Upload
mammut-sports-group
View
215
Download
2
Embed Size (px)
DESCRIPTION
Jubiläumsbuch 150 Jahre Mammut Leseprobe 'Klettern im Kühlschrank' mit Stephan Siegrist
Citation preview
gust zwei weiteren Längen einer unvollendeten Route in den
Col de los Sueños zwischen Torre Egger und Punta Herron. Zwei
neue Seillängen brachten uns anschliessend auf die bestehende
Route «Titanic» von 1987. Die Sonne, die nun für ein paar wenige
Stunden in die Wand schien, erfreute unsere Herzen – und unsere
Hände, denn nun folgte die Route einer Risslinie, die, wie im Win-
ter zu erwarten, mit Eis gefüllt war. Um Griffe zu finden oder
Sicherungen zu legen, musste ich immer wieder mit dem Hammer
das Eis vom Fels schlagen. Die Kletterei war teilweise recht an-
spruchsvoll, doch von erlesener Schönheit. Thomas – nicht nur be-
kannter Bergfotograf, sondern auch starker Bergsteiger – sorgte
zwischendurch für Aufregung, als er einen 2 auf 2 Meter grossen
Schneeblock aus einemWinkel der Route entfernen wollte und mit-
samt den Schneemassen einen bis auf eine zerbrochene Sonnen-
brille folgenlosen 7-Meter-Flug hinlegte.
Als wir zum Beginn einer langen Traverse kamen, dämmerte es
schon wieder. Wind setzte ein, und es wurde bitterkalt. Ein guter
Biwakplatz war nicht vorhanden, und um die Nacht nicht in unse-
ren Klettergurten hängend verbringen zu müssen und dabei völlig
auszukühlen, beschlossen wir, durch die Nacht weiterzuklettern.
Das hatte ausserdem den Vorteil, dass wir Zeit gewannen – bei den
schnellen Wetterumschwüngen in Patagonien kann jede Stunde
über den Gipfelerfolg entscheiden. Die normalerweise leichte Klet-
terei über die Felsrampe erwies sich als extrem anspruchsvoll. Das
sich durch den senkrechten Granitpanzer ziehende schmale Fels-
band war mit Pulverschnee und Eis überdeckt und machte die
Kletterei im Licht unserer Stirnlampen zu einem wackligen Tanz.
Nachts um halb vier, nach 22 Stunden Kletterei, erreichten wir
den Beginn des Gipfeleispilzes. Das aus Anraum bestehende Ge-
bilde ist für die Gipfel der Cerro-Torre-Gruppe typisch, weltweit
aber ziemlich einzigartig. Man stelle sich einen Tiefkühler vor, den
man nach Jahren wieder einmal entfrosten müsste, multipliziert
das Eis mit Hunderten von Kubikmetern, formt daraus einen Pilz
und setzt ihn auf einen Felssockel. Der Eispilz bildet die letzte
Bastion auf dem Weg zum Gipfel und ist von den Kletterern als
bergsteigerischer Albtraum gefürchtet, da die Kletterei einem un-
gesicherten Hinaufwühlen in senkrechtem Pulverschnee gleicht.
Für diese letzten Seillängen brauchten wir definitiv Tageslicht, aus-
serdem waren wir mit unseren Kräften am Ende. Also gruben wir
uns einen Sitz in den steilen Schnee und verbrachten 4 Stunden im
Schlafsack, das Zelt über uns gestülpt, um den mittlerweile star-
ken Wind abzuhalten. Jeder von uns dreien hing in diesen Stunden
im Halbschlaf dunklen Gedanken nach, wie es wäre, knapp unter
dem Gipfel in einen patagonischen Sturm zu geraten.
Langsamwurde es hell. Der Wind hatte an Intensität nicht nach-
gelassen, der Himmel war mit Zirren bedeckt – Anzeichen eines
Wetterwechsels. So kurz unter dem Gipfel wollten wir aber nicht
aufgeben und machten uns so schnell wie mit unseren klammen
Fingern möglich Richtung Gipfel auf. Ich wusste von einer frühe-
ren Begehung, dass es auf der Südseite des Pilzes einen Eiskanal
gegeben hatte. Falls der noch bestand, könnten wir den Gipfel
schnell und sicher erreichen.
Zu unserem Glück existierte er noch. Am 3. August 2010 um
die Mittagszeit standen wir zu dritt auf dem Torre Egger, nur eine
gute Woche nach unserem Abflug aus der Schweiz. Rund 12 Mo-
nate verbrachte ich in den letzten 18 Jahren beim Bergsteigen in
Patagonien, doch so schnelles und so grosses Glück hatte ich
noch nie!
Es war nicht wenig, was wir uns vorgenommen hatten: die erste
Winterbegehung des Torre Egger, des anspruchsvollsten Gipfels
in der patagonischen Cerro-Torre-Gruppe, der schon im Sommer
selten bestiegen wird. Wir planten eine reine Alpinstilbegehung,
ohne vorgängig Seile zu fixieren oder Material zu deponieren. Ein-
mal eingestiegen, wollten wir bis zum Gipfel durchklettern.
Thomas Senf aus dem Berner Oberland, Mario Walder aus
Osttirol, der Innerschweizer Daniel Arnold und ich erreichten
am Abend des 27. Juli 2010 El Chalten, den Ausgangspunkt für
die verschiedenen Basecamps in der Fitz-Roy- und Cerro-Torre-
Gruppe. Als wir erfuhren, dass sich in den kommenden Tagen ein
stabiles Hochdruckgebiet einstellen sollte, organisierten wir eiligst
das übrige Material und packten unsere Ausrüstung zusammen.
Mit schweren Rucksäcken marschierten wir bereits einen Tag
später auf Ski bei starkem Schneefall ins Campo Bridwell, unser
Basislager, und am Abend wieder zurück. Mario bekam so starke
Schmerzen im Knie, dass er die Expedition leider schon vor ihrem
eigentlichen Beginn abbrechen musste. So buckelten wir am
nächsten Tag zu dritt das restliche Gepäck ins Camp und trans-
portierten noch am gleichen Tag, teilweise auf Schlitten, das für
eine Winterbesteigung nötige Material in Richtung der Basis der
Torre-Egger-Ostwand.
Der viele Schnee, die Kälte (bis zu minus 25 Grad) und das kur-
ze Tageslicht (um 9.30 Uhr wurde es hell, um 18.30 wieder dunkel)
machten die Transporte anstrengend. Nach einer Nacht im Cam-
po Bridwell brachten wir eine erste Ladung an den Wandfuss,
durch teilweise hüfttiefen Neuschnee. Dann ging es wieder 3 Stun-
den zurück, wo wir eine sehr kalte Nacht im Campo Niponino
verbrachten. Wie immer war zu früher Morgenstunde Tagwache.
Bereits etwas angeschlagen von den anstrengenden Tagen und
dem noch nicht ganz überwundenen Jetlag, kämpften wir uns aus
unseren kleinen Zelten und standen unter einem sternenklaren
Himmel. Wir hatten noch nicht entschieden, ob wir einen Bestei-
gungsversuch starten oder die guten Tage zum Deponieren von
Material am Wandfuss nutzen sollten. Der Wetterbericht liess uns
nur eine kleine Chance auf einen Gipfelerfolg – wenn alles optimal
laufen würde. Andererseits wusste ich von vergangenen Patago-
nienreisen, dass es unsere einzige Chance auf ein Schönwetter-
fenster sein konnte.
Wir setzten alles auf eine Karte. Keiner sprach ein Wort, jeder
wusste, was zu erledigen war, bevor wir Richtung Gipfel starten
konnten. In unseren Fussstapfen vom Tag zuvor erreichten wir mit
dem restlichen Material am Schweizer Nationalfeiertag um 10 Uhr
morgens den Einstieg unseres Projekts. Das Wetter war perfekt:
windstill, die tief stehende Sonne von einem unwirklich blauen
Himmel scheinend, genau wie es uns Karl Gabl, Meteorologe aus
Österreich und Wettergott der Bergsteiger, prognostiziert hatte.
Die Kletterei folgte einer Eislinie, die sich bis zu einem Gletscher-
abbruch zwischen Cerro Standhardt und Torre Egger hinauf-
zog – ideal, um ein Camp aufzubauen, wie wir es geplant hatten.
Während unser «Eismeister» Dani noch zwei weitere Seillängen
kletterte, wobei ich ihn sicherte, begann Thomas bereits mit dem
Einrichten des Lagers.
Um die Kälte und den Wind in der Winternacht ertragen zu kön-
nen, waren wir mit Schlafsäcken und Biwakzelten ausgerüstet.
Aus dem halbwegs warmen Schlafsack herauszukriechen erfor-
derte jeden Morgen grosse Überwindung – in der sommerlichen
Schweiz war es 60 Grad wärmer gewesen! Wir folgten am 2. Au-
KLETTERN IM KÜHLSCHRANKStephan Siegrist l Torre Egger/Patagonien
70@