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Jirina Prekop Erstgeborene

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Jirina Prekop

Erstgeborene

Jirina Prekop

ErstgeboreneÜber eine besondereGeschwisterposition

Kösel

Weitere Bücher von Jirina Prekop im Kösel -Verlag

Schlaf, Kindlein - verflixt noch mal!Ein Ratgeber für genervte Eltern

Von der Liebe, die Halt gibtErziehungsweisheiten

Einfühlung oderDie Intelligenz des Herzens

Getragen vom Fluss der LiebeIm Gespräch mit Ingeborg Szöllösi und Ivana Kraus

Zusammen mit Christel Schweizer:Kinder sind Gäste, die nach dem Weg fragen

Ein Elternbuch

Zusammen mit Bert Hellinger:Wenn ihr wüsstet, wie ich euch liebe

Wie schwierigen Kinder durch Familien-Stellen undFesthalten geholfen werden kann

Zusammen mit Gerald Hüther:Auf Schatzsuche bei unseren Kindern

Ein Entdeckungsbuch für neugierige Eltern und Erzieher

8. Auflage 2007, 44. - 46. TausendCopyright © 2000 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlag: Elisabeth Petersen, München

Umschlagmotiv: Zefa/P. ArsenaultAuszüge aus »Große, kleine Schwester«von Peter Härtling auf den Seiten 121 ff.

© 1998 by Verlag Kiepenheuer & Witsch KölnDruck und Bindung: Kösel, Krugzell

Printed in GermanyISBN 978-3-466-30529-2

Gedruckt auf umweltfreundlich hergestelltem Werkdruckpapier(säurefrei und chlorfrei gebleicht)

4004.prnG:\KOESEL\Herstellung\Prekop-8. Auflage\30529-Prekop-Erst-6.A\prekop.vpDienstag, 19. Dezember 2006 15:20:53

Farbprofil: Generisches CMYK-DruckerprofilKomposit Standardbildschirm

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Warum gibt es so wenig Literatur überErstgeborene? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Das Lob der Geschwistergruppe . . . . . . . . . . . . 18

Meine Schwester und ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

Die Erstgeborene aus der Sicht der Jüngeren . . 23

Wie die Erstgeborene dem Nachkömmlingbegegnet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

Die Rolle der Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

Tendenz zur Verharmlosung . . . . . . . . . . . . . . . . 55

Eltern sind nicht für alles verantwortlich . . . . . 63

Das besondere Schicksal der Erstgeborenen 70

Erstgeboren – Privileg oder Fluch . . . . . . . . . . . 70

Beim ersten Kind sind die Eltern meist nochunsicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

Das verlorene Königreich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

Die Chancen zur Bewältigung des Traumas 99

Welche Rollen spielen das Alter des Kindesund der Altersunterschied zu den Ge-schwistern?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

Max, der kleine Physiker mit autistischenZügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

Caroline, Essprobleme (Bulimie) und eineproblematische Beziehung zur Mutter . . . . . . . . 115

Verarbeitungsmöglichkeiten bei größeremAltersunterschied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

Herr Konrad, der angepasste Vater eineskleinen Tyrannen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

Hildegard, die liebe alte Dame voller Schuld-gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

Je nach Geschlecht lässt sich die Krise unter-schiedlich bewältigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

Wenn die erste Stelle verloren wird . . . . . . . . . . 156

Marcel, vom Prinzen zum schwarzen Schaf . . . 156

Gabriele, im »ödipalen Viereck« . . . . . . . . . . . . . 162

Opfer von systemischen Verstrickungen . . . . 174

Warum musste sich Gabrieles Mutter sobeharrlich an ihren Sohn binden? . . . . . . . . . . . . 180

Robin, ein Erstgeborener, der zum missrate-nen Playboy wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

Bernadette und ihr problematischer Stief-vater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

Nadine, Inzest in der Familie . . . . . . . . . . . . . . . 189

Harry: Wenn die Mutter mit dem Sohne . . . . . . 193

Dirk, der Kämpfer an Vaters Seite . . . . . . . . . . . 194

Katharina, die ihre Eltern »beeltern« muss . . . . 195

Fabian, ein unechter Erstgeborener . . . . . . . . . . 197

Empfehlungen für die Erziehung der Erst-geborenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

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Vorwort

Noch vor ein paar Jahren hätte ich dieses Buch eheraus Rache geschrieben. Und das, obwohl mir mei-

ne erstgeborene Schwester absichtlich nie etwas Böses ge-tan hat. Sie versuchte eher, mir Gutes zu tun. MeinSchmerz rührte daher, dass ich glaubte, das weniger gelieb-te Kind zu sein. Dafür konnte sie nichts. Sie war der Starund ich befand mich in ihrem Schatten. Mein Verhältnis zuihr war stets angespannt, mal mehr, mal weniger. Diese Be-ziehung, die nie frei von Kränkungen war, bestand mehrals sechzig Jahre. Als uns der Prager Frühling trennte undich in den Westen flüchtete, während sie in Prag blieb,konnten wir uns elf Jahre lang nicht sehen. Später gelang esuns höchstens einmal pro Jahr. Darüber war ich nicht un-bedingt traurig. Zwar habe ich mich immer wieder gefreut,sie zu sehen, aber ... Dieses »Aber« zeigte sich immer wie-der. Meine Wunde, nicht so geliebt worden zu sein, wurdevon neuem aufgerissen, und der Eiter vermischte sich mitdem Strom der Liebe. Fachlich sprechen wir von eineremotionalen Ambivalenz.

Erst kurz vor meiner Pensionierung ergab sich fürmich die Gelegenheit, das System unserer Ursprungsfami-

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lie aufzustellen. Als ob sich der Vorhang im verdunkeltenTheatersaal hebt, so erhellte sich plötzlich die Bühne unse-res gemeinsamen Lebens. Auf einmal sah ich die Verstri-ckung, in die meine Schwester wegen ihrer erstgeborenenPosition geriet: Sie konnte nicht anders, sie musste mir ge-genüber stets ihre Überheblichkeit demonstrieren. Einewarme Welle des Mitgefühls ergriff mich. Ich fuhr zu ihrnach Prag und stellte auf ihrem Esstisch mit Hilfe von Tas-sen und Zuckerdosen die Ursprungsfamilie unserer Mut-ter auf. Auch sie verstand, was zu Tage kam, spürte meineerwachte Liebe und erwiderte sie ohne Vorwurf; im Ge-genteil, ihre Freude war so groß, als hätten sich die sechsJahrzehnte der Fremde nicht zwischen uns gelegt. Heutefreue ich mich auf ihre Besuche und denke jedes Mal: Hof-fentlich kann sie lange bleiben! Jetzt schreibe ich diesesBuch also aus Liebe. Ich schreibe es meiner geliebtenSchwester zuliebe. Aber auch als Liebeserklärung an alleErstgeborenen. Erst jetzt ist mein Mitgefühl für ihren ganzbesonderen Schmerz erwacht.

Warum gibt es sowenig Literatur

über Erstgeborene?

Ein Entsetzen ergreift mich, wenn ich bedenke, dassich mein Verständnis für meine Schwester und die

Liebe zu ihr nur gewinnen konnte, weil mir ein langes Le-ben gegönnt wurde. Trotz meiner reichen Lebenserfah-rungen und trotz meines intensiven Berufslebens als Kin-derpsychologin war ich gegenüber den Erstgeborenentaub und blind. Solange ich mich persönlich betroffenfühlte, da ich von klein auf zum Gegenangriff gegen diesebedrohliche Übermacht bereit war, konnte ich keine ob-jektive Einsicht gewinnen. Mein Herz war nicht frei.

Ist vielleicht diese frühe Verblendung auch für andereAutoren der Grund dafür, warum bis heute niemand einSachbuch über Erstgeborene geschrieben hat und auch dieBeziehung zu den nachfolgenden Geschwistern oft zukurz kommt? In seinem Buch über Geschwister Brüderund Schwestern. Geburtenfolge als Schicksal stellt KarlKönig eine ähnliche Frage. Er staunt darüber, dass »nochniemand versuchte, das soziale Verhalten innerhalb derGeschwisterreihe ins Auge zu fassen ...«. Er meint, dassman die Antwort auf die Auswirkungen der Geburtenfol-ge auf einer falschen Fährte gesucht hat. Man dachte irr-

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tümlicherweise an Unterschiede der Intelligenz und derCharaktere. Die wesentlichen Unterschiede aber ergebensich in den sozialen Einstellungen. »Ja, ein erster Sohn ord-net sich sozial ganz anders als ein zweites Kind«, stellt Kö-nig fest. Eine einfache Tatsache, an welcher die meistenForscher vorbeigehen, ganz so, als hätten sie Scheuklappengegen das Naheliegende aufgesetzt. Scheuklappen, die demHerzen das Sehen nicht gestatten. Wie sagt der Fuchs inDer kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry? »Mansieht nur mit dem Herzen gut.«Ist das vielleicht die besondere sozial-emotionale Sicht-weise, die eher den Zweitgeborenen als den Erstgeborenenzum Schreiben eines Buches über die Geschwistersituationanspornt und diese durch die Brille des Zweitgeborenensehen lässt? Höchstwahrscheinlich ging es Alfred Adler,dem zweitgeborenen Sohn, nicht anders, als es mir frühererging. Er war in dem Widerstand gegen seinen erstgebo-renen Bruder gefangen (und in der Nachfolge auch gegenSigmund Freud, den erstgeborenen Muttersohn), sah dievielen Vorteile, die Spätgeborene hatten, und deutete dieErstgeborenen eher als die Unfreien und Machthungrigen,als würden sie ein potentielles Kainzeichen auf der Stirntragen. Von ihm stammt auch die verletzende Metaphervon der »Entthronung« des Erstgeborenen.

Erst nachdem ich meine eigenen Scheuklappen ablegenund Verständnis für die Situation der Erstgeborenen ent-wickeln konnte, war ich in der Lage, die Beschwerden der-jenigen Mütter und Väter, die in ihrer Ursprungsfamilieselbst spät geboren waren und sich in die Not ihres erstge-borenen Kindes nicht hineinversetzen konnten, zu verste-hen. Die Verhaltensauffälligkeiten ihrer Ältesten riefen all-zu oft den alten Groll gegen das eigene ältere Geschwister

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in Erinnerung. Als selbst Leidgeprüfte können sie sich gutin die Betroffenheit des Jüngeren einfühlen und ihm dieStange halten. Bereits am Telefon erkenne ich mittlerweilean der Stimme, worum es geht: »Mein ältester Sohn wei-gert sich, dem kleinen Brüderlein sein Spielzeug zu leihen.Wie soll ich ihm helfen?« – »Wem eigentlich?«, frage ichscheinbar naiv zurück. »Die Wievielte sind Sie selbst in ih-rer Geschwisterreihe?«, frage ich weiter, obwohl ich dieAntwort meist ganz genau weiß. Denn meistens klagt diekleine Schwester über ihren großen Bruder. »Kann esüberhaupt sein, dass das erste Kind völlig anders als daszweite wurde, obwohl es die gleichen Eltern hat?«, fragenmanche Eltern, als könnten sie nicht sehen, dass jedes Kindin eine andere Lage hineingeboren wird.

Das erklärt vielleicht auch die seltene Nachfrage nachBüchern über Erstgeborene. Über alle möglichen psycho-logischen Themen gibt es Bücher. Über die bösen Mäd-chen, die überall hinkommen, über die Frauen, die zu viellieben, über die Männer, die sich lieben lassen, und übersolche, die schweigen und und und. Und all diese Bücherwerden mit Interesse gelesen, obwohl sie manchmal weitdavon entfernt sind, was den jeweiligen Leser in seinemLeben bewegt. Das Schicksal der Erstgeborenen jedochspricht fast jeden Mensch an. Nur die Einzelkinder bildeneine gewisse Ausnahme. Aber auch sie berührt das Thema,denn es ist durchaus möglich, dass ein Elternteil in seinerUrsprungsfamilie der Erstgeborene war oder unter demEinfluss des Erstgeborenen aufwuchs und dementspre-chend in seinem Verhalten geprägt wurde. So gibt es nie-manden, den das Thema der Erstgeborenen nicht berührt.Entweder weil sie selbst Erstgeborene sind oder jahrelangdie Konfrontation mit dem erstgeborenen Geschwister ge-

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lebt haben. Wie kommt es dennoch, dass das Interesse andiesem Thema so gering ist?

Ehrlich gesagt, ich weiß es selbst nicht. Ich kann nurspekulieren. Wuchs vielleicht der Erstgeborene in seineRolle so selbstverständlich hinein, dass er sie für etwas völ-lig Normales hält? So gesehen würde niemand ein Buchüber die Haut, in der er steckt, schreiben oder lesen. Erwäre höchstens rein sachlich daran interessiert, wie dieHaut beschaffen ist und wie er sie pflegen kann. Es wirdihm aber nicht einfallen darüber nachzudenken, ob dieseHaut für ihn vorteilhaft oder ungünstig ist und wie eswäre, wenn er keine Haut hätte. Er steckt in dieser Hautund diese Haut ist sein Schicksal und er kann sie nie los-werden. Auch an der Tatsache, dass einer erstgeboren ist,lässt sich nichts ändern. Dieser Zustand ist definitiv. Wenner diese Haut in Frage stellen würde, müsste er nicht auchdas Auseinanderbröckeln seiner Identität riskieren? SeinerIdentität, die ihm so kostbar ist?

