“

    Was Jesper Juul Eltern und Erziehenden zu vermitteln sucht, ist: Wir Er-wachsenen müssen lernen, Kinder auf eine neue, sensiblere Weise zu se-hen und ernst zu nehmen und auch störendes Verhalten in Botschaften zuübersetzen. In diesem Buch wird anhand vieler Beispiele herausgearbeitet,wie Kinder und Erwachsene in einen aufrichtigen Dialog treten können:Jesper Juul zeigt, worauf es dabei ankommt, wie konkret und unter wel-chen Bedingungen dieser zu realisieren ist, inwiefern er den gesamtgesell-schaftlichen Umgang beeinflusst und wie er sein eigenes Leben veränderthat. Der Leser sieht, wie das in den typischen alltäglichen Konfliktfeldernwie morgendliches Aufstehen, Essen, Schule, Hausaufgaben, Kleidung, An-ziehen, Taschengeld, Ausgehen, Zubettgehen Gestalt gewinnt. Ein Buch,das die Familie und das Leben in ihr gründlich verändern kann.

    Der AutorJesper Juul, 1948 in Dänemark geboren, Lehrer, Gruppen- und Familien-therapeut, leitete von 1979 bis 2004 das Kempler Institute of Scandinavia. Er gibtseit 1987 die Zeitschrift Familien heraus. Seit 1991 arbeitet er außerdem alsAusbilder für Familientherapie in Kroatien und als Therapeut in Flücht-lingslagern. 2004 wurde er Mitbegründer eines europäischen Projekts fürFamilien namens family lab.

    Die HerausgeberinIngeborg Szöllösi, Dr. phil, geboren 1968, Studium der Philosophie, Thea-ter- und Literaturwissenschaft in München. Freie Journalistin und Buch-autorin.

  • Jesper Juul

    Aus Erziehung wird BeziehungAuthentische Eltern – kompetente Kinder

    Hg. von Ingeborg Szöllösi

  • Herder spektrum Band 5533

    www.fsc.org

    MIXPapier aus verantwor-tungsvollen Quellen

    FSC® C083411

    ®

    Originalausgabe

    12. Auf lage 2015

    © Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2005Alle Rechte vorbehalten

    www.herder.deUmschlagkonzeption und -gestaltung:

    R·M·E Roland Eschlbeck /Liana TuchelUmschlagmotiv: © gettyimages

    Autorenfoto: © Jesper Holdgaard

    Satz: Susanne Lomer, FreiburgHerstellung: CPI books GmbH, Leck

    Printed in Germany

    ISBN 978-3-451-05533-1

    978-3-451-05533-1_PF16_A_004.indd 4 26.02.2015 16:02:36

  • Inhalt

    Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7Erziehung als Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9Der biographische Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13Therapeut sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20Selbsterkenntnis und Eigenverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26Verantwortlich leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27Sich selbst Grenzen setzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45Verantwortung übernehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51Überverantwortlich sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58Der persönliche Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69Der Dialog zwischen Schule und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81Der Dialog in Grenzsituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91Geliebt sein und sich verändern wollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111Negative Gefühle und Auseinandersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128Nein sagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137Gemeinsam in die Welt von morgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150

  • Vorwort„Von dem freien Kind in der Familie zu sprechen, ist für michnicht möglich!“ – Dieser Satz ließ mich aufhorchen: Was ich ge-rade gehört hatte, konnte doch wohl nicht aus dem Mund desberühmten dänischen Familientherapeuten Jesper Juul stam-men, dessen Buch „Das kompetente Kind“ ich regelrecht ver-schlungen hatte. Er, der behauptet, es sei ein Sakrileg, Kinder als„unsoziale, inkompetente Halbmenschen“ zu betrachten, er, derausruft, die persönliche Verantwortung sei die „kraftvollste undpotenteste“, er, der nicht müde wird, seinen Lesern und Zuhö-rern nahe zu bringen, dass die Kinder den „Schlüssel für eine ge-sündere Familiengemeinschaft“ in der Hand hielten – wie kanner nun erklären, es sei ihm nicht möglich, von dem freien Kindin der Familie zu sprechen?

    Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Schließlich gabes niemanden, der so konsequent wie Jesper Juul die Idee einer„freien Erziehung“ vertreten hatte. Was war geschehen? Daskurze Interview, das ich damals für eine Zeitschrift mit ihmführte, ließ viele Fragen offen.

    Ich bat Jesper Juul um ein weiteres Interview, eines, das sol-che Fragen beantworten und die Grundlagen neu bestimmensollte. Zu meiner großen Freude stimmte er einem langen Inter-view zu, das sich über mehrere Tage hinziehen sollte: „Ja, wa-rum nicht?“ – Warum nicht? Vielleicht weil es zu persönlichwerden könnte, dachte ich. Aber für Jesper Juul ist nichts per-sönlich genug! Seine fünfundzwanzigjährige Arbeit als Familien-therapeut, Trainer, Vortragender, Buchautor dreht sich genau da-rum: Mensch, werde persönlich, sonst irrst du beziehungslosdurch die Welt! Und: Begleite deine Kinder auf diesem Weg –ihrem eigenen Weg, eine souveräne Person zu werden! Seinewesentliche Frage an Eltern lautet: „Möchtest du als Vater oderMutter, dass deine Kinder so aufwachsen, dass sie ihr eigenes,

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  • unabhängiges Wesen leben, oder möchtest du Kinder großzie-hen, die wissen, wie sie sich benehmen?“

    Dieses Buch ist das Ergebnis unserer Gespräche. Die großeFrage, die sich stellt, lautet: Wie kann aus Erziehung eine leb-hafte, warme und tiefe Beziehung zwischen Eltern und Kinderwerden? Die Geschichten, die Jesper Juul aus seinem eigenenLeben erzählt, die Fallbeispiele, die er aus seiner therapeutischenPraxis zitiert, und seine philosophischen, an der Existenz ausge-richteten Überlegungen führen zu dem Schluss: Ja, es ist mög-lich, dass aus Erziehung Beziehung wird, in der sich jedes Mit-glied frei fühlt – das zu sagen, zu fragen, zu tun, was in ihm nacheinem adäquaten Ausdruck drängt. Diese Erkenntnis wird dieGesellschaft verändern: Die Familie heute ist die Avantgarde –der Hoffnungsträger für eine beziehungsfreudige Zukunft!

    Ingeborg Szöllösi

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  • Erziehung als ThemaSie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit den Beziehungen zwi-schen Kindern und Eltern. Was sagen Sie heute: Wie können wirunsere Kinder erziehen?Eltern und Erziehende, die beruflich mit Kindern arbeiten, be-finden sich heute in einer einmaligen Situation: Sie wünschensich ein neues Erziehungsmodell. Und das wäre noch gar nichtsBesonderes. Jede Eltern-Generation hat sich seit jeher in einerähnlichen Situation befunden: „Wir wollen es nicht so wie un-sere Eltern machen, wir wollen es besser machen.“ Das Einma-lige aber ist heute, dass das seit vielen Generationen bekannte,auf Gehorsam beruhende Erziehungsmuster überhaupt nichtmehr greift. Die Eltern-Generation von heute hat sich radikalvon der Vergangenheit abgewendet und sucht etwas anderes –dieses „Andere“ hat sich noch nicht wirklich herauskristallisie-ren können und wird deshalb von jedem unterschiedlich defi-niert.

