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Jules Verne Das Dampfhaus 1. E IN P REIS AUF EINEN KOPF. »Zweitausend Pfund Sterling Belohnung werden hiermit Demjenigen zugesichert, der, todt oder leben- dig, einen der früheren Führer bei dem Aufruhre der Sipahis einliefert, welcher sich derzeit in der Präsident- schaft Bombay aufhalten soll, nämlich den Nabab Dan- du Pant, bekannter unter dem Namen . . . « So lautete eine amtliche Bekanntmachung, die am 6. März 1876 gegen Abend in Aurungabad durch öffent- lichen Anschlag verbreitet worden war. Das letzte Wort, ein berüchtigter Name, den die Einen ebenso tief verwünschten, wie ihn Andere heim- lich bewunderten, fehlte an dem Plakate, das man vor nur kurzer Zeit an der Mauer eines verfallenen Bunga- low am Ufer der Doudhma angeheftet hatte. Jener Name fehlte aber, weil der untere Theil des Placats, auf dem er mit fetten Lettern gedruckt stand, von der Hand eines Fakirs, den Niemand an dem eben menschenleeren Flußufer bemerkt, abgerissen worden war. Gleichzeitig mit obigem Namen war auch der des General-Gouverneurs der Präsidentschaft Bombay, die

Jules Verne Das Dampfhaus - Stellenbosch Universitymath.sun.ac.za/hproding/Dampfhaus.pdf · rung der Bewohnerzahl Aurungabads konnte sich ein Einzelner doch noch leicht genug unter

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Jules VerneDas Dampfhaus

1. EIN PREIS AUF EINEN KOPF.

»Zweitausend Pfund Sterling Belohnung werdenhiermit Demjenigen zugesichert, der, todt oder leben-dig, einen der früheren Führer bei dem Aufruhre derSipahis einliefert, welcher sich derzeit in der Präsident-schaft Bombay aufhalten soll, nämlich den Nabab Dan-du Pant, bekannter unter dem Namen . . . «

So lautete eine amtliche Bekanntmachung, die am 6.März 1876 gegen Abend in Aurungabad durch öffent-lichen Anschlag verbreitet worden war.

Das letzte Wort, ein berüchtigter Name, den dieEinen ebenso tief verwünschten, wie ihn Andere heim-lich bewunderten, fehlte an dem Plakate, das man vornur kurzer Zeit an der Mauer eines verfallenen Bunga-low am Ufer der Doudhma angeheftet hatte.

Jener Name fehlte aber, weil der untere Theil desPlacats, auf dem er mit fetten Lettern gedruckt stand,von der Hand eines Fakirs, den Niemand an dem ebenmenschenleeren Flußufer bemerkt, abgerissen wordenwar. Gleichzeitig mit obigem Namen war auch der desGeneral-Gouverneurs der Präsidentschaft Bombay, die

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Contrasignatur der Unterschrift des Vicekönigs von In-dien verschwunden.

Was mochte wohl der Beweggrund jenes Fakirs sein?Hoffte er vielleicht, daß der Empörer von 1857 durchdie Zerreißung der Bekanntmachung der gerichtlichenVerfolgung und der ihm drohenden Verurtheilung ent-gehen könne? Durfte er glauben, daß eine so berüch-tigte Persönlichkeit mit den verstreuten Fetzen jenesPapierstückes unauffindbar werden könne?

Das wäre thöricht gewesen.An den Wänden der Häuser, Paläste, Moscheen und

Hôtels von Aurungabad fanden sich ja die gleichen Pla-cate in Menge. Außerdem wanderte ein öffentlicherAusrufer durch die Straßen der Stadt, der die Bekannt-machung des Statthalters mit lauter Stimme vorlas. DieBewohner der geringsten Flecken der Provinz wußtenes schon, daß ein wirkliches Vermögen für die Einlie-ferung Dandu Pant’s versprochen war. Vor Ablauf vonzwölf Stunden mußte sein vergeblich vernichteter Na-me durch die ganze Provinz in aller Leute Munde sein.Waren die Nachrichten zutreffend, hatte der Nababwirklich in diesem Theile Hindostans Zuflucht gesucht,so fiel er doch ohne Zweifel über lang oder kurz irgendwelchen Leuten in die Hände, da ja Alle an seiner Er-greifung ein erklärliches Interesse hatten.

Welchem Gefühle gehorchte also jener Fakir, als erdas eine Exemplar der schon tausendfach verbreitetenBekanntmachung zerriß?

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Wahrscheinlich dem des Zornes, vielleicht auch demeiner inneren Verachtung, denn er zuckte dabei mitden Achseln und begab sich nachher sorglos in dasvolkreichste und ärmlichste Quartier der Stadt.

Man nennt »Dekkan« den größeren Theil der ostin-dischen Halbinsel zwischen den westlichen und östli-chen Ghâts. Gewöhnlich bezeichnet man damit auchdie ganze Südhälfte Indiens, diesseits des Ganges. Dek-kan, dessen Name im Sanskrit »Süden« bedeutet, um-faßt mehrere Provinzen der Präsidentschaften Madrasund Bombay. Eine der wichtigsten darunter ist die Pro-vinz Aurungabad, deren Hauptstadt ehemals als dievon ganz Dekkan galt.

Im 17. Jahrhundert verlegte der berühmte Mon-golenkaiser Aureng-Zeb seine Hofhaltung nach jenerStadt, die schon in der ältesten Geschichte Hindost-ans unter dem Namen Kirkhi vorkam. Sie zählte da-mals wohl hunderttausend Einwohner, gegen fünfzig-tausend heutzutage unter der Herrschaft der Englän-der, welche dieselbe für den Nizam von Haiderabadverwalten. Sie ist jedoch eine der gesündesten Städ-te der Halbinsel und bisher von der furchtbaren asia-tischen Cholera, wie von den in Indien so verheerendauftretenden Fiebern verschont geblieben.

Aurungabad birgt noch ehrwürdige Reste seines frü-heren Glanzes. Der am rechten Ufer der Doudhma er-richtete Palast des Großmoguls, das Mausoleum der Fa-voritsultanin Schah Jahan’s, des Vaters Aureng-Zeb’s,

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die nach dem Muster des schönen Tadsch in Agra er-baute Moschee, welche ihre vier Minarets um eineschlanke Kuppel erheben, und noch andere, architekto-nisch künstlerische, reich verzierte Monumente bezeu-gen die Macht und Herrlichkeit des berühmtesten Er-oberers von Hindostan, der dieses Reich, dem er nochKabul und Assam hinzufügte, zu einem unvergleichli-chen Grade von Gedeihen erhob.

Trotz der, wie erwähnt, beträchtlichen Verminde-rung der Bewohnerzahl Aurungabads konnte sich einEinzelner doch noch leicht genug unter dessen buntgemischter Bevölkerung verbergen. Der Fakir, mochtees nun ein wirklicher oder falscher sein, fiel unter je-ner an Typen reichen Menge in keiner Weise auf. SeineGenossen überschwemmen ja ganz Indien.

Sie bilden im Verein mit den »Sayeds« einen reli-giösen Bettelorden, sprechen, zu Pferd oder zu Fuße,um Almosen an und wissen ein solches zu erzwingen,wenn man es nicht gutwillig darreicht. Sie spielen wohlauch die Rolle freiwilliger Märtyrer und genießen einhohes Ansehen bei den niederen Kasten der Hindus.

Der Fakir, von dem hier die Rede ist, war ein Mannvon hohem Wuchse, denn er maß über fünf Fuß neunZoll englisch. Die Vierzig hatte er kaum mit ein biszwei Jahren überschritten. Seine Erscheinung erinner-te, vorzüglich durch den Glanz der schwarzen, immer

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aufmerksamen Augen, an den schönen Maharatten-Typus, doch hätte man die sonst so seinen Züge sei-ner Race in Folge der tausend Pockengruben auf sei-nen Wangen an ihm nur schwierig wieder erkannt. Dernoch im kräftigsten Alter stehende Mann schien sehrgewandt und stark zu sein. Als besonderes Kennzei-chen fehlte ihm ein Finger der linken Hand. Das Haupt-haar trug er röthlich gefärbt und ging halb nackt, oh-ne Fußbekleidung, kaum bedeckt mit einem schlech-ten, gestreiften Wollenhemd, das um den Leib zusam-mengehalten war. Auf seiner Brust sah man die Em-bleme des erhaltenden und des zerstörenden Principsder Hindu-Götterlehre, das Löwenhaupt der viertenFleischwerdung Wischnu’s, und die drei Augen nebstdem symbolischen Dreizack des wilden Siva.

Inzwischen herrschte eine tiefgreifende und leichterklärliche Erregung in den Straßen Aurungabads, vor-züglich da, wo sich die kosmopolitische Bevölkerungder ärmeren Stadttheile zusammendrängte.

Hier wimmelte es von Menschen vor den baufäl-ligen Hütten, die ihnen als Wohnung dienten. Män-ner, Weiber, Kinder, Greise, Europäer und Eingeborne,Soldaten der königlichen und der einheimischen Re-gimenter, Bettler jeder Art, Landleute aus der Umge-gend – Alles schwirrte, sprach und gesticulirte durcheinander, erläuterte die Bekanntmachung und erwogdie Aussichten zur Gewinnung der ungeheueren, vonder Regierung versprochenen Prämie. Selbst vor einem

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Lotterie-Rade, das einen gleich großen Hauptgewinnvon zweitausend Pfund enthielt, hätte die Aufregungder Gemüther nicht größer sein können. In diesem Fal-le kommt ja noch hinzu, daß es in Jedes Hand gegebenwar, ein glückliches Los zu ziehen – dieses Los war derKopf Dandu Pant’s. Freilich gehörte etwas Glück da-zu, den Nabab erst aufzufinden, und dann etwas Muth,sich desselben zu bemächtigen.

Der Fakir – offenbar der Einzige, dem die Gewin-nung jener Prämie nicht am Herzen zu liegen schi-en – schlenderte zwischen den Gruppen umher, wo-bei er manchmal, auf deren Gespräche lauschend, ste-hen blieb, wie Einer, der sich erlauschte Worte zunutzemachen will. Nirgends mischte er sich in die Unterhal-tung; doch wenn sein Mund auch stumm blieb, so fei-erten seine Augen und Ohren dochkeineswegs.

»Zweitausend Pfund für die Auffindung des Nabab!rief da der Eine, die Hände verlangend zum Himmelemporstreckend.

– Nicht für die Auffindung, erwiderte ein Anderer,sondern für dessen Festnahme, und das ist doch einganz ander’ Ding!

– Wahrlich, das ist nicht der Mann dazu, sich ohnehartnäckige Gegenwehr gefangen nehmen zu lassen.

– Sagte man aber kürzlich nicht, er sei in denDschungeln von Nepal dem Fieber erlegen?

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– Daran ist kein wahres Wort! Der schlaue DanduPant ließ sich nur für todt ausgeben, um desto unge-störter leben zu können.

– Ja, es ging sogar das Gerücht, er sei inmitten seinesLagers an der Grenze beerdigt worden.

– Eine falsche Todtenfeier, nur um Andere irre zuführen!«

Der Fakir hatte mit keiner Wimper gezuckt, als er dasletzte mit so zweifelloser Sicherheit behaupten hörte.Seine Stirn legte sich jedoch unwillkürlich in Falten, alser einen Hindu – den lebhaftesten der ganzen Gruppein seiner Nähe – folgende Einzelheiten erzählen hörte,die viel zu genau waren, um erfunden zu sein.

»Es steht fest, begann der Hindu, daß sich der Na-bab im Jahre 1859 nebst seinem Bruder Balao Rao unddem Ex-Rajah von Gonda, Debi Bux Singh, nach einemLager am Fuße der Gebirge von Nepal geflüchtet hatte.

Dort, wo ihnen die englischen Truppen zu nahe ander Ferse saßen, beschlossen alle Drei, über die indo-chinesische Grenze zu treten. Bevor es dazu kam, lie-ßen der Nabab und seine beiden Begleiter, um das ent-standene Gerücht ihres Todes zu bekräftigen, ihre eige-ne Beerdigung in’s Werk setzen; begraben wurde vonihnen dabei freilich nur ein Finger der linken Hand,den sie zur Zeit jener Ceremonie abschnitten.

– Doch woher wißt Ihr das? fragte einer der Zuhörerden mit so großer Sicherheit sprechenden Hindu.

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– Ich war bei der Leichenfeierlichkeit selbst anwe-send, erwiderte derselbe. Dandu Pant’s Soldaten hat-ten mich gefangen, und erst sechs Monate später ge-lang es mir zu entfliehen.«

Während der Hindu auf so überzeugende Weisesprach, verlor der Fakir ihn nicht aus dem Blicke. In sei-nen Augen leuchtete ein Blitz auf. Seine verstümmelteHand hielt er sorglich versteckt unter dem Wollenge-webe, das seine Brust verhüllte. Er horchte, ohne einWort zu sagen, aber seine Lippen zitterten und zeigtendabei eine Reihe spitzer Zähne.

»Ihr kennt also den Nabab von Person? fragte manden ehemaligen Gefangenen Dandu Pant’s.

– Gewiß, versicherte der Hindu.– Und würdet ihn auch wieder erkennen, wenn er

Euch zufällig vor die Augen käme?– So gut wie mich selbst.– Nun, da habt Ihr ja einige Aussicht, die Belohnung

von zweitausend Pfund zu erlangen! rief einer der Um-stehenden mit nur schlecht verhehltem Neide.

– Vielleicht . . . meinte der Hindu, wenn es sich be-stätigt, daß der Nabab die Unklugheit begangen hätte,sich bis in die Präsidentschaft Bombay herunter zu wa-gen, was mir nicht besonders wahrscheinlich dünkt.

– Was sollte er hier auch vorhaben?– Jedenfalls sucht er eine neue Empörung anzuzet-

teln, erklärte Einer aus der Gruppe, wenn nicht unter

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den Sipahis, so doch unter der Landbevölkerung desInnern.

– Wenn die Regierung behauptet, daß seine Anwe-senheit in der Provinz gemeldet worden sei, meinte einAnderer aus der Kategorie jener Leute, welche über-zeugt sind, daß eine Behörde sich niemals täuschenkönne, so wird die Regierung auch verläßliche Nach-richten darüber besitzen.

– Mag sein! warf der Hindu ein. Brahma gebe, daßDandu Pant mir in den Weg kommt und mein Glück istgemacht!«

Der Fakir wich einige Schritte zurück, verlor aber desNabab früheren Gefangenen nicht aus den Augen.

Schon ward es allmählich dunkel, doch das Lebenund Treiben auf den Straßen von Aurungabad vermin-derte sich nicht. Der Gespräche bezüglich des Nababwurden nur noch mehr. Hier sagte man, daß er in derStadt selbst gesehen worden, dort, daß er schon wie-der weit weg sei. Man behauptete auch, ein aus demNorden abgesendeter Eilbote habe dem Statthalter dieAnzeige von der Verhaftung Dandu Pant’s überbracht.Um neun Uhr Abends wußten die Bestunterrichteten,er befinde sich schon im Gefängniß der Stadt in Ge-sellschaft einiger Thugs, welche darin seit über dreißigJahre schmachteten, und werde am nächsten Morgenmit Tagesanbruch auf dem Sipri-Platze ohne weitereUmstände gehenkt werden, wie seinerzeit Tantia Topi,sein berühmter Genosse im Aufstande. Um zehn Uhr

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schwirrten wieder ganz anders klingende Nachrichtenumher. Es verbreitete sich das Gerücht, der Gefange-ne sei soeben entwichen, was die Hoffnung aller Dererauf’s Neue belebte, welche der Preis von zweitausendPfund reizte.

