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JOELLE CHARBONNEAU Die Auslese Nichts ist, wie es scheint

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JOELLE CHARBONNEAUDie Auslese

Nichts ist, wie es scheint

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Buch

»Ich habe keine Ahnung, wie ich die Ereignisse, die bereitsins Rollen gekommen sind, noch aufhalten soll. Lange dachteich, dass ich eine Lösung gefunden hätte. Dass mir eingefal-len wäre, wie ich helfen könnte. Aber ich habe die Dinge nurnoch schlimmer gemacht. Und von nun an wird jede meinerBewegungen sogar noch aufmerksamer als zuvor beobachtet.Ich wünschte, mir bliebe noch mehr Zeit, die Dinge richtig zudurchdenken. Meine Brüder haben mich früher immer damitaufgezogen, dass ich Stunden gebraucht habe, um zu einemEntschluss zu kommen, den andere in Minuten gefasst hätten.Doch mein Vater hat mir beigebracht, dass alles, was wichtigist, gründlich überlegt sein will. Die Entscheidungen, die ich inder nahen Zukunft zu treffen habe, werden die wichtigsten in

meinem Leben sein.Habe ich Angst? Ja. Als die jüngste Studentin der Universitätfinde ich es schwer zu glauben, dass meine Handlungen denVerlauf der Geschichte meines Landes beeinflussen können.Dass ich klug genug wäre, Dr. Barnes und seine Offiziellen aus-zutricksen und Leben zu retten. Aber es gibt keinen anderenWeg. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich versage, ist groß, aber ich

muss es trotzdem versuchen.«

Autorin

Joelle Charbonneau begann mit dem Schreiben, als sie nochOpernsängerin war. Heute ist die Schriftstellerei ihre größteLeidenschaft. Joelle Charbonneau lebt gemeinsam mit ihremMann und ihrem Sohn in der Nähe von Chicago. Wenn sienicht schreibt, arbeitet sie als Schauspiel- und Stimmtrainerin.

Von Joelle Charbonneau bereits erschienen:Die Auslese – Nur die Besten überleben

Die Auslese – Nichts vergessen und nie vergeben

Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet undwww.twitter.com/BlanvaletVerlag

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Joelle Charbonneau

Die AusleseNichts ist, wie es scheint

Roman

Deutsch von Marianne Schmidt

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel»Graduation Day« bei Houghton Mifflin Books, Boston.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Textenthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt

der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten.Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss.

Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Verlagsgruppe Random House FSC® N001967

1. AuflageCopyright der Originalausgabe © 2015 by Joelle Charbonneau

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016 by Penhaligonin der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenPublished by special arrangement

with Houghton Mifflin Harcourt Publishing CompanyRedaktion: Werner Bauer

Umschlaggestaltung und -abbildung: www.buerosued.deJvN · Herstellung: wag

Druck und Einband: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany

ISBN: 978-3-7341-6125-4

www.blanvalet.de

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Für Margaret Raymo.

Danke für deine hilfreiche Unterstützungund deine Visionen.

Ohne dich hätte ich das nicht geschafft!

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Kapitel 1

Ein Klopfen an der Tür lässt mich aufspringen. Ich bin so er-schöpft, verängstigt und traurig, dass meine Hände zittern,als ich die Verriegelung löse und die Tür zu meinen Räu-men im Wohnheim öffne. Dann stoße ich einen Seufzerder Erleichterung aus, als ich Raffe Jeffries vor mir stehensehe. Obwohl wir für denselben Studienzweig ausgewähltworden sind, haben wir ansonsten nur wenige Gemein-samkeiten: Ich, die ich aus den Kolonien komme, die Aus-lese überleben musste und es nur so zum Studium nachTosu-Stadt geschafft habe. Und er, der von hier stammt,wo die Kinder aus Familien früherer Universitäts-Absol-venten zum Studienbeginn mit offenen Armen empfangenwerden.Wir sind nicht befreundet. Obwohl er mir gesternAbend das Leben gerettet hat, weiß ich trotzdem nicht, obich ihm vertrauen kann. Aber ich habe keine Wahl.

Raffe wirkt unbekümmert, doch in seinen Augen liegtein warnender Ausdruck, als er mein Wohnzimmer be-tritt und die Tür hinter sich schließt. »Cia, sie wissen Be-scheid.«

Meine Knie werden weich, und ich halte mich an derRückenlehne eines Stuhles fest, um nicht zusammenzu-sacken.

»Sie wissen was?«Dass ich den Campus verlassen und erfahren habe, dass

die Rebellion, welche von dem Mann angeführt wird, der

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mir während der Auslese geholfen hat, nicht das ist, wo-für die Rebellen sie halten? Dass die Rebellen bald einenAngriff starten werden, der ihnen mit großer Wahrschein-lichkeit den Tod bringen wird? Dass Damone … DiesenGedanken verdränge ich rasch.

»Professorin Holt weiß, dass wir beide das Unigelän-de verlassen haben.« Raffes dunkle Augen suchen mei-nen Blick. »Und Griffin hat angefangen, nach Damonezu suchen.«

Natürlich hält Griffin nach seinem Freund Ausschau.Und wenn er ihn nirgends finden kann, wird er die Di-rektorin unseres Studiengangs informieren – ProfessorinHolt. Sie wird sich fragen, warum ein Student des Stu-diengangs Regierung aus Tosu-Stadt verschwunden ist.Werden Dr. Barnes und seine Offiziellen glauben, dass derErfolgsdruck Damone zur Flucht veranlasst hat? Oderwerden sie eine Suche organisieren und dabei entdecken,dass er tot ist? Panik steigt in mir auf. Ich sage mir, dassuns nichts anderes übrig geblieben war, als ihn umzubrin-gen. Aber stimmt das wirklich?

Ich schüttle den Kopf. Wenn ich in Zukunft nicht ris-kieren will, dass ich von der Universität abgezogen wer-de oder Schlimmeres, dann muss ich jeden Gedanken andie Vergangenheit verdrängen.

Es gibt keine Vorschrift, die besagt, dass wir den Cam-pus nicht verlassen dürfen. Allein dafür kann ich alsonicht bestraft werden. Aber wenn die Offiziellen wissen,was ich gesehen habe …

Ich hole tief Luft, um mich ein bisschen zu beruhigen,dann frage ich: »Ist Professorin Holt darüber informiert,wann wir aufgebrochen sind oder dass wir zusammenweggefahren sind?«

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Mit den Fingerspitzen fahre ich über das Blitzsymbolauf dem silbernen und goldenen Metallarmband an mei-nem Handgelenk und denke an den Ortungsmechanis-mus darin. Ich hatte geglaubt, ihn ausgeschaltet zu haben,aber da hatte ich mich wohl geirrt.

