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gust zwei weiteren Längen einer unvollendeten Route in den Col de los Sueños zwischen Torre Egger und Punta Herron. Zwei neue Seillängen brachten uns anschliessend auf die bestehende Route «Titanic» von 1987. Die Sonne, die nun für ein paar wenige Stunden in die Wand schien, erfreute unsere Herzen – und unsere Hände, denn nun folgte die Route einer Risslinie, die, wie im Win- ter zu erwarten, mit Eis gefüllt war. Um Griffe zu finden oder Sicherungen zu legen, musste ich immer wieder mit dem Hammer das Eis vom Fels schlagen. Die Kletterei war teilweise recht an- spruchsvoll, doch von erlesener Schönheit. Thomas – nicht nur be- kannter Bergfotograf, sondern auch starker Bergsteiger – sorgte zwischendurch für Aufregung, als er einen 2 auf 2 Meter grossen Schneeblock aus einem Winkel der Route entfernen wollte und mit- samt den Schneemassen einen bis auf eine zerbrochene Sonnen- brille folgenlosen 7-Meter-Flug hinlegte. Als wir zum Beginn einer langen Traverse kamen, dämmerte es schon wieder. Wind setzte ein, und es wurde bitterkalt. Ein guter Biwakplatz war nicht vorhanden, und um die Nacht nicht in unse- ren Klettergurten hängend verbringen zu müssen und dabei völlig auszukühlen, beschlossen wir, durch die Nacht weiterzuklettern. Das hatte ausserdem den Vorteil, dass wir Zeit gewannen – bei den schnellen Wetterumschwüngen in Patagonien kann jede Stunde über den Gipfelerfolg entscheiden. Die normalerweise leichte Klet- terei über die Felsrampe erwies sich als extrem anspruchsvoll. Das sich durch den senkrechten Granitpanzer ziehende schmale Fels- band war mit Pulverschnee und Eis überdeckt und machte die Kletterei im Licht unserer Stirnlampen zu einem wackligen Tanz. Nachts um halb vier, nach 22 Stunden Kletterei, erreichten wir den Beginn des Gipfeleispilzes. Das aus Anraum bestehende Ge- bilde ist für die Gipfel der Cerro-Torre-Gruppe typisch, weltweit aber ziemlich einzigartig. Man stelle sich einen Tiefkühler vor, den man nach Jahren wieder einmal entfrosten müsste, multipliziert das Eis mit Hunderten von Kubikmetern, formt daraus einen Pilz und setzt ihn auf einen Felssockel. Der Eispilz bildet die letzte Bastion auf dem Weg zum Gipfel und ist von den Kletterern als bergsteigerischer Albtraum gefürchtet, da die Kletterei einem un- gesicherten Hinaufwühlen in senkrechtem Pulverschnee gleicht. Für diese letzten Seillängen brauchten wir definitiv Tageslicht, aus- serdem waren wir mit unseren Kräften am Ende. Also gruben wir uns einen Sitz in den steilen Schnee und verbrachten 4 Stunden im Schlafsack, das Zelt über uns gestülpt, um den mittlerweile star- ken Wind abzuhalten. Jeder von uns dreien hing in diesen Stunden im Halbschlaf dunklen Gedanken nach, wie es wäre, knapp unter dem Gipfel in einen patagonischen Sturm zu geraten. Langsam wurde es hell. Der Wind hatte an Intensität nicht nach- gelassen, der Himmel war mit Zirren bedeckt – Anzeichen eines Wetterwechsels. So kurz unter dem Gipfel wollten wir aber nicht aufgeben und machten uns so schnell wie mit unseren klammen Fingern möglich Richtung Gipfel auf. Ich wusste von einer frühe- ren Begehung, dass es auf der Südseite des Pilzes einen Eiskanal gegeben hatte. Falls der noch bestand, könnten wir den Gipfel schnell und sicher erreichen. Zu unserem Glück existierte er noch. Am 3. August 2010 um die Mittagszeit standen wir zu dritt auf dem Torre Egger, nur eine gute Woche nach unserem Abflug aus der Schweiz. Rund 12 Mo- nate verbrachte ich in den letzten 18 Jahren beim Bergsteigen in Patagonien, doch so schnelles und so grosses Glück hatte ich noch nie! Es war nicht wenig, was wir uns vorgenommen hatten: die erste Winterbegehung des Torre Egger, des anspruchsvollsten Gipfels in der patagonischen Cerro-Torre-Gruppe, der schon im Sommer selten bestiegen wird. Wir planten eine reine Alpinstilbegehung, ohne vorgängig Seile zu fixieren oder Material zu deponieren. Ein- mal eingestiegen, wollten wir bis zum Gipfel durchklettern. Thomas Senf aus dem Berner Oberland, Mario Walder aus Osttirol, der Innerschweizer Daniel Arnold und ich erreichten am Abend des 27. Juli 2010 El Chalten, den Ausgangspunkt für die verschiedenen Basecamps in der Fitz-Roy- und Cerro-Torre- Gruppe. Als wir erfuhren, dass sich in den kommenden Tagen ein stabiles Hochdruckgebiet einstellen sollte, organisierten wir eiligst das übrige Material und packten unsere Ausrüstung zusammen. Mit schweren Rucksäcken marschierten wir bereits einen Tag später auf Ski bei starkem Schneefall ins Campo Bridwell, unser Basislager, und am Abend wieder zurück. Mario bekam so starke Schmerzen im Knie, dass er die Expedition leider schon vor ihrem eigentlichen Beginn abbrechen musste. So buckelten wir am nächsten Tag zu dritt das restliche Gepäck ins Camp und trans- portierten noch am gleichen Tag, teilweise auf Schlitten, das für eine Winterbesteigung nötige Material in Richtung der Basis der Torre-Egger-Ostwand. Der viele Schnee, die Kälte (bis zu minus 25 Grad) und das kur- ze Tageslicht (um 9.30 Uhr wurde es hell, um 18.30 wieder dunkel) machten die Transporte anstrengend. Nach einer Nacht im Cam- po Bridwell brachten wir eine erste Ladung an den Wandfuss, durch teilweise hüfttiefen Neuschnee. Dann ging es wieder 3 Stun- den zurück, wo wir eine sehr kalte Nacht im Campo Niponino verbrachten. Wie immer war zu früher Morgenstunde Tagwache. Bereits etwas angeschlagen von den anstrengenden Tagen und dem noch nicht ganz überwundenen Jetlag, kämpften wir uns aus unseren kleinen Zelten und standen unter einem sternenklaren Himmel. Wir hatten noch nicht entschieden, ob wir einen Bestei- gungsversuch starten oder die guten Tage zum Deponieren von Material am Wandfuss nutzen sollten. Der Wetterbericht liess uns nur eine kleine Chance auf einen Gipfelerfolg – wenn alles optimal laufen würde. Andererseits wusste ich von vergangenen Patago- nienreisen, dass es unsere einzige Chance auf ein Schönwetter- fenster sein konnte. Wir setzten alles auf eine Karte. Keiner sprach ein Wort, jeder wusste, was zu erledigen war, bevor wir Richtung Gipfel starten konnten. In unseren Fussstapfen vom Tag zuvor erreichten wir mit dem restlichen Material am Schweizer Nationalfeiertag um 10 Uhr morgens den Einstieg unseres Projekts. Das Wetter war perfekt: windstill, die tief stehende Sonne von einem unwirklich blauen Himmel scheinend, genau wie es uns Karl Gabl, Meteorologe aus Österreich und Wettergott der Bergsteiger, prognostiziert hatte. Die Kletterei folgte einer Eislinie, die sich bis zu einem Gletscher- abbruch zwischen Cerro Standhardt und Torre Egger hinauf- zog – ideal, um ein Camp aufzubauen, wie wir es geplant hatten. Während unser «Eismeister» Dani noch zwei weitere Seillängen kletterte, wobei ich ihn sicherte, begann Thomas bereits mit dem Einrichten des Lagers. Um die Kälte und den Wind in der Winternacht ertragen zu kön- nen, waren wir mit Schlafsäcken und Biwakzelten ausgerüstet. Aus dem halbwegs warmen Schlafsack herauszukriechen erfor- derte jeden Morgen grosse Überwindung – in der sommerlichen Schweiz war es 60 Grad wärmer gewesen! Wir folgten am 2. Au- KLETTERN IM KÜHLSCHRANK Stephan Siegrist l Torre Egger/Patagonien 70 @

Jubiläumsbuch 150 Jahre Mammut Leseprobe 'Klettern im Kühlschrank

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Jubiläumsbuch 150 Jahre Mammut Leseprobe 'Klettern im Kühlschrank' mit Stephan Siegrist

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gust zwei weiteren Längen einer unvollendeten Route in den

Col de los Sueños zwischen Torre Egger und Punta Herron. Zwei

neue Seillängen brachten uns anschliessend auf die bestehende

Route «Titanic» von 1987. Die Sonne, die nun für ein paar wenige

Stunden in die Wand schien, erfreute unsere Herzen – und unsere

Hände, denn nun folgte die Route einer Risslinie, die, wie im Win-

ter zu erwarten, mit Eis gefüllt war. Um Griffe zu finden oder

Sicherungen zu legen, musste ich immer wieder mit dem Hammer

das Eis vom Fels schlagen. Die Kletterei war teilweise recht an-

spruchsvoll, doch von erlesener Schönheit. Thomas – nicht nur be-

kannter Bergfotograf, sondern auch starker Bergsteiger – sorgte

zwischendurch für Aufregung, als er einen 2 auf 2 Meter grossen

Schneeblock aus einemWinkel der Route entfernen wollte und mit-

samt den Schneemassen einen bis auf eine zerbrochene Sonnen-

brille folgenlosen 7-Meter-Flug hinlegte.

Als wir zum Beginn einer langen Traverse kamen, dämmerte es

schon wieder. Wind setzte ein, und es wurde bitterkalt. Ein guter

Biwakplatz war nicht vorhanden, und um die Nacht nicht in unse-

ren Klettergurten hängend verbringen zu müssen und dabei völlig

auszukühlen, beschlossen wir, durch die Nacht weiterzuklettern.

Das hatte ausserdem den Vorteil, dass wir Zeit gewannen – bei den

schnellen Wetterumschwüngen in Patagonien kann jede Stunde

über den Gipfelerfolg entscheiden. Die normalerweise leichte Klet-

terei über die Felsrampe erwies sich als extrem anspruchsvoll. Das

sich durch den senkrechten Granitpanzer ziehende schmale Fels-

band war mit Pulverschnee und Eis überdeckt und machte die

Kletterei im Licht unserer Stirnlampen zu einem wackligen Tanz.

Nachts um halb vier, nach 22 Stunden Kletterei, erreichten wir

den Beginn des Gipfeleispilzes. Das aus Anraum bestehende Ge-

bilde ist für die Gipfel der Cerro-Torre-Gruppe typisch, weltweit

aber ziemlich einzigartig. Man stelle sich einen Tiefkühler vor, den

man nach Jahren wieder einmal entfrosten müsste, multipliziert

das Eis mit Hunderten von Kubikmetern, formt daraus einen Pilz

und setzt ihn auf einen Felssockel. Der Eispilz bildet die letzte

Bastion auf dem Weg zum Gipfel und ist von den Kletterern als

bergsteigerischer Albtraum gefürchtet, da die Kletterei einem un-

gesicherten Hinaufwühlen in senkrechtem Pulverschnee gleicht.

Für diese letzten Seillängen brauchten wir definitiv Tageslicht, aus-

serdem waren wir mit unseren Kräften am Ende. Also gruben wir

uns einen Sitz in den steilen Schnee und verbrachten 4 Stunden im

Schlafsack, das Zelt über uns gestülpt, um den mittlerweile star-

ken Wind abzuhalten. Jeder von uns dreien hing in diesen Stunden

im Halbschlaf dunklen Gedanken nach, wie es wäre, knapp unter

dem Gipfel in einen patagonischen Sturm zu geraten.

Langsamwurde es hell. Der Wind hatte an Intensität nicht nach-

gelassen, der Himmel war mit Zirren bedeckt – Anzeichen eines

Wetterwechsels. So kurz unter dem Gipfel wollten wir aber nicht

aufgeben und machten uns so schnell wie mit unseren klammen

Fingern möglich Richtung Gipfel auf. Ich wusste von einer frühe-

ren Begehung, dass es auf der Südseite des Pilzes einen Eiskanal

gegeben hatte. Falls der noch bestand, könnten wir den Gipfel

schnell und sicher erreichen.

Zu unserem Glück existierte er noch. Am 3. August 2010 um

die Mittagszeit standen wir zu dritt auf dem Torre Egger, nur eine

gute Woche nach unserem Abflug aus der Schweiz. Rund 12 Mo-

nate verbrachte ich in den letzten 18 Jahren beim Bergsteigen in

Patagonien, doch so schnelles und so grosses Glück hatte ich

noch nie!

