19
Jürgen Straub Religiöser Glaube und säkulare Lebensformen im Dialog

JürgenStraub …...Das ist in der Tat so, und es ist besorgniserregend für all jene, welche diesen (kaum exakt bestimmbaren) Lebensstil, der gemeinhin im enthusiastischen Zeichen

  • Upload
    others

  • View
    0

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: JürgenStraub …...Das ist in der Tat so, und es ist besorgniserregend für all jene, welche diesen (kaum exakt bestimmbaren) Lebensstil, der gemeinhin im enthusiastischen Zeichen

Jürgen StraubReligiöser Glaube und säkulare Lebensformen imDialog

Page 2: JürgenStraub …...Das ist in der Tat so, und es ist besorgniserregend für all jene, welche diesen (kaum exakt bestimmbaren) Lebensstil, der gemeinhin im enthusiastischen Zeichen

Diskurse der Psychologie

Page 3: JürgenStraub …...Das ist in der Tat so, und es ist besorgniserregend für all jene, welche diesen (kaum exakt bestimmbaren) Lebensstil, der gemeinhin im enthusiastischen Zeichen

Jürgen Straub

Religiöser Glaubeund

säkulare LebensformenimDialog

Personale Identität und Kontingenzin pluralistischen Gesellschaften

Ernst-E.-Boesch-Preisfür Kulturpsychologie 2015

Herausgegeben von derGesellschaft für Kulturpsychologie

Mit einem Statut zumErnst-E.-Boesch-Preis vom Vorstand der

Gesellschaft für Kulturpsychologieund einer Laudatio von

Jens Brockmeier

Psychosozial-Verlag

Page 4: JürgenStraub …...Das ist in der Tat so, und es ist besorgniserregend für all jene, welche diesen (kaum exakt bestimmbaren) Lebensstil, der gemeinhin im enthusiastischen Zeichen

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Originalausgabe© 2016 Psychosozial-Verlag

Walltorstr. 10, D-35390 GießenFon: 06 41 - 96 99 78 - 18; Fax: 06 41 - 96 99 78 - 19

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil desWerkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder

verbreitet werden.Umschlagabbildung: Paul Klee, »Ohne Titel«, um 1940Umschlaggestaltung und Innenlayout nach Entwürfen von

Hanspeter Ludwig,WetzlarSatz: metiTEC-Software, me-ti GmbH, Berlin

ISBN 978-3-8379-2612-5

Page 5: JürgenStraub …...Das ist in der Tat so, und es ist besorgniserregend für all jene, welche diesen (kaum exakt bestimmbaren) Lebensstil, der gemeinhin im enthusiastischen Zeichen

FürErnst E. Boesch (gest. 2014)

HansWerbikJörn RüsenLotte Köhler

Page 6: JürgenStraub …...Das ist in der Tat so, und es ist besorgniserregend für all jene, welche diesen (kaum exakt bestimmbaren) Lebensstil, der gemeinhin im enthusiastischen Zeichen
Page 7: JürgenStraub …...Das ist in der Tat so, und es ist besorgniserregend für all jene, welche diesen (kaum exakt bestimmbaren) Lebensstil, der gemeinhin im enthusiastischen Zeichen

Inhalt

Ernst-E.-Boesch-Preis für Kulturpsychologie 9Statut, unter Bezugnahme auf die Richtlinienfür die Vergabe des Preises durchdie Gesellschaft für Kulturpsychologie (GKP)

Kulturpsychologie ist keine Disziplin,sondern eine Orientierung 11Ernst-E.-Boesch-Preis für Kulturpsychologiean Jürgen Straub

Danksagung 25

Präludium zum Programm 31

Säkularismus und andere Ideologienim Blickfeld der Religionswissenschaftenund Secular Studies 43

Neue Atheismen und alte Antagonismen:Auswege willkommen 51

7

Page 8: JürgenStraub …...Das ist in der Tat so, und es ist besorgniserregend für all jene, welche diesen (kaum exakt bestimmbaren) Lebensstil, der gemeinhin im enthusiastischen Zeichen

Exkurs zu Thomas Metzingers Traktatüber die »intellektuelle Unredlichkeit« der religiös Gläubigen 66Weitere Variationen des aggressiven Neuen Atheismus 75Exkurs zu einem speziellen Fall: Daniel Dennetts Plädoyerfür eine naturalistische Religionsforschung 82Exkurs zu Herbert Schnädelbachs exzentrisch-mildem Atheisten:Ungläubig sein und glauben lassen 102Gläubige und Ungläubige im Dialog:Ähnlichkeiten im Verschiedenen – Zum ›Einvernehmen‹zwischen Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger 106

Religiöser Glaube, das abgepufferte Selbstund das Faktum vernünftiger Pluralitätim Regime der Laizität 119

Grundüberzeugungen und »qualitativeIdentitäten« im Kampf umAnerkennung 139

Strukturtheoretische Konturenpersonaler Identität als offene Form 153Interreligiöse und religiös-säkulareFamilienähnlichkeiten

Kontingenzsensibilität undKontingenzbewusstseinals Strukturmerkmal religiösen Glaubens 167Eine tolerante Variante der gottesgläubigen Person

Anmerkungen 179

Literatur 213

Die Autoren 225

Inhalt

8

Page 9: JürgenStraub …...Das ist in der Tat so, und es ist besorgniserregend für all jene, welche diesen (kaum exakt bestimmbaren) Lebensstil, der gemeinhin im enthusiastischen Zeichen

Präludium zumProgramm

Das vorliegende Buch steuert auf eine wohl begründete Behauptungzu: Man macht sich mitunter allzu viele, mit übergroßen Sorgen bela-dene Gedanken um die vermeintlichen oder tatsächlichen Unterschie-de zwischen religiösen und säkularen Lebensformen! Zweifellos sindsorgfältige Unterscheidungen auch in diesem Feld wichtig. Die empiri-sche Sozialforschung und Kulturanalyse wird damit noch lange befasstsein, und das ist gut so. Problematisch ist jedoch eine an zahlreicheVoreingenommenheiten und Vorurteile gekoppelte Lust an kontrasti-ven Differenzierungen, die im Ergebnis immer wieder auf Folgendeshinauslaufen: Man trennt die Welt- und Selbstverhältnisse zwischenGottesgläubigen und Ungläubigen oft so sehr, dass der irreführendeEindruck entsteht, diese Menschen könne rein gar nichts mehr mitein-ander verbinden. Sie hätten als Glaubende und religiösUnmusikalischenichts mehr – jedenfalls so gut wie nichts Wesentliches – miteinan-der gemeinsam und seien deswegen unwiderruflich dazu verurteilt, sichfür alle Zeiten unverständig anzuschauen und ihr gegenseitiges Miss-trauen zu pflegen – als kämen die anderen von einem anderen Stern.Das ist reichlich übertrieben und obendrein misslich, da eine derartigeSicht der Dinge sozialen Abstand fördert, vielleicht gegenseitige Aver-sionen undAggressionen nährt. Eigentlich gibt es dafür keinen triftigenGrund. Es ist theoretisch verkehrt, empirisch falsch und praktisch-po-litisch fragwürdig, gewisse wichtige Differenzen zwischen GläubigenundUngläubigen so stark und zu einem jeden Vergleich durchdringen-den Gesichtspunkt zu machen, dass im Handumdrehen rein gar nichts

31

Page 10: JürgenStraub …...Das ist in der Tat so, und es ist besorgniserregend für all jene, welche diesen (kaum exakt bestimmbaren) Lebensstil, der gemeinhin im enthusiastischen Zeichen

mehr bleibt, was diese Menschen miteinander gemeinsam haben undverbinden könnte.

Diese Thesemag überraschend klingen, somanchen der eingespiel-ten Erwartungen und Reflexen zuwiderlaufen. Mit einigen Ansichten,die heute weitgehend geteilt werden, befindet sie sich indes im Ein-klang. So steht sie in keinem Widerspruch zu jener allgemeinen Be-unruhigung, welche vor allem der ›islamistische Terror‹ in die Weltgetragen hat. In unseren Tagen kursiert die verständliche Sorge, sä-kulare Gesellschaften seien durch fanatische und fundamentalistische›Religionen‹ in ihren Grundfesten bedroht, insbesondere dort, wodiese Gesellschaften die rechtlich verbriefte Gestalt liberaler Demo-kratien angenommen haben. Es wird kaum jemand bestreiten, dass esgegenwärtig allzu viele Leute gibt – global bestens organisierte, be-waffnete und zu allem entschlossene Gruppen –, die solche liberalen,demokratischen Gesellschaften tatsächlich hassen wie die Pest, mit al-len Mitteln bekämpfen oder wenigstens alles in ihrer Macht Stehendetun, um den sogenannten ›westlichen Lebensstil‹ schlecht zu machenund einzudämmen.