Ich hatte mich bei allem geirrt.Und nun ist Michal tot und …»Ich glaube nicht, dass irgendjemand weiß, wie lange

wir weg waren. Niemand hat uns losfahren sehen, und ichdenke, wir sind auch bei unserer Rückkehr zum Campusunbeobachtet geblieben.« Raffe streicht sich mit einerHand über sein dunkles Haar. »Aber Griffin hat mich ab-gepasst, als ich Tomas deine Nachricht überbringen woll-te. Er hat sich bei mir erkundigt, ob ich Damone gesehenhabe. Und dann wollte er wissen, wohin wir beide heuteMorgen unterwegs waren. Ich weiß nicht, wie er davonerfahren hat, aber er weiß, dass wir zusammen waren.«

Ich habe Raffe nichts von dem Peilsender in seinem Arm-band erzählt. Ein Teil von mir hatte gehofft, dass ich mei-ne Geheimnisse nicht würde preisgeben müssen. Bevorich mich auf den Weg nach Tosu-Stadt zur Auslese ge-macht hatte, hatte mein Vater mir eingeschärft, nieman-dem zu vertrauen. Doch diesen Rat habe ich bereits ei-nige Male in den Wind schreiben müssen. Und auch jetztbleibt mir nichts anderes übrig. Weil Raffe mir geholfenhat, schwebt er nun in Gefahr.

Rasch erkläre ich ihm, was in seinem Armband ver-borgen ist, und berichte von dem Transmitter, den Tomasund ich entwickelt haben, um das Signal zu blockierenund unsere Bewegungen vor Dr. Barnes geheim zu hal-ten. Allerdings ist mir ebenjener Störsender irgendwann

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im Laufe der letzten Nacht oder des heutigen Morgensaus der Tasche gefallen. Wo und wann ich ihn verlorenhabe, weiß ich nicht.

Raffe schaut auf das Symbol, das in sein Armband ein-graviert wurde – eine Sprungfeder in der Mitte der Waag-schalen der Gerechtigkeit, die sich im Gleichgewicht be-finden. »Sie überwachen also unsere Bewegungen.« KeineSpur von Überraschung. Kein Zorn. Nur ein kurzes Ni-cken, ehe er fortfährt: »Wir müssen uns einen besserenWeg einfallen lassen, das Signal zu blockieren, wenn wirverhindern wollen, dass man uns auf Schritt und Trittauf den Fersen ist bei allem, was du als Nächstes geplanthast.«

Was ich als Nächstes geplant habe …Diese Woche wird Präsidentin Collindar im Plenarsaal

im Regierungsgebäude des Vereinigten Commonwealthstehen und die Abgeordneten bitten, einem neuen Geset-zesvorschlag zuzustimmen. Einen, der – falls er auf Zu-stimmung stößt – Dr. Barnes die alleinige Kontrolle überdie Gestaltung der Auslese und die Verwaltung der Uni-versität entziehen wird. Einem Vorschlag, der ihn zwin-gen wird, der Präsidentin Rede und Antwort zu stehen.Der ihr die Möglichkeit geben wird, einem Verfahren einEnde zu setzen, das so viele junge Menschen getötet hat,die nichts lieber hatten tun wollen, als ihren Kolonienund ihrem Land zu helfen. Aber obwohl ich so gerneglauben würde, dass ihre Gesetzesvorlage akzeptiert unddie Auslese abgeschafft wird, spricht alles, was ich bis-lang in Erfahrung gebracht habe, dafür, dass eine Nie-derlage auf unsere Präsidentin wartet. Und wenn dieserFall eintritt, dann wird Dr. Barnes den Gerüchten zufolge

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ein Misstrauensvotum gegen sie beantragen. Ein Votum,mit dem die Präsidentin nicht nur ihre Führungsrolle loswäre, sondern das außerdem den Beginn eines Kampfesbedeuten würde, den die Rebellen und die Präsidentinauf keinen Fall gewinnen können, da Dr. Barnes um die-se Pläne weiß. Tatsächlich haben er und sein Unterstüt-zer Symon Dean die Rebellion selbst geplant. Erst vorKurzem habe ich ihre wahren Ziele herausgefunden, diedarin bestehen, jeden zu identifizieren, mit ins Boot zuholen und am Ende umzubringen, der auch nur ein Wortgegen die Methoden der Auslese verliert. Schon bald wirdDr. Barnes zulassen, dass seine bei den Rebellen einge-schleusten Leute die Verdrossenheit anheizen und offe-ne Kriegsvorbereitungen vorantreiben, nur damit er selbstebendiese Rebellion schließlich gewaltsam niederschla-gen kann. Wenn Dr. Barnes’ Plan aufgeht, dann werdenalle, die die Auslese beenden wollen, sterben. Und unterihnen wird mein Bruder sein.

Ich kann jetzt nicht hier sitzen und das zulassen, aber ichhabe keine Ahnung, wie ich die Ereignisse, die bereits insRollen gekommen sind, noch aufhalten soll. Lange dach-te ich, dass ich eine Lösung gefunden hätte. Dass mireingefallen wäre, wie ich helfen könnte. Aber ich habedie Dinge nur noch schlimmer gemacht. Und von nunan wird Dr. Barnes jede meiner Bewegungen sogar nochaufmerksamer als zuvor beobachten. Ich wünschte, mirbliebe noch mehr Zeit, die Dinge richtig zu durchdenken.Meine Brüder haben mich früher immer damit aufgezo-gen, dass ich Stunden gebraucht habe, um zu einem Ent-schluss zu kommen, den andere in Minuten gefasst hät-ten. Doch mein Vater hat mir beigebracht, dass alles, was

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wichtig ist, gründlich überlegt sein will. Die Entscheidun-gen, die ich in der nahen Zukunft zu treffen habe, werdendie wichtigsten in meinem Leben sein.

Habe ich Angst? Ja. Als die jüngste Studentin derUniversität finde ich es schwer zu glauben, dass meineHandlungen den Verlauf der Geschichte meines Lan-des beeinflussen können. Dass ich klug genug wäre, Dr.Barnes und seine Offiziellen auszutricksen und Lebenzu retten. Aber es gibt keinen anderen Weg. Die Wahr-scheinlichkeit, dass ich versage, ist groß, aber ich musses trotzdem versuchen.

»Im Augenblick habe ich nichts anderes geplant, als mei-ne Hausaufgaben zu machen und ein bisschen Schlaf zubekommen.« Als Raffe zum Protest anhebt, falle ich ihmins Wort: »Und du musst auch mal schlafen.« Ein Blickauf seine hängenden Schultern verrät mir, dass er eben-so müde ist wie ich. »Vielleicht fällt uns eher ein, wie wirhelfen können, das Ruder noch herumzureißen, wenn wiruns ein wenig ausgeruht haben.«

Raffe nickt. »Nach allem, was passiert ist, ist es vermut-lich sowieso das Beste, wenn wir für den Rest des Tagesim Wohnheim bleiben. Ich bin mir sicher, dass ProfessorinHolt jemanden darauf angesetzt hat, dich zu beobachten.Du musst vorsichtig sein.«

Eine Reihe von leisen Geräuschen erregt meine Aufmerk-samkeit. Dann noch mal. Ein schwaches Klicken ertöntaus dem Transit-Kommunikator, schließlich ein zweitesund ein drittes Mal. Es ist das Signal, das Zeen mit mirverabredet hat. So nehmen wir Kontakt auf, wenn einervon uns beiden mit dem anderen sprechen muss. Er muss

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einen sicheren Platz gefunden haben, um mit mir zu spre-chen.Aber für mich ist die Lage zu unsicher, solange Raf-fe neben mir steht. Gezwungenermaßen habe ich ihmbislang in vielerlei Hinsicht vertraut, aber das hier gehtzu weit. Das Leben meines Bruders werde ich nicht inseine Hände legen.

»Dann sehen wir uns später«, sage ich.Raffe legt den Kopf schräg. Seine Augen werden schmal,

als es erneut dreimal hintereinander klickt.Ich tue so, als würde ich nichts hören, marschiere zur

Tür und öffne sie. »Ich muss noch an einer Projektaufga-be arbeiten.«

Raffe schaut sich in meinem kleinen Wohnzimmer um.Mein Herzschlag misst die Sekunden, die vergehen, wäh-rend er darauf wartet, ob die Klickgeräusche wiederkeh-ren.Als nichts passiert, schüttelt er verunsichert den Kopfund kommt ebenfalls zur Tür. »Ich bin da, falls du irgend-etwas brauchst.«

Kaum habe ich die Tür hinter ihm geschlossen und ver-riegelt, haste ich in mein Schlafzimmer und schiebe mei-ne Finger unter den Matratzenrand, wo sie sich um dasGerät schließen, welches ich aus der Five-Lakes-Koloniemitgebracht habe. Es wurde dazu entwickelt, über Ent-fernungen von bis zu zwanzig Meilen hinweg Kontaktzu seinem Gegenstück im Büro meines Vaters aufzuneh-men. Und dieses Pendant muss Zeen nun in den Händenhalten, während er darauf wartet, dass ich antworte. Ichdrücke dreimal den Rufknopf, um ihn wissen zu lassen,dass ich sein Signal empfangen habe.

»Cia. Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dassMichal dir endlich gesagt hat, wo ich bin. Am liebsten

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hätte ich mich sofort nach meiner Ankunft in Tosu-Stadtmit dir in Verbindung gesetzt, aber Michal meinte, es wärebesser, noch abzuwarten. Ist alles in Ordnung bei dir?«

Der Klang von Zeens Stimme erfüllt mich mit Wärme.Während ich aufwuchs, konnte ich Zeen immer alles er-zählen.Von all meinen Brüdern war er derjenige, zu demich ging, wenn ich ein Problem hatte und Hilfe brauchte.Ich war mir immer sicher gewesen, dass er auf alles eineAntwort hatte. Ich hoffe, dass das jetzt immer noch so ist.

»Mir geht es gut.« Im Augenblick jedenfalls. »Aber …«»Gut.« Ich höre, wie Zeen einen Seufzer der Erleichte-

rung ausstößt. »Das ist gut. Cia, es tut mir leid, dass ich sozornig war. Ich hätte dich nicht weglassen dürfen, ohnemich von dir zu verabschieden, aber ich war so neidisch,weil du bekommen hast, was ich unbedingt haben wollte.Jedenfalls glaubte ich das. Ich wusste ja nicht …«

Ich denke daran, wie weh es mir getan hatte, dass Zeenverschwunden war, kurz bevor ich zur Auslese aufbre-chen musste. Von uns allen ist er der Leidenschaftlichs-te, derjenige, der am schnellsten aufbraust. Der als Ersterreagiert, wenn seine Gefühle in Aufruhr geraten, und deres am schwersten nimmt, wenn diejenigen, die er liebt,verletzt oder von ihm getrennt werden. Deshalb hatteich Verständnis dafür gehabt, dass er nicht dabei war, alsmeine Familie sich von mir verabschiedete. Und deshalbkann ich nun ehrlich sagen: »Das ist schon okay. Außer-dem:Wenn du nicht wütend weggerannt wärst, hätte ichdich gefragt, ob ich diesen Kommunikator mitnehmenkann, und du hättest es mir nicht erlaubt. Ohne ihn hät-te ich die letzten Monate nicht überlebt.«

»Du hättest hören sollen, wie ich gewütet habe, alsich deine Nachricht vorfand«, erwidert Zeen mit einem

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Lachen in der Stimme. »Mom sagte, das sei angesichtsmeines Benehmens ein geringer Preis, denn schließlichwäre es gut möglich, dass ich dich niemals wiedersehenwürde. Sie wollte nicht, dass ich hierherkomme, aber Dadhat verstanden, warum ich gehen musste. Ich weiß nicht,was Michal dir erzählt hat, aber diese Leute wollen dieAuslese beenden. Die Anführer hier haben einen Plan,der alles verändern wird. Es ist allerdings ein gefährli-cher Weg.«

»Zeen …«

Doch Zeen hört mir nicht zu. Als ich noch klein war, hater mir stundenlang von Dingen erzählt, die ich damalsnoch nicht begreifen konnte, aber das war mir egal. Ichliebte es, seiner Stimme zu lauschen und dabei zu wissen,dass er verstand, wovon er sprach. Jetzt jedoch hat er kei-ne Ahnung von dem, was wirklich los ist.