In der That waren alle diese verschiedenen Nach-richten falsch. Die am besten Unterrichteten wußtennicht mehr, als alle anderen weniger gut oder schlechtberichteten Leute. Der Kopf des Nabab behielt densel-ben Werth. Es galt noch, ihn zu bekommen.

Dadurch, daß er Dandu Pant persönlich kannte, hat-te jener Hindu mehr Aussicht, den ausgesetzten Preiszu erlangen. Vorzüglich in der Präsidentschaft Bom-bay mochten nur wenig Leute Gelegenheit gehabt ha-ben, mit dem gefürchteten Anführer in der großenEmpörung zusammenzutreffen. Weiter im Norden undtiefer in den Central-Provinzen, in Sindh, Bundelk-hünd, Audh, in den Umgebungen von Agra, Delhi,Khanpur oder Laknau, auf dem Hauptschauplatz derunter seinem Befehle begangenen Greuelthaten, hät-ten sich wohl Alle in hellen Haufen erhoben und ihn andie englischen Gerichte ausgeliefert. Die Eltern, Gat-ten, Brüder, Kinder und Weiber seiner Opfer beweintennoch die, welche er zu Hunderten hatte hinschlachtenlassen. Auch zehn inzwischen verflossene Jahre reich-ten nicht hin, die vollberechtigte Empfindung von Ra-che und Haß zu verlöschen. Deshalb konnte man Dan-du Pant nicht wohl die Unklugheit zutrauen, daß er

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sich in jene Gegenden gewagt hätte, wo Alle seinemNamen fluchten.

Hatte er also, wie man sagte, die indo-chinesischeGrenze wieder überschritten und trieb ihn irgend eindunkler Beweggrund, ob die Anstiftung neuen Auf-ruhrs oder ein anderer, den unauffindbaren Schlupf-winkel zu verlassen, der für die englisch-indische Poli-zei noch immer ein Geheimniß blieb, so konnten es nurdie Provinzen Dekkans sein, die ihm freies Feld und ei-ne gewisse Sicherheit boten.

Wir sahen jedoch, daß der Statthalter von seinem Er-scheinen in der Präsidentschaft Wind bekommen undsofort auf seinen Kopf einen Preis gesetzt hatte.

Immerhin ist hierzu die Bemerkung am Platze, daßdie höheren Gesellschaftsclassen von Aurungabad, dieMagistratsmitglieder, Officiere und Beamten, in diedem Statthalter zugegangenen Nachrichten doch leiseZweifel setzten. Das Gerücht, der unergreifbare Dan-du Pant sei gesehen oder gar verhaftet worden, warschon zu häufig aufgetreten. Ueber ihn gingen so vielefalsche Nachrichten, daß sich endlich eine Art Legen-de von seiner Allgegenwärtigkeit und seiner Schlauheitverbreitete, auch die gewandtesten Agenten der Polizeizu überlisten; die große Menge dagegen glaubte dieWorte der Regierung.

Unter die Zahl der minder Ungläubigen gehörte na-türlich auch der alte Gefangene des Nabab. Der arme

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Teufel von Hindu dachte, verwirrt durch seine Beute-gier und gereizt von dem Drange nach persönlicher Ra-che, nur daran, in’s Feld zu rücken, und sah seinen Er-folg für so gut wie gesichert an. Sein Plan war sehreinfach. Am folgenden Tage wollte er dem Statthal-ter seine Dienste anbieten; nachdem er sich dann ge-nau über Alles unterrichtet, was man von Dandu Pantwußte, das heißt worauf sich die in der Bekanntma-chung mitgetheilten Nachrichten gründeten, gedachteer nach dem Orte selbst zu gehen, von dem jene Mel-dung eingegangen war.

Gegen elf Uhr Abends wollte der Hindu, nachdem erso vielerlei Aussagen gehört, die, im Kopfe durchein-ander wirbelnd, ihn nur noch mehr in seinem Vorha-ben bestärkten, endlich einige Ruhe suchen. Als Woh-nung diente ihm nur eine am Doudhma-Ufer angelegteBarke, und träumend, mit halb geschlossenen Augen,wandte er die Schritte dahin.

Ohne sich dessen zu versehen, hatte der Fakir ihnnicht verlassen; ohne seine Aufmerksamkeit zu erre-gen, folgte dieser ihm möglichst im Schatten nach.

Am Ende jenes dichtbevölkerten Theiles von Aurun-gabad waren die Straßen um jene Stunde weniger be-lebt. Die Hauptverkehrsader mündete nach einem ver-ödeten Terrain hinaus, dessen Rand eines der Ufer derDoudhma bildete. Es war eine Art Wüste dicht an derStadt. Wenige verspätete Leute schritten noch gemäch-lich durch dieselbe den belebteren Straßen zu. Bald

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erstarb der Schall der letzten Schritte; der Hindu ach-tete indessen nicht darauf, daß er allein am Ufer desStromes dahinging.

Der Fakir folgte ihm noch immer und suchte die dun-kelsten Stellen des Weges auf, entweder unter demSchutze der Bäume, oder indem er an den düsterenMauern der da und dort verstreuten Ruinen von Häu-sern hinstrich.

Diese Vorsicht erschien nicht unnütz. Eben ging derMond auf und verbreitete einen ungewissen Schimmer.Der Hindu hätte also sehen können, daß Jemand ihmnachspähte und ihn scharf verfolgte. Des Fakirs Schrit-te konnte er doch unmöglich vernehmen. Dieser glitt jamit den bloßen Füßen mehr über den Boden, als daßer ging. Kein leises Geräusch verrieth seine Mitanwe-senheit am Ufer der Doudhma.

So verstrichen fünf Minuten. Der Hindu strebte –sozusagen maschinenartig – der elenden Barke zu, inder er die Nacht zu verbringen pflegte; eine andere Er-klärung gestattete die von ihm eingehaltene Richtungnicht. Er ging wie Einer, der es gewöhnt ist, allabend-lich diese einsame Gegend zu durchwandern, ganz ein-genommen von dem Gedanken an den Schritt, den eram nächsten Tage bei dem Statthalter thun wollte. DieHoffnung, sich rächen zu können an dem Nabab, dermit seinen Gefangenen damals nicht eben glimpflichumging, und die heftige Begierde, jene Belohnung zugewinnen, machten ihn gleichzeitig taub und blind.

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Natürlich hatte er keine Ahnung von der Gefahr, dieihn in Folge seiner unklugen Aeußerungen bedrohte.

Er sah nicht, wie der Fakir sich ihm mehr und mehrnäherte.

Aber plötzlich stürzte sich, gleich einem Tiger, einMann, mit einem Blitz in der Hand über ihn. Es warein Mondstrahl, der auf der Klinge eines malayischenDolches spielte.

In die Brust getroffen, sank der Hindu schwerfälligzur Erde.

Obwohl ein sicherer Arm den Stoß geführt hatte,war der Unglückliche doch nicht sofort getödtet. Miteinem Blutstrome quollen einige halb articulirte Worteaus seinem Munde.

Der Mörder beugte sich nieder, ergriff sein Opfer,hob es hoch auf und fragte, während er jetzt das volleMondlicht auf sein Gesicht fallen ließ:

»Erkennst Du mich nun wieder?– Er ist’s!« murmelte der Hindu.Der entsetzliche Name des Fakirs war sein letztes

Wort, als er an rascher Erstickung verendete.Einen Augenblick danach verschwand der Körper

des Hindu in den Fluthen der Doudhma, die ihn nichtwieder hergeben sollten.

Der Fakir wartete, bis das Plätschern der Wellen sichlegte. – Dann kehrte er um, durchschritt die verlasse-ne Gegend, hierauf die Stadttheile, in denen es allge-mach stiller wurde, und begab sich schnellen Schrittes

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nach einem der Thore der Stadt. Eben dort angelangt,schlossen sich dessen Flügel. Einige Soldaten der kö-niglichen Armee standen an demselben Wache. Der Fa-kir konnte entgegen seiner Absicht, Aurungabad nichtverlassen.

»Und ich muß doch hinaus, noch diese Nacht . . .oder niemals!« murmelte er für sich hin.

Er wandte sich zurück, folgte dem Wege längs desGlacis und erkletterte, zweihundert Schritt weiter, dieBöschung, um nach dem oberen Theile des Festungs-walles zu gelangen.

Dieser ragte nach außen zu um fünfzig Fuß überdie Sohle des davor ausgehobenen Grabens empor. Sei-ne Bekleidung bildete eine lothrechte Mauer ohne je-den Vorsprung, der als Stütze hätte dienen können. Eserschien ganz unmöglich, an dieser Wandfläche etwahinabzugleiten. Mittels eines Strickes ließ sich das Hin-absteigen wohl bewerkstelligen, des Fakirs Lendengür-tel maß aber nur wenige Fuß, war also ungeeignet, da-mit den Boden zu erreichen.

Der Fakir stand einen Augenblick still, forschte mitden Augen rings umher und überlegte, was er nun be-ginnen sollte.

Auf der Bekrönung des Walles breitete sich da unddort ein dunkles Blätterdach aus, die Wipfel großerBäume, welche Aurungabad wie ein lebender Rahmen

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umfassen. Die Baumkronen aber hatten lange, biegsa-me und zähe Aeste, die ja vielleicht dazu zu benut-zen waren, den Grund des Wallgrabens, wenn auch mitgroßer Gefahr, zu erreichen.

Als dem Fakir dieser Gedanke kam, zögerte er nichtlänger. Er verschwand unter einem solchen Blätterda-che und erschien bald wieder außerhalb der Mauer, amunteren Drittel eines langen Zweiges hängend, der sichunter seiner Last allmählich senkte. Als derselbe sichsoweit gebogen hatte, um den oberen Saum der Mau-er zu streifen, glitt der Fakir langsam nach abwärts, soals ob er ein Seil mit Knoten hielte. Bis fast zur Hälfteder Escarpe konnte er auf diese Weise wohl gelangen,noch immer trennten ihn aber gegen dreißig Fuß vomErdboden, den er erreichen mußte, um entfliehen zukönnen.

Da hing er nun schwankend zwischen Himmel undErde und suchte mit dem Fuß nach einem Einschnitt inder Mauer, um sich dagegen zu stemmen.

Plötzlich leuchteten mehrere Blitze durch das Dun-kel. Einige Schüsse krachten. Der Flüchtling war vonden Wachposten bemerkt worden. Diese gaben Feuer,doch ohne ihn zu treffen. Dagegen schlug zwei Zollüber seinem Kopfe eine Kugel durch den Zweig, derihn hielt.

Zwanzig Secunden später riß der Zweig, und der Fa-kir fiel in den Wallgraben . . . Ein Anderer hätte dabeiden Tod gefunden, er blieb heil und gesund.

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Aufzuspringen, die gegenüber liegende Böschungunter einem Hagel von Kugeln, die ihn alle fehlten,zu erklimmen und in dem Dunkel der Nacht zu ver-schwinden, das war für den Fliehenden nur ein Spiel.

Zwei Meilen von hier aus eilte er, ohne bemerktzu werden, am Cantonnement der englischen Truppenvorüber, welche außerhalb Aurungabads lagerten.

Zweihundert Schritte davon hielt er inne, drehte sichum und erhob die verstümmelte Hand drohend gegendie Stadt mit den Worten:

»Weh’ Denen, die noch in Dandu Pant’s Hände fal-len! Engländer, Ihr seid mit Nana Sahib noch nicht zuEnde!«

Nana Sahib! diesen Kriegsnamen, den gefürchtet-sten von allen blutigen Andenkens aus dem großenAufstande von 1857, rief der Nabab noch einmal wieeine letzte Herausforderung den Eroberern Indiens zu.

2. OBERST MUNRO.

»Aber, lieber Maucler, begann der Ingenieur Bankszu mir, Sie sprechen von Ihrer Reise auch kein Ster-benswörtchen. Man sollte glauben, Sie hätten Parisnoch gar nicht verlassen. Wie finden Sie Indien?

– Indien? erwiderte ich, ja, um davon sprechen zukönnen, müßte ich das Land doch wenigstens gesehenhaben.

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– Sehr schön! versetzte der Ingenieur. Sind Sie nichtvon Bombay nach Calcutta durch die ganze Halbinselgekommen? Nun, und wenn Sie nicht blind waren . . .

– Das bin ich nicht, lieber Banks, wohl aber war ichwährend jener Fahrt geblendet . . .

– Geblendet? . . .– Gewiß! Geblendet durch den Rauch, den Dampf,

den Staub, noch mehr aber durch die Schnelligkeit derFortbewegung. Ich will die Eisenbahnen nicht lästern,es ist ja Ihr Beruf, solche zu bauen, mein bester Banks;aber sich in das Coupé eines Waggons einzupferchen,als Gesichtsfeld nichts als die Scheiben der Wagent-hür zu haben, Tag und Nacht mit einer mittleren Ge-schwindigkeit von zehn Meilen in der Stunde dahin zujagen, jetzt über hohe Viaducte in Gesellschaft von Ad-lern und Lämmergeiern, nachher durch Tunnels in Ge-sellschaft von Ratten und Fledermäusen, nur an denBahnhöfen anzuhalten, die einer so aussehen wie derandere, von Städten weiter nichts zu sehen als die Au-ßenseite der Mauern und die oberste Spitze der Mi-narets, und das Alles unter dem unaufhörlichen Lär-men des Pustens der Locomotive, unter dem Pfeifendes Kessels, dem Aechzen der Schienen und dem Knar-ren der Bremsen – nennen Sie das etwa reisen?

– Sehr richtig! rief der Kapitän Hod. Nun antwortenSie darauf, Banks, wenn Sie es können. Was meinenSie dazu, Herr Oberst?«

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Der Oberst, an den Kapitän Hod seine Worte richte-te, neigte den Kopf ein wenig und sagte nur:

»Ich wäre begierig, zu hören, was Banks unseremGaste, Herrn Maucler, für eine Antwort geben kann.

– O, das setzt mich keineswegs in Verlegenheit,meinte der Ingenieur, ich gebe ja zu, daß Maucler voll-kommen Recht hat.

– Nun, fiel Kapitän Hod ein, wenn dem so ist, warumerbauen Sie Eisenbahnen?

– Um es Ihnen, Kapitän, zu ermöglichen, binnensechzig Stunden von Calcutta nach Bombay gelangenzu können, wenn Sie Eile haben.

– Ich habe niemals Eile.– Schön, dann wählen Sie die Great Trunk-Straße,

antwortete der Ingenieur. Wählen Sie diese, Hod, undreisen Sie zu Fuß!

– Das beabsichtige ich auch zu thun.– Wann?– Sobald der Herr Oberst zustimmt, mich bei ei-

nem herrlichen Spaziergange von acht- bis neunhun-dert Meilen quer durch die Halbinsel zu begleiten!«

Der Oberst lächelte still und verfiel in seine gewohn-te lange Träumerei, aus der ihn selbst seine bestenFreunde, wie der Ingenieur Banks und Kapitän Hod,nur mit Mühe zu erwecken vermochten.

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Seit einem Monate war ich in Indien angelangt, hat-te aber, da ich von Bombay über Allahabad nach Cal-cutta die Great Indian Peninsular-Bahnlinie benutzte,von der Halbinsel so gut wie nichts kennen gelernt.

Meine Absicht ging jedoch dahin, zunächst derennördlichen Theil, jenseit des Ganges, zu durchstreifen,die großen Städte daselbst zu besuchen, die hervorra-gendsten Denkmäler zu studieren und dieser Untersu-chung die erforderliche Zeit zu widmen, um sie gründ-lich durchzuführen.