    Wem ich zum Beispiel sehr häufig in Deutschland, Öster-reich und der Schweiz begegne, sind die so genannten „romanti-schen Eltern“: Sie sind von der Idee besessen, dass sie für ihreKinder das Paradies auf Erden herbeizaubern müssen – dass dieKinder ohne Schmerz, Verletzungen, Ärger aufwachsen sollten!Eine andere, auch sehr verbreitete Vorstellung von Eltern ist,dass sie immer nur nett und freundlich zu ihren Kindern seinwollen. Für sie ist das ewig lächelnde Antlitz die neue Erzie-hungsmethode. Nur kommt es dann zu folgendem jähen Um-sturz und Kulissenwechsel: Wenn die Kinder auf ihr Nett- undFreundlichsein mit „Ungehorsam“ reagieren, wenn sie ungehal-ten werden und nicht wie erwartet zurücklächeln, dann greifendiese Eltern automatisch auf die radikalen Erziehungsmethodender Vergangenheit zurück: Der Eltern „Wunsch“ ist den Kin-dern Befehl!

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  • Das heißt also, dass Eltern heutzutage sehr verwirrt sind …Ja, und das hat manchmal fatale Folgen: Eltern wechseln ihre er-zieherischen Grundsätze öfter, als sie ihre Unterwäsche wech-seln, sozusagen einige Male pro Tag. Ihr „nettes“ Verhalten kipptin autoritäres um, was die Kinder dann total verunsichert: Ist dasnette oder das strenge Gesicht der Mama die wahre Mama? –Theoretisch dürfte das nicht sein – wir meinen schon längst, alleÜberbleibsel der autoritären Erziehung hinter uns gelassen zuhaben, aber die Praxis in den Familien sieht noch immer andersaus.

    Mein Ziel ist es nicht nur, Eltern eine Orientierungshilfe zubieten, sondern vor allem, ihnen Gründe und Motive aufzude-cken, weshalb es tatsächlich so notwendig ist, eine ganz be-stimmte neue Richtung einzuschlagen. Ich möchte Eltern einenWeg aufzeigen, der nicht mehr von den alten Beweggründeneiner auf dem Prinzip Gehorsam basierenden Erziehung ge-speist wird. Und ich bin mir sehr wohl bewusst, dass meineMöglichkeiten auch nur begrenzt sind – also versuche ich, mirund den Menschen, die zu mir kommen, nichts vorzumachen.

    Welches wäre dann Ihre wichtigste Frage im Bereich Erziehung?Gewiss nicht die, wie Erziehung funktioniert oder wie Gewaltfunktioniert, denn das eine wissen wir ganz genau: Sie funk-tionieren! Und sie greifen brutal durch – keine Frage! Je mehrwir die Integrität von Menschen verletzen, desto gehorsamerwerden sie: Es dauert 20 bis 30 Jahre, bis sich jemand, der in sei-ner Kindheit geduckt, unterdrückt, misshandelt oder miss-braucht worden ist, verändert. Das beste Beispiel liefern Frau-enschicksale – wir fragen uns immer wieder: Weshalb sucht sichdenn diese Frau immer wieder Typen, die sie vergewaltigenoder schlecht behandeln? Die Antwort ist eindeutig: Die Ge-walt, die sie einst erfuhr, funktioniert weiter und pflanzt sichfort!

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  • Es ist also wichtig, eine andere Frage zu stellen: Wie könnenwir uns auf einzelne Menschen beziehen, mit anderen Men-schen umgehen, ohne ihre Integrität zu verletzen?

    Aber es ist doch klar, dass wir uns als Individuen dauernd aneinan-der reiben, uns sogar verletzen – wir ecken zwangsläufig immermal wieder an, wenn wir zu einer Gemeinschaft dazugehörenwollen …Ja, wir wollen uns alle anpassen, denn jeder von uns will irgend-wohin gehören. Trotzdem wollen wir auch als Individuen gese-hen werden. Das ist der Konflikt zwischen Kooperation und In-dividuation.

    Ich habe mal mit einer Frau gearbeitet, die nicht mehr mitihrem Mann zurechtkam. Sie befand sich genau in diesem Kon-flikt: Wie kann ich dazugehören, ohne mich selbst zu verlieren,wie kann ich mich anpassen, ohne das, was mich wirklich aus-macht, aufgeben zu müssen? – Sie hielt sich für eine äußerstmoderne, unabhängige, liberal denkende Frau, und ich erlebte siein ihrem Berufsleben auch tatsächlich als Löwin. Nur, wenn siemit ihrem Mann zusammen war, verhielt sie sich wie ein abhängi-ges, anschmiegsames Kätzchen – die Löwin war vergessen. Ichmachte sie darauf bloß aufmerksam und sie fing an zu weinen,dann lachte sie und sagt: „Mein Vater, Großvater, Urgroßvater –sie alle waren Pfarrer. Und ich habe gemeint, ich hätte meinenKampf mit dieser Familie beendet, als ich aus der Kirche ausgetre-ten bin.“ Das war für sie wohl ein notwendiger Schritt, um etwasauf Distanz zu gehen, aber als Individuum hat ihr diese Aktionnicht weitergeholfen: Sie hat zwar eine andere Uniform angelegt,aber es ist noch immer eine Uniform und keine Befreiung: IhremMann gegenüber verhielt sie sich immer noch so, als hätte sie esmit dem Vater und Großvater zu tun – nett, lieb, ehrfürchtig.

    Diesen Konflikt haben auch Eltern konstant, wenn sieschwierige Entscheidungen treffen müssen – Entscheidungen

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  • darüber, wie man es in seiner Familie gerne hätte, dass zum Bei-spiel weniger Coca Cola und Chips gekauft werden … Dannmeinen sie, sie könnten so etwas nicht durchsetzen, weil es inanderen Familien nicht verboten ist. Wenn ich über eine längereZeitspanne mit Eltern in Gruppen arbeite, antworte ich ihnenauf ihre fatalistische Feststellung, es sei ja heute eh alles aussichts-los, in Form einer Bescheinigung, auf der Folgendes steht: „Ich,Vater von Alexander, gebe meine Verantwortung an die anderenEltern aus der Klasse ab!“ – Plötzlich horchen Eltern auf undprotestieren dann auch sogleich: „Nein, natürlich möchte ich fürmeine Familie verantwortlich sein!“ Und so gelingt es, Elternnahe zu bringen, dass es wichtig ist, dass sie sich selbst erziehenund ihre Familienkultur aktiv bestimmen. In den nächsten zehnJahren wird sich diese Aufgabe der Eltern vor allem im Umgangmit übergewichtigen Kindern als wesentlich erweisen. Sie müs-sen entscheiden, ob sie es weiterhin dulden wollen, dass sich ihreKinder mit Fastfood ernähren, und es ist davon auszugehen, dassin jedem Elternhaus die Entscheidungen unterschiedlich ausfal-len werden. Eltern müssen heute individuell entscheiden: Waswollen wir in unserer Familie einhalten? Dabei können sie sichauf keine äußere Autorität beziehen: Sie selbst müssen an sichund ihre Vorstellungen von Familie glauben und mit den Kon-flikten, die selbstverständlich daraus erwachsen, rechnen undfertig werden.

    Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass wir machen kön-nen, was wir wollen: Wir können uns kleiden, wie wir wollen,essen, was wir wollen, und wir können uns alles leisten.

    Es gibt Eltern, die es tolerieren, dass ihre Tochter mit irgend-welchen Jungs herumhängt und Joints raucht. Sie meinen: „Siemuss durch diese Phase durch, was soll’s!“ Anderen wiederumwäre das zu viel: Sie wollen ihren Kindern nicht mehr allesdurchgehen lassen, nur um mit ihnen gut Freund zu bleiben unddamit die Kinder ihren Freunden sagen können: „Unsere Eltern

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  • sind gute Kumpels!“ Es gibt also auch die, die den Kindern keineFreikarte mehr ausstellen wollen.

    Deshalb bin ich sehr bemüht, und werde es auch in diesemBuch versuchen, den Eltern einige elementare Kriterien an dieHand zu geben, die ihnen als Navigationspunkte auf der Suchenach einer eigenen Familienkultur dienen können.

    Der biographische HintergrundWelches waren die wichtigsten Stationen auf Ihrem persönlichenLebensweg?Es war mein großes Glück, in eine Familie hineingeboren zusein, in die ich nicht hineingehörte. Ich war der Erstgeborene,mein Bruder ist drei Jahre jünger als ich. Als ich ungefähr vierJahre alt war, habe ich gespürt, dass mir meine Eltern nicht dasgeben können, was ich brauche. Ich war klein und mussteselbstverständlich bei ihnen bleiben, aber mental habe ich imExil gelebt – ich habe mir meine eigene Welt zurechtphanta-siert und habe mich dabei wohl gefühlt. Den meisten Menschenmacht Einsamkeit zu schaffen, ich aber kenne gar keinen ande-ren Zustand – und nichts erscheint mir wünschenswerter, als al-leine zu sein. Aus mir konnte also zum einen kein soziales Tierwerden – ich habe es nicht einmal aus Versehen versucht, michmit Menschen zu umgeben, nur um nicht alleine zu sein, auchspäter als Therapeut nicht. Zum anderen bin ich äußerst be-fähigt, für mich selbst zu sorgen: Ich brauche niemanden, derfür mich sorgt, was manchmal für die anderen schwierig ist,denn: Wie soll man sich auf jemanden beziehen, der so unab-hängig ist?

    Meinen Eltern kann man rein äußerlich gesehen gar nichtsvorwerfen. Damals war es normal, keinen Dialog zu führen:

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  • Eltern sprachen mit ihren Kindern nur das Notwendigste, undauch Mann und Frau unterhielten sich so wenig wie möglich.Mein Vater hat in all den Jahren meiner Kindheit und Jugendkaum was erzählt, und wenn er mal was sagte, dann war das kurzund bündig. Meine Mutter hingegen redete die ganze Zeit, abersie wusste nicht, wie man ein Gespräch führt. Sie wusste immer,was man in der einen oder anderen Situation zu sagen hat, wasvon einem erwartet wird: Sie hatte also Phrasen für den Todes-fall, für Glückwünsche, für Unfälle oder Krankheiten parat, abersie hat es nie zu ihrer eigenen Sprache gebracht. Sie sprach einesoziale Sprache, die ich nie lernen konnte und lernen wollte, sodass ich bis zum heutigen Tag nicht weiß, was man sagt. Manch-mal würde ich diese Sprache auch gerne beherrschen und bei-spielsweise in einem Zugabteil Smalltalk führen, aber ich kannes nicht! Statt zu sprechen, schwieg ich also lange Zeit, weil mireinfach eine persönliche Sprache gefehlt hat und ich sie in die-sem familiären Kontext auch nicht entwickeln konnte. Denn dagalt folgender Satz: Die elementare Sprache, mit der Kinder ge-boren werden, bedurfte einer Korrektur – uns wurde damals dasdirekte „Ich will!“ oder „Ich will nicht“ ausgemerzt, auch in derSchule: Kein Satz durfte mit „Ich“ anfangen.

    Es ist für mich noch immer eine große Herausforderung, zuentdecken, wie die äußere Realität zu meiner inneren passt, wieich etwas Inneres nach außen bringen kann. Zu lernen, seineeigene Sprache zu sprechen!

    Wie würden Sie Ihre Position im Leben beschreiben?Ich sähe mich als ein ordentliches Mitglied des Verbandes derKellner, wenn es so etwas gäbe. Ich tue das tatsächlich am lieb-sten, andere zu bedienen oder ihnen zu dienen. Und im Übrigenhabe ich diesbezüglich sogar Erfahrungen: Als Student habe ichin den Semesterferien in Düsseldorf in der Altstadt als Kellnergearbeitet, um etwas Geld zu verdienen.

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  • Was bedeutet es für Sie, in dieser Ihrer Familie groß geworden zusein?Was es für meine Arbeit bedeutet, dass ich am Rande meinerFamilie gelebt habe, ist, dass ich mit Leichtigkeit festgestellthabe, dass Eltern und Partner über ihre eigenen Erwartungenstolpern. Erwartungen sind in vielen Familien das Verhängnis. –Ich hatte nie Erwartungen und demnach auch keine Angst, ab-gelehnt zu werden – und diese Angst sitzt vielen Menschen inden Knochen! Dass ich so völlig jenseits von Erwartungen lebte,verdanke ich der Tatsache, dass ich sehr früh spürte, dass meineEltern nichts hatten, was sie mir wirklich hätten geben können.Sie hatten ein sehr enges Korsett um sich geschnürt.

    Können Sie heute mit Ihrer Mutter über diese Ihre Eindrückereden?Nein, wir haben uns nichts zu sagen. Meine Mutter beklagt sichzwar, dass ich sie viel zu selten anrufe, und ich sage ihr dann auchaufrichtig: „Ich habe dir nichts zu sagen!“ Und dann kommt ei-ner ihrer klassischen „man“-Sätze als Antwort: „Man hat seinerMutter immer etwas zu sagen!“ – Sie merkt, dass etwas nichtstimmt, aber sie verlässt ihren Kurs nicht und bleibt bei ihrerForderung: „Du musst mich öfter anrufen!“ Für mich ist es aberkeine Pflicht, dies zu tun. Sie hingegen gehört der Generationvon Eltern an, die meinen, im Recht zu sein, wenn sie an ihreKinder Forderungen stellen. Und solche Mütter sind gefährlich,denn sie ersticken jede Möglichkeit einer natürlichen Beziehungim Keim und sind sich dabei keiner Schuld bewusst: Sie sind imRecht, aber nicht in ihrem Wesen.

    Sie meinen damit, dass sie eine Rolle spielen?Ja, sie spielen die Rolle der „Mutter“ – und diese Rolle spielensie ihr ganzes Leben und haben außer ihr nichts zu bieten! Dasist nicht ihre Schuld – sie haben ein hohles Spiel übernommen

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  • und weitergeführt. „Mutter zu sein“ – das war so etwas wie eineIkone: Du darfst „Mütter“ nicht kritisieren. Und das ist teils auchheute noch so! Sie machen sich unantastbar wie die JungfrauMaria, aber das bringt uns Menschen keinen Schritt näher …

    Meine Mutter hat mir das Leben geschenkt – das ist alles! Ichdanke ihr dafür!

    Es könnte sein, dass nun einige denken, es ist doch furchtbar,so über seine eigene Mutter zu reden. Doch ich weiß, dass diemeisten Menschen aus meiner Generation anfangen würden zuweinen, wenn ich Geschichten aus meiner Kindheit erzählenwürde: Sie wären zutiefst berührt, weil sie alle Ähnliches erlebthaben.

    In ihrem Beruf ist ja Sprache wesentlich …Ja, aber zu meiner Sprache habe ich nicht allein durch meine Be-rufsausbildung gefunden. Zunächst hatte ich keine akademischeLaufbahn im Blickfeld, obwohl ich kein schlechter Schüler war.Ich wurde ganz einfach Matrose, und so kam ich endlich wegvon meiner Familie. Drei Jahre lang gondelte ich auf den Welt-meeren herum.

    Nach dieser Zeit wusste ich dann nicht, ob ich Lehrer oderFörster werden sollte – ich hatte nämlich als Jugendlicher ganzeWochenenden in den Wäldern der Umgebung verbracht. Aberich wurde Lehrer. Meine Ausbildung dauerte fünf Jahre, und ichhatte damit Glück, denn meine Ausbildung hatte in der Tat etwasmit Bildung zu tun. Wir hatten sehr viel Zeit und durften unsfreiwillig zwei Hauptfächer wählen – meine waren: Geschichteund Religion. Zu meinem Religionslehrer hatte ich einen sehrguten Bezug – er war es, der mich dann auch an die Universitätschickte, um den neu entstandenen Fachbereich „Geschichte dereuropäischen Ideen“ kennen zu lernen. So schrieb ich meine Ab-schlussarbeit über die Disputation zwischen Luther und Erasmusvon Rotterdam über den freien Willen.

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