Das ist in der Tat so, und es ist besorgniserregend für all jene,welche diesen (kaum exakt bestimmbaren) Lebensstil, der gemeinhinim enthusiastischen Zeichen der Freiheit steht, genießen, als etwasWertvolles schätzen und unbedingt erhalten wollen – auch wenn erwehrhaft verteidigtwerdenmuss.Es ist nachvollziehbar, dass dieseMen-schen nervös und ungehalten werden, sobald die Sprache auf religiöseExtremisten oder aber auf politische Kämpfer kommt, die ihre unver-hohlenenMacht- undHerrschaftsansprüche religiös ummanteln – zumSchaden der rücksichtslos dogmatisierten und brachial instrumentali-sierten ›Religion‹, die dann schnell einmal – wie ungerechtfertigt undungerecht das auch sein mag – kurzerhand alles ›Religiöse‹ in Mitlei-denschaft zieht und ins Zwielicht rückt. So jedenfalls sehen es einigeZeitgenossen des frühen 21. Jahrhunderts. Friedliebende und gänzlichunverdächtige Gläubige leiden darunter, Angehörige der jeweils poli-tisch in Dienst genommenen Religion ganz besonders.

Das ist allerdings nicht der einzigeGrund für ihrUnbehagen. Striktsäkular gesinnte Menschen haben mitunter auch dann Probleme mitreligiös Gläubigen, wenn diese völlig friedlich leben und zufrieden da-mit sind, in dem von Charles Taylor (2009) so getauften »säkularen

Präludium zum Programm

32

Page 11: JürgenStraub …...Das ist in der Tat so, und es ist besorgniserregend für all jene, welche diesen (kaum exakt bestimmbaren) Lebensstil, der gemeinhin im enthusiastischen Zeichen

Zeitalter« ihr Auskommen zu finden, möglichst auch die ersehnteAchtung und gebührende Anerkennung durch tolerante Andere. Dar-auf warten sie mitunter jedoch vergeblich. Intoleranz, das Strebennach Hegemonie und manchmal leider auch Gewaltbereitschaft sinddurchaus auf beiden Seiten anzutreffen – ungeachtet aller Unterschie-de im Einzelnen (die natürlich enorm sein können). Im vorliegendenBuch ist nicht von Terror oder anderen Formen brachialer physischerGewalt die Rede. Um subtilere Formen der Verletzung – vielfältigeModi symbolischer und psychischer Gewalt – geht es jedoch schon.Jedenfalls bilden solche Verletzungen den Anlass und Ausgangspunktmeiner Überlegungen. VerletzendeWorte und Gesten gibt es zwischeneinander misstrauisch beäugenden Gruppen von religiös und säkulareingestellten Menschen zuhauf. Das ist zweifellos ein überaus ernst zunehmendes soziales und längst auch ein politisches Problem, weltweit –auch dort, wo physische Gewalt (vorerst) ausbleiben mag. Im Mittel-punkt des gegenseitigenMisstrauens und eines oft mit Aversionen undAggressionen einhergehenden Unbehagens stehen vermeintliche odertatsächliche Differenzen – die Andersheit oder Fremdheit der anderen.

Selbstverständlich mag es zwischen diesen Gruppen allerlei Unter-schiede geben, die ein vonAuseinandersetzungen bestimmtesGesprächnötig machen. Trotz dieser unübersehbaren Tatsache werden Differen-zen zwischen religiösen und säkularen Lebensformen – so lautet derhier verfolgteGrundgedanke–heute vielfachüberbetont undbisweilenauch überschätzt. Das trifft zumal dann zu, wenn sie in pauschalisie-rende, stereotype und vorurteilsbehaftete Gegenüberstellungen von re-ligiös Gläubigen einerseits, Ungläubigen oder Gottlosen sowie religiösIndifferenten andererseits gekleidet werden.Gegen diese schlichte, sim-plifizierende Kontrastierung sprechen nicht allein die mannigfacheninterreligiösen Konflikte, denen mittlerweile in zahlreichen Initiativennachgegangen wird, um sie in konzentrierten Dialogen zu artikulierenund auf zivilisierteWeise zu bearbeiten. Auch die internen Spannungeninnerhalb so gut wie jeder säkularen Lebensform, die Pluralismus undHeterogenität begrüßt, verbieten eine plumpe Gegenüberstellung vonGläubigen und Ungläubigen. Beide diese Gruppen sind alles andere alshomogen und keineswegs darauf geeicht, ein friedliches Zusammenle-ben zumindest ›in ihrem Inneren‹ – das es in dieser vagen Breite ja garnicht gibt – zu gewährleisten.