Den Ingenieur Banks hatte ich in Paris kennen ge-lernt. Seit einigen Jahren schon verband uns eine inni-ge Freundschaft, welche der nähere vertraute Umgangnur steigern konnte. Ich versprach ihm seinerzeit nachIndien zu kommen, sobald die Vollendung der ScindPunjab and Delhi-Linie, deren Bau er leitete, ihm ei-nige Muße gönnen würde. Das war nun jetzt der Fall.Banks hatte gerechten Anspruch auf eine mehrmonat-liche Erholung, und ich kam nun mit dem Vorschlage,diese Ruhe auf einer anstrengenden Reise durch Indi-en zu genießen. Es versteht sich von selbst, daß er aufmeinen Wunsch mit voller Begeisterung einging. In ei-nigen Wochen schon, wenn die günstigere Jahreszeiteintrat, wollten wir aufbrechen.

Bei meiner Ankunft in Calcutta, im März 1867, hatteBanks mich mit einem seiner ehrenwerthen Kamera-den, dem Kapitän Hod, bekannt gemacht, und später

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mich auch seinem Freunde, dem Oberst Munro vorge-stellt, bei dem wir eben die Abendstunden verbrachthatten.

Der damals siebenundvierzigjährige Oberst bewohn-te im europäischen Stadtviertel ein etwas vereinsamtliegendes Haus, fern dem Getümmel, das die Handels-stadt und die schwarze Stadt, die beiden Bestandthei-le der Hauptstadt Indiens, kennzeichnet. Jenes Quar-tier wird zuweilen die »Stadt der Paläste« genannt,und wirklich fehlt es demselben an letzteren nicht,wenn man diese Bezeichnung auf Wohnungen anwen-den darf, die von Palästen freilich nichts weiter alsHallen, Säulen und Terrassen haben. Calcutta ist derSammelpunkt aller Baustyle, welche der englische Ge-schmack in den Städten der Alten und Neuen Welt mitVorliebe verwendet.

Was die Wohnstätte des Obersten betrifft, so war die-se ein sogenannter »Bungalow« in einfachster Form,das heißt ein auf einem Ziegelunterbau errichtetesHaus nur mit Erdgeschoß, dessen Dach pyramidenartighoch aufstieg. Rings um dasselbe lief eine von leichtenSäulen getragene Veranda. An den Seiten bildeten dieKüchen, Schuppen und Dienerwohnungen zwei aus-springende Flügel. Das Ganze lag inmitten eines mitschönen Bäumen bestandenen und von niedrigen Mau-ern umgebenen Gartens.

Das Haus des Obersten verrieth die Wohlhabenheitdes Besitzers. Das Dienstpersonal war so zahlreich, wie

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es die Lebensweise der indo-englischen Familien mitsich bringt. Mobiliar, Stoffe, innere Einrichtung, Al-les zeigte in der Auswahl und dem wohl erhaltenenZustande, daß hier zuerst die Hand einer verständi-gen Hausfrau gewaltet, aber daneben auch, daß die-se Frau hier nicht mehr weilen könne. Bezüglich derAufsicht der Dienstleute und der allgemeinen Führungdes Hauswesens verließ sich der Oberst vollständigauf einen seiner alten Waffengenossen, einen Schotten,früheren »Conductor« der königlichen Armee, den Ser-geanten Mac Neil, mit dem er alle Feldzüge in Indiendurchgefochten hatte, eines jener braven Herzen, diein der Brust Derjenigen zu schlagen scheinen, denensie sich einmal ergeben haben. Es war das ein großer,starker Mann von fünfundvierzig Jahren, mit Vollbartwie alle Bergschotten. Seiner Haltung, dem Gesichts-ausdrucke, sowie dem althergebrachten Costüm nachwar er mit Leib und Seele Highlander geblieben, ob-wohl er den Militärdienst gleichzeitig mit Oberst Mun-ro quittirte. Beide hatten seit 1860 ihren Abschied ge-nommen. Statt aber zu den »Glens« der Heimat, in dieMitte der alten »Clans« ihrer Vorfahren zurückzukeh-ren, waren Beide in Indien geblieben und lebten ineiner Art Zurückgezogenheit und Einsamkeit, welcheeine breitere Erklärung erfordern.

Als Banks mich dem Oberst Munro vorstellte, emp-fahl er mir nur eines:

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»Erwähnen Sie mit keiner Silbe des Sipahi-Aufstandes,sagte er, und vorzüglich sprechen Sie niemals den Na-men Nana Sahib aus!«

Der Oberst Edward Munro gehörte einer alten schot-tischen Familie an, deren Vorfahren sich in der Ge-schichte des Vereinigten Königreiches einen Namen ge-macht hatten. Zu seinen Ahnen zählte er jenen Sir Hec-tor Munro, der im Jahre 1760 die Armee von Benga-len befehligte und eine Empörung niederwarf, welchedie Sipahis, fast genau ein Jahrhundert später, wiedererneuern sollten. Major Munro erstickte den Aufstandmit unerbittlicher Energie und scheute nicht davor zu-rück, an einem Tage achtundzwanzig Rebellen vor dieMündung von Kanonen binden und in Stücke schießenzu lassen – eine entsetzliche Hinrichtungsart, welche1857 wiederholt zur Anwendung kam und deren Er-finder vielleicht der Ahnherr des Obersten war.

Zur Zeit, als die Sipahis sich erhoben, befehligteOberst Munro das 93. Regiment schottischer Infante-rie der königlichen Armee. Er wohnte fast dem gan-zen Feldzuge unter dem Oberbefehle Sir James Ou-tram’s bei, jenes Helden dieses Krieges, der sich denNamen des »Bayard der indischen Armee« verdiente,wie Sir Charles Napier ihn bezeichnete. Mit diesembefand sich Oberst Munro also in Khanpur; er nahmTheil an dem zweiten Feldzuge Colin Campbell’s in In-dien, wohnte der Belagerung von Laknau bei und ver-ließ diesen berühmten Soldaten erst, als Outram zum

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Mitgliede des Rathes von Indien in Calcutta ernanntworden war. Im Jahre 1858 sehen wir den Oberst SirEdward Munro als Commandeur des Sternes von Indi-en, »the Star of India (K.C.S.J.)«.

Er war zum Baronet erhoben worden und seine Gat-tin hätte damit den Titel Lady Munro1 erhalten, wenndie Unglückliche nicht am 15. Juli 1857 bei dem schau-erlichen Gemetzel in Khanpur – eine Blutthat, die sichunter den Augen und auf Befehl Nana Sahib’s vollzog– umgekommen wäre.

Lady Munro – des Obersten Freunde nannten sie nie-mals anders – wurde von ihrem Gatten angebetet. Siezählte kaum siebenundzwanzig Jahre, als sie, gleich-zeitig mit zweihundert anderen Opfern, bei jener ab-scheulichen Schlächterei spurlos verschwand. Die nachder Einnahme von Laknau wie durch ein Wunder ge-retteten Mistreß Orr und Miß Jackson hatten die Ei-ne ihren Gatten, die Andere ihren Vater überlebt. La-dy Munro sollte dem Oberst Munro nicht zurückgege-ben werden. Es war sogar unmöglich, ihre, mit denender zahlreichen Opfer in dem Schachte von Khanpurvermengten Ueberreste wieder aufzufinden und ihr einchristliches Begräbniß zu bereiten.

In seiner Verzweiflung erfüllte Sir Edward Munronur noch ein Gedanke, der einzige, Nana Sahib, den

1Eine Frau ohne Titel, welche einen Baronet oder Ritter heirat-het, erhält den Titel Lady vor dem Namen ihres Mannes. DieseBezeichnung als Lady darf aber nicht dem Taufnamen vorgesetztwerden, was allein den Töchtern der Peers gestattet ist.

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die englische Regierung allerwärts suchen ließ, auf-zufinden und den ihn verzehrenden, gerechten Durstnach Rache zu löschen. Um in dieser Richtung minderbeschränkt zu sein, hatte er den Abschied genommen.Der Sergeant Mac Neil folgte ihm auf Schritt und Tritt.Von demselben Geiste beseelt, von demselben Gedan-ken getrieben und ein und dasselbe Ziel im Auge, ver-folgten die beiden Männer jede Spur und forschten dergeringsten Andeutung weiter nach, waren dabei abernicht glücklicher als die englischindische Polizei. NanaSahib entging allen ihren Nachforschungen. Nach dreiJahren fruchtlosen Bemühens mußten sich der Oberstund der Sergeant entschließen, vorläufig von weite-ren Schritten abzusehen. Uebrigens verbreitete sich zueben jener Zeit in Indien das Gerücht von Nana Sa-hib’s Tode, und zwar diesmal mit einem solchen Gradevon Glaubwürdigkeit, daß man es nicht wohl längerbezweifeln durfte.

Sir Edward Munro und Mac Neil kehrten also nachCalcutta zurück, wo sie sich in dem isolirten Bungalowfestsetzten. Hier lasen sie weder Bücher noch Journale,welche an die blutige Zeit des Aufruhrs hätten erinnernkönnen, und verließen niemals die Wohnung, in derder Oberst gleich einem Manne mit einem ziel- undzwecklosen Leben dahin vegetirte.

Die Nachricht von dem Wiedererscheinen Nana’s inder Präsidentschaft Bombay – eine Neuigkeit, welcheschon mehrere Tage von Mund zu Mund ging – schien

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nicht zur Kenntniß des Obersten gekommen zu sein.Und das war ein Glück zu nennen, denn er hätte denBungalow sofort verlassen.

Hierin bestanden etwa Bank’s Mittheilungen, bevorer mich in jenes Haus einführte, aus dem die Freudefür immer verbannt war. Ebendeshalb sollte jede An-deutung an die Empörung der Sipahis und deren grau-samsten Anführer Nana Sahib vermieden werden.

Nur zwei Freunde – zwei allseitig erprobte Freunde –besuchten fleißig das Haus des Obersten, der IngenieurBanks und der Kapitän Hod.

Banks hatte, wie erwähnt, eben die ihm bei der Er-bauung der Great Indian Peninsular-Eisenbahn über-tragenen Arbeiten vollendet. Er war ein Mann vonfünfundvierzig Jahren, in der ganzen Kraft seines Al-ters. Zwar sollte er nun auch an der, zur Verbindungdes arabischen Golfs mit der Bai von Bengalen zuerrichtenden Madras-Bahn thätigen Antheil nehmen,doch konnten diese Arbeiten vor Ablauf eines Jahresschwerlich beginnen. Er genoß diese Muße also in Cal-cutta, immer beschäftigt mit mechanischen Problemen,denn in ihm wohnte ein rastloser, fruchtbarer Geist,der stets mit irgend einer neuen Erfindung schwangerging. Außer dieser Thätigkeit widmete er jede Stun-de dem Obersten, mit dem ihn eine zwanzigjährigeFreundschaft verband. Fast jeden Abend verbrachte er

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unter der Veranda des Bungalow in Gesellschaft Sir Ed-ward Munro’s und des Kapitän Hod, der eben einenzehnmonatlichen Urlaub erhalten hatte.

Hod stand bei der 1. Escadron der Karabiniers derköniglichen Armee und hatte den ganzen Feldzug1857–58 mitgemacht, erst unter Sir Colin Campbell inAudh und Rohilkhande, dann unter Sir H. Rose in denCentralstaaten – ein Kampf, der mit der Einnahme vonGwalior endigte.

Der in der rauhen Schule Indiens erzogene KapitänHod, eines der hervorragendsten Mitglieder des Clubsvon Madras, rothblond von Bart und Haar, zählte nichtmehr als dreißig Jahre. Obwohl er der königlichen Ar-mee zugehörte, hätte man ihn wohl für einen Officierder eingebornen Truppen halten können. Ihm erschi-en Indien als das Reich von Gottes Gnaden, das gelob-te Land, das einzige, in dem ein Mann leben könnteund sollte. Hier konnte er alle seine Neigungen be-friedigen. Soldat von Temperament, bot sich ihm un-ausgesetzt Gelegenheit, sich zu schlagen. Verweilte erals ausgedienter Jäger nicht in dem Lande, wo die Na-tur alles Raubgethier der Schöpfung neben allem Pelz-und Federwild der Neuen und Alten Welt vereinigt zuhaben schien? Hatte er als leidenschaftlicher Bergstei-ger nicht die imposante Kette von Thibet zur Hand, inder die höchsten Gipfel der Erde emporstreben? Washinderte ihn als unerschrockenen Reisenden den Fuß

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dahin zu setzen, wohin vor ihm noch Niemand gedrun-gen war, in jenen unnahbaren Regionen der Himalaya-Grenze? Fehlten ihm als enthusiasmirten Turfisten dieRennbahnen Indiens, die in seinen Augen denen vonMarche und Epsom gleichkamen? In letzterer Bezie-hung gingen seine und Banks’ Ansichten allerdingsweit auseinander. Als Vollblut-Mechaniker interessir-te sich der Ingenieur nur sehr wenig für die Pferde-Heldenthaten eines »Gladiator« oder einer »Tochterder Luft«.

Eines Tages, als ihm Kapitän Hod deshalb besonderszusetzte, erwiderte Banks, daß die Wettrennen eigent-lich nur unter einer Bedingung ein höheres Interesseerwecken könnten.

»Und diese wäre? fragte Hod.– Die Aufstellung der Bedingung, erklärte Banks

ganz ernsthaft, daß der zuletzt ankommende Jockeyam Pfosten sofort füsilirt würde!

– Das nenne ich eine Idee! . . . « antwortete einfachHod.

Er wäre auch der Mann dazu gewesen, persönlichauf das Wagstück einzugehen.

Solcher Art waren die beiden fleißigen Gäste in SirEdward Munro’s Bungalow. Der Oberst hörte sie gernüber allerlei plaudern, und ihre zäh fortgesetzten Re-den und Gegenreden lockten manchmal sogar ein Lä-cheln auf seine Lippen.

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Die beiden wackeren Leute begegneten sich jedochin dem einen Wunsche, den Oberst zu einer Reise zubestimmen, die ihm einige Zerstreuung bieten könnte.Schon wiederholt hatten sie den Vorschlag gemacht,nach dem Norden der Halbinsel zu gehen, um mehrereMonate in der Nähe jener »Sanitarien« zuzubringen,in welche sich die reiche anglo-indische Gesellschaftwährend der heißen Jahreszeit freiwillig flüchtet. DerOberst war nie darauf eingegangen.

Auch bezüglich der von mir und Banks geplantenReise hatten wir seine Meinung zu erforschen gesucht.Eben an jenem Abend kam das Gespräch wieder aufdieselbe. Der Leser weiß bereits, daß Kapitän Hod vonnichts Geringerem sprach als von einer weitläufigenFußtour nach dem Norden Indiens. Wenn Banks diePferde nicht liebte, so war Hod ein Feind der Eisen-bahnen. Beide befanden sich also in Widerspruch.

Ein Mittelweg hätte sich damit finden lassen, daßman, wie und wann es eben beliebte, im Wagen oderPalankin reiste, was auf den schönen und wohlerhalte-nen Hauptstraßen von Hindostan ohne Schwierigkeitauszuführen ist.

»Reden Sie mir nicht von ihren Geschirren mit Och-sen oder bucklichen Zebus! rief Banks. Ohne uns wä-ren Sie noch heute auf diese primitiven Fuhrwerke be-schränkt, von denen man in Europa schon seit fünf-hundert Jahren nichts mehr wissen mochte.

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– Oho, Banks, erwiderte Kapitän Hod, mit IhrenWaggons und ihren Cramptons können sie sich wohlmessen! Solche große Büffel, welche im tüchtigen Ga-lopp gehen und die man an jeder Poststation von zweizu zwei Stunden wechselt . . .

– Und die so eine Art vierrädriger Tartanen ziehen, indenen man mehr umhergeworfen wird, als die Fischerin ihren Booten auf bewegtem Wasser!

– Ich sprach nicht von Tartanen, Banks, antworte-te Kapitän Hod. Giebt es denn keine Wagen mit zwei,drei oder vier Pferden, die an Schnelligkeit mit Euern.»Convois«, welche diesen traurigen Namen mit Rechtführen,1 wetteifern. Ich würde den einfachen Palankinvorziehen . . .

– Nun gar Ihre Palankins, Kapitän Hod, wahrhafteSärge von sechs Fuß Länge und vier Fuß Breite, in de-nen man wie ein Leichnam eingebettet liegt!

– Zugegeben, Banks, aber da giebt es kein Schüt-teln und kein Stoßen; man kann nach Belieben lesen,schreiben, schlafen, ohne an jeder Station aufgewecktzu werden. In einem Palankin mit vier bis sechs benga-lischen Gamals (Name der Palankinträger in Indien)legt man bequem vier und eine halbe Meile (gegenacht Kilometer) zurück, ohne, wie bei Ihren unbarm-herzigen Expreßzügen, Gefahr zu laufen, daß man fasteher am Ziel anlangt, als man abgefahren ist.

1Ein unübersetzbares Wortspiel, da »convoi« im Französischensowohl »Eisenbahnzug«, als auch »Trauergeleite« bezeichnet.

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– Das Beste, warf ich da ein, wäre doch, gleich seinHaus mitführen zu können!

– Als Schnecke! rief Banks.– Lieber Freund, antwortete ich, eine Schnecke, die

ihr Haus nach Belieben verlassen und auch wiederin dasselbe eintreten könnte, wäre wohl nicht allzuschwer zu beklagen. In seinem Hause zu reisen, dasnach Wunsch da oder dorthin rollt, das wäre ja diehöchste Potenz des Fortschritts im Reisen!

– Vielleicht, sagte da Oberst Munro; von der Stelle zukommen, während man immer in seinen vier Pfählenweilt, seine ganze Umgebung und alle Erinnerungen,die daran hängen, mit sich zu nehmen, den Horizont,den Gesichtspunkt, Atmosphäre und Klima mit ande-ren zu vertauschen, ohne seine gewohnte Lebensweisezu ändern . . . ja, ja, . . . vielleicht!

– Da umgeht man die für Reisende bestimmten Bun-galows, fuhr Kapitän Hod fort, in denen der Comfortimmer zu wünschen übrig läßt, und worin man nurmit Erlaubniß der Ortsbehörden verweilen darf!

– Ebenso wie die abscheulichen Gasthäuser, in denenEinem moralisch und physisch das Fell über die Ohrengezogen wird! bemerkte ich dazu nicht ohne Grund.

– Der Wagen der Quacksalber und Marktschreier!rief Kapitän Hod, aber in modernisirter Façon! Welch’schöner Traum! Anzuhalten, wenn man will, abzufah-ren, wenn es beliebt, zu Fuß neben her zu gehen, wenn

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man spazieren will, im Galopp zu fahren, wenn es dar-auf ankommt, nicht nur ein Schlafzimmer mitzuneh-men, sondern auch den Salon, das Speise- und Rauch-zimmer und vor Allem Küche und Koch dazu, das wäreein Fortschritt, Freund Banks! Versuchen Sie, das zuwiderlegen, Herr Ingenieur, versuchen Sie es!

– Ei, ei, Freund Hod, antwortete Banks, ich wäre javollkommen Ihrer Ansicht, wenn . . .

– Wenn? . . . wiederholte der Kapitän achselzuckend.– Wenn Sie in Ihrem Fortschritts-Schnelllauf nur

nicht urplötzlich angehalten hätten.– Es giebt also noch Besseres?– Nun, hören Sie. Sie erklären das bewegliche Haus

für überlegen dem Waggon, dem Salonwagen, sogarden Sleeping-cars der Eisenbahn. Sie haben recht, lie-ber Kapitän, wenn man Zeit zu verlieren hat, wennman zum Vergnügen und nicht in Geschäften reist. Ichglaube, hierin stimmen wir Alle überein?

– Alle!« bestätigte man.Der Oberst Munro nickte mit dem Kopfe als Zeichen

seiner Zustimmung.»Das ist also abgemacht, fuhr Banks fort. Nun wei-

ter. Angenommen, Sie hätten sich an ein Doppelwe-sen, einen Wagenbauer-Architekten, gewendet und ererbauete Ihnen das gewünschte rollende Haus. Dasteht es nun im besten Chic, allen Anforderungen ei-nes Freundes des Comforts entsprechend. Es ist nichtallzu hoch, wodurch ihm das Umfallen erspart bleibt,

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nicht zu breit, um auf jedem Wege fort zu können, undsinnreich auf Federn befestigt, um leicht und bequemdarin zu fahren. Mit einem Worte, es ist vollkommen.Ich nehme an, es wäre für unseren Freund, den Ober-sten, hergestellt worden. Er ladet uns Alle ein. Wir wol-len meinetwegen die nördlichen Theile Indiens besu-chen, als Schnecken, aber als solche Schnecken, derenSchwanz nicht untrennbar mit dem Gehäuse verwach-sen ist. Alles ist bereit. Man hat nichts vergessen . . .nicht einmal den Koch und die Küche, die dem Kapi-tän so sehr am Herzen liegen. Der Tag der Abreise istgekommen; man schickt sich dazu an. All right! . . . Ja,wer wird es aber ziehen, Euer rollendes Haus, meinbester Freund?

– Wer? rief Kapitän Hod. Nun, Maulesel, Esel, Pfer-de, Büffel!

– Gleich zu Dutzenden? fragte Banks.– Elephanten! versetzte Kapitän Hod, Elephanten!

Das wäre herrlich und majestätisch! Ein Haus gezo-gen von einem Elephantengespann, von wohldressir-ten, stolzen Thieren, welche davongehen und galoppi-ren trotz der besten Kutschpferde der Welt!

– Das wäre großartig, Herr Kapitän.– Ein Rajah-Zug auf dem Lande, Herr Ingenieur.– Gewiß! Aber . . .– Aber . . . was? Giebt es noch ein Aber? fiel ihm

Kapitän Hod in’s Wort.– Ein großes Aber!

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– O, über diese Ingenieurs! Sie taugen zu nichts, alsüberall Schwierigkeiten zu wittern! . . .

– Und sie zu beseitigen, wenn das überhaupt mög-lich ist, erwiderte Banks.

– So schaffen Sie sie beiseite!– Das werde ich, und zwar folgendermaßen. Alle je-

ne bewegenden Kräfte, lieber Munro, welche der Kapi-tän da aufgezählt hat, sie gehen wohl, sie schleppen,sie ziehen, aber – sie ermüden auch. Sie werden wi-derspenstig, eigenwillig, vorzüglich aber brauchen al-le – Futter. Sobald nun Mangel an Weiden eintritt, daman doch nicht wohl fünfhundert Acres Wiesen mit-nehmen kann, so steht das Gespann still, verliert dieKräfte, stürzt, stirbt vor Hunger, das rollende Haus be-wegt sich nicht weiter und bleibt ebenso auf demsel-ben Flecke, wie der Bungalow, in dem wir jetzt dar-über sprechen. Daraus folgt, daß besagtes Haus nichteher praktisch brauchbar werden wird, als bis es in derGestalt eines Dampfhauses auftritt.

– Das natürlich auf Schienen läuft! rief der Kapitänachselzuckend.

– Nein, auf allen Wegen, entgegnete der Ingenieur,indem es von einer verbesserten Straßenlocomotivegezogen wird.

– Bravo! jubelte der Kapitän, bravo! Von der Stundean, wo Ihr Dampfhaus nicht mehr auf einem Schienen-wege rollt und gehen kann, wohin es will, ohne jenem

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gebieterischen Eisenstrang folgen zu müssen, bin ichgern dabei!

– Aber, warf ich Banks noch ein, wenn Maulesel,Esel, Pferde, Büffel und Elephanten fressen, so brauchteine Maschine auch Nahrung, denn wenn es ihr anBrennmaterial fehlt, wird sie ebenso unterwegs stehenbleiben.

– Ein Dampfroß, antwortete Banks, entwickelt dieKräfte von drei bis vier gewöhnlichen Pferden, unddiese Leistung kann im Nothfall auch noch gesteigertwerden. Das Dampfroß unterliegt keiner Ermüdung,keiner Krankheit. Jederzeit, unter jeder Breite, jederSonne, unter Regen und Schnee geht es ohne Erschöp-fung weiter. Es braucht nicht einmal die Angriffe wil-der Thiere zu fürchten, nicht den Biß der Schlangen,nicht den Stich der Bremsen oder anderer lästiger In-secten. Es bedarf nicht des Stachels des Büffeltreibers,nicht der Peitsche der Wagenführer. Ihm ist auszuru-hen unnöthig, der Schlaf unbekannt. Das aus der Handdes Menschen hervorgegangene Dampfroß ist, wennman nur dessen Zweck im Auge behält und nicht auchvon ihm erwartet, daß es einmal am Spieße gebratenwerden könne, allen Zugthieren überlegen, welche dieVorsehung den Menschen gegeben hat. Etwas Oel oderFett, ein wenig Kohle oder Holz, das ist Alles, was esverzehrt. Sie wissen aber, meine Freunde, daß auf derindischen Halbinsel an Wäldern kein Mangel ist unddas Holz Jedem gehört, der es nimmt.

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– Sehr schön, rief Kapitän Hod. Ein Hurrah demDampfrosse! Ich sehe schon des Ingenieur Banks’ rol-lendes Haus auf den Landstraßen Indiens dahingezo-gen, wie es durch die Dschungeln dringt, schnaubendtief in die Wälder zieht, sich vorwagt bis zu der Höh-le des Löwen, des Panthers, Tigers, des Bären, Leopar-den und des Guepards; unter dem Schutze seiner Mau-ern erlegen wir Hekatomben von Raubthieren und ste-chen die Anderson, Gérard, Pertuiset, Chassaing undalle Nimrods der Welt aus! O, Banks, mir läuft das Was-ser im Munde zusammen, Sie lassen es mich bedauern,nicht fünfzig Jahre später geboren zu sein!

– Und weshalb, Herr Kapitän?– Weil Ihr Traum in fünfzig Jahren in Erfüllung ge-

hen und das Dampfhaus gebaut sein wird.– Das ist schon so gut wie geschehen, antwortete ein-

fach der Ingenieur.– Geschehen und vielleicht durch Sie?– Durch mich, und ich fürchte dabei nur das Eine,

daß es Ihren Traum noch übertreffen dürfte . . .– An’s Werk, Banks, an’s Werk!« rief Kapitän Hod,

der wie von einem elektrischen Schlage getroffen auf-sprang und zur Abreise schon bereit schien.

Der Ingenieur beruhigte ihn durch eine Handbewe-gung, dann wendete er sich mit ernster Stimme an SirEdward Munro.

»Edward, sagte er, wenn ich Dir ein rollendes Hauszur Verfügung stelle, wenn ich nach einem Monat bei

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Eintritt der besseren Jahreszeit komme und zu Dir sa-ge: Hier ist Dein Zimmer, das sich fortbewegt und geht,wohin Du willst, hier Deine Freunde, Maucler, KapitänHod und ich, welche lebhaft wünschen, Dich auf einemAusfluge nach dem Norden Indiens zu begleiten, wirstDu mir dann antworten: »Brechen wir auf, Banks, bre-chen wir auf, und möge der Gott der Reisenden unsbehüten?«

– Ja, meine Freunde, antwortete Oberst Munro nachkurzer Ueberlegung. Banks, ich stelle Dir die nöthigenMittel zur Verfügung. Halte Dein Versprechen! Bring’uns das ideale Dampfhaus, das Hod’s Träume nochübertrifft, und wir streifen durch ganz Indien!

– Hurrah! Hurrah! Hurrah! rief Kapitän Hod, undwehe dem Raubzeug an den Grenzen von Nepal!«

Da erschien, herbeigelockt durch die Hurrahs desKapitäns, der Sergeant Mac Neil in der Thür.

»Mac Neil, redete der Oberst ihn an, wir reisen ineinem Monat nach dem Norden von Indien ab. Du bistdoch dabei?

– Selbstverständlich, Herr Oberst, da Sie ja dabeisind!« antwortete der Sergeant Mac Neil.

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3. DER AUFSTAND DER SIPAHIS.

Einige Zeilen werden uns im Allgemeinen darüberbelehren, in welchem Zustande sich Indien zur Zeit un-serer Erzählung befand, und vorzüglich über jenen ge-waltigen Aufstand der Sipahis, dessen Hauptzüge wirim Folgenden vorführen.

Im Jahre 1600 unter der Regierung Elisabeth’s ent-stand auf dem heiligen Boden von Aryawarta, inmitteneiner Bevölkerung von zweihundert Millionen Seelen,von der hundertzwölf Millionen der Hindu-Religionangehörten, die ehrenwerthe Indische Compagnie, be-kannt unter dem Spitznamen »Old John Company«.

Dieselbe bildete anfangs nur eine »Vereinigung vonKaufleuten, die mit Ostindien in Verkehr standen«, undan deren Spitze der Herzog von Cumberland trat.

Jener Zeit nahm die in Indien früher so ausgedehn-te Macht Portugals schon merklich ab. Die Engländermachten sich diese Verhältnisse zunutze und schrittenzu dem Versuche, in der Präsidentschaft Bengalen, de-ren Hauptstadt Calcutta der Mittelpunkt einer neuenRegierung werden sollte, eine politische und militäri-sche Administration einzuführen. Zuerst besetzte dieProvinz das von England geschickte 39. Regiment derköniglichen Armee. Daher stammt die Inschrift, welchees noch jetzt auf seiner Fahne führt, »Primus in Indiis«.

Inzwischen war, ziemlich zu derselben Zeit und un-ter der Patronage Colbert’s, eine französische Gesell-schaft zusammengetreten, welche das nämliche Ziel

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verfolgte, wie die Vereinigung der Londoner Kaufleu-te. Aus dieser Rivalität entstanden natürlich mancheReibungen und langdauernde Kämpfe mit wechseln-dem Erfolge, in welche sich unter Anderen die Dupleix,Labourdonnais und Lally Tollendal auszeichneten. Zu-letzt mußten die von der Uebermacht erdrückten Fran-zosen Karnatik verlassen, jenes Gebiet der Halbinsel,das einen Theil der östlichen Küste umfaßt.

Von den früheren Mitbewerbern befreit und wedervon Portugal noch von Frankreich etwas fürchtend,strebte Lord Clyve danach, den Erwerb Bengalens zusichern, zu dessen General-Gouverneur Lord Hastingsernannt wurde. Zum Zweck einer brauchbaren unddauernden Administration wurden nun verschiedeneReformen durchgesetzt. Als die so mächtige und al-les in sich aufnehmende Indische Compagnie aber aufder Höhe ihrer Macht stand, traf sie ein Schlag, der ih-re wichtigsten Lebensinteressen verletzte. Einige Jahrespäter, im Jahre 1784, brachte Pitt noch mehrere Ab-änderungen ihrer ursprünglichen Charte in Vorschlag.Die Gewalt sollte danach in die Hand der Räthe derKrone übergehen. Die Folge dieser neuen Ordnung derDinge war, daß die Compagnie im Jahre 1813 das Mo-nopol des Handels in Indien und 1833 das chinesischeHandelsmonopol verlieren sollte.

Hatte England nun auch nicht ferner mit fremdenMächten auf der Halbinsel zu kämpfen, so mußte esdoch viele langwierige Kriege führen, theils mit den

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früheren Besitzern des Landes, theils mit den letztenasiatischen Eroberern dieser Gebiete.

Hierher gehört z.B. unter Lord Cornwallis, 1784, derKampf gegen Tippo Sahib, der am 4. Mai 1799 beimletzten Angriffe des General Harris auf Seringapatamgetödtet wurde. Ferner der Krieg mit den Maharatten,einer im 18. Jahrhundert noch sehr mächtigen Race,sowie der Kampf mit den Pindarris, welche so helden-müthigen Widerstand leisteten. Ferner der Krieg gegendie Gourgkhas von Nepal, jene kühnen Bergbewohner,die sich bei der harten Probe des Jahres 1857 als treueVerbündete der Engländer bewähren sollten. Endlichder Krieg mit den Birmanen, 1823–1824.

Im Jahre 1828 waren die Engländer, direct oder indi-rect, die Herren eines großen Theiles des Reiches. MitLord William Bentinck begann eine neue administrati-ve Aera.

Seit Regulirung der Wehrkräfte Indiens hatte die Ar-mee von jeher aus zwei völlig verschiedenen Contin-genten bestanden, aus dem europäischen Heerestheileund dem der Eingebornen oder Natifs. Der erstere bil-dete die königliche Armee mit Cavallerie-Regimentern,

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Infanterie-Bataillonen und mehreren Bataillonen euro-päischer Infanterie im Dienste der Indischen Compa-gnie; der zweite bestand aus der Natifs-Armee und ent-hielt Infanterie- und Cavallerie-Bataillone, doch wur-den die Eingebornen von englischen Officieren befeh-ligt. Hierzu trat noch die Artillerie, deren der Compa-gnie angehörende Mannschaften, mit Ausnahme eini-ger Batterien, lauter Europäer waren.

Die Kopfzahl dieser Regimenter oder Bataillone, wel-che in der königlichen Armee ohne Unterschied so be-zeichnet werden, erreichte für die Infanterie elfhun-dert Mann per Bataillon bei der Armee von Benga-len, und acht- bis neunhundert bei den Armeen vonBombay und Madras; bezüglich der Cavallerie rechne-te man sechshundert Säbel auf jedes Regiment beiderArmeen.

Nach den sehr genauen Angaben de Velbezen’s, inseinem höchst beachtenswerthen Buche »Neue Stu-dien über die Engländer und Indien«, 1857, konnteman »die eingebornen Truppen auf zweimalhundert-tausend, die europäischen Truppen aus allen drei Prä-sidentschaften auf fünfundvierzigtausend schätzen.«

Die Sipahis, ein reguläres Corps unter englischenOfficieren, waren von jeher nicht abgeneigt, das Jochder europäischen Disciplin abzuschütteln, das ihre Be-sieger ihnen aufbürdeten. Schon im Jahre 1806 hat-te die in Vallore cantonnirende Garnison von Madras,vielleicht auf Anstiften des Sohnes Tippo Sahib’s, die

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Feldwache des 69. Regimentes der königlichen Armeeermordet, die Kaserne in Brand gesteckt, die Officie-re und deren Familien umgebracht und selbst in denLazarethen die kranken Soldaten erschossen. Was waraber die Ursache dieser Empörung, wenigstens die äu-ßerliche? Angeblich eine die Schnurrbärte, die Haar-tracht und die Ohrringe betreffende Frage, in Wahrheitder Haß der Unterdrückten gegen die Sieger.

Diese erste Erhebung wurde durch die in Ascol gar-nisonirende königliche Macht schnell niedergeworfen.

Ein ähnlicher Grund – auch nur ein Vorwand – soll-te auch 1857 den ersten Anstoß zu der Erhebung ge-ben, zu einem weit furchtbareren Aufstande, der viel-leicht die Macht Englands in Indien vernichtet hätte,wenn die eingebornen Truppen der PräsidentschaftenMadras und Bombay sich an demselben betheiligten.

Vor Allem muß man aber vor Augen behalten, daßdieser Aufstand des nationalen Charakters entbehrte.Die Hindus des Landes wie der Städte hielten sich dem-selben vollständig fern. Uebrigens beschränkte er sichauf die halb unabhängigen Staaten Central-Indiens,auf die Nordwest-Provinzen und das Königreich Audh.Das Pendjab mit seinen drei Schwadronen Kaukasus-Indiern blieb den Engländern treu. Treu blieben auchdie Shiks, jene Arbeiter der unteren Kaste, die sich beider Belagerung Delhis besonders auszeichneten; fernerdie Gourgkhas, welche der Rajah von Nepal in der Zahl

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von zwölftausend zur Belagerung Laknaus herbeiführ-te; endlich die Maharajahs von Gwalior und Pattyala,der Rajah von Rampore, die Rani von Bhopal, welcheihre militärische Ehre bewahrten, oder, um den unterden Natifs von Indien gewöhnlichen Ausdruck zu ge-brauchen, »dem Salz treu blieben«.

Zu Anfang der Empörung stand der General-GouverneurLord Canning an der Spitze der Verwaltung. Vielleichttäuschte sich dieser Staatsmann über die Tragweiteder Bewegung. Schon seit einigen Jahren erblich derStern des Vereinigten Königreichs sichtlich am Hindu-Himmel. Der Rückzug aus Kabul 1848 verminderte dasfrühere Ansehen der europäischen Eroberer nur nochmehr. Auch im Krim-Kriege befand sich die englischeArmee nach manchen Seiten hin nicht auf der Höheder Situation. Da dachten die Sipahis, welche von denVorfällen am Schwarzen Meere eingehende Nachrich-ten erhielten, schon an die Möglichkeit, daß eine Er-hebung der eingebornen Truppen wohl von Erfolg seinkönne. Es bedurfte nur noch eines Funkens zur Ent-flammung der Gemüther, die durch ihre Dichter undSänger, die Brahmanen und die »Moulvis«, hinlänglichvorbereitet waren.

Diese Gelegenheit bot sich 1857, als der Bestand derköniglichen Armee in Folge äußerer Verwickelungengerade nicht unerheblich geschwächt war.

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Zu Anfang genannten Jahres begab sich Nana Sahib,oder Nabab Dandu Pant, der in der Nähe von Khan-pur residirte, erst nach Delhi und dann nach Laknau,offenbar um die von langer Hand her vorbereitete Er-hebung in’s Leben zu rufen. Wirklich brach kurze Zeitnach der Abreise Nana’s die insurrectionelle Bewegungoffen aus.

Die englische Regierung hatte in der Natifs-Armeeeben die Einfield-Büchse eingeführt, bei deren Ge-brauch eingefettete Patronen in Anwendung kommen.Da verbreitete sich plötzlich das Gerücht, dieses Fettrühre theils von Kühen, theils von Schweinen her, jenachdem die Patronen für die Hindus oder Muselma-nen der eingebornen Armee bestimmt seien.

In einem Lande nun, in welchem sich die Einwohnersogar der Seife enthalten, weil das Fett eines gehei-ligten oder verbotenen Thieres in deren Zusammen-setzung eingegangen sein könne, konnte die Verwen-dung solcher mit Fett bestrichenen Patronen, die übri-gens mit den Zähnen zerrissen werden mußten, nichtohne Schwierigkeit durchgeführt werden. Die Regie-rung trug den ihnen gemachten Vorstellungen theil-weise Rechnung; trotzdem aber, daß sie die Handha-bung des Gewehrs modificirte und die Versicherunggab, daß zu den Patronen kein solches verpöntes Fettverwendet werde, gelang es ihr damit doch nicht, inder Armee der Sipahis auch nur einen Mann zu über-zeugen und zu beruhigen.

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Am 24. Februar verweigerte das 34. Regiment in Be-rampore die Entgegennahme der Patronen. Mitte Märzwird ein Adjutant ermordet, und trägt das nach Hin-richtung der Mörder entlassene Regiment den Keimder Empörung in die benachbarten Provinzen.

Am 10. Mai erheben sich in Miral, etwas nördlichvon Delhi, das 3., 11. und 20. Regiment, die Meute-rer ermorden ihre Obersten und einige Stabsofficiere;plündern die Stadt und ziehen sich dann nach Delhizurück. Dort schließt sich ihnen der Rajah, ein Nach-komme Timur’s, an, das Zeughaus fällt in ihre Handund die Officiere des 54. Regiments werden niederge-metzelt.

Am 11. Mai werden in Delhi der Gouverneur Fraserund seine Officiere, sogar im Palaste des europäischenCommandanten, schonungslos massacrirt, und am 16.Mai fallen neunundvierzig Gefangene, Männer, Frauenund Kinder, unter dem Beile der Mörder.

Am 20. Mai tödtete das nahe bei Lahore cantonni-rende Regiment den Hafencommandanten und den eu-ropäischen Sergeant-Major.

Nun war die fürchterlichste Metzelei in Gang ge-bracht.

Am 28. Mai fallen in Nourabad weitere Opfer unterden anglo-indischen Officieren.

Am 30. Mai im Cantonnement von Laknau, Ermor-dung des Brigade-Commandanten, seines Adjutantenund mehrerer Officiere.

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Am 31. Mai zu Bareilli in Rohilkhande, Niedermet-zelung einiger überraschter Officiere, die sich nicht zuvertheidigen vermögen.

Am nämlichen Tage, in Shajahanpore, Ermordungdes Steuereinnehmers und einer Anzahl Officiere durchSipahis vom 38. Regiment, und am nächsten Tage, jen-seits Bavar, Ueberfall und Abschlachtung vieler Officie-re, Frauen und Kinder, auf der Flucht nach der, eineMeile von Aurungabad gelegenen Station Sivapore.

In den ersten Tagen des Juni in Bhopal, Ermordungeines Theiles der europäischen Einwohnerschaft, undin Jansi, unter der Hetzerei der furchtbaren abgesetz-ten Rani, grausame Abschlachtung vieler in das Fortgeflüchteter Frauen und Kinder.

Am 6. Juni erliegen in Allahabad sechs junge Fähn-riche den Streichen der Sipahis.

Am 14. Juni Erhebung zweier Natifs-Regimenter inGwalior und Ermordung der Officiere.

Am 27. Juni, in Khanpur, die erste Hekatombe vonOpfern jeden Alters und Geschlechts, welche erschos-sen oder ertränkt werden, das Vorspiel zu dem furcht-baren Drama, das mehrere Wochen später Schreckenund Entsetzen verbreiten sollte.

In Holkar, am 1. Juli, Ermordung von vierunddrei-ßig Europäern, Officieren, Frauen und Kindern, Plün-derung, Brandstiftung, und in Ugow gleichzeitig Er-mordung des Obersten und des Adjutanten vom 23.Regiment der königlichen Armee.

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Am 15. Juli zweiter Massenmord in Khanpur. An die-sem Tage wurden mehrere Kinder und Frauen – unterdiesen auch Lady Munro – mit einer Grausamkeit oh-ne Gleichen auf Befehl Nana Sahib’s umgebracht, derdie muselmännischen Metzger aus den Schlachthäu-sern dabei Hilfe leisten ließ. Es gab ein schrecklichesGemetzel, nach dem die Körper der Erschlagenen ineinen legendenhaft gewordenen Schacht gestürzt wur-den. Am 26. September säbelte man auf einem Plat-ze Laknaus, der seitdem der »Square der Bahren« ge-nannt wird, zahlreiche schon Verwundete nieder undwarf sie noch lebend in’s Feuer. In den Städten undauf dem Lande kamen daneben noch viele vereinzelteMordthaten vor, welche dieser Erhebung den Stempelder wildesten Grausamkeit aufdrückten.

Auf diese Schandthaten antworteten die englischenGenerale sofort mit entsprechenden Repressalien, wel-che vielleicht nothwendig sein mochten, um dem eng-lischen Namen unter den Empörern Achtung einzuflö-ßen, die aber an und für sich wirklich furchtbar waren.

Im Anfang der Erhebung hatte der Ober-AuditeurMontgommery und der Brigadier Corbett unter demSchutze von zwölf Kanonen mit brennender Lunte oh-ne Blutvergießen das 8., 16., 26. und 49. Regiment dereingebornen Armee zu entwaffnen vermocht. Ebensohatten das 62. und 29. Regiment in Moultan, ohneernsthaften Widerstand leisten zu können, die Waf-fen ablegen müssen. Auch in Peschavar wurden das

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24., 27. und 51. Regiment durch den Brigadier S. Col-ton und den Oberst Nicholson kurz vor Ausbruch ei-nes Aufstandes entwaffnet. Auf die Köpfe der entflohe-nen Officiere des 51. Regimentes wurden Preise aus-geschrieben und Alle durch die Bewohner der benach-barten Berge bald wieder zugeführt.

Das war der Anfang der Repressalien.Eine von Oberst Nicholson commandirte Colonne

setzte sich gegen ein nach Delhi marschirendes Natifs-Regiment in Bewegung. Letzteres wurde bald erreicht,geschlagen, zerstreut und hundertzwanzig Gefangenekehrten nach Peschavar zurück, die Alle sofort zum To-de verurtheilt, aber nur jeder dritte Mann erschossenwurden. Auf dem Exercierplatz fuhr man zehn Kano-nen auf, vor die Mündung einer jeden wurde je ein Ge-fangener gebunden, und viermal gaben die zehn Kano-nen Feuer, wobei sie die Umgebung mit unförmlich zer-fetzten Stücken der Todten bedeckten, über denen einevon dem verbrannten Fleisch verpestete Atmosphärelagerte.

Nach Belbezen starben diese Verurtheilten fast Allemit jenem heroischen Gleichmuth, den die Indier ge-genüber dem Tode so gut zu bewahren wissen.

»Herr Kapitän, sagte zu einem der die Execution lei-tenden Officiere ein hübscher Sipahi von zwanzig Jah-ren, während er das furchtbare Todesinstrument mitder Hand streichelte, Herr Kapitän, Sie brauchen mich

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nicht festbinden zu lassen, ich habe keine Lust zu ent-fliehen!«

Das war die erste, entsetzliche Hinrichtung, der nochso viele folgen sollten.

Der Tagesbefehl, welchen an jenem Tage der Briga-dier Chamberlain in Lahore nach Hinrichtung zweierSipahis vom 55. Regiment erließ, lautete übrigens wiefolgt:

»Ihr habt eben gesehen, wie zwei Eurer Kameradenlebend vor den Lauf der Kanonen gebunden und inStücke zerrissen wurden; die gleiche Strafe wird jedenVerräther treffen. Euer Bewußtsein wird Euch die Lei-den verkünden, welchen jene in der anderen Welt un-terliegen. Die beiden Soldaten wurden durch Kanonenund nicht durch den Galgen vom Leben zum Tode be-fördert, weil ich ihnen die Verunreinigung durch dieBerührung des Henkers ersparen und den Beweis lie-fern wollte, daß die Regierung auch in diesen Tagender Gefahr nichts thun will, was Euren religiösen undKasten-Anschauungen zu nahe treten könnte.«

Am 30. Juli fielen nach und nach zwölfhundertsie-benunddreißig Gefangene von den Kugeln und fünfzigAndere entgingen demselben Tode nur dadurch, daßsie in dem Gefängnisse, worin man sie verwahrte, vor-her vor Hunger starben oder erstickten.

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Am 28. August wurden von achthundertsiebzig Si-pahis, die aus Lahore flohen, von den Soldaten der kö-niglichen Armee nicht weniger als sechshundertfünfzigohne Erbarmen niedergemacht.

Nach der Einnahme von Delhi, am 23. September,ergaben sich drei Prinzen der königlichen Familie, derpräsumtive Thronerbe und seine beiden Vettern, aufGnade und Ungnade dem General Hudson, der sie miteiner Bedeckung von nur fünf Mann durch eine dro-hende Menge von wenigstens fünftausend Hindus – 1gegen 1000 – abführte. Auf halbem Wege ließ Hudsonden Wagen mit den Gefangenen anhalten, stieg selbstein, befahl ihnen, die Brust zu entblößen, und streckteAlle durch drei Revolverschüsse nieder.

»Diese blutige Execution von der Hand eines engli-schen Officiers, sagt Velbezen, erregte im Pendjab diehöchste Bewunderung.«

Nach der Einnahme von Delhi endigten dreihundertGefangene durch die Kanonen oder den Galgen, unterihnen neunundzwanzig Angehörige der königlichenFamilie. Freilich hatte die Belagerung der Stadt zwei-tausendeinhunderteinundfünfzig Europäer und sech-zehnhundertsechsundachtzig Eingeborne gekostet.

In Allahabad ereigneten sich entsetzliche Menschen-schlächtereien, weniger unter den Sipahis, als unterdem anderen Volk, das von Fanatikern fast unbewußtzum Plündern veranlaßt worden war.

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Am 16. September bedeckten in Laknau die Leichenvon zweitausend erschossenen Sipahis einen Raumvon hundertfünfzig Meter im Quadrat.

Nach dem Massacre in Khanpur zwang der OberstNeil die Verurtheilten, bevor er sie dem Galgen über-lieferte, je nach ihrer Kaste, jeden Blutfleck, der sichnoch in dem Hause vorfand, in dem vormals jene Op-fer fielen, zu reinigen und mit der Zunge abzulecken.Vom Standpunkt der Indier aus war das die schimpf-lichste Entehrung vor dem Tode. Während der Expe-dition in Central-Indien folgten sich die Hinrichtungender Gefangenen unaufhörlich und unter dem Knatternder Gewehre »sanken ganze Mauern von Menschen-fleisch zur Erde«. Bei Gelegenheit der zweiten Belage-rung von Laknau wurde nach dem Angriffe auf das Gel-be Haus am 9. März 1858, nachdem viele Sipahis nie-dergemetzelt waren, einer der unglücklichen Gefange-nen von den Shiks, und noch dazu unter den Augender englischen Officiere, lebendig geröstet.

Am 11. füllten fünfzig Leiber der Sipahis die Gräbendes Palastes der Begum in Laknau, ohne daß auch nurein Verwundeter von den Soldaten, die sich nicht mehrzu zügeln vermochten, verschont worden wäre.

An zwölf Gefechtstagen kamen dreitausend Natifsdurch den Strick oder die Kugel um’s Leben, und unterihnen dreihundertachtzig auf der Insel Hidaspe ange-sammelte Flüchtlinge, die sich bis nach Kaschmir zuretten vermocht hatten.

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Alles in Allem, ohne die Sipahis zu zählen, welchemit den Waffen in der Hand, getödtet wurden, findetman, daß bei diesen unbarmherzigen Repressalien, beidenen von Gefangenen keine Rede sein konnte, nur indem Pendjab-Feldzuge nicht weniger als sechshundert-achtundzwanzig Eingeborne durch die Militärbehör-den entweder standrechtlich erschossen oder vor dieMündung der Kanonen gebunden wurden, neben drei-zehnhundertsiebzig Mann, welche von den Civilbehör-den, und dreihundertsechsundachtzig, die auf Anord-nung beider öffentlichen Gewalten gehenkt wurden.

Zu Anfang des Jahres 1859 schätzte man die Zahlder hingeschlachteten eingebornen Officiere und Sol-daten auf hundertzwanzigtausend, neben zweimal-hunderttausend Civilpersonen, die für ihre, manchmalgewiß zweifelhafte Theilnahme an dem Aufstande mitdem Leben büßen mußten. Eine schreckliche Wieder-vergeltung, gegen welche Gladstone im englischen Par-lament gewiß mit Recht protestirte. Für die folgendeErzählung erscheint es wichtig, die Bilanz dieses un-geheuren Nekrologs zu ziehen, weil der Leser darausersieht, welch’ ungelöschter Haß in den Herzen dernach Rache dürstenden Besiegten ebenso zurückblei-ben mußte wie in denen der Sieger, die noch zehn Jah-re später Trauer trugen um die Opfer von Khanpur undLaknau.

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Die eigentlichen militärischen Vorgänge in dem ge-gen die Rebellen geführten Feldzuge bestehen aus fol-genden Expeditionen, die wir hier in Kürze aufzählen.

Den Anfang macht der Feldzug im Pendjab, der SirJohn Lawrence das Leben kostete.

Dann kommt die Belagerung von Delhi, jenes durchTausende von Flüchtlingen verstärkten Mittelpunktesder Rebellion, in welchem Mohammed Schah Baha-dour zum Kaiser von Hindostan ausgerufen wurde.

»Machen Sie mit Delhi ein Ende!« hatte der General-Gouverneur in seiner letzten Depesche an den com-mandirenden General gebieterisch verlangt, und die inder Nacht des 13. Juni begonnene Belagerung endig-te am 19. September, nachdem die Generale Sir HarryBarnard und John Nicholson dabei gefallen waren. Zurgleichen Zeit begann General Havelock, nachdem Na-na Sahib sich hatte zum Peïschwah erklären und in derCitadelle von Bilhour krönen lassen, seinen Marsch aufKhanpur. Er erzwang sich den Eingang am 17. Juli, lei-der zu spät, um die letzte Metzelei zu verhindern undsich Nana’s zu bemächtigen, dem es glückte, mit fünf-tausend Mann und vierzig Geschützen zu entkommen.

Nachher unternahm Havelock seinen ersten Zug indas Königreich Audh und überschritt mit nur siebzehn-tausend Mann und zehn Kanonen am 28. Juli den Gan-ges, auf dem Wege nach Laknau.

Nun traten auch Sir Colin Campbell und Generalma-jor Sir James Outram mit in’s Feld. Die Belagerung von

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Laknau nahm siebenundachtzig Tage in Anspruch undkostete Sir Henri Lawrence und dem General Havelockdas Leben. Darauf bereitete sich Colin Campbell, nach-dem er gezwungen worden war, nach Khanpur zurück-zukehren, das er nun dauernd in seine Gewalt brachte,zu einem zweiten Zuge vor.

Inzwischen entsetzten andere Truppen Mohir, ei-ne Stadt Central-Indiens, und machten einen Vorstoßdurch Malva, der die englische Autorität in jenem Kö-nigreiche wieder herstellte.

Anfangs 1858 begannen Campbell und Outram inAudh einen zweiten Feldzug mit vier Divisionen In-fanterie, welche von den Generalmajoren Sir JamesOutram, Sir Edward Lugar und den Brigadiers Walpo-le und Franks befehligt wurden. Die Cavallerie standunter Sir Hope Grant, die Specialwaffen unter Wil-son und Robert Napier, – zusammen etwa fünfund-zwanzigtausend Combattanten, denen sich noch derRajah von Nepal mit gegen zwölftausend Gourgkhasanschloß. Die Rebellen-Armee der Begum zählte auchnicht weniger als hundertzwanzigtausend Mann unddie Stadt Laknau sieben- bis achthunderttausend Ein-wohner. Der erste Angriff ging am 6. März vor sich.Am 16. waren die Engländer nach einer Reihe von Ge-fechten, bei denen der Seekapitän Sir Willian Peel undder Major Hudson fielen, im Besitz des auf der Goumtigelegenen Theiles der Stadt. Trotz dieser errungenen

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Vortheile leisteten die Begum und ihre Söhne im Pa-laste des Mousa Bagh, im äußersten Nordwesten vonLaknau, hartnäckigen Widerstand, und auch der Moul-vi, der mohammedanische Chef des Aufstandes, der indas Centrum der Stadt geflüchtet war, schlug es aus,sich zu ergeben. Ein Angriff Outram’s am 19. und einglücklicher Kampf am 21. brachten den Engländernendlich den vollen Besitz dieses furchtbaren Bollwer-kes des Aufstandes der Sipahis.

Mit dem Monat April trat die Erhebung in ihre letztePhase. Es wurde noch ein Zug nach Rohilkhande un-ternommen, wohin sich eine große Menge flüchtigerRebellen zurückgezogen hatte. Zuerst wendeten sichdie Anführer der königlichen Armee gegen Bareilli, dieHauptstadt des Königreichs. Zu Anfang ging es dabeinicht besonders glücklich. Bei Judgespore erlitten dieEngländer sogar eine Art Niederlage. Der Brigadier An-drien Hope ward getödtet. Gegen Ende des Monatsaber kam Campbell an, nahm Schah-Jahanpore wie-der ein und griff am 5. Mai Bareilli selbst an, das er inBrand schoß und überwältigte, ohne freilich das Ent-weichen der Rebellen verhindern zu können.

Inzwischen eröffnete Sir Hugh Rose seinen Feldzugin Central-Indien. In den ersten Tagen des Januar 1858marschirte dieser General quer durch das KönigreichBhopal nach Saungor, befreite dessen Besatzung am 3.Februar, nahm zehn Tage später das Fort von Gura-kota ein, erzwang den Durchgang durch die Defilés

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der Vindhyas-Kette im Passe von Mandanpore, über-schritt die Betiva, gelangte nach Jansi, das von elftau-send Aufständischen unter Führung der wilden Ranivertheidigt wurde, cernirte es unter brennender Hitzeam 22. März, entsandte dann zweitausend Mann vonder Belagerungs-Armee, um zwanzigtausend Mann desContingents von Gwalior, die der berüchtigte Tantia-Topi befehligte, den Weg zu versperren, warf den ge-nannten Rebellen-Chef über den Haufen, griff die Stadtam 2. April an, erstürmte die Mauern, eroberte die Ci-tadelle, aus der die Rani mit genauer Noth entkam,nahm dann die Operationen gegen das Fort von Cal-pi auf, in dem die Rani und Tantia-Topi zu sterbenentschlossen waren, bemächtigte sich desselben durcheinen heldenmüthigen Sturm am 22. Mai, machte sichvon hier aus zur Verfolgung der Rani und ihres Be-gleiters auf, die sich nach Gwalior geworfen hatten,zog daselbst am 16. Juni seine zwei Brigaden zusam-men, die durch den Brigadier Napier noch weitere Ver-stärkungen erhielten, vernichtete die Aufständischenin Morar, unterwarf den Platz selbst am 18. und kehr-te nach einem wirklichen Triumphzuge nach Bombayzurück.

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Während eines Vorpostengefechtes vor Gwalior fandauch die Rani ihr Ende. Diese dem Nabab völlig er-gebene, gefürchtete Königin, seine treueste Bundesge-nossin während des ganzen Aufstandes, fiel von Sir Ed-ward Munro’s eigener Hand. Nana Sahib über der Lei-che der Lady Munro in Khanpur, und der Oberst überder Leiche der Rani in Gwalior, das waren zwei Män-ner, welche den Aufstand und die Unterdrückung re-präsentirten, zwei Feinde, deren Haß schreckliche Fol-gen haben mußte, wenn sie sich einmal begegneten.

Von nun an kann man den Aufstand als gezügelt an-sehen, höchstens mit Ausnahme einzelner Theile desKönigreichs Audh. Campbell zog deshalb am 2. No-vember noch einmal in’s Feld, bemächtigte sich derletzten Stellungen der Rebellen und nöthigte noch eini-ge hervorragende Führer zur Unterwerfung. Einer der-selben, Beni Madho, wurde indeß nicht ergriffen. ImLaufe des Decembers hörte man, daß er sich in einenGrenzdistrict von Nepal zurückgezogen habe. Man be-hauptete auch, daß sich Nana Sahib, Balao Rao, seinBruder, und die Begum von Audh, bei ihm befänden.In den letzten Tagen des Jahres tauchte dann das Ge-rücht auf, die Genannten hätten auf Rapti, nahe derGrenze zwischen Nepal und Audh, Zuflucht gesucht.Campbell bedrängte sie ohne Unterlaß, doch gelang esihnen, die Grenze zu überschreiten. Erst Anfang Febru-ar 1859 vermochte eine englische Brigade, von der einRegiment unter dem Befehl des Oberst Munro stand,

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sie in Nepal weiter zu verfolgen. Beni Madho fand da-bei den Tod, die Begum von Audh und ihr Sohn dage-gen wurden gefangen und erhielten Erlaubniß, in derHauptstadt von Nepal zu wohnen. Nana Sahib und Ba-lao Rao hielt man schon lange für todt. Sie waren esnicht.

Jedenfalls durfte man den furchtbaren Aufstand alsunterdrückt betrachten. Tantia-Topo wurde durch sei-nen Lieutenant Man Singh ausgeliefert, zum Tode ver-urtheilt und am 15. April in Sipei hingerichtet. DerRebell, »eine wirklich beachtenswerthe Erscheinung indem Drama des indischen Aufstandes, sagt de Velbe-zen, der sich als ein politischer Kopf voll der kühnstenPläne erwies«, starb muthig auf dem Schaffot.

Das Ende der Erhebung der Sipahis, welche den Eng-ländern vielleicht Indien gekostet hätte, wenn sie sichüber die ganze Halbinsel verbreitet und vorzüglich,wenn der Aufstand einen nationalen Charakter gehabthätte, verursachte doch auch die Auflösung der ehren-werthen Ostindischen Compagnie.

Schon seit Ende des Jahres 1857 bedrohte Lord Pal-merston den Hof der Directoren mit deren Absetzung.

Am 1. November 1858 verkündete eine in zwanzigSprachen veröffentlichte Bekanntmachung, daß IhreMajestät Victoria Beatrix, Königin von Großbritannien,das Scepter von Indien ergreife, zu dessen Kaiserin siemehrere Jahre später erhoben werden sollte.

Das war das Werk des Lord Stanley.

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Die wichtigste Anordnung der neuen Regierung be-stand darin, daß der Titel eines Vicekönigs an Stelledesjenigen eines Gouverneurs trat, ein Staatssecretärund fünfzehn Mitglieder der Centralregierung, wie dieMitglieder des Rathes von Indien aus dem indischenDienste neu aufgestellt, die Gouverneure der Präsi-dentschaften Madras und Bombay von der Königin er-nannt, die Beamten des indischen Dienstes und dieObercommandanten aber von dem Staatssecretär er-wählt wurden.

Die königliche Armee zählt jetzt siebzehntausendMann mehr als vor dem Sipahi-Aufstande, nämlichzweiundfünfzig Regimenter Infanterie, neun Regimen-ter Füseliere und eine beträchtliche Artillerie, fünfhun-dert Säbel für jedes berittene Regiment und siebenhun-dert Bajonette in jedem Infanterie-Regiment.

Die Natifs-Armee besteht aus hundertsiebenunddrei-ßig Regimentern Infanterie und vierzig RegimenternCavallerie; ihre Artillerie ist aber fast ohne Ausnahmeeuropäisch.

Das sind die heutigen Verhältnisse der Halbinselin administrativer und militärischer Hinsicht, das diewirklich vorhandene Wehrkraft, welche ein Gebiet vonvierhunderttausend Quadratmeilen bewacht.

»Die Engländer haben das Glück gehabt, sagt Gran-didier ganz richtig, in jenem großen und prächtigenLande ein sanftes, gewerbfleißiges und nicht ungebil-detes Volk zu treffen, das seit langer Zeit an fremdes

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Joch gewöhnt war. Dennoch mögen sie sich hüten;auch die Sanftmuth hat ihre Grenzen, und wenn dasJoch zu drückend würde, erheben sich eines Tages dieKöpfe und brechen es in Stücke.«

4. TIEF IN DEN HÖHLEN VON ELLORA.

Es war vollkommen richtig. Der Maharatten-FürstDandu Pant, der Adoptivsohn Baji Rao’s und Peïsch-wah von Pounah, mit einem Worte Nana Sahib – je-ner Zeit vielleicht der einzige Ueberlebende von denFührern im Aufstande der Sipahis, hatte aus seiner un-zugänglichen Zufluchtsstätte in Nepal zu entkommenvermocht. Tapfer, kühn wie er war, gewöhnt, jeder Ge-fahr zu trotzen, gewandt im Irreführen seiner Verfol-ger, erfahren in der Kunst, seine Spuren zu verwischen,und schlau wie sonst Einer, hatte er sich bis in dieProvinzen von Dekkan hinuntergewagt, getrieben vonseinem noch immer glühenden Hasse, den die furcht-baren Repressalien nach der Erhebung von 1857 nurnoch mehr geschürt hatten.

Ja, es war ein tödtlicher Haß, den Nana den Besit-zern Indiens geschworen. Ihm als Erben Baji Rao’s hat-te die Compagnie nach des Letzteren, im Jahre 1851erfolgten Tode abgeschlagen, die Pension von acht Lak-hs Rupien (etwa einundzweidrittel Millionen Mark),auf die er ein Anrecht hatte, weiterzuzahlen. Hierin istdie eine Ursache dieses Hasses zu suchen, der sich inso schauerlichen Unthaten Luft machen sollte.

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Doch, was hoffte Nana Sahib wohl jetzt?Seit acht Jahren schon war die Erhebung der Sipahis

vollkommen unterdrückt. Allmählich war die englischeRegierung an Stelle der ehrenwerthen Compagnie ge-treten und hielt die ganze Halbinsel besser im Zügel alsfrüher die Vereinigung von Kaufleuten. Von der Rebel-lion sah man keine Spuren mehr, nicht einmal in denReihen der Natifs-Armee, die auf anderen Grundlagenvöllig neu organisirt worden war. Glaubte Nana viel-leicht Erfolg zu haben, wenn er einen nationalen Auf-stand unter den niedrigsten Volksclassen Hindostansanzuschüren versuchte? Wir werden seine Absichtenbald kennen lernen. Jedenfalls, und das wußte er auchselbst, war sein Erscheinen in der Provinz Aurunga-bad angemeldet worden, der General-Gouverneur hat-te den Vicekönig in Calcutta davon benachrichtigt undeinen Preis auf seinen Kopf gesetzt. Es blieb ihm alsonichts Anderes übrig, als auf der Stelle zu entfliehenund einen verborgenen Zufluchtsort aufzusuchen, derihn vor den Nachstellungen der anglo-indischen Polizeisicherte.

Nana verlor auch keine Minute. Er kannte das Landvollkommen und beschloß bis nach dem von Aurunga-bad fünfundzwanzig Meilen entfernten Ellora zu flüch-ten, wo er einen seiner Genossen zu finden hoffte.

Die Nacht war dunkel. Nachdem der falsche Fakirsich versichert, daß er nicht verfolgt werde, wandte er

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sich nach jenem, eine Strecke von der Stadt errichte-ten Mausoleum des Mohammedaners Sha-Sufi, einesHeiligen, dessen Reliquien in dem Rufe wunderthäti-ger Heilkräfte stehen. In dem Mausoleum schlief schonAlles, Priester sowohl wie Pilger, und Nana kam vorbei,ohne durch eine Frage belästigt zu werden.

Es lagerte jedoch keine so tiefe Finsterniß über derLandschaft, daß jener ungeheure Granitblock, der vierMeilen weiter nördlich das uneinnehmbare Fort vonDaoulutabad trägt und sich inmitten einer weiten Ebe-ne gegen zweihundertvierzig Fuß hoch erhebt, denBlicken hätte verborgen bleiben können. Der Nabab er-innerte sich dabei, daß einer seiner Ahnen, ein Kaiservon Dekkan, einst beabsichtigte, die früher den Fußdes Forts umgebende geräumige Stadt zu seiner Resi-denz zu erheben. Wirklich wäre das eine unbezwingli-che Stellung, ein geeigneter Mittelpunkt für eine insur-rectionelle Bewegung in diesem Theile Indiens gewe-sen. Der Nabab wandte aber den Kopf weg und hattenur einen Blick voll Haß für die, jetzt in den Händenseiner Todfeinde befindliche Veste.

Nach der Ebene hier kam eine mehr hügelige Ge-gend, mit den ersten Bodenwellen, die nach und nachzu Bergen anwachsen sollten. Nana, ein Mann im kräf-tigsten Alter, verlangsamte nicht im mindesten seineSchritte, als er die steilen Abhänge hinaufstieg. Er woll-te in dieser Nacht fünfundzwanzig Meilen, das heißt

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die Entfernung zurücklegen, welche Ellora von Aurun-gabad trennt. Dort hoffte er in voller Sicherheit rastenzu können. Er hielt sich also nirgends auf, weder ineiner Karawanserei, wie sie für Jeden, der des Wegesdaher kommt, offen stehen, noch in einem halbverfal-lenen Bungalow, wo er, schon in entlegenerem Theiledes Gebirges, einige Stunden hätte schlummern kön-nen.

Mit Sonnenaufgang eilte der Flüchtling um das DorfRaupah herum, welches das einfache Grab des größtender mongolischen Kaiser, Aureng Zeb’s, enthält. Danngelangte er nach jener berühmten Höhlengruppe, dieihren Namen von dem benachbarten Dorfe Ellora ent-lehnt hat.

Der Hügel, aus welchem man jene Höhlen heraus-gearbeitet hat, zeigt etwa die Gestalt des Halbmon-des. Die wunderbaren Bauwerke desselben bilden vierTempel, vierundzwanzig buddhistische Klöster und ei-nige minder beträchtliche Grotten. Der Basaltbruch istvon der Hand des Menschen umfänglich ausgenutztworden. Die Hindubaumeister entnahmen aus demsel-ben das Gestein während der ersten Jahrhunderte derchristlichen Aera aber nicht zur Errichtung der auf derungeheuren Halbinsel da und dort verstreuten Meister-werke der Baukunst, nein, dasselbe wurde nur gebro-chen, um in der Felsenmasse selbst Hohlräume zu ge-winnen, und diese Räume sind je nach ihrer Bestim-mung »Chaityas« oder »Viharas« geworden.

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Der außerordentlichste jener Tempel ist der soge-nannte Kaïlasa. Man stelle sich einen Steinblock vonhundertzwanzig Fuß Höhe und sechshundert Fuß Um-fang vor. Diese Masse hat man mit unglaublicher Kühn-heit aus dem Berge selbst ausgeschnitten, inmitten ei-nes dreihundertsechzig Fuß langen und hundertsechs-undachtzig Fuß breiten Hofes isolirt – ein Hof, denman mittelst Werkzeuge dem Basaltberge abgewann.Nach Herstellung dieses Einzelblocks haben die Bau-meister ihn bearbeitet, wie der Bildschnitzer ein StückElfenbein. Aeußerlich formten sie aus demselben Säu-len, meißelten kleine Pyramiden und runde Kuppeln,ließen dabei genug Steinmassen für die Herstellungvon Basreliefs stehen, von denen über lebensgroße Ele-phanten das ganze Gebäude zu tragen scheinen; im In-nern arbeiteten sie einen geräumigen Saal mit Kapel-len an den Seiten aus, dessen Wölbung auf vielen, vonder Felsenmasse ausgesparten Säulen ruht. Sie stelltenaus dem Monolithen mit einem Worte einen Tempelher, der im eigentlichen Sinne des Wortes nicht »ge-baut« wurde, einen in der ganzen Welt einzig daste-henden Tempel, der sich kühn mit den wunderbarstenBauwerken Indiens messen kann und selbst den Ver-gleich mit den Hypogäen des alten Egyptens aushält.

Schon sieht man, daß der Zahn der Zeit an diesemjetzt gänzlich verlassenen Tempel genagt. Er zerfällt aneinzelnen Theilen. Seine Basreliefs verwittern, wie die

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Felswand, aus der sie geschaffen wurden. Er hat viel-leicht noch tausend Jahre Leben zu erwarten. Was aberdas erste Kindesalter der Werke der Natur zu nennenist, das ist bei Menschenwerken schon das der Hinfäl-ligkeit. Im linken unteren Theile waren mehrere breiteSprünge entstanden, und durch eine dieser Oeffnun-gen, die der Rücken eines Elephanten zur Hälfte ver-deckte, glitt Nana Sahib hinein, ohne daß ihn Jemandwahrnahm.

Der Sprung führte im Inneren nach einem langen en-gen Gange, der quer unter dem Grunde hinlief, undsich unter der »Cella« des Tempels tiefer hinabwende-te. Hier erweiterte er sich zu einer Art Krypte, oderrichtiger zu einer, jetzt übrigens trockenen Cisterne, inder sich sonst Regenwasser ansammelte.

Als Nana in den Gang gelangt war, ließ er einen ge-wissen Pfiff ertönen, dem ein ganz ähnliches Pfeifenantwortete. Es war das kein Echo. In der Dunkelheitglänzte ein einzelnes Licht auf.

Gleichzeitig erschien ein Hindu mit einer kleinen La-terne in der Hand.

»Kein Licht! rief Nana.– Bist Du es, Dandu Pant?– Ja, Bruder!– Nun, und . . . ?

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– Erst schaffe mir zu essen, antwortete Nana, wirplaudern später. Doch zum Reden wie zum Essen brau-che ich keine Beleuchtung. Fasse meine Hand und füh-re mich!«

Der Hindu ergriff Nana’s Hand, leitete ihn nach demHintergrunde der Höhle und half ihm, sich auf einemLager von trockenen Gräsern auszustrecken, das ereben verlassen hatte. Das Pfeifen des Fakirs mochte sei-nen letzten Schlummer unterbrochen haben.

Dieser Mann, der es offenbar sehr gewöhnt war, sichim Finstern zu bewegen, hatte bald etwas Mundvor-rath an Brot nebst einer Art Pastete von »Mourghis« mitdem in Indien so gewöhnlichen Hühnerfleisch, nebsteiner Kürbisflasche, die eine halbe Pinte jenes starken,unter dem Namen »Arak« bekannten Getränkes ent-hielt, gefunden, das man durch Destillation des Saftesder Cocospalme gewinnt.

Nana aß und trank, ohne ein Wort zu reden. Er starbvor Hunger und Erschöpfung. Seine ganze Lebenskraftlag jetzt in den Augen, die im Dunkeln wie die des Ti-gers leuchteten. Regungslos harrte der Hindu, bis esdem Nabab belieben würde, zu sprechen.

Dieser Mann war Balao Rao, der eigene Bruder NanaSahib’s.

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Balao Rao, um kaum ein Jahr älter als Dandu Pant,glich diesem körperlich bis zum Verwechseln. Mora-lisch war er der ganze Nana Sahib, mit demselben Has-se gegen die Engländer, derselben Arglist seiner An-schläge, derselben Wildheit in der Ausführung, eineSeele in zwei Leibern. Während des ganzen Aufstandeswaren die Beiden unzertrennlich gewesen; nach des-sen Niederwerfung hatte dasselbe Lager an der Grenzevon Nepal ihnen Zuflucht gewährt. Jetzt verband sieder nämliche Gedanke, den Kampf wieder aufzuneh-men, zu dem sie gleichmäßig bereit waren.

Als Nana sich durch die hastig verzehrte Mahlzeiterquickt und wieder Kräfte gesammelt hatte, blieb ernoch eine Zeit lang mit auf die Hand gestütztem Kopfsitzen. In der Meinung, daß er einige Stunden werdeder Ruhe pflegen wollen, verhielt sich Balao Rao nochimmer schweigend.

Da erhob Dandu Pant das Haupt, ergriff des BrudersHand und begann mit dumpfer Stimme:

»Mein Erscheinen in der Präsidentschaft Bombay istdorthin gemeldet worden. Der Gouverneur der Präsi-dentschaft hat einen Preis auf meinen Kopf gesetzt.Zweitausend Pfund sind Demjenigen zugesichert, derNana Sahib der Behörde ausliefert!

– Dandu Pant! rief Balao Rao, Dein Kopf ist mehrwerth! Das wäre ja kaum ein Preis für den meinigen,

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und vor Ablauf dreier Monate würden sie sich glück-lich schätzen, Beide für zwanzigtausend Pfund in ihrerGewalt zu haben.

– Ja wohl, antwortete Nana, in drei Monaten, am23. Juni, ist der Jahrestag jener Schlacht von Plassey,deren hundertster Jahrestag, im Jahre 1857, das Endeder englischen Zwingherrschaft und die Befreiung derKinder der Sonne erblicken sollte!

– Was 1857 nicht glückte, Dandu Pant, kann undmuß zehn Jahre später glücken. In den Jahren 1827,1837, 1847 gab es Aufstände in Indien. Alle zehn Jah-re erfaßt die Hindus das Fieber der Rebellion. Wohlan,dieses Jahr sollen sie sich durch ein Bad in Strömeneuropäischen Blutes heilen!

– Brahma sei mit uns, murmelte Nana, und dann Ver-derben für Verderben! Wehe den Führern der königli-chen Armee, die nicht den Streichen unserer Sipahiserlagen! Lawrence ist todt, Barnard ist todt, Napier isttodt, Hobso sowie Havelock! Einige leben aber noch,wie Campbell, Rose und Andere, unter ihnen der, denich vor Allen hasse, Oberst Munro, der Abkömmlingjenes Henkers, welcher zuerst Hindus vor den Schlundder Kanonen binden ließ, der Mann, von dessen eige-ner Hand meine Gefährtin, die Rani von Jansi, den Toderlitt! Wenn er in meine Hand fällt, mag er sehen, obich die Schandthaten des Oberst Neil, die Metzeleiendes Sekander Bogh, die Verwüstungen des Palastes der

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Begum, der von Bareilli, Jansi, Morar, der Insel Hidas-pe und von Delhi vergessen habe! Ob ich es vergessen,daß er mir den Tod geschworen hat, wie ich ihm!

– Ist er nicht aus der Armee getreten? fragte BalaoRao.

– O, bei der ersten Bewegung wird er wieder Dienstenehmen, versicherte Nana Sahib. Doch wenn der Auf-stand fehlschlägt, ihn werde ich erdolchen, und wärees in seinem Bungalow in Calcutta!

– Gut, aber jetzt? . . .– Jetzt gilt es, das begonnene Werk weiter zu führen.

Diesmal muß die Erhebung eine nationale werden! DieHindus der Städte und der Dörfer mögen sich nur erhe-ben, bald werden die Sipahis mit ihnen gemeinschaft-liche Sache machen. Ich habe den mittleren und nörd-lichen Theil von Dekkan durchstreift; überall fand ichdie Geister reif zur Empörung. In allen Städten, allenFlecken warten unsere Führer darauf, zu handeln. DieBrahmanen werden die Menge fanatisiren. Die Religi-on wird diesmal die Anhänger Shiva’s und Wischnu’smit fortreißen. Zur bestimmten Zeit und auf ein gege-benes Zeichen werden Millionen von Hindus aufstehenund die königlichen Heere vernichtet sein!

– Und Dandu Pant? . . . fragte Balao Rao, die Handdes Bruders ergreifend.

– Dandu Pant, erwiderte Nana, wird nicht allein alsPaïschwah auf dem Castell von Bilhur gekrönt, sondern

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der Herrscher über das heilige Land von Indien wer-den!«

Nach diesen Worten verfiel Nana Sahib, die Armekreuzend und mit dem unbestimmten Ausdruck desBlickes Derjenigen, die weniger auf die Vergangenheitoder Gegenwart als in die Zukunft schauen, in stillesSinnen . . .

Balao Rao hütete sich wohl ihn zu stören. Es gefielihm, diese wilde Seele sich an sich selbst entflammenzu lassen, im Nothfall war er ja bei der Hand, das inJenem schlummernde Feuer zu schüren. Nana Sahibkonnte einen inniger an seine Person geknüpften Ge-nossen gar nicht finden, keinen eifrigeren Rathgeber,der ihn seinem Ziel entgegen trieb. Er war wie gesagtsein zweites Ich.

Nach wenigen Minuten des Schweigens erhob er sei-nen Kopf wieder.

»Wo sind unsere Leute?– In den Höhlen von Adjuntah, wo sie uns verabre-

determaßen erwarten sollten.– Und unsere Pferde?– Die habe ich in Büchsenschußweite von hier auf

der Straße von Ellora nach Boregami zurückgelassen.– Wohl unter Obhut Kâlagani’s?– Ja, Bruder. Sie sind gut bewacht, durch Futter und

Ruhe gestärkt, und erwarten uns nur noch, um aufzu-brechen.

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– Also vorwärts, mahnte Nana. Wir müssen vor Ta-gesanbruch in Adjuntah sein.

– Und wohin wenden wir uns von da aus? fragte Ba-lao Rao. Hat diese übereilte Flucht Deine Pläne nichtgestört?

– Nicht im mindesten, antwortete Nana Sahib. Wirwerfen uns in die Sautpourra-Berge, in denen ich alleSchliche und Wege kenne und alle Nachstellungen derenglischen Polizei zu vereiteln vermag. Dort befindenwir uns übrigens in dem Gebiete der Bilhs und Gounds,die unserer Sache stets treu geblieben sind. Da, in derGebirgsregion der Vindhyas, wo der Zündstoff der Em-pörung immer aufzuflammen bereit ist, kann ich dengünstigen Augenblick abpassen.

– Vorwärts denn, mahnte Balao Rao, o, sie habendem zweitausend Pfund versprochen, der Dich finge!Doch es ist nicht genug, einen Preis auf Deinen Kopfzu setzen, man muß ihn auch haben!

– Es wird ihn Keiner bekommen, antwortete NanaSahib. Komm schnell, Bruder, keinen Augenblick ver-loren, komm!«

Sicheren Schrittes ging Balao Rao durch den en-gen Gang, der zu diesem dunklen Zufluchtsorte un-ter dem Grunde des Tempels führte. An dem von demRücken des Elephanten verdeckten Ausgange ange-langt, steckte er vorsichtig nur den Kopf heraus, blickteim Dunklen rechts und links umher, überzeugte sich,daß die nächsten Umgebungen verlassen waren, und

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wagte sich dann erst nach außen. Um ganz sicher zugehen, lief er etwa zwanzig Schritte auf der in der ver-längerten Achse des Tempels liegenden Straße hin; daer auch hier nichts Verdächtiges wahrnahm, meldeteer Nana durch einen Pfiff, daß der Weg frei sei.

Bald darauf verließen die beiden Brüder das künst-liche, eine halbe Meile lange Thal, das vollständig vonGalerien, Gewölben und Höhlungen erfüllt ist, die sichmanchmal zu beträchtlicher Höhe erheben. Sie vermie-den das mohammedanische Mausoleum zu berühren,das als Bungalow dient für Pilger und Neugierige allerNationen, welche die Wunderwerke Elloras herbeizie-hen; endlich, nachdem sie noch um das Dorf Raupahherumgeschlichen, befanden sie sich auf der Straße,die Adjuntah und Boregami verbindet.

Die Entfernung zwischen Ellora und Adjuntah be-trägt gegen fünfzig Meilen (etwa achtzig Kilometer);jetzt lagen indeß die Verhältnisse anders, als da Na-na zu Fuß und ohne jedes Transportmittel aus Aurun-gabad entwich. Wie Balao Rao gesagt, erwarteten ihndrei Pferde auf der Landstraße, die der Hindu Kâla-gani, ein treuer Diener Dandu Pant’s, bewachte. EineMeile vom Dorfe standen diese Pferde in einem dichtenGebüsch versteckt. Das eine war für Nana, das zweitefür Balao Rao, das dritte für Kâlagani bestimmt, undbald galoppirten alle Drei in der Richtung auf Adjun-tah fort. Es würde übrigens Niemand erstaunt gewesen

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sein, einen Fakir beritten zu erblicken, denn diese un-verschämten Bettler sprechen nicht selten vom Pferdeherab um Almosen an.

Zu dieser für Pilgerfahrten minder günstigen Jahres-zeit war die Straße sehr wenig belebt. Nana und sei-ne beiden Gefährten eilten also rasch vorwärts, ohneetwas zu fürchten zu haben, das sie belästigen oderaufhalten könnte. Sie nahmen sich nur Zeit, ihre Thie-re etwas verschnaufen zu lassen, und während dieserkurzen Aufenthalte sprachen sie dem Mundvorrath zu,den Kâlagani in seiner Satteltasche mitführte. Auf die-se Weise gingen sie den belebteren Theilen der Pro-vinz, den Bungalows und Dörfern aus dem Wege, un-ter anderen dem Flecken Roja, einem traurigen Hau-fen schwarzer Häuser, welche die Zeit wie die düste-ren Wohnungen von Cornwallis eingeräuchert hat, undPulwary, einem kleinen, in den Anpflanzungen einerschon halb wilden Gegend verlorenen Orte.

Das Land war hier gleichmäßig eben. Nach allen Sei-ten hin erstreckten sich Haidekrautfelder, da und dortvon dichten Dschungeln durchsetzt. Mit der Annähe-rung an Adjuntah wurde die Gegend jedoch hügeliger.

Die prächtigen Grotten, welche diesen Namen füh-ren, ebenbürtige Rivalen der Wunderhöhlen von Ello-ra und im Ganzen vielleicht schöner als diese, nahmenden unteren Theil eines kleinen Thales, etwa eine hal-be Meile von der Stadt ein.

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Nana Sahib brauchte also nicht durch Adjuntah zugehen, wo die Bekanntmachung des Gouverneurs ge-wiß schon veröffentlicht war, und folglich auch nichtzu fürchten, erkannt zu werden.

Nach fünfzehnstündigem Ritte von Ellora aus be-trat er mit seinen zwei Begleitern einen Engpaß, dernach dem berühmten Thale führte, dessen siebenund-zwanzig, gleich aus dem Felsberg gemeißelte Tempelsich über schwindelnde Abgründe erheben. Die Nachtwar herrlich, der Himmel voller flimmernder Sterne,aber mondlos. Verschiedene hohe Bäume, Banianen(indische Feigen) und einige jener »Bars«, welche zuden Riesen der indischen Flora zählen, hoben sichin dunklen Umrissen von dem sternbedeckten Hinter-grunde des Himmels ab. Kein Lufthauch durchzittertedie Atmosphäre, kein Blättchen regte sich und kein Ge-räusch ließ sich vernehmen, außer dem dumpfen Mur-meln eines Bergstromes, der in der Entfernung von ei-nigen hundert Fuß in der Tiefe des Hohlweges hin-lief. Dieses Murmeln nahm aber nach und nach zuund wurde zum wirklichen Brausen, als die Rosse denWasserfall von Sakkhound erreicht hatten, der aus ei-ner Höhe von fünfzig Toisen herabstürzt und sich anden Vorsprüngen der Quarz- und Basaltfelsen bricht.In dem Engpasse wogte ein feuchter Nebel hin, derdie sieben Regenbogenfarben gezeigt hätte, wenn derMond in dieser herrlichen Frühlingsnacht über den Ho-rizont gekommen wäre. Nana Sahib, Balao Rao und

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Kâlagani waren am Ziele. Nach einer scharfen Wen-dung des Engpasses, der hier einen spitzen Winkel bil-det, lag vor ihnen das durch die Meisterwerke bud-dhistischer Bauwerke geschmückte Thal. An den Mau-ern jener Tempel, welche mit Säulen, Rosetten, Arabes-ken und Verandas reich verziert, durch Kolossalfigurenphantastischer Thiergestalten belebt und von dunklenZellen durchbrochen sind, in denen früher die Priesterals Wächter der geheiligten Räume wohnten, kann derKünstler noch heute einzelne Fresken bewundern, dienoch ganz wie frisch gemalt erscheinen und königlicheCeremonien, religiöse Aufzüge und Schlachten, oderalle Waffen jener Periode darstellen, wie sie in dem rei-chen Indien während der ersten Zeit der christlichenZeitrechnung gebräuchlich waren.

Nana Sahib kannte alle Geheimnisse dieser mysteri-ösen Hypogäen. Mehr als einmal hatte er sich mit sei-nen Gefährten, wenn ihm die königlichen Truppen zudicht auf der Ferse waren, während der Unglücksta-ge des Aufstandes dahin geflüchtet. Die unterirdischenGänge, welche jene verbanden, die engen, aus derQuarzmasse des Berges gehauenen Tunnels, die win-keligen Wege, welche sich in allen Richtungen kreuz-ten, die tausend Verzweigungen dieses Labyrinths, de-ren Entwirrung auch die Geduldigsten ermüden mußte– er war mit Allem vertraut. Er konnte sich darin nichtverirren, selbst wenn keine Fackel die dunkle Tiefe er-leuchtete.

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Nana ging trotz der schwarzen Nacht mit voller Si-cherheit gerade auf eine der minder bedeutenden Höh-len der Gruppe zu. Den Eingang zu derselben verdeck-te ein Vorhang von dichtem Gezweig und ein Haufengroßer Steine, den früher eine Erderschütterung hier-hergeworfen zu haben schien zwischen das Gesträuchdes Bodens und die in Stein gehauenen Pflanzenfor-men des Felsens.

Ein leises Scharren mit dem Fingernagel an derWand genügte, um die Gegenwart des Nabab an derOeffnung der Höhle anzumelden. Einige Hinduköpfeerschienen sofort zwischen den Zweigen, dann zehn,später zwanzig andere und bald bildeten die Leute,welche schlangengleich durch und über das Gesteinkrochen, eine Truppe von etwa vierzig wohlbewaffne-ten Männern.

»Vorwärts!« befahl Nana Sahib.Ohne eine Erklärung zu verlangen und ohne zu wis-

sen, wohin er sie führte, folgten die treuen Kampfge-nossen dem Nabab, bereit, jeden Augenblick für ihn inden Tod zu gehen. Sie waren zwar zu Fuß, ihre Beineschienen jedoch an Schnelligkeit mit denen der Pferdewetteifern zu können.

Die kleine Truppe wandte sich der schmalen Straßezu, die neben dem Thale hinlief, folgte derselben nachNorden und überstieg den Kamm der Berge. Eine Stun-de später hatten sie die Straße von Kandeisch erreicht,

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die sich in den Schluchten der Sautpourra-Berge ver-liert.

Die nach Nagpore führende Zweigstrecke der Ei-senbahn von Bombay nach Allahabad und die Haupt-strecke selbst, die nach Nordosten verläuft, wurden mitTagesanbruch überschritten.

Eben sauste der Zug von Calcutta in größter Schnel-ligkeit dahin, entsandte weiße Dampfwirbel in dieprächtigen Banianen der Straße und erschreckte durchsein Gerassel die wilden Thiere in den Dschungeln.

Der Nabab hatte sein Pferd angehalten und rief mitlauter Stimme, die Hand gegen den davoneilenden Zugausstreckend:

»Geh’ und sage dem Vicekönig von Indien, daß NanaSahib noch immer unter den Lebenden wandelt, unddaß er diese Bahn, das verfluchte Werk ihrer Hand,noch mit dem Blute der Eroberer überschwemmenwird!«

5. DER STAHLRIESE.

Ich habe nie ein größeres Erstaunen gesehen, als dasder auf der Landstraße von Calcutta nach Chander-nagor am Morgen des 6. Mai befindlichen Leute, die,Männer, Frauen und Kinder. Hindus so gut wie Englän-der, demselben den zweifellosesten Ausdruck gaben. Inder That schien diese starre Verwunderung nicht mehrals natürlich. Mit Sonnenaufgang verließ nämlich ei-ne der letzten Vorstädte der Hauptstadt Indiens ein

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fremdartiges Fuhrwerk, wenn dieser Name überhauptnoch für den sonderbaren Apparat, der sich längs desHougly-Ufers hin bewegte, zulässig ist. An der Spitzeund dem Anscheine nach als einzig bewegende Kraftdes kleinen Zuges schritt ruhig und geheimnißvoll einriesiger, etwa zwanzig Fuß hoher, dreißig Fuß langerund entsprechend breiter Elephant. Sein Rüssel warhalb zurückgebogen, wie ein ungeheures Füllhorn, mitdem spitzen Ende in der Luft. Die über und über ver-goldeten Zähne ragten, zwei drohenden Sicheln gleich,aus der gewaltigen Kinnlade hervor. Ueber dem dun-kelgrünen, unregelmäßig gefleckten Körper hing einereiche, farbenprächtige Decke mit Silber- und Gold-Filigranschmuck und umsäumt mit großen Troddelnund gewundenen Fransen. Auf dem Rücken trug dasUngeheuer eine Art verzierten Thurm mit rundem,nach indischer Mode geformtem Dache, und in dessenWänden große Linsengläser, ähnlich den Lichtpfortenin den Schiffscabinen.

Dieser Elephant schleppte einen Zug aus zwei enor-men Wagen oder vielmehr aus zwei wirklichen Häu-sern, eine Art rollender Bungalows bestehend, welcherjeder auf vier, an der Nabe, dem Kranze und den Felgen

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mit Sculpturen versehenen Rädern ruhte. Von den Rä-dern sah man übrigens nur das untere Segment, wäh-rend den übrigen Theil der Unterbau jener ungeheu-ren Locomotions-Apparate verdeckte. Eine schmale ge-gliederte Brücke, die sich jeder Wendung anpaßte, ver-band den ersten Wagen mit dem zweiten.

Konnte denn aber ein einziger, wenn auch nochso starker Elephant die beiden massiven Bauwerkescheinbar ohne Anstrengung wegziehen? Und dochthat es das wunderbare Thier. Seine breiten Füße ho-ben und senkten sich mit ganz mechanischer Regelmä-ßigkeit und er ging sofort vom Schritt in Trab über,ohne daß sich die Stimme oder Hand eines »Mahout«sehen oder hören ließ.

Hierüber mußten ja wohl alle Neugierigen erstau-nen, so lange sie in einiger Entfernung blieben. Bei An-näherung an den Koloß nahmen sie aber, während ihrErstaunen in Bewunderung überging, Folgendes wahr:

Zunächst traf das Ohr eine Art abgemessenes Sau-sen und Brausen, sehr ähnlich dem eigenthümlichenSchrei dieser Riesen der indischen Fauna. Weiter drangaus dem aufwärts gerichteten Rüssel kurz nach einan-der eine wirbelnde Dampfwolke hervor.

Und doch schien das Ganze ein Elephant zu sein.Seine runzliche, schwärzlich grünliche Haut bedecktezweifelsohne einen so mächtigen Knochenbau, wie ihndie Natur jenem Könige der Pachydermen verliehen

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hat! Seine Augen glänzten wie lebend! