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WISSEN FÜRS LEBEN JLJ 1LLL-.I L_w 1 - 4 Der innere Halt FASZINIERENDE FASZIEN - die Fasern des Bindegewebes sind überall in uns. Lange galt das weiße Geflecht nur als Hüllmata1. Jetzt erkennen Forscher, welch ungeahnte Bedeutung es ffir Gesund1eit und Wohlbefinden hat, Und dass es die seit Langem gesuchte Erklärung liefert, warum Massagen, - Akupunktur und Yoga gegen Schmerzen helfen -- VON RANIA LUCZAK ITEXTI UND CURISTOPRER THOMAS [POTOSI eJ 1

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  • WISSEN FÜRS LEBEN

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    Der innere HaltFASZINIERENDE FASZIEN - die Fasern des Bindegewebes sind überall in uns.

    Lange galt das weiße Geflecht nur als Hüllmata1. Jetzt erkennenForscher, welch ungeahnte Bedeutung es ffir Gesund1eit und Wohlbefinden hat,

    Und dass es die seit Langem gesuchte Erklärung liefert, warum Massagen, -Akupunktur und Yoga gegen Schmerzen helfen

    -- VON RANIA LUCZAK ITEXTI UND CURISTOPRER THOMAS [POTOSI

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  • Viele Kollegen dachten, immenschlichen Körper gebe es keine Geheimnissemehr“, sagt Carla Stecco,Professorin für Anatomie

    an der Universität Padua. Und lächelt. Sieweiß es besser. Denn sie und Kollegen inaller Welt sorgen in jüngster Zeit für eineder spannendsten Entwicklungen in derMedizin: die „Entdeckung“ eines innerenKosmos, dessen Funktion bis vor Kurzemnoch weitgehend unbekannt war. Eineszweiten Körpers.

    Er trägt einen Namen, den die meisten nur mit Schwäche in Zusammenhangbringen, mit Falten, Runzeln, Cellulite:das Bindegewebe. Ausgerechnet diesemerkwürdigen weißen Fasern, auch alsFaszien bekannt, machen derzeit eine erstaunliche Karriere. Sie gelten mittlerweile als Ursache bisher unerklärbarer Krankheiten und Schmerzen — aber auch alswundersamer Quell der Heilung.

    Fachleute sprechen von einem „neuartigen Kommunikationssystem des Leibes“, vom „Netz des Lebens“ und einem„Geflecht der Gesundheit“. Von einemParadigmenwechsel in der Medizin ist die

    Rede, weg von der Vorstellung eines starren Knochengerüsts, das „eingerenkt“werden kann, hin zu einem dynamischenModell des Gleitens aller Teile in einemalles durchdringenden Maschenwerk ausBindegewebe.

    Damit nicht genug: Faszien liefernendlich Erklärungen, warum lange verpönte alternative Behandlungsmethodenwie Yoga und Akupunktur, Massagen oderOsteopathie wirken. Wird ein neues Kapitel im Buch der Heilkunst aufgeschlagen?

    Was im Innerstenzusammenhält

    Meine Recherchen begannen jedoch miteinem ganz persönlichen Problem. EinerNackenprellung bei einem kleinen Autounfall. Ich war i8 Jahre, alles schnell geheilt, war ja noch jung. Dann währenddes Studiums nach langen Schreibtisch-tagen ein lästiger Schulterschmerz. EineSchwachstelle eben, die Schulter, habendoch viele, bisschen steif, manchmal beißender Schmerz beim Heben des Arms.Will nicht weichen, die Pein. Rücken- undNackenschmerzen kamen hinzu. Werden

    stärker, häufiger. Manchmal unerträglichVergällen mir zuweilen das Leben. Arzt-besuche, Tabletten, Spritzen.

    Viele kennen das. Schmerzsyndromesind Volkskrankheiten. Mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschland schlägtsich mit Rücken-, Schulterschmerzen undCo. herum, die sich organisch nicht erklären lassen. Trotz aller Hightech-Diagnostik können Ärzte nur bei etwa 20 Prozentaller Geplagten wirklich handfeste Ursachen dingfest machen. Für den großenRest bleiben häufig nur die üblichen,wenig hilfreichen Erklärungen: psychosomatisch, altersbedingt, abgenutzt, verschlissen, arthritisch.

    Damit wollte ich mich nicht abfinden.In dem Moment, als die Hände einer erfahrenen Körpertherapeutin meinen Rücken erkundeten, kam meine eher schulmedizinisch geprägte Sicht auf Körper,Krankheit, Gesundheit und Genesung insWanken. Von ihr hörte ich das erste Maldas Wort „Faszien“. Und dann sagte sie:„Ich glaube, ich kann Ihnen helfen.“

    „Viele Ärzte dachten wirklich, siewüssten alles Wichtige über den Körper“,wiederholt Carla Stecco im Saal des Ana

    Die Zellen des Bindegewebes, die Fibroblasten (lilafarben), sind wahre Tausendsassas: Ob in Knochen, Knorpel, Organenoder Sehnen - je nach Aufgabe produzieren sie Unmengen unterschiedlichsterStoffe, vor allem Kollagenfasern (gelb).Diese können sich derart fest vernetzen,dass sie die Zugfestigkeit von Stahl besitzen. Andere, die elastischen Fasern,dehnen sich hingegen um mehr als iooProzent ihrer Länge. So sorgen sie etwafür die Flexibilität der Haut. Fibroblastenbilden auch die sogenannte „Matrix“ (r.).Deren zähflüssige Grundsubstanz ist einwahrer innerer Ozean - in ihm schwim

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    Kosmos im Körper

    men Immun-, Fett- und Nervenzellen.

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  • - .‘.. .

    tomischen Instituts von Padua. Immernoch werde das Bindegewebe beim Sezieren von Leichen wie Körperkitt von Organen und Muskeln getrennt und achtlosentsorgt. Dann erzählt sie ihren Studenten fast liebevoll vom „tessuto connettivo“, dem „verbindenden Stoff“.

    „Hier, schauen Sie, und hier undhier.“ Die 37-Jährige beugt sich über einengeöffneten Leichnam. „Wir finden Bindegewebe überall, nicht nur in der Haut.Auch in Sehnen, Muskeln, im Knorpel. Esdurchzieht den Körper feinmaschig vonKopf bis Fuß, von außen nach innen. Esumhüllt und durchdringt alle Organe,Darm, Herz, Augen, Leber, alle Adern undsogar das Gehirn.“

    Sie richtet sich auf und malt ein Bildin den Raum. „Stellen Sie sich vor, wirentfernen alles aus dem Torso — bis aufdas Bindegewebe. Die Form des Menschen bleibt völlig erhalten, jedes Organist noch da, lederartig zwar, aber Größe,ja, sogar das Geschlecht bleiben gut erkennbar.“ Ein Körper im Körper.

    Unzählige Autopsien hat Carla Steccodurchgeführt, hat präpariert und fotografiert und vor Kurzem einen anatomischen

    Atlas des Bindegewebes erstellt — den ersten in der Geschichte der Medizin.

    Pioniere wie Stecco haben die 1222gegründete Universität Padua geprägt. ImJahr 1592 erklomm Galileo Galilei die grobgezimmerte — noch erhaltene — Dozentenkanzel, um die Erde aus dem Zentrumder Welt zu rücken. 1678 erlangte ElenaCornaro Piscopia in Padua als erste Frauder Geschichte einen Doktortitel.

    Und der große Arzt Vesalius schlughier das Buch der Anatomie auf. Einer derältesten öffentlichen Seziersäle der Welt,das Teatro Anatomico, vor mehr als 400Jahren erbaut, hat sich bis heute als Sehenswürdigkeit erhalten — ein steiler hölzerner Kegel, in dem die angehenden Mediziner wie aus der Vogelperspektive denMeistern beim Öffnen der Leichen zusaheri. Schon sie erkannten und zeichnetendie Faszien — wenn auch nur als mysteriöse Körpersubstanz ohne weitere Funktion.

    Wieder und wieder setzt Stecco ihrSkalpell an den toten Leib. Die Haut mitihren zwei Bindegewebsschichten, die wieein Taucheranzug den Körper umhüllen,ist längst geöffnet. Die Anatomin trenntFaszienstücke heraus, hält sie ins Licht,

    weißlich, grau, beige, mal in Rosa getaucht, mal durchsetzt von gelben Fettzellen oder blauen Blutgefäßen. Vorsichtigzieht sie millimeterdicke, feucht schimmernde Lagen auseinander - wie zweiKlebefolien. Tastet nach feinen Faserknäueln, dehnt mit der behandschuhtenHand demonstrativ zähe Sehnensträngeund streicht sanft über locker-zarte, gelartige Zwischenschichten.

    Bindegewebe existiert in vielerleiForm und Beschaffenheit.

    Vor allem das „lockere Bindegewebe“, eine Art Kleb- und Schmierstoff zwischen einzelnen Lagen, Platten, Muskelnund Organen, hat es ihr angetan. Es ermöglicht dem bewegten Körper seineHarmonie des inneren Gleitens. „Und dassoll nur Stütz- und Hülimaterial sein?“,ruft die Professorin in das ansteigendeHaibrund. „Nein, die Evolution erfindetnichts von dieser Vielfalt und Masse ohnetieferen Sinn.“

    Oft könnten Anatomen nicht unterscheiden, wo ein Organ beginnt und Bindegewebe aufhört: ein Ganzkörper-Netzwerk, ohne Anfang, ohne Ende. Esumfasst und durchdringt auch alle Mus

    MatrixNeben Zellen und Fasern strotzt die Matrixdes Bindegewebes vor Zucker-Eiweiß-verbindungen (blaue Zweige). Sie bindenWasserund befeuchten das Gewebe

    HautEinem Taucheranzug gleich umhüllenzwei Schichten Bindegewebe den Körper.Sie geben der Haut Spannkraft, sorgenfür Wundheilung, aber auch für Narben

    MuskelAlle Muskeln umhüllt ein gigantischesNetzwerk aus Bindegewebe. So ist derMuskelkater oft ein »Faszienkater«.Ursache: Mikrowunden nach Überlastung

    Knochen —

    _fasziale Muskethülle

    umgeben vonBindegewebe (blau)

    -JI

    — Muskelfaser

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  • Derheilsame StichNach neuen Erkenntnissen liegt derWirkort der Alcupunkturnadel in denFaszienschichten. Dort reagieren Zellenund Fasern aufden mechanischen Reiz.Viele Therapeuten stechen heute direktin »Triggerpunkte«. Diese übererregbaren, verhärteten Stellen aus Bindegewebe und Muskeln sind mal klein wieReiskörner, mal walnussgroß. Dieschnierzempfindlichen Punkte können,so die Lehrmeinung, eine Feniwirkungan anderen Stellen des Körpers entfalten. Deshalb setzen moderne Alcupunkteure die Nadel zusätzlich an Areale, dievon der Schmerzquelle entfernt liegen

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  • kein im Körper — sie sind nichts ohne Bindegewebe. Denn es sorgt für das sanfteZusammenspiel der Teile, und es reichtviel tiefer als eine „Einpackfolie“: Faszienumhüllen jede einzelne Muskelzelle, bilden eine Art Wabennetz.

    Bindegewebe, sagt Stecco, sei wie eingewaltiges Organ, eines unserer reichstenSinnesorgane überhaupt: Über 8o Prozent der freien Nervenenden befindensich in der Faszie, die die Muskeln desBewegungsapparats gegen die Unterhautabgrenzt. Das Netzwerk strotzt vor Bewegungssensoren und Schmerzrezeptoren -viel mehr als jeder Muskel. Damit dient esauch der „Propriozeption“, dem „Körpersinn“ für Wahrnehmung von Bewegungund Position im Raum. Diese Eigenempfindung, so etwas wie unser „sechsterSinn“, befähigt Mensch und Tier, die Körpersymphonie der Gliedmaßen virtuosaufzuführen, ohne sich jede einzelne Bewegung bewusst machen zu müssen.

    Bindegewebe kann allerdings aucherkranken und schmerzen.

    Im Saal von Padua ist es still. CarlaStecco gibt den Blick frei auf eine dicke,flächige Geweberaute von schönster Sym

    metrie: Fascia thoracolumbalis — die starkedreischichtige Lendenfaszie, nach Ansicht der Anatomin Quelle vieler Rückenschmerzsyndrome. Sie ist dicht besiedeltvon hochempfindlichen Schmerzrezeptoren. Das konnten Stecco und Heidelberger Forscher eindrucksvoll zeigen. Damitist die anmutige Raute heiße Kandidatinals Grund für die „unerklärbaren“ 8o Prozent der Kreuzleiden — eine Erkenntnis,die Hoffnung für mich und meine Leidensgenossen bedeutet.

    Bindegewebe alsSchmiermittel

    „Wir verstehen die Krankheitsbilder derFaszien noch nicht genau“, gibt die Medizinerin zu. Klar sei aber, dass bei vielenRückenkranken das reibungslose Gleitender drei Lagen der Lendenfaszie gestörtist; US-Forscher unterstützen diese neueSicht, seit sie bei Rückenpatienten durchUitraschalluntersuchungen eine verringerte Gleitfähigkeit des einschlägigenGewebes festgestellt haben.

    Dies alles befeuert die Debatte überein neues Modell der Schmerzentstehung.

    Nicht nur - wie früher angenommen - inden Muskeln oder Gelenken sitze die Ursache des Leidens - vielmehr scheint hieroffensichtlich etwas mit dem Schmiermittel aus lockerem Bindegewebe zwischenden Schichten geschehen zu sein, sodassjedes Bücken, jedes Recken Schmerzsignale in den Faszien auslöst.

    „Reiben Sie glatte Seidentücher aneinander und dann grobes Leinen“, erklärt die Forscherin ihren Studenten,„dann wissen Sie, wie gut oder schlechtdie Schichten rutschen.“ Ziel einer jedenBehandlung sei: das seidige Gleiten imKörper wiederherzustellen. Diese Erkenntnis müsse in Medizinerkreisen jedoch noch viele Barrieren überwinden.

    „Erstaunlich“, sagt Stecco, „wie wenig Gedanken sich Chirurgen machen,wenn sie mit dem Skalpell wichtige Faszien durchschneiden.“ Die inneren Wunden verheilen oft schlecht, es entstehenschlimme Verwachsungen, die noch Jahrespäter für Probleme sorgen. Denn Narbenerrichten häufig regelrechte Mauern ausBindegewebe. Diese Barrieren, glaubt dieAnatomin, könnten im Prinzip die Ursachen vieler Krankheiten sein - in ihnen

    Kollagenfasern»Fluffig« wie Wolle wirken gesunde Faserndes Bindegewebes (o.). Bewegungsarmutführt zur Überproduktion der Fibrillen undlässt sie regelrecht »verfilzen«

    FaszienschichtenBindegewebe kommt in vielfältiger Formvor: Straffe und feste Lagen (o.) geben Halt.Weiche und lockere Schichten gewährenreibungsloses Gleiten der Körperteile

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    MuskelgewebeLegt man Muskeln (o.) lahm, etwa durchBewegungsarmut oder Gipsverbände,»wuchert« das Bindegewebe (u.): Die Kollagen-Überproduktion führt zu Versteifung

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  • liege aber auch das Potenzial, ebendiesezuheilen.

    „Wir sind noch am Anfang unsererErkenntnisreise“, sagt sie. Erst seit wenigen Jahren treffen sich Physiologen, Zellbiologen, Biomechaniker, Sportmedizinerund Körpertherapeuten aus aller Welt regelmäßig, um ihre Forschungsergebnisseauszutauschen. Und immer klarer wird,

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    wie wichtig der Zustand des lange miss-achteten Netzwerks für Wohlbefindenund Gesundheit ist.

    Robert Schleip hat im Leben manche Grenze überschritten: vomesoterisch angehauchten Zeitge

    nossen zum studierten Psychologen, zum„Rolfer“, einem Körpertherapeuten, des-

    sen Behandlung vor allem auf das Bindegewebe zielt. Er hat viele Schmerzpatienten behandelt, bis ihn die Frage, was ermit seinen Händen löst, ins Labor an derUniversität Ulm gelockt hat.

    Seine im Fach Humanbiologie zoo6eingereichte Doktorarbeit brachte demdamals 51-Jährigen einen Preis ein und einKurzporträt in der renommierten Wissenschaftszeitschrift „Science“. Er hatte Faszienstücke in eine selbst gebaute Apparatur eingespannt und mit Botenstoffenversetzt, die der Körper bei Stress ausschüttet. Und wirklich, bei manchen Substanzen reagierten seine Gewebestückeund zogen sich zusammen, langsam, aberdeutlich-ein Hinweis darauf, dass Bindegewebe sich bei Stress unabhängig vonden Muskeln „verkrampfen“ könnte.

    „Netzwerker“ nennt Schleip sich undseine Kollegen, die in Ulm nicht nur forschen, sondern auch alle zwei Jahre Experten aus aller Welt zusammenholen zurFaszien-Summer-School. Ein heißes Thema des letzten Treffens: Leiten Faszienjene Verspannungen im Körper weiter?

    „Bewegst du den Arm“, erklärt Schleipden Kursteilnehmern und wackelt mit den

    Das „Geister-Herz“ bleibt übrig, wennForscher alle anderen Bestandteile desOrgans entfernen und nur Bindegewebezurücklassen. Das Herz, es stammt voneiner Ratte, belegt die ungeheure Präsenz der Faszien in den Organen - sogardie Form der Herzkranzgefäße ist nochzu erkennen. Viele Krankheiten werdenmit dem universalen Netzwerk derFaszien in Verbindung gebracht, Rückenleiden, Rheuma und sogar Krebs. Und beiHerzerkrankungen und Bluthochdruckfinden sich verstärkte Kollagenablagerungen an den Adern. Bindegewebe kannzudem schmerzen. Unzählige Nervenmachen es zum größten „Sinnesorgan“unseres Körpers.

    Faszienweh

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  • SaugenSeit Jahrtausenden ist das Schröpfen aufder ganzenWelt verbreitet. Es soll nichtnur die Durchblutung fördern, sondernauch dem Bindegewebe guttun. Dennmechanische Saugreize, hier verursachtdurch den Unterdruck im erwärmtenSchröpfglas, können in tieferen Schichten der Gewebe biochemische Reaktionen auslösen - und die Heilung fördern

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  • DrückenRückenleiden, Schulterschmerzen,Migräne - Bindegewebe soll daranbeteiligt sein. Mit Druckmassagenversuchen Körpertherapeuten, versteifteFaszien zu lockern und Verhärtungen imGewebe zu lösen. Viele moderneMassagemethodenaufuralteKonzepte zurück und arbeiten mit -bisweilen - schmerzhaften Techniken.Trotzdem werden solche Behandlungenvon vielen als wohltuend empfunden )

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  • Gliedern, „hat das einen Effekt aufdeinenFuß.“ Das „alles durchdringende Netz“übertrage über ‚Leitbahnen“ mechanische Kräfte — vergleichbar mit einemelastischen, hautengen Trikot: Ein Zupferunten ist oben noch spürbar. Der Domino-effekt des Körpers.

    Deshalb können die ständige Anspannung der Hand zu Schulterschmerzführen, stark beanspruchte Achillessehnen zu unangenehmem Fersensporn, kleine „Verrenkungen“ des Knies zu Rücken-schmerzen. Der Körper versucht gegenzusteuern, nimmt eine Schonhaltung ein,und alles wird schlimmer.

    Obwohl auch das Altern Faszien unflexibel macht, lösen meistens unbemerkte (Mikro-)Verletzungen die Schmerzenaus: feinste Risse oder Wunden. Meinkleiner, vergessener Unfall etwa, falscheBelastung beim Sitzen in gebeugter Haltung - solche Zumutungen stecken wirzwar Tag für Tag weg. Doch irgendwannist das Bindegewebe überfordert: Mikro-wunden entwickeln sich zu Schmerzherden, manchmal erst nach Jahren.

    So leistungsfähig unser inneres Netzist, so empfindsam ist es auch. Verletzt

    wird es im Kleinsten durch Überforderung (etwa zu viel Sport); aber auchUnterforderung (Bewegungsarmut, langeBettruhe, eingegipste Glieder), Stress, Bestrahlung oder falsche Ernährung wirkenwie Gift auf die Faszien. All die kleinenStörungen können, wie auch die Narbennach Operationen, zu Entzündungen führen und auf benachbarte Muskeln ausstrahlen. Da Nerven in Faszien eingebettet sind, engen solche Verhärtungen sieein. Folge: Verspannung und Schmerz.

    Wie ich seit Jahren in meiner Schulterspüre. „Frozen shoulder“ nennen Ärztedieses Syndrom, das unzählige Schreibtischarbeiter mit mir teilen. Aber auchKrampfadern, nächtliches Zähneknirschen,Darm- und Lungenleiden, Hüft- und Knie-beschwerden stehen unter Verdacht, Bindegewebserkrankungen zu sein. Ebensodie gefürchteten Leiden Weichteil- undGelenkrheuma, die in Deutschland Millionen quälen. Und selbst vor der am meistengefürchteten Bedrohung machen die Forscher nicht halt: Krebs.

    Gibt es einen verborgenen biologischen Mechanismus, mit dem sich dieseVielfalt von Leiden erklären lässt? Hängt

    unser Wohlergehen tatsächlich am reibungslosen Gleiten in unseren Geweben?

    Ein »innerer Ozean«dient der Heilung

    Alle Bestandteile des Bindegewebesschwimmen in einer zähflüssigen „Matrix“. Sie ähnelt in Konsistenz und Klebrigkeit rohem Eiweiß, weil sie unter anderemaus Zucker-Eiweißverbindungen besteht.Sie fungiert als Grundsubstanz, in dernicht nur Sensoren und Rezeptoren, sondem auch Immun-, Fett- und Nervenzellen auf engstem Raum zusammenwirken.

    In diesem „inneren Ozean“ werdenKeime und Schadsubstanzen unschädlichgemacht, Energiestoffe gespeichert undAbfaliprodukte mit der Lymphflüssigkeitentsorgt. Lymphsystem und Bindegewebesind kaum zu unterscheiden, so intensivarbeiten sie zusammen. Auch Enzyme,Hormone, Antikörper - alles, was die Biochemie zu bieten hat, ist hier vorhandenoder passiert das feuchte Milieu undmacht uns geschmeidig und gesund.

    Die Herrscher über die Matrix sindhochaktive Zellen, die „Fibroblasten“.

    Wenn die Maschen des inneren Netzeslocker und zart wie Spinnenifiden Verwoben sind, dann gleiten die feuchtenSchichten der Muskeln mühelos: DerKörper ist gesund. Endoskopische Aufnahmen (1.) gewähren einen Blick auf dieflexiblen Verstrebungen. Gegen deren„Verfilzung“, die Schmerzen auslösenkann, wirken mechanische Reize nachneuen Erkenntnissen besser als bishergedacht. Das Prinzip: Dehnung. Siezwingt die Kollagenfasern dazu, sich neuzu formieren, und löst biochemischeKaskaden aus. Durch dieses Stretchingwerden Gleitfähigkeit und Wasserfluss inder Matrix Verbessert. Wärme, wie beiFangobehandlungen, wirkt ähnlich gut.

    Wie Faszien gesunden

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  • Wie kleine Fabriken produzieren sie unermüdlich Eiweißketten, formgebende Kollagen- und elastische Elastinfasern - undbauen alte, verbrauchte Strukturen wieder ab. Die frischen Ketten formieren sichim Netzwerk je nach Bedarf und Umgebung: Mal werden sie zu zugfestenGelenkbändern, in denen die Kollagenfasern parallel verlaufen, mal zu lockeremMaschenwerk, etwa in den flexiblerenWeichteilen der Organe im Bauchraum.

    Die Ulmer Arbeitsgruppe um RobertSchleip hat es nicht ohne Grund auf die„Fibros“ abgesehen. Denn diese Binde-gewebszellen spielen zwei Hauptrollenim neuen Modell des Schmerzes. Sie patrouillieren in der Matrix, und gleichzeitigmodellieren sie mit ihrer Ketten-Produktion die Gewebespannung - von flüssig bisfest, von schmiegsam bis steif. Wenn sieauf Störungen in einem Körperteil treffen,verursacht etwa durch Wunden oder Fehl-haltungen, verwandeln sie sich in eine Art„Superzellen“: Dann produzieren sie wahre Kollagenmassen und ziehen wie eineSpinne das Netzwerk zusammen - eigentlich gut für die Heilung, denn so schließensich sogar klaffende Wunden.

    Doch Wohl und Weh liegen manchmal eng zusammen - auch bei diesenheilbringenden Zellen: Normalerweisesterben sie nach getaner Arbeit ab. Störtaber etwas den Heilungsprozess, eineEntzündung etwa oder die chronischeÜberforderung eines Körperteils, produzieren sie unermüdlich weiter— „Fibrose“heißt diese krankhafte Vermehrung derKollagenfasern. Die Ketten verknotensich und formen feste Faseranhäufungen.Die Faszien „verfilzen“ wie ein zu heißgewaschener Pullover: Mikronarben bilden sich und fördern damit eine ungesunde Gewebespannung - der Anfang vielerLeiden und Schmerzsyndrome.

    Denn die Überproduktion der Faszienkann tief im Inneren des Körpers ganzeOrgane zerstören und wird sogar mitKrebs in Verbindung gebracht. Unbestritten ist, dass Bindegewebe zum Wachstumund zur Streuung von bösartigen Geschwülsten beiträgt. Es entfaltet danneine geradezu entfesselte Wundheilungsaktivität und bildet eine Kapsel um denTumor. Je steifer diese ausfällt, destomehr wird das Karzinom angeregt, zuwachsen. Der nächste Faszienkongress im

    Herbst 2015 in Washington wird sich auchdiesem Thema widmen.

    Was aber hilft gegen den innerenFilz? Was lässt die „Seide“ unseres Binde-gewebes, von der Carla Stecco in Paduagesprochen hat, wieder sanft gleiten?Robert Schleips Antwort: „Wer sich nichtbewegt — verklebt.“ Elastisch federnde Bewegungen - wie etwa beim Hüpfen oderTanzen - sind gut geeignet, die Faszienfitness zu fördern, sofern dem Körper Zeitgegeben wird, sich daran anzupassen.Barfuß auf unterschiedlichem Terrainspazieren, über Baumstämme balancieren und über Felsen klettern, das lässt dieSäfte fließen. Die monotone Wiederholung immer gleicher Sportübungen isthingegen nicht zuträglich.

    Regelmäßige Bewegung stimuliertdas Bindegewebe, sie hat „anti-fibrotische Wirkung“ - innerhalb von nur72 Stunden starten die Fibroblasten dieProduktion von frischem Kollagen, aberauch von molekularen Werkzeugen, umverfilzte Ketten zu lösen. Die „mittlereHalbwertszeit“ des gesamten Kollagensim Körper, also jene Zeit, in der sich dieHälfte erneuert hat, beträgt indes etwa

    YogaDie lange, sanfte Dehnung bei den Ubungenführt zur Neuausrichtung der Kollagenfasern. Die Fibroblasten (gelb) des Binde-gewebes vergrößern sich dramatisch

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    MassageWenn Therapeuten drücken und ziehen,dann dehnen sie die Mikrostrukturen.Sie fördern so den Abbau von altem unddie Neubildung von frischem Kollagen

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    AkupunkturErfahrene Therapeuten geben der Nadeleinen sanften Drall. Um diese winden sichwie im Wirbel die Kollagenfasern - ein»Mikro-Stretching« aufkleinstem Raum

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  • Streck dich!Wer Yoga praktiziert, fühlt, dassdie Dehnung der Glieder heilsam wirkenkann. Das Gleiche belegt zum Beispieleine US-amerikanische Studie eindeutig.Stretching hat eine positive Wirkungbei Rückenschmerzen. Doch warum istdas so? Seit Neuestem weiß dieWissenschaft die Antwort - des RätselsLösung liegt im Bindegewebe

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    Druck-VerstärkerTherapeuten, die Jahr um Jahr mitSchmerzpatienten arbeiten, müssenihre angestrengten Hande schonen.Deshalb greifen etwa bei Hochleistungssportlern immer mehr Physiotherapeuten zu Hilfswerkzeugen wie dieserMetallsichel. Damit lösen Masseuregestörte Faszienschichten- und schonenihre Daumen. Gegen Schmerzen, sodie Meinung vieler Ärzte, können solcheBindegewebsmassagen durchaushelfen. Aber auch psychosoziale Faktoren spielen bei der Therapie eine Rolle.Denn die größten Risikofaktorenbei der Entstehung von Rückenleidensind: Überbelastung und mangelndeAnerkennung am Arbeitsplatz

  • ein Jahr. Oft sieht man erst dann deutlicheVerbesserungen der Gesamtstruktur.

    Allerdings: Wenn die Architektur desKörpers außer Balance ist, wie bei meiner„gefrorenen“ Schulter, „dann müssen Siemehr tun“, sagt Schleip. Er rät mir, michan Helene Langevin in den USA zu wenden. „Weltchampion unter den Faszienforschern“ nennt er sie. Sie untersuchemit aufsehenerregenden Experimentendie Wirkweise alternativer Heilmethodenfür Rückenpatienten.

    Helene Langevin, Professorin fürNeurologie an der Harvard Medical School in Boston, ärgertees schon als junge Ärztin, vielen Schmerz-patienten nicht nachhaltig helfen zu können. Manche fragten nach Yoga oderAkupunktur. Die Schulmedizinerin standdiesen alternativen Heilverfahren skeptisch gegenüber — bis sie begann, sich mitBindegewebe, diesem „Waisenkind derMedizin“ zu beschäftigen.

    Heute dehnt die schlanke Endfünfzigerin jeden Tag eine halbe Stunde lang ihren Körper. Bindegewebe sei überausempfänglich für mechanische Reize. Nut-

    zen nicht instinktiv alle Säugetiere diesesPhänomen? Sich dehnen, strecken undräkeln wie Katzen von den Pfoten bis zurSchwanzspitze, um so die größte Zugfläche zu erreichen — „das fühlt sich einfachgut an“. Langevin wollte wissen, warum.

    Die Direktorin des Zentrums für Integrative Medizin hebt einen Arm über denKopf und biegt sich nach rechts. „Wir haben uns auf der gestreckten Seite die Fibroblasten genauer angeschaut“, sagt sie,„und etwas Spannendes entdeckt.“ Dieeher kleinen, schmalen Zellen weiten sichim gedehnten Gewebe dramatisch aus:Größengewinn 200 Prozent. Damit setzen sie die Grundspannung in den Faszienherab und entlassen Signal-Moleküle indie Matrix, die mit Entspannung verbunden sind. Im Tiermodell konnte Langevinzeigen, dass dann Botenstoffe frei werden, die sowohl Schmerz als auch Entzündungen im Bindegewebe lindern können.

    Zellen „fühlen“ also mechanischeKräfte und übersetzen sie in biochemische Signale, die bis zur DNS reichen.Dass Bindegewebe über seine „Fibros“seine eigene Spannung steuert, findet sie„elektrisierend“. Hier liegt die berechtigte

    Hoffnung, mit simplen Dehnübungen tatsächlich die Gleitfähigkeit wieder in Gangzu bringen und Krankheiten vorbeugenoder sie gar heilen zu können. Mit Yogazum Beispiel. In vielen Positionen der indischen Körpertechnik werden große Faszien langsam, sanft und lange gedehnt -das hat einen starken Anti-Fibrose-Effekt.

    Überrascht war Langevin allerdings,als sie Ähnliches auch bei der Akupunkturbeobachten konnte. Ihr Erklärungsmodellfür die Wirksamkeit dieser Heiltechnik istnichts weniger als spektakulär, die Arbeitdaran wie die „Lösung eines Puzzles“.

    Der Ärztin war aufgefallen, dass traditionelle Akupunkteure die Nadel im Gewebe drehen und damit einen mechanischen Reiz auslösen. Außerdem spürensie beim Entfernen der Nadel aus derHaut von Patienten regelmäßig einen Widerstand, als würde etwas das spitze Metall packen und zurückhalten.

    Was passiert da? Um die Effekte exakt zu messen, nutzte sie einen Akupunkturroboter, der die Nadeln mit gleicherDrehung in genau festgelegte Einstichtiefen trieb. Mit Ultraschall lassen sich dieWirkungen auf das Gewebe beobachten.

    Handarbeit gegenSehme eiiWeltweit existieren unterschiedlichste manuelle Therapieformen mit dem Zielort: Faszien

    Viele Physio- und Körpertherapeutensowie Masseure arbeiten seit Langem mitModellen, bei denen Faszien im Vordergrund stehen. Eine kleine Auswahl vonSchulen

    Osteopathie: Die Ende des 19. Jahrhundertsvom US-amerikanischen Arzt AndrewTaylor Still entwickelte Behandlungsmethode schreibt den Faszien eine entscheidendeRolle für Heilungsprozesse zu. Sie zieltdarauf ab, über eine Vielfalt verschiedenerHandgriffe abnorme Spannungen zu lösenund Schmerzen zu lindern.

    FDM: Das „ Fasziendistorsionsmodell“geht zurück aufden US-amerikanischenNotfallmediziner und Osteopathen StephenTypaldos. Er ging in den ioer Jahrendavon aus, dass Bindegewebe sich auf sechsverschiedene Weisen krankhaft verändern

    kann, wie etwa durch die Verdrehungeines Faszienbandes. Muskelkraft erfordernde Drucktechniken, die überwiegendsehr kräftig sind, sollen die Störungenlösen.

    Bindegewebsmassage: Bereits 1929 vonder deutschen Krankengymnastin ElisabethDicke begründet, bearbeitet diese Behandlungsform die Faszien mit stimulierendenmanuellen Zugreizen, die das Unterhautgewebe und sogar Organe erreichen sollen.

    Fascial Manipulation: Die vor 40 Jahrenvon dem italienischen PhysiotherapeutenLuigi Stecco entwickelte Methode fahndetnach Bewegungseinschränkungen und denbeteiligten Fasziensträngen. Der Behandlerlokalisiert dort bestimmte Knotenpunkteund bearbeitet sie mit kräftig-schnellenReibebewegungen.

    Triggerpunkt-Therapie: Mitte des20. Jahrhunderts prägte die US-amerikanische Ärztin Janet Travell den Begriff„myofasziale Triggerpunkte“ undbeschrieb damit schmerzhafte Knötchenaus Muskel- und Fasziengewebe, dieStecknadelkopf- bis Walnussgröße erreichen und typische Ausstrahlungsmusterausbilden können. Therapeuten versuchen meist, die Verhärtungen durchkräftige manuelle Druckanwendungaufzulösen.

    Rolfing-Methode: Die US-amerikanischeBiochemikerin Ida Rolfwies den Faszienbereits Mitte des vergangenen Jahrhundertseine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Schmerzen und FehLhaltungen zu.Deshalb kombiniert die Therapieformtiefgreifende Bindegewebsmassagen mitHaltungstraining.

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  • Nach langen Experimentierreihen standdas Ergebnis eindeutig fest: Kollagenfasern winden sich wie im Wirbel um dieNadel — „ähnlich wie Spaghetti um eineGabel“. Das Gewebe antwortet auf denStich- und Drehreiz und dehnt sich gleichsam von innen her aus. Die Fibroblastenreagieren dabei wie bei der Yoga-Dehnung: Nach etwa 30 Minuten Behandlungweiten sie sich — zumindest bei Labortieren noch Zentimeter vom Einstich entfernt. Das geschieht aber nur bei großerPräzision: Die Nadel muss exakt in denBindegewebsschichten ankommen, unddas Drehmoment muss stimmen. Hier istdie Erfahrung der Akupunkteure gefragt.

    Beim Anblick der beeindruckendenUltraschallaufnahmen mit all den Kollagenwirbeln drängt sich die Frage auf:Könnten auch die sagenumwobenen „Meridiane“ der chinesischen Medizin etwasmit Bindegewebe zu tun haben? Zumindest, erklärt die Entdeckerin, verlaufendie Akupunkturlinien vorzugsweise entlang breiter Faszienbänder zwischen bestimmten Muskelsträngen oder zwischenMuskeln und Knochen. Eine Analyse desArms ergab: 8o Prozent der Akupunktur

    punkte waren so lokalisiert. Noch allerdings betrachtet Langevin diese Zusammenhänge als Hypothese.

    Das Wundermittel:Geschmeidigkeit

    Im Anatomiesaal in Padua, als Carla Stecco sich am Seziertisch dem Arm und derSchulterpartie des Menschen zuwandte,sah ich die unschuldig anmutenden weißen Fächer-Fasern am rechten oberenRücken — genau dort, wo sich bei mir vorJahren die regelmäßig aufflammendePein eingenistet hat, gegen die Schulmediziner sowenig Rat wissen.

    Die bis zur Unbeweglichkeit „eingefrorene“ Schulter ist neben Rücken-schmerzen eines der häufigsten Leidender Büroarbeiter. Der bis in den „Mausarm“ strahlende Schmerz quält um die30 Prozent von jenen, die Tag für Tag amComputer sitzen und die Maus bedienen.

    Zwischen den Schultern, über Nacken und Kopf verläuft bis zu den Augenbrauen ein durchgebendes Faszienband.Alle Menschen ziehen bei Stress oder Bedrohung die Schultern hoch und den Kopf

    in den Nacken oder verkrampfen den Rücken - eine an sich sinnvolle Bewegung,die wohl Genick und Rückgrat schützt.Bei Dauerstress verfestigt sie sich allerdings zur Dauerkontraktion der Faszien,überträgt sich auf die Muskeln und engtNervenzellen ein.

    Die Feinabstimmung des Körperswird zwar nur minimal gestört. Da aberBänder Kräfte weiterleiten, führen angespannte Schultern und Nacken auch oft zuKopf-, Arm- oder Handschmerzen. Oderzu Taubheitsgefühl, Kribbeln und imschlimmsten Fall wie beim Karpaltunnelsyndrom zum Funktionsverlust der Hand-muskulatur. Solche Verhärtungen könnenchirurgisch gelöst werden. Doch vorhersollten unbedingt sanftere Methoden versucht werden, sagt Carla Stecco.

    Können Bewegung, Yoga und Akupunktur das „Eingefrorene“ wirklich auftauen? „Es kommt darauf an, wie starkdas Bindegewebe geschädigt ist“, sagt dieAnatomin. Bei chronischen Schmerzenwürde sie zu Körpertherapeuten raten, dieFaszien wieder geschmeidig machen.Auch die beeinflussen, so die gut gestützte These, mechanisch das Gewebe. Arne-

    Verborgene BahnenNirgendwo im Körper berühren sichKnochen oder Muskeln: Sie werden überdas Spannungssystem der Faszien verbunden und aufAbstand gehalten. Bewegt sich ein kleines Gelenk, hat dasAuswirkungen auf den gesamten Organismus. So werden über die Leitbahnenauch Belastungen von einem Glied derKette zum anderen weitergegeben. Dieoberflächliche Rückenlinie etwa (r.) ziehtvon den Zehen über die Fußsohle zurSchädeldecke bis zu den Augenbrauen.Die Spirallinien (1.) winden sich regelrecht um den Körper. Deshalb könnenIrritationen im Knie langfristig zu Rückenbeschwerden führen, Haltungsfeh1er der Schultern zu Kopfschmerzen.

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  • SchabenGua Sha: Die uralte Methode, vor allemin der Volksheillcunde Asiens weitverbreitet, soll unter anderem aufdasBindegewebe positiv einwirken. Dabei»schabt« der Therapeut wiederholt dieeingeölte Haut seines Patienten mit einerabgerundeten Kante. Die Massagetechnik könnte so nicht nur die Durchblutunganregen, sondern durch Zugreize auchFaszienschichten dehnen. Die starkeRötung klingt nach zwei Tagen ab

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  • ZiehenErfahrene Körpertherapeuten behaupten, Verspannungen und Verhärtungenihrer Patienten zu spüren. Stürze,Entzündungen, Operationen, aber auchseelische Belastungen werden alsUrsache solcher Blockaden angesehen.Nicht nur starke Reize, sondern auchsanfte Techniken, wie leichter Zug undDruck, sollen dazu beitragen, dasdreidimensionale Organsystem derFaszien zu entspannen. Die Forschungliefert heute ein Erklärungsmodell fürdiese Methoden

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  • rikanische Forscher konnten im Tierversuch nachweisen, dass sich mittelsvorsichtiger Massagen selbst Operationsnarben reduzieren lassen.

    „An Ihrer Stelle“, sagt die junge Wissenschaftlerin, „würde ich zu meinem Vater gehen.“

    Luigi Stecco ist Physiotherapeut, einMittsechziger, der sein Leben der manuellen Heilkunst verschrieben hat und seitJahrzehnten das praktiziert, was seineTochter erforscht. „Wir spüren Verhärtungen auf“, sagt er, „manchmal winzigwie Reiskörner, manchmal wie Knotenvon Hartgummi, manchmal regelrechteSchnüre unter der Haut.“

    „Es kann wehtun“, warnt mich derTherapeut: Die Nervenenden an den kritischen Stellen reagieren höchst empfindlich. Nachdem er sich die Schmerzpunkteam hinteren oberen Rücken hat zeigenlassen und dabei meine Körpersprachebeobachtet hat, umrundet er die Massageliege wie ein Tänzer, streicht, tastet,drückt mit den Händen ins Gewebe.

    Ich zucke zusammen. Tut verdammtweh, die Stelle da am oberen Brustkorb,die mir vorher nie aufgefallen ist. Warum

    gerade dieser Punkt? Luigi Stecco bewegtdie Hand mit Druck auf der Stelle hin undher. Ich beiße die Zähne zusammen. „Sagen Sie, wenn es nicht mehr geht.“ Nachetwa einer Schmerzminute, gefühlt etlichen mehr, greift er sich meinen Unterarm. Was sucht er da? Es tut mir doch ander Schulter weh! „Silent points“, wird erspäter erklären, „stumme Schmerzpunkte, die noch schlafen.“

    Hin und her vibriert seine Hand. Ermuss, so die Regel, solange den Schmerz-punkt bearbeiten, bis die Pein nachlässt.Ich ächze, aber auf eigentümliche Weiseweiß ich, dass dieser Schmerz mir guttut,dass er auflöst, was sich in Jahren mitschlechter Haltung angesammelt hat.„Wohlschmerz“ nennen Therapeuten diese Erfahrung.

    Mit esoterischen „Energiefluss-Konzepten“ hat Bindegewebsbehandlungnichts zu tun. Hochleistungssportler kurieren viele „Muskelzerrungen“ längst aufdiese Weise. Zählen Massagemethodennicht zu den ältesten Heilverfahren, undsind sie nicht in allen Kulturen verbreitet?Jenseits aller psychologischen Faktorenwie Zuwendung und Berührung - hier

    passiert etwas Handfestes: MechanischeReize entfesseln biochemische Kettenreaktionen im Organismus.

    Wenn Körpertherapeuten drücken,dehnen, ziehen, dann stretchen sie dasGeweben auf kleinstem Raum - ähnlichder Akupunkturnadel. Und noch mehr:Die Behandler stimulieren fibröses Gewebe, lockern es auf und lösen womöglichsogar die ‚yerfilzungen“. Die Fibroblastentragen alte Kollagenansammlungen abund bauen neue Strukturen auf. Folge:Die Bindegewebsschichten gleiten wiederohne Hindernis, denn sie saugen gleichsam Wasser ins kranke Gewebe.

    Wasser? Vielleicht liegt im simplenH2O das größte Geheimnis der Faszienverborgen. Das Bindewebe besteht beinahe zu 70 Prozent aus Wasser. Je wenigerFeuchtigkeit in der Matrix, umso schlechter steht es üblicherweise um die spielerische Choreografle des Bewegungskünstlers Mensch. „Saftiges Bindegewebe istglückliches Bindegewebe“, sagt LuigiStecco. Durch den therapeutischen Druckwird zunächst Wasser aus der Schmierschicht herausgepresst. Doch es kommtaufden „Rückfluss“ an.

    Keine Krankheit, aber belastendes Ärgernisfür Millionen: Cellulite. Etwa 90 Prozentaller Frauen jenseits der o entdeckenirgendwann an Oberschenkel, Bauch,Gesäß und Oberarmen die hartnäckigenGrübchen, Dellen und Erhebungen. Männerdagegen bleiben meistens verschont.

    Die Ursache der Cellulite — oft verwechseltmit der Cellulitis, einer bakteriellenEntzündung des Unterhautgewebes - liegtim Zusammenwirken von Faszien und Fett.Bei beiden Geschlechtern bildet dasBindegewebe mit seinen formgebendenKollagenfasern das Grundgertist derUnterhaut. Während bei Männern einüber Kreuz verlaufendes Netzwerk allesstraffund kleinteilig zusammenhält,

    gewähren die säulenartig angeordneten„Stützelemente“ der Frauen mehrSpielraum: Die Fettzellpakete dehnen sichin den großen Freiräumen leichter ausund drücken auf die Oberhaut— es entstehtdie typische Beulenstruktur.

    Die Unterschiede in der Architektur desBindegewebes der Haut sind zum Teilgenetisch verankert - wie auch die Fett-verteilung im Körper: Während imMännerkörper Fettreserven vor allemzwischen den Organen im Bauchraumlagern, speichert der weibliche Organismusseine Energie bevorzugt unter der Haut,an Po und Oberschenkeln. Frauen müssensich zudem mit dünnerer Haut und„schwächerem“ Bindegewebe abfinden.

    L__Weibliches Bindegewebe unter derHaut erinnert an ein Säulengewölbe, dasFettzellen viel Raum lässt

    Schuld daran sind neben normalenAlterungsprozessen weibliche Sexualhormone: Forscher nehmen an, dass vorallem Östrogen die Bildung der

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    Cellulite - unschön, aberharmlosIrgendwann trifft es fast jede: Frauen neigen zur Ausbildung einer»Orangenhaut« und zu »schwächerem« Bindegewebe. Dahintersteckt ein komplexes Zusammenspiel von Hormonen und Faszien

    Epidermis

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  • Robert Schleips Kollegen in Ulm haben sich ebenfalls den „Fluid-Dynamics“des Wassers gewidmet. Dazu dehnten sieGewebestücke in einem „Organbad“, daskörperliche Bedingungen simuliert. Ergebnis: Zieht man an den Faszien, wirderst einmal der Wassergehalt reduziert.Nach der Dehnung saugt das Gewebe sichwieder voll. Der Clou: Bei richtiger Dosierung ist die Wassermenge nach demStretching größer als vorher — mit derKonsequenz, dass die Schmierschichtgeschmeidiger wird. Die Forscher habenbereits bestimmte Biomoleküle in der Matrix ausgemacht, die wahre Künstler darinsind, das Nass an sich zu fesseln.

    Carla Stecco und ihr Bruder Antonio,ebenfalls forschender Arzt, haben eineSubstanz im Visier, die in der Kosmetikbekannt ist, weil sie ungeheuer gut Feuchtigkeit bindet: Hyaluronsäure. Der alsGroßmolekül aufgebaute Stoff ist zwischen allen Faszienschichten zu findenund mitverantwortlich für das gesunde,seidige Gleiten. Die Druckbehandlung, sodie Anatomin, könnte solche Kettenmoleküle in kleinere Einheiten zerlegen, diemehr Wasser binden als große.

    „Jetzt besitzen wir endlich ein wissenschaftliches Modell für das, was wirKörpertherapeuten schon immer unterunseren Händen gefühlt haben“, sagt Luigi Stecco. Allerdings sah er sich unlängstgezwungen, seine Konzepte zu erweitern.Neue Erkenntnisse weisen darauf hin,dass nicht nur harte, schmerzhafte, sondern auch sanfte Massagen ihre Wirkungtun. Rezeptoren in den Oberflächenfaszien der Haut leiten offenbar zarteste Signale in die Tiefe und erzeugen ebenfallseine leichte Gewebeentspannung.

    Und meine Schulter? „Überlastungssyndrome kommen zurück, wenn Sienichts dagegen tun“, sagt Luigi Steccozum Abschied.

    So wurde der Wohlschmerz als Wohltat zum Begleiter meiner Genesung. JedesMal, wenn ich, wieder daheim, die Praxismeiner Körpertherapeutin verließ, spürteich das heilungsfördernde Wundheitsgefühl in meiner Schulter. Wie angekündigt,verschwand es immer nach zwei Tagen.Irgendwann nahm es Schmerz, Kribbeln,Taubheit mit. Geblieben ist Erleichterung,als hätten sich im Fleisch gespeicherte,längst vergangene Nöte aufgelöst. /1/

    HANIA LUCZAK (r.), GEO-Redakteir:-:und promovierte Biochernikerin, gewarProfessorin Carla Stecco in Padua nicht nurEinblicke in Körper, sondern erlebte auchherzliche italienische Gastfreundschaft.GEO-Fotograf CHRISTOPHER THOMASdankt für die offenen Türen von Dr. JohannaBahr-Thielemann, Dr. Dominik Irnich,Martina Frank und Studio iYoga-IyengarTradition (alle in München) sowie RaimondIgel, Leitender Physiotherapeut des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, Berlin

    „Orangenhaut“ antreibt. Das Hormonstimuliert Bindegewebszellen, bestimmteEnzyme zu produzieren, die Kollagenfasernabbauen. Das erklärt, warum Cellulite

    hauptsächlich bei Frauen und, je nachZyklusverlauf, unterschiedlich starkvorkommt. Entdeckt wurde dieser Zusammenhang bei Männern, denen aus medizinischen Gründen Östrogen verabreichtwird: Sie entwickeln ebenfalls dickereFettreservoirs unterhalb der Leibesmitteund Orangenhaut. Auch ein Mangel anmännlichen Geschlechtshormonen scheintin diesem komplexen biochemischenZusammenspiel eine Rolle zu spielen.Jedoch einfach Testosteron zu verabreichenist keine Lösung. Es Fördert im Gegenteil dieCellulite, da Fettzellen es zu Östrogenumbauen können.

    Das gilt auch ftir gerätegestützte Massagen,wie etwa die seit Kurzem populäre Selbst-behandlung mit einer sogenanntenFaszienrolle. Wird etwa der Oberschenkellangsam über die harte Kunststoffwalzehin- und herbewegt, soll das auf dasBindegewebe wirken. Einziger wirklicherTrost für Frauen: Unterhautfett gefährdetdie Gesundheit weniger als übervolleEnergiespeicher im Bauch.

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    Gewichtskontrolle sowie die mechanischeStimulation in Form von regelmäßigersportlicher Betätigung gelten als einzigeMittel, die Intensität der ungeliebtenKräuselmuster in Schach zu halten. DieFestigkeit kommt dann nicht unbedingtvom Muskelaufbau, sondern von dererhöhten Kollagensynthese nach starkerkörperlicher Belastung. Ob kräftigeMassagen intensiven Sport teilweiseersetzen oder dessen Wirkung steigernkönnen, ist umstritten.

    Gitter aus Kollagenfasern machen dasBindegewebe des Mannes fest. Es bändigt Gegen Cellulite ist anscheinend kein KrautFettzellen besser gewachsen: In einer wissenschaftlichen

    Ubersichtsarbeit in einem renommiertendermatologischen Fachblatt konntenamerikanische Forscher bei mehr als odokumentierten Mitteln und Verfahren keineinziges als wirklich wirksam einstufen.

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