Ich kenne so gut wie keinen Erstgeborenen, der es aufDauer bedauert hätte, vom Schicksal die erste Stelle be-kommen zu haben, und der mit dem Jüngeren gerne tau-schen würde. Sicherlich haben Sie bemerkt, dass ich »aufDauer« betont habe. Vorübergehend kommen diese Wün-sche häufig schmerzhaft hoch, wie ich später berichtenmöchte. Dagegen kenne ich viele Spätgeborene, die sichbenachteiligt fühlen und den Neid auf das erstgeboreneGeschwister ihr ganzes Leben lang mit sich herumtragen.Der Erstgeborene nimmt sein Los als Selbstverständlich-keit hin. Mit allen Vor- und Nachteilen, mit Ehre und Op-fer. Wozu sollte er sich also mit Büchern befassen, die seinLos kritisch analysieren? Warum sollte er an seiner unver-änderbaren Position rütteln? S.P. Bank und M. Kahn beto-

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nen in ihrem Buch Geschwister-Bindung, eine Erklärungfür die überwiegend irrationalen Elemente in der Ge-schwisterbeziehung sei äußerst schwierig.

Unsere Märchenwelt hingegen hat zahlreiche Ge-schwisterschicksale thematisiert. Denken wir an die erst-geborenen Töchter aus der ersten Ehe des Vaters, anSchneewittchen und Aschenputtel, die einen Opfergangfür die nicht geehrte verstorbene Mutter antreten und vonden Stiefschwestern geplagt werden. Von zwei Brüdern istder Ältere meist der Klügere, der in jeder Situation einenRat weiß. Der Jüngere hingegen erscheint dumm und un-geschickt, letzten Endes aber gewinnt er. Merkwürdiger-weise bleibt der Erstgeborene so, wie er ist, während sichdie märchenhafte Verwandlung um das Wunder des Le-bensglücks beim Jüngeren abspielt. Ähnlich wird in der Bi-bel von zwei Schwestern gesprochen: Die ältere Marthaist die fleißige, pflichtbewusste, verantwortungsvolle,sachlich sorgende Schwester. Während sie sich mit vielenDiensten plagt, setzt sich die jüngere Maria Jesus zu Füßenund hört ihm zu. Wie gewohnt bemüht sich Martha, ihrejüngere Schwester zu erziehen. Aus diesem Grunde ver-petzt sie diese bei Jesus. »Herr, kümmert es dich nicht, dassmeine Schwester mich allein dienen lässt? Sag ihr doch,dass sie mit mir zufasst.« Doch Jesus deutet Marias Verhal-ten nicht in Marthas Sinne als Faulheit, sondern als »dengewählten guten Teil, der ihr nicht genommen werdensoll«.

Genauso entsetzt war auch der erstgeborene Bruder,als sein jüngerer Bruder, der das Erbe nicht schätzte, son-dern heillos verschleuderte und deshalb verloren ging,nach seiner Reue vom Vater liebevoll in den Arm genom-men wurde. Wenn wir die Bibel aufschlagen, fällt auf, dass

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das Problem der Erstgeborenen zum Vorzeichen der gan-zen Menschheitsgeschichte gesetzt wurde: Kain, das ersteKind von Adam und Eva, und der zweitgeborene Abel.Der Entwurf des Urdramas, ein prägendes Muster: EinKind wird weniger als das andere geliebt, obwohl es sichbei den Eltern um Anerkennung bemüht. Es plagt sich mitdem Schmerz des Unrechts und der Eifersucht, und die El-tern scheinen den Schmerz gar nicht wahrzunehmen. Ob-wohl jeder von den beiden nach seinen Möglichkeiten einOpfer darbringt – Kain opfert als Ackerbauer von denFrüchten des Feldes und Abel als Schafhirt das Fett vonden Erstlingen seiner Herde –, »schaute Jahwe gnädig aufAbel und sein Opfer. Auf Kain und sein Opfer aber schau-te er nicht. Deshalb wurde Kain sehr zornig.« Als er dannauch noch von Jahwe getadelt wird, nimmt Kain den be-vorzugten Rivalen Abel aufs Feld mit und tötet ihn. VonJahwe wird er verflucht und vertrieben. Er muss jedochnicht mit dem eigenen Tode sühnen, wie es die alttesta-mentarische Ordnung und das normale Gerechtigkeitsge-fühl nahe legen würden. Jahwe entscheidet völlig anders:Kain darf von niemandem getötet werden. Um von jedemerkannt zu werden und damit ihn nicht jeder, der ihn fän-de, töte, bekommt Kain stattdessen auf die Stirn ein Merk-mal als Schutzmarke. So soll er »unstet und flüchtig auf Er-den sein«, im Grunde eine lebenslängliche Plage. Unmit-telbar darauf folgt jedoch das Kapitel über den reichenKindersegen, über die Nachkommenschaft Kains. Nichtnur die Mörder stammen von ihm ab, auch die tüchtigenErz- und Eisenschmiede und die sanften Zither- undFlötenspieler. So beschreibt das Alte Testament den se-gensreichen Weg Kains Urenkel. Er wurde einer unsererStammväter, nicht Abel, der kinderlos starb. Wir sind

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Nachkommen von Kain und seiner noch später geborenenGeschwister. Besonders durch Kain wird der Weg der irdi-schen Mühsal nachvollzogen, der den Menschen bei derVerbannung aus dem Paradies zugleich als Pfad zur Erlö-sung ausgewiesen wurde. Seit Kain wird dann jede Familieein erstgeborenes Kind bekommen.

Welches besondere Schicksal haben nun die Erstgebo-renen? So wie jede Position in der Geschwisterreihe hatauch die des Erstgeborenen ihre spezifischen Vor- undNachteile. Kain selbst ist das beeindruckendste Beispieldafür. An ihm offenbart sich nämlich die Gnade: Die Kri-sen werden zu Chancen.

Die Vor- und Nachteile treten zwar bei jedem Erstge-borenen auf, allerdings nicht in gleichem Maße. Ich möch-te das Plus und Minus nicht messen und werten. Vielmehrmöchte ich die vorgeschaufelten Energiebahnen, die typi-schen Tendenzen betrachten, um den Eltern ihre Einsichtfür ihr erstgeborenes Kind zu verfeinern und diesem Kindunnötige Plage zu ersparen. Es geht mir dabei nicht darum,das Kind vor Krisen zu schützen, sofern sie in eine Chanceverwandelt werden können. Unter der unnötigen Plagemeine ich Störungen, die zum lebenslänglichem Tragenvon Scheuklappen führen und das Reifen der eigenen Iden-tität verhindern.

Das Lob derGeschwistergruppe

Geschwister haben den großen Vorteil, ihre ganzeKindheit hindurch in den Genuss zu kommen,

miteinander soziale Verhaltensweisen zu trainieren. (Ein-zelkinder können dies nur mit Kindern aus anderen Fami-lien praktizieren.) Je nachdem, an welcher Stelle sie gebo-ren sind, lernen sie, sich dem anderen anzupassen, sich ge-gen ihn zu behaupten, ihn zu erdulden, mit ihm zu teilen,Schläge zu erleiden, aber auch sich zu wehren, gegen ihnoder auch mit ihm gegen gemeinsame Feinde zu kämpfen,sich hinter ihm zu verstecken oder ihn zu vertreten und zuverteidigen, sich mit ihm zu solidarisieren. Sie lernen, dieeigene Stelle in der Rangordnung mit allem Drum undDran anzunehmen und eigene Strategien zur Selbstbe-hauptung zu entwickeln. Dabei wird die eigene Kraft ge-fördert, denn die Eltern sind nicht immer dabei. So mussjedes Kind schauen, wie es sich verhält, wenn es sein Bru-der piesackt. Es muss die Nächte durchstehen, wenn imNebenbett das Geschwister in seinen wilden Träumen umsich schlägt. Niemand unterstützt den Erstgeborenen da-bei ausreichend, wenn die kleineren Geschwister viel mehrAufmerksamkeit bekommen als er selbst und er sich da-

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durch benachteiligt fühlt. Er muss seinen eigenen Weg fin-den, um ebenfalls Bestätigung zu bekommen. Und obwohlsie ihren Bruder nicht mag, spielt seine Schwester vielleichtmit ihm »Mensch ärgere dich nicht«, an einem verregnetenSonntag sogar stundenlang. Wenn die Eltern immer nochnicht zu Hause sind und die kleine Schwester weint,schlüpft der ältere Bruder vielleicht in die Rolle seiner El-tern und lenkt die Schwester irgendwie ab, tröstet sie undfindet für sie in der Schublade Gummibärchen.

Dieses soziale Training ist durch nichts zu ersetzen.Ein Ferienlager für ein Einzelkind ist nur ein kleiner Er-satz. Es lernt hier zwar ein gemeinsames Zelt zu teilen undauch die Decke in kalten Nächten und die Kekse mit denanderen, aber das Kostbarste, nämlich die Eltern, muss esnicht teilen. Das Miteinander, das die Geschwister jahre-lang üben müssen, ist damit nicht vergleichbar, denn nachdem Ferienlager kann das Einzelkind wieder aufatmen undalles für sich genießen.

Geschwister können das ganze Leben lang von der ge-machten Erfahrung profitieren. Sie übertragen das Gelern-te auf die Partnerwahl, auf die Ehe, auf die Erziehung dereigenen Kinder sowie auf den Arbeitsplatz. Gelernt ist ge-lernt. Was das Hänschen gelernt hat, wird der Hans soschnell nicht vergessen. Jedoch nicht nur die positiven Er-fahrungen, sondern auch die negativen.

Den prägendsten Einfluss hat natürlich die eigene Ge-schwisterposition. Frank Sulloway hat sich damit ausführ-lich in seinem Buch Der Rebell der Familie befasst. Beson-dere Aufmerksamkeit schenkt er dabei den Spätgeborenen.Doch weil diese im Vergleich zu den Erstgeborenen unter-sucht werden, erfahren wir auch über sie viel Interessantes.Sulloway stellt fest, dass »der Einfluss der Geburtenfolge

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auf die Persönlichkeitseigenschaften fünfmal bis zehnmalgrößer ist als auf die akademischen Leistungen und auf denIntelligenzquotienten« (S. 93). Konkret wirkt sich das soaus, dass die Erstgeborenenen häufig tüchtiger als die Spät-geborenen sind, ohne dass sie dies einem höheren IQ zuverdanken haben, und dass manche Spätgeborenen es imLeben deshalb nicht weit bringen, weil sie dümmer wären,sondern weil sie sich nicht anstrengen. Ferner sagt der Au-tor, »dass der Einfluss der Geburtenfolge auf geschlechts-spezifische Charakteristika um etwa zwei Drittel stärkerist als der Einfluss der Geschlechtszugehörigkeit selbst«.Dies wirkt sich beispielsweise so aus, dass in allen Ge-schwisterpaaren die Erstgeborenen meist »männlicher« imSinne von Dominanz, Aggression und Ehrgeiz sind. Diesgilt nicht nur für Brüder von Brüdern und für Brüder vonSchwestern, sondern sogar für erstgeborene Schwesternvon Brüdern. Die jüngeren Brüder von Schwestern wirkendagegen oft »weichlich« (S. 96 f.).

Manchen Leser mag es stutzig machen, dass Sullowayvon typisch männlichen Verhaltensweisen spricht. Er kannsich dies trauen, auch wenn diejenigen, die die Geschlech-ter gleichschalten möchten, damit ihre Probleme haben.Doch wissenschaftlich gesicherte Quellen zeigen, dassauch Primaten in ihren Geschwistergruppen zu ähnlichenVerhaltensweisen neigen. Die erstgeborenen Alpha-Männchen in Primatengruppen trachten nach Status undMacht und sind dementsprechend dominant, aggressiv,ehrgeizig und eifersüchtig. Unter diesem Druck neigenwiederum die jüngeren Primatengeschwister zu Rebellion,aber auch zu Anpassung und Unterwerfung.

Hier wird schon deutlich, dass die Persönlichkeit in-nerhalb der Familie, aber auch durch Beziehungen zu an-

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deren geformt wird und darüber hinaus noch von vielenweiteren Umständen abhängt. Die Veranlagung zu einembestimmten Typus bringt die Seele bereits mit. Und ob einKind in einer bedrohlichen Lage mit Angriff oder Fluchtreagiert, hängt auch von seinem Temperament und vonseinem Mut ab. Die extrovertierten Kinder, die mit ihrerEnergie nach außen gehen und für viele Kontakte offensind, tendieren eher zur Beherrschung der anderen undauch zur Aggression. Dagegen gehen die introvertiertenKinder mit ihrer Energie nach innen, sie brauchen keingroßes Publikum, sondern einige wenige, dafür tiefe Bin-dungen. Wenn diese scheitern, weil beispielsweise dieMutter ein zweites Kind auf die Welt bringt, neigt das in-trovertierte Kind viel mehr zum Rückzug, ja sogar zur De-pression. Auch Altersunterschiede, Begabungen und Be-hinderungen, besonders die Vorliebe der Mutter oder desVaters für ein besonderes Kind, Verstrickungen im fami-liären System und noch vieles andere bilden das Netzwerk,das die Persönlichkeiten der einzelnen Geschwister undihre Beziehungen zueinander formt.

Gelobt seien aber auch alle Krisen, die der Menschdurchsteht! Wenn man niemals ins Dunkle gerät, schätztman auch das Licht nicht. So wie nach jeder Nacht ein neu-er Tag kommt und man erst dann einatmen kann, wennman ausgeatmet hat, so haben alle Krisen, die der Menschin seinen familiären Beziehungen erlebt, einen Sinn. An je-dem Leid kann der Mensch reifen.

Meine Schwesterund ich

Um die Lage der Erstgeborenen von allen Seiten zubeleuchten, zünde ich das erste Licht in meinem ei-

genen Elternhaus an. Ich bin die zweite von zwei Schwes-tern. Meine Schwester Maru�ka galt immer als die geniale,schöne, geschickte, sie war der Star. Diese Adjektive sindnicht sarkastisch gefärbt. Sie strahlte wirklich eine hoheIntelligenz aus. Mit knapp vier Jahren konnte sie lesen undmit fünf Jahren dichtete sie. Und sie war nicht nur hübsch,sondern mit ihrem madonnenhaften Gesicht tatsächlichwunderschön. Als meine Mutter drei Jahre nach ihrer Ge-burt zum Schlachtfest in ihr Elternhaus kam, sagte ihr ihrVater, ein Bauer, der bei den Nachbarn wegen seines sieb-ten Sinnes bekannt war, im Vorbeigehen, dass sie um denTag des heiligen Wenzeslaus ein zweites Kind bekommenwerde. Es könne aber nicht auf den Namen seines Patronsgetauft werden, weil es ein Mädchen werde. Meine Mutterwar wegen der Schwangerschaft, von der sie noch keineAhnung hatte, überglücklich. Da sie aber mit dem prophe-zeiten Geschlecht des zweiten Kindes unzufrieden war,nahm sie ihren Vater lieber nicht ernst. Nach knapp neunMonaten gebar sie jedoch nicht den sehnlichst erhofften

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Jirina Prekop

ErstgeboreneÜber eine besondere Geschwisterposition

Gebundenes Buch, Pappband mit Schutzumschlag, 208 Seiten,13,5 x 21,0 cmISBN: 978-3-466-30529-2

Kösel

Erscheinungstermin: Juli 2000

Wie kann es sein, dass sich das älteste Kind völlig anders entwickelt als das zweite, obwohles die gleichen Eltern hat? Neuere Forschungen haben gezeigt, dass die Geburtenfolge dengrößten Einfluss auf die Persönlichkeitseigenschaften hat. Bei den erstgeborenen Kindern trifftdies in besonderer Weise zu: Kommen Geschwister nach, müssen sie ihre »Alleinherrschaft«aufgeben und die Liebe zu den Eltern mit ihren Geschwistern teilen. Für viele Erstgeborenekeine einfache Sache, denn das neue Geschwisterchen wird mitunter als Rivale erlebt.Verhaltensauffälligkeiten, die niemand so recht einordnen kann, sind dann oftmals die Folge.Jirina Prekop, eine Zweitgeborene, hat ihr Leben lang unter ihrer vier Jahre älteren Schwestergelitten. Erst im späteren Alter gelang es ihr, sich mit ihr zu versöhnen. Von dieser persönlichenErfahrung ausgehend möchte sie alle für das besondere Schicksal der Erstgeborenensensibilisieren. Denn es gibt niemanden, den das Thema nicht berührt: entweder weil man selbstErstgeborener ist oder unter dem Einfluss des Erstgeborenen aufwuchs oder weil man eigeneKinder und damit auch einen Erstgeborenen in der Familie hat.