Präludium zum Programm

33

Page 12: JürgenStraub …...Das ist in der Tat so, und es ist besorgniserregend für all jene, welche diesen (kaum exakt bestimmbaren) Lebensstil, der gemeinhin im enthusiastischen Zeichen

Wie in anderen Zusammenhängen, so trübt auch hier die po-lemogene Pointierung pauschal angenommener Differenzen zwischentatsächlich oder vermeintlich verschiedenen Gruppen die Sicht derDinge erheblich. Wie andernorts – zum Beispiel in vielen Kontex-ten, in denen es um Kulturen und interkulturelle Kommunikation,Kooperation und Koexistenz geht – tut man gut daran, die oftmalsbeinah zwanghafte, allzu rigide Fokussierung vonUnterschieden etwaszu lockern oder gar aufzugeben, um den unvoreingenommenen Blickauf mögliche Ähnlichkeiten und Verwandtschaften richten zu können.Abgesehen davon, dass man auch Menschen stets nur in bestimm-ten Hinsichten unterscheiden kann, sind Unterschiede nicht alles undmanchmal keineswegs das Wichtigste. Es gibt nicht nur Differenzenim gleich Scheinenden, sondern auch Gleichartiges und Gemeinsamesim verschieden Dünkenden. Beides im Bewusstsein zu halten ist fürdie Gestaltung unseres Zusammenlebens überaus bedeutsam. Diffe-renzsensibilität ist nicht wichtiger als das Gespür für Ähnlichkeitenund Verbindendes (was Anil Bhatti zu Recht betont, wobei er postko-loniale Fallstricke des Differenzbegriffs analysiert: vgl. Bhatti, 2017;Bhatti & Kimmich, 2015). Das eine zu übersehen und zu vernachläs-sigen, kann so falsch und fatal sein, wie das andere zu ignorieren –theoretisch und praktisch, wissenschaftlich und lebensweltlich oderpolitisch!

An diese grundlegende Einsicht hält sich das vorliegende Buch. Eswill zeigen, dass es zwischen religiösen und säkularen Lebensformenbzw. zwischenMenschen, die in diesen verschiedenenWelten wohnen,viel Verbindendes geben kann – und dass demgegenüber viele Gläubigeebenso wenig miteinander gemeinsam haben können, wie die Schar dervom Glauben Abgefallenen, der seit jeher Ungläubigen oder der allenGlaubensfragen gegenüber völlig Gleichgültigen undDesinteressiertenmiteinander verbinden mag. Es gibt auch innerhalb dieser meist nuräußerst vage charakterisierten Gruppen viel Verschiedenes und Tren-nendes. Religion oder Glaube bieten ebenso wenig Garantie für dieNähe zwischen Menschen wie nichtreligiöse Lebensformen und kon-sequenter Unglaube. Diese sehr allgemeinen Etiketten für recht vagegefasste Handlungs- und Lebensorientierungen sagen in dieser Pau-schalität wenig bis nichts über die ›Verfassung‹ sowie das konkrete Tunund Lassen bestimmter Gruppen und Individuen aus.

Präludium zum Programm

34

Page 13: JürgenStraub …...Das ist in der Tat so, und es ist besorgniserregend für all jene, welche diesen (kaum exakt bestimmbaren) Lebensstil, der gemeinhin im enthusiastischen Zeichen

Ich werde diesen Sachverhalt (in den letzten Kapiteln) lediglichan einem einzigen Punkt erörtern, und dieser Gesichtspunkt ist dazunoch reichlich abstrakt gewählt. Es lässt sich nämlich in subjekt- undspeziell in identitätstheoretischer Perspektive darlegen, dass die zu Be-ginn des 21. Jahrhunderts besonders relevante, praktisch und politischwichtigste Trennlinie keineswegs zwischen religiösen und nichtreligiö-senMenschen verläuft. Sehr viel bedeutsamer ist vielmehr jene Grenze,welche ein in den Sozial- und Kulturwissenschaften seit langer Zeit als»personale Identität« bezeichnetes Selbst- undWeltverhältnis von an-deren Selbst- oder Subjektivitätsformen klar unterscheidet. Genau diesversuche ich imLaufemeinerAusführungen deutlich zumachen.Wennman das unternimmt, erweisen sich viele religiös und säkular Gesinn-te in entscheidenden (psychologischen) Hinsichten als ähnlich, wobeisich innerhalb beider Gruppen trennendeUnterschiede ausmachen las-sen, die hier wie dort für Konfliktstoff sorgen.