»Zeen …«»Es ist kompliziert, und ich werde eine Weile brauchen,

bis ich dir alles erklärt habe. Ich kann jetzt nicht mehrviel länger mit dir sprechen, sonst kommt jemand nachmir suchen. Bei alldem, was im Moment auf dem Spielsteht, dauert es lange, bis sie hier jemandem vertrauen –sogar dann, wenn Michal selbst einen eingeführt hat. Ichdenke, sie hätten mich sofort festgenommen, als ich imLager aufgetaucht bin, wenn er nicht gewesen wäre …«

»Zeen, hör mir endlich zu!« Als am anderen Ende Stil-le herrscht, sage ich: »Michal ist tot.« Meine Kehle wirdeng.Tränen brennen in meinen Augen. Es auszusprechenmacht alles mit einem Mal so real. »Ich habe ihn sterbensehen.«

»Cia, das kann nicht stimmen.« Aber das Zögern in

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Zeens Stimme verrät mir, dass meine Worte ihn getrof-fen haben. »Ich hätte davon erfahren, wenn Michal ge-storben wäre. Symon oder Ranetta hätten uns darüberinformiert.« Zeens tröstender Tonfall ist derselbe, den erfrüher anschlug, als ich noch klein war und glaubte, dassunter meinem Bett Monster lauern würden. Nur dass ermich jetzt nicht mehr mit abwiegelnden Worten beru-higen kann. Ich weiß, dass diese Monster nur allzu echtsind.

»Symon wird es dir ganz bestimmt nicht sagen, denner ist derjenige, der Michal getötet hat.« Ich werfe einenBlick auf die Uhr neben meinem Bett. Fünf Minuten sindvergangen.Wenn Zeen recht hat, dann werden schon baldLeute kommen und nach ihm suchen. Ich will nicht, dasssie hören, wie er in den Kommunikator spricht, denn wo-möglich würden sie ihn dann unweigerlich für einen Spi-on halten. Es gibt noch so viel zu sagen, und uns bleibtnur noch so wenig Zeit. Ich muss mich entscheiden, wasjetzt wichtig ist und was bis zum nächsten Mal, wenn wiruns sprechen, warten kann.

»Michal hat Symon die Beweise gebracht, die die Prä-sidentin dringend braucht, um die Abstimmung im Parla-ment zu ihren Gunsten zu entscheiden, sodass die Ausleseauf friedliche Art und Weise abgeschafft werden kann. Ichwar während der Übergabe ganz in der Nähe versteckt.«Noch immer habe ich genau vor Augen, wie der Anführerder Rebellen Michal ansah, als er seine Waffe hob und sieabfeuerte. Zwei Schüsse. Dann sackte Michal tot zu Bo-den. »Ich habe Symon sagen hören, dass er und Dr. Barnesdie Gruppe der Aufständischen gegründet haben, um die-jenigen unter Kontrolle zu bringen, die die Auslese been-den wollen. Es gibt in Wahrheit also gar keinen Aufstand.«

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»O doch, Cia. Es gibt eine Rebellion.« Auch wenn Zeenversucht, seine Stimme ruhig klingen zu lassen, höreich Zorn, Empörung und Ungläubigkeit mitschwingen.»Meinst du nicht, ich wüsste es anderenfalls? Diese Men-schen hier sind bereit zu kämpfen, um eine Veränderungzu bewirken.«

»Ich weiß, dass sie entschlossen dazu sind. Das ist jaauch genau das, was Dr. Barnes und Symon von ihnenwollen.«

»Cia, das kann nicht stimmen. Ich habe mit Ranettaund Symon gesprochen. Symon …«

»… hat Michal getötet. Du darfst Symon nicht trauen.«Was Ranetta angeht, bin ich mir nicht so sicher. »Michalhat ihm geglaubt, und jetzt ist er tot.« Wieder spüre ichPanik in mir aufsteigen. Zeen muss mir glauben. »SymonsAufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Rebellen eine Nie-derlage erleiden.Wenn die Präsidentin die Abstimmung imParlament verliert und die Rebellen dann angreifen, wer-den Dr. Barnes und Symon dafür sorgen, dass sich Sicher-heitsteams bereithalten. Sie werden behaupten, dass derRest der Stadt nur auf diese Weise geschützt werden kann.Wenn wir nicht irgendetwas unternehmen, dann wird dieRebellion niedergeschlagen werden. Und noch mehr Men-schen werden sterben.«

»Warte.Wenn du recht hast …« Zeen holt tief Luft.Alser weiterspricht, ist seine Stimme kaum noch ein Flüs-tern, was aber nichts am eindringlichen Tonfall ändert:»Du musst aus Tosu-Stadt verschwinden.«

»Es gibt leider genug Gründe dafür, warum ich dasnicht kann.« Das Armband an meinem Handgelenk. Mei-ne Freunde, die ich zurücklassen müsste. Zeen, der sichmitten unter den Rebellen befindet, die Dr. Barnes tö-

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ten will. Und der letzte Punkt ist der einzige, bei demmir eine Lösung einfällt. »Zeen, du selber solltest da weg.Hier auf dem Campus gibt es eine Menge Gebäude, dienicht oft benutzt werden. In einem davon könntest dudich verstecken.«

»Niemand darf das Lager ohne einen direkten Befehlvon Symon oder Ranetta verlassen.«

Ranetta. Eine Frau, die ich noch nie gesehen oder ge-troffen habe. Als Michal von der Spaltung innerhalb desRebellenlagers sprach – in eine Fraktion, die eine friedli-che Lösung anstrebt, und in eine andere, die die Verzö-gerungen leid ist und auf einen Krieg drängt –, sagte er,dass Ranetta die Anführerin der zweiten Gruppe sei.AmAnfang muss sie, so wie alle anderen Rebellen auch, Sy-mons Anweisungen gefolgt sein. Wenn sie sich jetzt ge-gen Symon stellt, käme sie dann als meine Verbündete inFrage? Wenn Zeen mit ihr Kontakt aufnehmen könnte …

Nein. Zeen ist zwar klug, aber wenn er aufgewühlt ist,stürzt er sich häufig in blinden Aktionismus, noch eheer die Dinge richtig bis zum Ende durchdacht hat. Erist noch nicht lange genug bei den Rebellen, um die Ei-gendynamik zu durchschauen und richtig einzuschätzen,wem er vertrauen kann. Wer weiß schon, ob es da über-haupt jemanden gibt? Michal hatte geglaubt, dass Symonsein Vertrauen verdient. Genauso wie ich.Außerdem hatsich Zeen nicht der Auslese stellen müssen. Er weiß nicht,was sich währenddessen wirklich abspielt und wie ent-setzlich sie in Wahrheit ist. Dies ist nicht sein Kampf. Ermuss da weg.

»Du kannst fliehen, ohne dass dich jemand dabei beob-achtet.« Das Lager, das die Rebellen benutzen, war einealte Luftwaffenbasis, ehe sie von einem giftigen Tornado

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verwüstet wurde. Die Zerstörung war so gewaltig, dass dieRegierung des Commonwealth jede Hoffnung darauf be-grub, dieses Gebiet jemals zu revitalisieren.Aber obwohldas Land nicht gesund ist, sind dort Bäume und auch eini-ge Büsche und andere Pflanzen gewachsen. Wenn sich ir-gendjemand in nicht revitalisiertem Gelände zurechtfin-den und sich vor möglichen Verfolgern verstecken kann,dann ist das mein Bruder.

»Vielleicht. Und es könnte sein, dass mir gar nichts an-deres übrig bleibt, wenn sich die Dinge wirklich so ent-wickeln, wie du sagst.Aber jetzt noch nicht. Jetzt bin icherst mal hier.Vielleicht bringe ich irgendetwas Wichtigesin Erfahrung. Die Leute erwarten, dass ein Neuling Fra-gen stellt. Ich muss nur wissen, was für Antworten wirbrauchen. Wenn es irgendeine Chance gibt …«

Ich warte darauf, dass Zeen weiterspricht, aber am an-deren Ende bleibt es still. Mein Herz schlägt mir bis zumHals, als ich auf den Kommunikator in meiner Hand star-re. Zeen muss jemanden kommen gehört haben. Hat ernoch rechtzeitig aufgehört zu sprechen, oder ist er be-lauscht worden? Ich warte darauf, dass er mir ein Zeichengibt. Irgendetwas, das mir verrät, dass er in Sicherheit ist.

Die Zeit verrinnt langsam. Eine Minute. Fünf. Zehn. DieUhr quält mich. Meine Sorge wächst mit jedem Augen-blick, der vergeht. Still umklammere ich das Gerät inmeiner Hand und bete, dass mit meinem Bruder alles inOrdnung ist. Nur weil Michal von mir diese Aufnahmenbekam, musste er schließlich sterben. Ich kann nicht auchnoch Zeen verlieren – das wäre ein weiterer Mensch, deraufgrund meiner Handlungen den Tod finden würde. EinTeil von mir will loslaufen und Tomas suchen. Er war

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letzte Nacht bei mir, als ich Zeen zum ersten Mal unterden Rebellen entdeckte. Er würde mir garantiert helfenwollen. Aber so sehr ich mich auch danach sehne, Tomasin die Arme zu nehmen und mich auf ihn zu verlassen,so weiß ich doch auch, dass es kaum etwas gibt, was ertun könnte. Es geht ihm wie mir. Als Universitätsstuden-ten haben wir fast keine Kontrolle über die Welt ringsum uns herum.

Aber es gibt jemanden, der in der Lage sein sollte, mirzu helfen. Michal war sich nicht sicher gewesen, ob wirihr vertrauen können, aber ich sehe keine andere Mög-lichkeit. Jetzt nicht mehr. Zeen steckt mitten zwischenRebellen, die bereit sind, die Waffen gegen Dr. Barnesund seine Unterstützer zu erheben. Bald schon wird dienächste Kandidatenriege für die Auslese ausgewählt wer-den. Mehr als hundert ehemalige Schülerinnen und Schü-ler werden zu Entscheidungen gezwungen werden, diejemandes Leben beenden – ihr eigenes oder das von an-deren. Und wenn die Rolle, die ich bei Damones Tod ge-spielt habe, aufgedeckt wird, dann werde ich überhauptnichts mehr unternehmen können. Dann werde ich näm-lich tot sein. Das Schicksal, das viel zu viele vor mir ereilthat, wird auch auf mich warten, wenn ich glaube, richtenzu können, was aus dem Ruder gelaufen ist. Ich bin keineAnführerin unseres Landes.Aber die Präsidentin ist es. Esist ihr Job. Nicht meiner.

Ich muss sie überzeugen, uns zu helfen.

Ich nehme eine braune Hose aus dem Schrank, die ichnach meiner Ankunft in Tosu-Stadt gekauft habe, undeine gut geschnittene gelbe Tunika mit silbernen Knöp-fen. Dann putze ich meine bequemen, aber abgetragenen

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Stiefel, um sie möglichst ansehnlich erscheinen zu lassen.An den meisten Tagen binde ich meine Haare im Nackenzu einem tiefsitzenden, festen Knoten zusammen. Heu-te mache ich mir die Mühe, sie zu bürsten, bis sie glän-zen, ehe ich sie in einer Art und Weise flechte, die mei-nen Vater immer hat jammern lassen, ich würde wie eineerwachsene Frau und nicht mehr wie sein kleines Mäd-chen aussehen. Ich hoffe, dass er damit recht hatte.Wennmein Plan Erfolg haben soll, muss ich dafür sorgen, dassdie Präsidentin mehr in mir sieht als nur eine Studentin.Sie muss eine Frau in mir sehen.

Dann rolle ich die blutigen Kleidungsstücke, die ichgestern getragen habe, zu einem festen Bündel zusam-men und stopfe sie in meine Tasche. Auf keinen Fall wer-de ich versuchen, Damones Blut herauszuwaschen. Ichhabe zwar fast nie Besuch in meinem Zimmer, aber ichwill nicht riskieren, dass irgendjemand diese Anziehsa-chen sieht. Ich muss sie loswerden.

Schließlich greife ich unter die Matratze und ziehe diekleine Pistole hervor, die ich von Raffe bekommen habe.Das Gewicht in meiner Hand ist nichts im Vergleich zudem Gewicht, das auf meiner Brust lastet. Auch in FiveLakes benutzen wir Waffen. Ich habe schon früh gelernt,eine Pistole zu entsichern, und Daileens Vater hat uns mitseiner eigenen Waffe das Schießen beigebracht; das warungefähr zu der Zeit, als ich in der Schule das Multipli-zieren und Dividieren erlernt habe.

Der Job meines Vaters erforderte es, dass wir in derNähe seines Arbeitsplatzes wohnten, was bedeutete, dasswir am Rand des nicht revitalisierten Gebiets lebten, woWölfe auf der Suche nach Fleisch und andere mutierteKreaturen herumstreiften. Mehr als einmal habe ich ein

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Tier verletzt oder getötet, das mich angreifen wollte.Aberwenn die Waffe, die ich jetzt in meinen Händen halte, je-mals abgefeuert wird, dann wohl kaum auf ein Tier, dasgerade nach Nahrung sucht.

Ich verstaue den Transit-Kommunikator in meiner Ta-sche, hänge mir den Riemen über die Schulter, gehe nachdraußen und versperre sorgfältig hinter mir die Tür.

Es ist still auf den Gängen des Wohnheims. Die Studen-ten, an denen ich vorbeikomme, tuscheln leiser als ge-wöhnlich miteinander. Zweifellos geht es in ihren Ge-sprächen um das Verschwinden Damones. Als ich michauf der Treppe an meinen Kommilitonen vorbeischiebe,halte ich den Blick auf den Boden geheftet, damit sie dieSchuldgefühle in meinen Augen nicht sehen können. Beijedem Schritt lausche ich unwillkürlich auf das Klickendes Transit-Kommunikators, das mir verrät, dass mit Zeenalles in Ordnung ist.

Als ich im Erdgeschoss angekommen bin, zwinge ichmich, mit langsamen, entschlossenen Schritten zur Vor-dertür zu gehen. Niemand soll mir die Angst anmerken,die ich verspüre, weil ich nichts von Zeen höre. Mit je-dem Augenblick, der vergeht, bin ich überzeugter davon,dass ihm etwas Schreckliches zugestoßen ist. Als ich dieTür aufschiebe, schaue ich hinter mich, nur für den Fall,dass Raffe mich dabei beobachtet hat, wie ich die Trep-pe hinuntergestiegen bin, und mir gefolgt ist. Doch nie-mand ist da, und so trete ich hinaus in den nachmittäg-lichen Sonnenschein. Meiner Uhr nach zu urteilen habeich noch zwei Stunden Zeit bis zum Abendessen. Wennich nicht rechtzeitig zurück bin, wird meine Abwesenheitauffallen. Aber ich muss es riskieren!

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Ich straffe die Schultern und laufe um das Wohnheimherum zum Fahrzeugschuppen. Dabei vermeide ich je-den Blick auf die Stelle, an der Raffe und ich Damoneüber die Kante in den Abgrund gestoßen haben. Lang-sam hole ich mein Fahrrad heraus und halte nach jedemAusschau, der mich beobachten könnte. Erst dann, alsich niemanden entdecke, schwinge ich mein rechtes Beinüber den Sattel. Meine Füße treten in die Pedale. Die Sor-ge um meinen Bruder treibt mich vorwärts, obwohl meinKörper so müde und ausgelaugt ist. Die Räder rollen überdie Brücke, die den sieben Meter breiten Spalt in der Erdeüberspannt, der das Wohnheim des Studiengangs Regie-rung vom Rest des Campus abtrennt. Erst als ich die Stra-ße hinunterfahre, die zur Bibliothek führt, werfe ich nocheinmal einen Blick zurück. Ich bin zu weit entfernt, ummir ganz sicher zu sein, aber ich meine, Griffin reglos aufder Brücke stehen zu sehen, von der aus er in die Dun-kelheit der Schlucht hinunterstarrt. Ich wünsche mir, ichkönnte Tomas suchen und ihn bitten, mich auf dieser Rei-se zu begleiten, aber natürlich geht das nicht. UngewolltAufmerksamkeit auf Tomas zu lenken ist das Letzte, wasich will. Ich drehe mich auf meinem Rad wieder zurückund fahre, so schnell ich kann, in der Hoffnung, Hilfe fürmeinen Bruder und mich selbst zu finden.

Ich radle unter dem metallenen Bogen hindurch, dermich vom Design her an das Armband an meinem Hand-gelenk erinnert, und das ruft mir in Erinnerung, dass meinAufenthaltsort überwacht wird. Es ist den Studenten derUniversität nicht verboten, den Campus zu verlassen,aber wenn ich zu weit wegfahre, dann werden sich Pro-fessorin Holt und Dr. Barnes mit Sicherheit nach meinen

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Gründen dafür fragen. Zum Glück habe ich als Praktikan-tin im Büro der Präsidentin guten Grund dafür, in meinereingeschlagenen Richtung unterwegs zu sein.

Auf der anderen Seite des Bogentors mache ich halt,hole den Transit-Kommunikator aus der Tasche undschalte das Navigations-Display ein. Zwar bin ich schonmal auf diesen Straßen unterwegs gewesen, aber ich binmir nicht sicher, ob ich mich an die beste Route erinnere.Mit einem Stoffstreifen von meiner verschmutzten Klei-dung binde ich den Kommunikator an meinen Lenker.Alser sicher befestigt ist, drücke ich einmal den Rufknopf.Dann noch einmal. Ein drittes Mal. Keine Antwort. Ichschlucke meine Enttäuschung hinunter und mache michauf den Weg ins Stadtzentrum. Während ich fahre, stelleich mir die Gesichter von Zandri vor, von Malachi, Ryme,Obidiah und Michal. Alle sind nach Tosu-Stadt gekom-men, weil sie der Welt helfen wollten. Und alle sind jetzttot. Ich muss verhindern, dass meinen Bruder dasselbeSchicksal erwartet.

Ich hoffe nur, dass ich nicht zu spät komme.

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Kapitel 2

Ich nehme meine Umgebung kaum wahr, während ichim Zickzackkurs durch die Stadt radele und immer wie-der prüfende Blicke auf die Anzeige des Kommunikatorswerfe. Während ich in die Pedale trete, gehe ich in Ge-danken durch, was ich bislang weiß. Dass die PräsidentinDr. Barnes’ Verhalten missbilligt, ist offensichtlich. Mir istdie gegenseitige Ablehnung auf den ersten Blick aufgefal-len.Aber auch wenn die Präsidentin Dr. Barnes entmach-ten will, weiß niemand, ob sie hinterher den universitä-ren Auswahlprozess nur verändern oder gänzlich beendenwill. Die Methoden der Auslese sind ohne Frage entsetz-lich, aber die Ergebnisse sprechen für sich. Das saubereWasser, das wir trinken, und die Anzahl der Kolonien mitrevitalisiertem Land beweisen, dass die Führungspersön-lichkeiten, die in der Universität ausgebildet wurden, ihrHandwerk verstehen.

Kann man wirklich darauf vertrauen, dass die Präsi-dentin ein System verändern wird, das solche Ergebnissehervorbringt? Ich weiß es nicht. Aber während der Windan meinen Haaren reißt, wird mir klar, dass ich genau dasherausfinden muss, wenn ich versuchen will, die Ausle-se zu beenden.

Die schmalen Straßen der Wohngebiete werden breiterund die Gebäude größer, als ich weiter ins Zentrum der

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Stadt vordringe. Über mir entdecke ich die privaten Glei-ter von Leuten, die Geschäften nachgehen, welche auchan einem Sonntag ihrer Aufmerksamkeit bedürfen. Ichbiege in eine andere Straße ein und sehe die auffälligengrauen Steintürmchen und den Uhrenturm des Baus, indem die Büroräume der Präsidentin Anneline Collindaruntergebracht sind.

Nachdem ich mein Fahrrad an einem Ständer in derNähe des Eingangs abgestellt habe, öffne ich eine derbeiden hohen Holztüren. Zwei Offizielle in schwarzenJumpsuits kommen auf mich zu. Zwei weitere halten zubeiden Seiten der großen, oben gewölbten Tür die Stel-lung. Die Farbe ihrer Kleidung, ihre weißen Armbindenund die silbernen Waffen an ihren Hüften machen deut-lich, dass es sich bei ihnen um Offizielle des Sicherheits-dienstes handelt. Nur diese dürfen im Innern des Regie-rungsgebäudes bewaffnet sein. Dieses Gesetz wurde nachden Sieben Stadien des Krieges erlassen, als sich die Men-schen versammelten, um darüber zu beraten, ob eine neueZentralregierung gebildet werden sollte. Es gab erbitterteAuseinandersetzungen über die Argumente dafür und da-gegen. Viele glaubten, dass der letzte Präsident der Ver-einigten Staaten, Präsident Dalton, und die anderen An-führer der restlichen Welt, die während der Stadien desKrieges die Macht innegehabt hatten, dafür verantwort-lich gewesen waren, dass die Erde verseucht wurde undso viele Tote und solche Zerstörungen zu beklagen wa-ren.Andere waren der Meinung, dass eine organisierte Re-gierung von grundlegender Bedeutung sei, wenn sich dieHoffnung auf eine Revitalisierung des Landes erfüllen soll-te. Alle Bürger durften in der Debatte das Wort ergreifen;einige waren allerdings der Auffassung, dass Kugeln eine

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größere Überzeugungskraft besäßen als Worte. Und eben-diese Tatsache, dass Waffen abgefeuert wurden, ließ vieleursprüngliche Gegner einer neuen Regierungsbildung um-schwenken;denn sie befürchteten nun, dass ohne eine sol-che Führung schon bald Gesetzlosigkeit herrschen würde.Das erste Gesetz, das nach dem Beschluss der Regierungs-bildung erlassen wurde, verbannte alle Feuerwaffen aus derEtage des Plenarsaals. Zehn Jahre später wurde das Verbotauf alle Regierungsgebäude ausgeweitet.

Heute bin ich im Begriff, dieses Gesetz zu brechen.Wenn ich es befolgen würde, dann müsste ich die Waf-fe abgeben, die ich von Raffe bekommen habe. Und daswerde ich auf keinen Fall tun. Ich weiß nicht, wie die Prä-sidentin auf das reagieren wird, was ich ihr zu sagen habe,und so muss ich auf alles vorbereitet sein. Ich rücke denTräger der Tasche auf meiner Schulter zurecht und mar-schiere auf den Mann vom Sicherheitsdienst mit dem brei-ten Kreuz zu, der hinter einem kleinen schwarzen Pultsteht. Ich nenne ihm meinen Namen und zeige ihm meinArmband. Als er nickt, straffe ich die Schultern und tretedurch die Bogentür, die in das Büro der Präsidentin führt.

Seit Beginn meines Praktikums vor einigen Wochen habeich herausgefunden, dass zwar einige wenige junge eif-rige Angestellte der Präsidentin am Samstag und amSonntag arbeiten, sie selber sich an den vom Vereinig-ten Commonwealth festgelegten Ruhetagen jedoch nurhöchst selten auf den Fluren blicken lässt. Da die Präsi-dentin für Montag eine Sitzung einberufen will, erwarteich, dass heute mehr Offizielle an ihren Schreibtischensitzen. Und ich werde nicht enttäuscht. Auf den Gän-gen, durch die ich komme, um zum Büro der Präsidentin

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im ersten Stock zu gelangen, herrscht Hochbetrieb. Eineungewohnte Anspannung liegt in der Luft; Offizielle ste-hen in Grüppchen um Tische herum und tuscheln mitgedämpften Stimmen. Einige sehen in meine Richtung,als ich an ihnen vorbeigehe, aber die meisten sind viel zusehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, ummich zu bemerken. Ich durchquere ein großes Konferenz-zimmer, in dem auf einer Tafel die geplanten Debattenfür diese Woche verzeichnet sind. Zuständigkeit für Aus­lese und Universität steht in roten Buchstaben unter demDatum des übernächsten Tages.

Schließlich gelange ich zu der großen weißen Tür desBüros der Präsidentin. Der Schreibtisch links an der Türist unbesetzt. Ich lege meine Hand auf den Türknauf unddrehe ihn.

Verschlossen. Mein Klopfen an der Tür bleibt, wie er-wartet, unbeantwortet. Das Büro ist leer.

Also mache ich mich wieder auf den Weg zurück zumHauptflur und steige die eiserne Treppe zum zweitenStock empor. Es ist Wochen her, seit ich zum ersten Malhier hinaufgestiegen bin; seinerzeit folgte ich Michal. Fürmich war es ein Schock gewesen, ihn hier anzutreffen. Erhatte so getan, als würde er mich nicht kennen, währender mich in dem Gebäude herumführte, das zu den ältes-ten in Tosu-Stadt gehört. Ich nehme die letzte Stufe undlaufe dann langsam den Gang hinunter auf eine Flügeltürzu, die von zwei Offiziellen in Purpurrot flankiert wird.Von Michal erfuhr ich, dass diese Türen in die Privaträu-me der Präsidentin führen.

Ich wünschte, Michal wäre an meiner Seite, als ichmich an die Offiziellen wende und sage: »Ich habe eineNachricht für die Präsidentin.«

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Der Offizielle mit den dunklen Haaren rechts von mirrunzelt die Stirn. »Die Präsidentin ist nicht im Haus. Siekönnen die Nachricht auf den Schreibtisch unten vor ih-rem Büro legen. Dann wird morgen einer ihrer rangho-hen Angestellten das Schreiben vorfinden.«

Ich verstehe die Worte genau so, wie sie gemeint sind:als Aufforderung zu verschwinden. Auch wenn die Tat-sache, dass ich überhaupt ins Gebäude gelassen wurde,belegt, dass ich das Recht dazu habe, durch diese Flurezu laufen, kann kein noch so großes Selbstbewusstseinüber mein junges Gesicht und meine geringe Körpergrö-ße hinwegtäuschen. Das eine wie das andere verrät, dassich eine Studentin bin, die keinerlei Veranlassung habendürfte, der Anführerin des Vereinigten Commonwealtheine Botschaft zukommen zu lassen.

»Es muss doch eine Möglichkeit geben, der Präsidentineine Nachricht zu übermitteln.« Ich schlage den festen,entschlossenen Tonfall an, dessen mein Vater sich immerbedient, wenn er mit Mr.Taubs darüber spricht, dass des-sen Ziege mal wieder die neuen Schösslinge aufgefressenhat, die er in der Nähe seines Hofes gepflanzt hat.

»Die gibt es«, räumt der Mann zu meiner Linken ein.Ehe er mich zum Gehen auffordern kann, sage ich:

»Mein Name ist Malencia Vale. Ich bin die Praktikantinder Präsidentin. Präsidentin Collindar bat mich vor eini-gen Wochen, mit ihr über ein bestimmtes Thema zu spre-chen. Jemand möge ihr bitte mitteilen, dass ich hier binund die Angelegenheit jetzt gerne diskutieren würde.«

»Die Präsidentin wird wohl kaum …«Der grauhaarige Offizielle hebt eine Hand und blockt

die unwirschen Worte seines Partners ab. Ruhig sagt er:»Ich werde veranlassen, dass Ihre Nachricht übermittelt

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wird, und hoffe für Sie, dass sie so wichtig ist, wie Sieglauben. Wenn nicht, werden Sie feststellen, dass IhreFehleinschätzung Konsequenzen haben wird. Sind Sie be-reit, dieses Risiko einzugehen?«

Konsequenzen. Ich weiß, was der Preis ist, den Dr.Barnes für eine schlechte Entscheidung fordert. Ob diePräsidentin ebenfalls auf einem solchen »Preis« besteht?Ich arbeite noch nicht lange genug in diesem Büro, umseine Geheimnisse zu kennen, aber ich weiß, dass MichalPräsidentin Collindar nicht uneingeschränkt vertraut hat-te. Das tue ich genauso wenig, aber ich brauche nur anTomas und all die anderen zu denken, deren Leben inGefahr sein könnte, um zu wissen, dass ich jeden Preisbezahlen werde, wie hoch auch immer er ausfallen mag.

Mein Nicken reicht dem grauhaarigen Offiziellen, derdaraufhin durch eine kleine Tür links von ihm verschwin-det. Als er zurückkommt, sagt er: »Ich habe Ihre Nach-richt überbracht. Sie sollen hier warten.«

Worauf, verrät er mir nicht.Auf die Präsidentin? Auf Of-fizielle, die entschieden haben, dass mein Verlangen unan-gemessen war? Das Einzige, was ich mit Gewissheit sagenkann, ist, dass meine Bitte um ein Gespräch mit der Prä-sidentin nicht unbemerkt geblieben ist. Jüngere Offizielle,die ich in den vollgestopften Büroräumen in den oberenEtagen habe arbeiten sehen, flüstern miteinander, währendsie zu zweit und zu dritt die Treppe herunterkommen. Sietun so, als ob sie irgendetwas zu erledigen hätten, dochdie Blicke, die sie in meine Richtung werfen, verraten denwahren Grund, warum sie hier sind. Ich höre einen von ih-nen wispern, er hoffe für mich, dass ich weiß, was ich tue.

Ich hoffe das ebenfalls. Je mehr Leute vorbeilaufen,desto sicherer bin ich mir, dass es sich auch außerhalb die-

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ses Gebäudes herumsprechen wird, dass ich um eine Un-terredung mit der Präsidentin gebeten habe. Michal hatteseinen Job in diesem Büro durch Symons Verbindungenzur Regierung bekommen. Er war von Symon hier un-tergebracht worden, um die Präsidentin im Auge zu be-halten und über ihre Pläne informiert zu sein. Allerdingsbezweifle ich, dass Michal der einzige Informant war, dermit dieser Aufgabe betraut war.

Ich kämpfe gegen den Drang an, hin und her zu lau-fen, halte den Blick starr nach vorne gerichtet und hoffe,dass man mir nicht am Gesicht ablesen kann, wie aufge-regt und nervös ich bin.

Es kommt mir vor, als seien Stunden vergangen, bis end-lich am oberen Ende der Treppe eine dunkelhaarige Frauerscheint, in zeremonielles Rot gekleidet. Sie wirft mireinen nachdenklichen Blick zu, ehe sie dem Offiziellenmit dem grauen Haar eine Notiz übergibt. Dieser liest sie,nickt und kommt zu mir herüber. »Hier entlang.«

Er begleitet mich bis zu den Flügeltüren, die in die Pri-vatquartiere der Präsidentin führen, öffnet sie, tritt einenSchritt zurück und sagt: »Sie sollen in diesem Raum war-ten. Man wird Sie holen kommen, wenn sie so weit sind.«

Noch ehe ich fragen kann, wer »sie« sind, schiebt michder Offizielle in ein kleines Vorzimmer hinein. Hinter mirschließen sich die Türen. Das gedämpfte Licht und diegrauen Wände verleihen dem Raum eine düstere Atmo-sphäre. Unmittelbar vor mir befindet sich eine weiße Tür.Der silberne Türknauf ist auf Hochglanz poliert.

Das weckt eine vage Erinnerung in mir. Sechs wei-ße Türen mit weißen Knäufen. Auf fünf von ihnen sindschwarze Nummern zu lesen. Die sechste ist der Ausgang.