Es war nicht wenig, was wir uns vorgenommen hatten: die erste

Winterbegehung des Torre Egger, des anspruchsvollsten Gipfels

in der patagonischen Cerro-Torre-Gruppe, der schon im Sommer

selten bestiegen wird. Wir planten eine reine Alpinstilbegehung,

ohne vorgängig Seile zu fixieren oder Material zu deponieren. Ein-

mal eingestiegen, wollten wir bis zum Gipfel durchklettern.

Thomas Senf aus dem Berner Oberland, Mario Walder aus

Osttirol, der Innerschweizer Daniel Arnold und ich erreichten

am Abend des 27. Juli 2010 El Chalten, den Ausgangspunkt für

die verschiedenen Basecamps in der Fitz-Roy- und Cerro-Torre-

Gruppe. Als wir erfuhren, dass sich in den kommenden Tagen ein

stabiles Hochdruckgebiet einstellen sollte, organisierten wir eiligst

das übrige Material und packten unsere Ausrüstung zusammen.

Mit schweren Rucksäcken marschierten wir bereits einen Tag

später auf Ski bei starkem Schneefall ins Campo Bridwell, unser

Basislager, und am Abend wieder zurück. Mario bekam so starke

Schmerzen im Knie, dass er die Expedition leider schon vor ihrem

eigentlichen Beginn abbrechen musste. So buckelten wir am

nächsten Tag zu dritt das restliche Gepäck ins Camp und trans-

portierten noch am gleichen Tag, teilweise auf Schlitten, das für

eine Winterbesteigung nötige Material in Richtung der Basis der

Torre-Egger-Ostwand.

Der viele Schnee, die Kälte (bis zu minus 25 Grad) und das kur-

ze Tageslicht (um 9.30 Uhr wurde es hell, um 18.30 wieder dunkel)

machten die Transporte anstrengend. Nach einer Nacht im Cam-

po Bridwell brachten wir eine erste Ladung an den Wandfuss,

durch teilweise hüfttiefen Neuschnee. Dann ging es wieder 3 Stun-

den zurück, wo wir eine sehr kalte Nacht im Campo Niponino

verbrachten. Wie immer war zu früher Morgenstunde Tagwache.

Bereits etwas angeschlagen von den anstrengenden Tagen und

dem noch nicht ganz überwundenen Jetlag, kämpften wir uns aus

unseren kleinen Zelten und standen unter einem sternenklaren

Himmel. Wir hatten noch nicht entschieden, ob wir einen Bestei-

gungsversuch starten oder die guten Tage zum Deponieren von

Material am Wandfuss nutzen sollten. Der Wetterbericht liess uns

nur eine kleine Chance auf einen Gipfelerfolg – wenn alles optimal

laufen würde. Andererseits wusste ich von vergangenen Patago-

nienreisen, dass es unsere einzige Chance auf ein Schönwetter-

fenster sein konnte.

Wir setzten alles auf eine Karte. Keiner sprach ein Wort, jeder

wusste, was zu erledigen war, bevor wir Richtung Gipfel starten

konnten. In unseren Fussstapfen vom Tag zuvor erreichten wir mit

dem restlichen Material am Schweizer Nationalfeiertag um 10 Uhr

morgens den Einstieg unseres Projekts. Das Wetter war perfekt:

windstill, die tief stehende Sonne von einem unwirklich blauen

Himmel scheinend, genau wie es uns Karl Gabl, Meteorologe aus

Österreich und Wettergott der Bergsteiger, prognostiziert hatte.

Die Kletterei folgte einer Eislinie, die sich bis zu einem Gletscher-

abbruch zwischen Cerro Standhardt und Torre Egger hinauf-

zog – ideal, um ein Camp aufzubauen, wie wir es geplant hatten.

Während unser «Eismeister» Dani noch zwei weitere Seillängen

kletterte, wobei ich ihn sicherte, begann Thomas bereits mit dem

Einrichten des Lagers.

Um die Kälte und den Wind in der Winternacht ertragen zu kön-

nen, waren wir mit Schlafsäcken und Biwakzelten ausgerüstet.

Aus dem halbwegs warmen Schlafsack herauszukriechen erfor-

derte jeden Morgen grosse Überwindung – in der sommerlichen

Schweiz war es 60 Grad wärmer gewesen! Wir folgten am 2. Au-

KLETTERN IM KÜHLSCHRANKStephan Siegrist l Torre Egger/Patagonien

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