Vor dieser im Kern identitätstheoretischen Argumentation geht esim Folgenden jedoch erst einmal um einige allgemeine gesellschaftlicheund politische Rahmenbedingungen, ohne die kaum zu verstehenwäre,wovon das vorliegende Buch denn eigentlich handelt – und warum dasalles so wichtig sein soll im noch jungen 21. Jahrhundert. Aus diesemGrund beginne ich imnächstenKapitel damit,meineÜberlegungen imFeld eines neueren religionswissenschaftlichen Forschungsprogrammszu platzieren, das eng mit den sogenannten Secular Studies verschwis-tert ist. In diesem Feld geht es, kurz gesagt, um die wissenschaftlicheErkundung nichtreligiöser Phänomene, insofern diese ihre Eigenhei-ten durch eine (wie auch immer geartete) Abgrenzung von religiösenPhänomenen erhalten, durch irgendeine Form der (unterscheidenden,vielleicht im engeren Sinne auch kritischen) Bezugnahme also. Da-nach werde ich – und das ist für mein Thema weitaus wichtiger – anatmosphärische Rahmenbedingungen erinnern, die meine eigenenUn-tersuchungenmotivieren. Diese Studien suchen nämlich einen Auswegaus unfruchtbaren, insbesondere aversiven und aggressiven Attacken,für die ein sogenannter »Neuer Atheismus« sowie die vehemente Ge-genwehr der Angegriffenen ein gutes Beispiel darstellen. Ich werdedas an ausgewählten, sehr anschaulichen Exempeln vor Augen füh-ren. Diese Beispiele wurden sehr bewusst gewählt. Sie führen in eineakademische, von Wissen und Bildung strotzende Welt, in der Philo-

Präludium zum Programm

35

Page 14: JürgenStraub …...Das ist in der Tat so, und es ist besorgniserregend für all jene, welche diesen (kaum exakt bestimmbaren) Lebensstil, der gemeinhin im enthusiastischen Zeichen

sophen und Wissenschaftler den unrühmlichen Beweis antreten, dasssie von Toleranz und Respekt gegenüber anderen ebenso weit entferntsein können wie irgendwelche Leute sonst. Danach wird – im Kapi-tel »Religiöser Glaube, das abgepufferte Selbst und das Faktum derLaizität« – das von John Maclure und Charles Taylor (2011 [2010])auf eigenwillige, erläuterungs- und gewöhnungsbedürftige Weise ein-geführte Prinzip der Laizität vorgestellt. Auch dabei geht es im Kernum allgemeine gesellschaftliche Rahmenbedingungen der hier erörter-ten Phänomene und Probleme. Dasselbe gilt für Taylors Konzept eines»säkularen Zeitalters«.

In den Kapiteln »Grundüberzeugungen und ›qualitative Identitä-ten‹ im Kampf und Anerkennung« und »Strukturtheoretische Kon-turen personaler Identität als offene Form«werden die Konturen einerTheorie personaler Identität skizziert, die es gestatten soll, einige derbereits angedeuteten, praktisch und auch politisch höchst bedeutsamenÄhnlichkeiten und Verwandtschaften zwischen – nunmehr eben – be-stimmten religiös gläubigen und bestimmten säkular eingestellten Men-schen ausmachen und beschreiben zu können. Das geschieht auf einerformal- oder strukturtheoretischen Ebene, also unabhängig von zumin-dest vielenMerkmalen der –wie ich (mit ErnstTugendhat, 1979) sagenwerde – »qualitativen Identität« der betreffenden Personen. Im letz-ten Kapitel (»Kontingenzsensibilität und Kontingenzbewusstsein alsStrukturmerkmal religiösen Glaubens«) komme ich schließlich nocheinmal genauer darauf zu sprechen, dass auch vielen religiös Gläubigeneine personale Identität just im explizierten, formal- oder strukturtheo-retischen Sinn zugeschrieben werden kann (und muss, wenn einem anempirischer Triftigkeit gelegen ist). In diesem Zusammenhang spielt,wie ich im Gespräch vor allem mit Hans Joas (2012) darlegen möch-te, der Begriff der Kontingenz (und das psychosozial so bedeutsameKontingenzbewusstsein und Kontingenzgefühl reflexiver Subjekte) ei-ne entscheidende Rolle.

Soweit zum Programm und ungefähren Fahrplan des vorliegendenBuches. SchondieknappenProlegomena imPräludiumzureigentlichenStudie zeigen, dass die hier präsentierten Untersuchungen in hohemMaß interdisziplinär ›orchestriert‹ sind (und manchmal auch trans-disziplinär argumentieren). Das ist ein wesentliches Kennzeichen derhier vertretenen Kulturpsychologie: Grenzen zwischen wissenschaftli-

Präludium zum Programm

36

Page 15: JürgenStraub …...Das ist in der Tat so, und es ist besorgniserregend für all jene, welche diesen (kaum exakt bestimmbaren) Lebensstil, der gemeinhin im enthusiastischen Zeichen

chen Disziplinen sind zweifellos funktional und sinnvoll, ja notwendigim Sinne arbeitsteiliger Spezialisierung und hilfreicher Komplexitäts-reduktion, jedoch sind ihre Ränder unscharf und sie selbst sind durch-lässig, sogar verschiebbar. Es gibt Grenzen, die trennen und abschotten,und solche, die flexible, akzentuierendeUnterscheidungen ermöglichensowie einen regen Austausch zwischen den voneinander abgegrenztenGefilden befördern. Im Folgenden wird man mit dem zweiten Typ Be-kanntschaft machen, was bedeutet: Es werden hier Forschungen undAbhandlungen aus der Psychologie ebenso rezipiert und verarbeitetwie solche aus der Soziologie und Philosophie oder aus den (ohnehinmulti-, inter- und transdisziplinär angelegten) Religionswissenschaftensowie anderen Kulturwissenschaften. Es geht im Folgenden um die imTitel derMonografie angezeigte ›Sache‹, nicht um eine disziplinär ein-gehegte Wissenschaft. Eine kulturpsychologische Perspektive eröffnet,so hoffe ich, interessante und lohnenswerte Aussichten auf das ThemaReligiöser Glaube und säkulare Lebensformen imDialog: Personale Iden-tität und Kontingenz in pluralistischen Gesellschaften.

Dieses komplexe Thema eignet sich im Übrigen in vorzüglicherWeise fürdieDemonstrationeinesweiterenGrundmerkmals kulturpsy-chologischen Denkens. Einschlägige Ansätze konstatieren ganz prin-zipiell einen untrennbaren, ›intrinsischen‹ Zusammenhang zwischenKultur und Psyche, Gesellschaft und Individuum, Sozialem und Per-sönlichem (Boesch & Straub, 2007; Chakkarath, 2007; Straub, 1999).Es gibt in dieser Perspektive keine psychischen Phänomene, die nichtauch ihre soziokulturelle Seite hätten, wie umgekehrt Kultur und Ge-sellschaft nicht ohne das Denken, Fühlen, Wollen und Handeln vonMenschen bestehen und sich verändern könnten. Religiöser Glaubeund säkulare Lebensformen sind niemals Erfindungen eines Einzel-nen in menschenleeren Gegenden, sondern zutiefst an soziokulturellePraktiken und deren kontingente und temporäre, institutionelle bzw.strukturelle ›Verfestigungen‹ gebunden (zu denen symbolische Arti-kulationen und Objektivationen gehören). Es existiert in diesem Feldkein ›Inneres‹ ohne ›Äußeres‹ – vice versa (sodass dieser Dualismusin seinem starren Kontrast obsolet wird).

Kulturpsychologie hat es mit komplexen Sinnzusammenhängenund hochgradigen Interdependenzen zu tun, auf einer sehr grundsätz-lichen Ebene mit wechselseitigen Abhängigkeiten, Einflüssen sowie

Präludium zum Programm

37

Page 16: JürgenStraub …...Das ist in der Tat so, und es ist besorgniserregend für all jene, welche diesen (kaum exakt bestimmbaren) Lebensstil, der gemeinhin im enthusiastischen Zeichen

Strukturverwandtschaften zwischen Kultur und Psyche, Gesellschaftund Individuum, Sozialem und Persönlichem,Objektivem und Subjek-tivem. Dies sollte am Beispiel des im vorliegenden Buch behandeltenThemas sehr deutlich werden. Die Prinzipien der »Laizität« und der»Identität« sind– imhier verstandenen,nichtumsonst rechtdetaillierterläuterten Sinne – aufeinander angewiesen und voneinander abhän-gig (logisch, psycho- und soziologisch). Sie sind interdefinierbar, dasheißt: Sie wären ohne gegenseitige Berücksichtigung und Beachtunggar nicht angemessen verständlich zu machen. Strukturelle Merkma-le bestimmter, nämlich liberal-demokratischer, offener Gesellschaften›korrespondieren‹ einem bestimmten Typus der Struktur des Selbst-und Weltverhältnisses einer Person (und ihres halbwegs bewusstenSelbst- und Weltverständnisses). Hier wie dort geht es in eminenterWeise umKontingenz,Offenheit und enormeKomplexität (die schwerzu handhaben ist, politisch und persönlich). Es entstehen bestimmteSubjekte nicht zufällig in bestimmten Gesellschaften und Kulturen (zudenen sie dann in gewisser Weise auch ›passen‹ und ›gehören‹). Ob-jektive Strukturen führen zu Subjektivierungen bestimmter Art, undumgekehrt sind es die in bestimmterWeise ›subjektivierten Subjekte‹,die in der Lage sind, in den ›objektiven‹ oder ›äußeren‹ Verhältnis-sen, durch die sie ›hervorgebracht‹, jedenfalls mit-konstituiert wurdenund weiterhin bestimmt werden, einigermaßen zurechtzukommen undin sie einzugreifen, sei es zum Zweck ihrer Erhaltung, sei es mit demZiel ihrer Veränderung und Überwindung.

Die vorliegende Monografie bietet ein Exempel für kulturpsycho-logisches Denken, das sich – wie jedes »Stoffdenken« (SigmundFreud) – letztlich nur am konkreten Material beweisen und bewährenkann (wie wichtig abstrakte theoretische und methodologische Refle-xionen sowie programmatische Überlegungen auch sein mögen). Dieangestellten Untersuchungen werden plausibilisieren, warum die Kul-turpsychologie auf Nachbardisziplinen wie die Soziologie und Ethno-logie, Erziehungswissenschaft oder Philosophie, auf weitere Sozial- undKulturwissenschaften (und mitunter auch auf naturwissenschaftlicheExpertise) angewiesen ist. Ohne derenWissen bliebe kulturpsychologi-sche Forschung blind und lahm.DiesesWissenmuss zusammengeführtund verbunden werden, wenn kulturpsychologische Sondierungen glü-cken und ertragreich sein sollen. Diese punktuelle Integration ist so

Präludium zum Programm

38

Page 17: JürgenStraub …...Das ist in der Tat so, und es ist besorgniserregend für all jene, welche diesen (kaum exakt bestimmbaren) Lebensstil, der gemeinhin im enthusiastischen Zeichen

notwendig wie die übliche Segregation bestimmter disziplinärer Wis-sensbestände. Wo die Synthese in geeigneten Forschungsfeldern aufhohem Niveau gelingt, imponieren die gemeinhin bestehenden Gren-zen zwischen Disziplinen, wie gesagt, vor allem durch ihre unscharfenRänder und porösen Zustände.

Eine kulturpsychologische Studie kann all dies veranschaulichen.Und sie kann obendrein zeigen, dass es der zeitgenössischen Kultur-psychologie gemeinhin um etwas geht. Diese Perspektive verschreibtsich nicht einem bloßen l’art pour l’art, einem selbstgenügsamen aka-demischen Glasperlenspiel, aus dem die Lebenswelt und die Politikausgesperrt bleiben. Ohne irgendeine normative Orientierung und imweitesten Sinnemoralisch-politischeAmbition lässt sich kulturpsycho-logischeForschung schlecht begründenundbetreiben.Das heißt selbst-verständlich nicht, dass es auch in dieser vielgliedrigen Wissenschaftnicht zuerst und zuvorderst um ganz gewöhnliche, wissenschaftsspezi-fische Aufgaben gehen soll und muss. Phänomennahe Beschreibungen,methodisch kontrollierte und theoretisch reflektierte Analysen zumZweck des Verstehens und Erklärens soziokultureller und psychosozia-ler Phänomene, das ist auch hier das A undO. Gleichwohl ist in diesemFeldganzunübersehbar:ProblemederKulturundGesellschaft, die stetsmit Schwierigkeiten und Herausforderungen im Leben der Einzelnenverwoben sind,motivieren und animieren kulturpsychologischeUnter-suchungen und treiben sie an. Das ist ein imweitesten Sinnemoralisch-politisches Anliegen, durch das sich kulturpsychologische Forschungauf ein Machtgeschehen einlässt und selbst zu dessen Bestandteil –einem ›Mitspieler‹ – wird. Forschung kann dieses Geschehen sowieseine temporären Ergebnisse und Folgen zwar möglichst distanziert,das heißt: aus mehreren, wechselnden Perspektiven beobachten, ana-lysieren und reflektieren (in seinen variablen Repräsentationen undRelationen). Völlig heraushalten kann sie sich daraus aber nicht.

Das vorliegende Buch antwortet auf eine globale und gesellschaftli-cheKonstellation, in der religiöse und säkulare Lebensformen, genauer:die in diesen Formen lebenden, handelnden, fühlenden und denken-den Menschen mitunter in Streit miteinander geraten. Es gibt nichtselten Konflikte zwischen ihnen und sogar veritable Krisen. Demge-mäß erscheint ein Dialog, der Voreingenommenheiten und Vorurteilehinter sich zu lassen verspricht, oftmals dringend erforderlich. Den

Präludium zum Programm

39

Page 18: JürgenStraub …...Das ist in der Tat so, und es ist besorgniserregend für all jene, welche diesen (kaum exakt bestimmbaren) Lebensstil, der gemeinhin im enthusiastischen Zeichen

Ausgangspunkt des vorliegenden Buches bilden also in der Tat allseitsbekannte Erfahrungen der stereotypen und vorurteilsbehaftetenWahr-nehmung, der subtilen Abwertung, merklichen Degradierung odersogar vehementen Verachtung von anderen und Fremden – anders den-kenden, fühlenden, handelnden und lebendenMenschen. Vorgänge dereinseitigen oder gegenseitigen Stigmatisierung und Diskriminierung,der Ausgrenzung und Exklusion von Gruppen durch konkurrierendeGruppen sind wichtige Themen der zeitgenössischen Sozial- und Kul-turpsychologie.Henri Tajfel (1978, 1981), dessen bedeutendeArbeitenaußerhalb der Sozialpsychologie noch immer viel zu wenig beachtetwerden, hat bereits vor drei, vier Jahrzehnten geschrieben, dass massiveKonflikte zwischen konkurrierenden, kompetitiven und gegnerischen,im Konfliktverlauf womöglich sich verfeindenden Gruppen das The-ma unserer Zeit seien. Er hat Recht behalten.

Oftmals stehen am Beginn unseres Nachdenkens irgendwelcheErlebnisse physischer, symbolischer und/oder psychischer Gewalt –Erfahrungenmithin, die nicht zuletzt auf mangelnde Achtung und ver-sagte Anerkennung verweisen und einen derartigen Mangel in (mehroder weniger offenkundigen) Verletzungen bestimmter Personen zumAusdruck bringen. Viele derartige Verletzungen werden den anderen(oder einander) nicht einmal absichtlich zugefügt. Sie werden uns so-gar imNachhinein oftmals gar nicht als solche bewusst (Straub, 2014a,2014c). Eine Schwierigkeit eigener Art bildet der uns allen bekann-te Sachverhalt, dass es häufig außerordentlich schwierig ist, rationalmotivierte Kritik von anderen, ihren Handlungsweisen und Lebens-formen einerseits, unbewusst motivierte Degradierungen und allerleidespektierliche Sprechhandlungen sowie weitere (symbolische) Verlet-zungen, die lediglich Ausdruck von Ressentiments, eigenen Ängstenund abgründiger Intoleranz sind andererseits, fein säuberlich auseinan-derzuhalten. Diese Schwierigkeit entbindet jedoch niemanden von derAufgabe, solcheUnterscheidungenbegründet zu treffenundungerecht-fertigte, unnötige Abwertungen von anderen und ihren Lebensformentunlichst zu vermeiden (helfen).

Das übergeordnete Ziel der hier dokumentierten Forschungen undReflexionen ist es, zumBewusstsein dessen, was im angesprochenenZu-sammenhang eigentlich vor sich geht, beizutragen – und vielleicht auchdazu, dass unnötige und unerwünschteGewalt verringert werden kann.

Präludium zum Programm

40

Page 19: JürgenStraub …...Das ist in der Tat so, und es ist besorgniserregend für all jene, welche diesen (kaum exakt bestimmbaren) Lebensstil, der gemeinhin im enthusiastischen Zeichen

Die Etablierung eines Dialogs, in dem neben tatsächlichen oder ver-meintlichenUnterschieden auchÄhnlichkeiten undVerwandtschaftenzwischen angeblich ganz Verschiedenem und Verschiedenen – Seelen-verwandtschaften nicht zuletzt – erlebt und einsichtig gemacht werdenkönnen, ist dafür bekanntlich nicht der schlechteste Weg. Oft ist esder einzig gangbare, nachhaltig zum Ziel führende Pfad, auf dem nichtzuletzt religiöse und säkulare Lebensformen fruchtbare, einander berei-chernde Kooperationen eingehen können.

Zuletzt noch ein Hinweis zur Lektüre: Die zahlreichen und teil-weise sehr detaillierten Anmerkungen, in denen sich Bezugnahmen aufwissenschaftliche Debatten oder kritische Notizen zu den Standpunk-ten und Arbeiten zitierter Autorinnen und Autoren finden, wurdenals Endnoten platziert. Das erspart all denen, die an wissenschaftlichenSpitzfindigkeiten, ergänzendenArgumentenoderweiterführendenPer-spektiven sowie einerArtNavigation durch ausgewählte Literatur nichtinteressiert sind, dieUnterbrechungdesLeseflusses.Die anderen zwingtes zum Blättern und zum vertiefenden Studium in Übergangsfeldernund auf Nebengeleisen. Viele halten das heute für allzu mühsam. Siefordern Komplexitätsreduktion für eine Leserschaft, die nur wenigZeit hat und allenfalls eine beschränkte Bereitschaft aufbringt, sichauf Umständliches und Anstrengendes überhaupt einzulassen. Die vonmir geschätzte Kulturpsychologie ist hingegen einem Wissenschafts-verständnis verpflichtet, das zwar einer einfallsreichen und elegantenSprache sowie anderen ästhetischen Momenten in wissenschaftlichenArbeiten den Vorzug vor den kargenWorthalden gibt, wie sie in vielenForschungseinrichtungen und akademischen Schreibstuben produziertwerden. Mit dem merklich angewachsenen, meines Erachtens schonetwas überzogenen Bedürfnis nach Entspannung und Unterhaltungselbst dort, wo wissenschaftliche Arbeit ansteht, möchte ich mich abernicht gemeinmachen.

Präludium zum Programm

41