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Die drei Kinder lebten we- gen ihrer Behinderung im Heim von St. Johann. Aus den Krankenakten geht her- vor, dass nationalsozialisti- sche Ärzte in Lüneburg sie als „tiefstehend“ bezeichneten und sie deshalb als „lebens- unwert“ einstuften. Die Re- cherchen für die Stolper- steinverlegung ergaben, dass diese Kinder „mit an Sicher- heit grenzender Wahrschein- lichkeit“ ermordet wurden. Sie entsprachen nicht den Vorstellungen der national- sozialistischen Ideologie. Adolf Hitler hatte schon vor Beginn seiner Diktatur 1933 gefordert, Schwache müss- ten getötet werden. Im Schat- ten des Zweiten Weltkriegs machte das NS-Regime sol- che Gewaltfantasien wahr – unter anderem mit der soge- nannten Kinder-Aktion. Ärzte in Heilanstalten ent- schieden über Leben und Tod – und sie ersannen sich offizi- elle Todesursachen. Im Fall von Annelore Juliane Ben- ning hieß es, sie sei an chro- nischer Bronchitis gestor- ben. Ob ihre Mutter davon er- fahren hat? Sie war ledige Kö- chin und hatte ihre Tochter offenbar im Waisenhaus ab- gegeben, bevor sie nach Düs- seldorf zog. Bei Norbert Herwald lau- tete die offizielle Todesursa- che „eitrige Bronchitis“. Vor- her hatten Ärzte in seiner Ak- te vermerkt: Er zeige „keiner- lei Reaktion“, es sei keine „Bildungsfähigkeit“ festzu- stellen, und er werde wohl „in allem versorgt werden“ müs- sen. Reinhold Heinrich Franz Katthöfer ist offiziell an „dop- pelseitiger Nierenbeckenent- zündung und kruppöser Lun- genentzündung“ gestorben. In der Akte über ihn heißt es, er sei „völlig bildungsunfä- hig“ und lasse keine geistige Weiterentwicklung erwar- ten. Indizien sprechen dafür, dass alle drei mit dem Schlaf- mittel Luminal ermordet wurden. Generalvikar Theo Paul lud nach der Verlegung der Stol- persteine in die Johanniskir- che ein und legte die Stola sei- nes Onkels Wilhelm an, der als Kaplan während der Zeit des Nationalsozialismus Pre- digten des damaligen Bi- schofs Clemens August von Galen vervielfältigt hatte. Der spätere Kardinal war als Kri- tiker der nationalsozialisti- schen Ideologie bekannt. 1941 sagte er in einer Predigt: „Eine furchtbare Lehre, die die Er- mordung Unschuldiger recht- fertigen will, die die gewaltsa- me Tötung der nicht mehr ar- beitsfähigen Invaliden, Krüp- pel, unheilbar Kranken, Al- tersschwachen grundsätzlich freigibt!“ Angesichts der drei ermor- deten Kinder von St. Johann stellte Theo Paul die Frage: „Wie konnte das geschehen?“ Von Jann Weber Nationalsozialisten ermordeten drei Kinder von St. Johann OSNABRÜCK. Die Behinde- rung war ihr Todesurteil. An- nelore Juliane Benning, Nor- bert Herwald und Reinhold Katthöfer waren erst drei Jahre alt, als Nationalsozia- listen sie während des Zwei- ten Weltkriegs von Osna- brück nach Lüneburg in die „Kinderfachabteilung“ der Landes-Heil- und -Pflegean- stalt brachten und dort er- mordeten. Jetzt erinnern Stolpersteine an sie. Luminal als Tatwaffe Johannisstraße 39 lautet die Adresse des Kinderheims von St. Johann, in dem Annelore Ju- liane Benning, Norbert Herwald und Reinhold Heinrich Franz Katthöfer wegen ihrer Behinde- rung lebten. Als sie drei Jahre alt waren, ermordeten Nationalsozialisten sie. Foto: Jörn Martens Messingplatten in den Gehwegen erin- nern an Opfer des Na- tionalsozialismus jeweils vor den Wohn- oder Wirkstätten der Juden, Sinti, Deser- teure, Menschen, die aus politischen Grün- den, wegen ihrer se- xuellen Orientierung, einer Erkrankung oder Behinderung verfolgt wurden. Der Kölner Künstler Gun- ter Demnig ist Initia- tor des Projekts, dem sich europaweit meh- rere Hundert Kom- munen angeschlos- sen haben. Pate der Stolpersteine an der Johannisstraße 39 ist Bischof Franz-Josef Bode. Verlegt haben sie die Schüler Nando Christ und Timo Ro- senbusch vom Be- rufsschulzentrum am Westerberg. Das Büro für Friedenskultur nimmt für weitere Gedenktafeln gern Hinweise über das Schicksal von Opfern des NS-Regimes ent- gegen. Die Telefon- nummer lautet 05 41/323-22 87. jweb Stolpersteine

Johann Luminal als Tatwaffe Nationalsozialisten ermordeten ... · Im Fall von Annelore Juliane Ben- ning hieß es, sie sei an chro- nischer Bronchitis gestor- ben. Ob ihre Mutter

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Nationalsozialisten ermordeten drei Kinder von St. Johann

OSNABRÜCK. Die Behinde-

rung war ihr Todesurteil. An-

nelore Juliane Benning, Nor-

bert Herwald und Reinhold

Katthöfer waren erst drei

Jahre alt, als Nationalsozia-

listen sie während des Zwei-

ten Weltkriegs von Osna-

brück nach Lüneburg in die

„Kinderfachabteilung“

der

Landes-Heil- und -Pflegean-

stalt brachten und dort er-

mordeten. Jetzt erinnern

Stolpersteine an sie.Lu

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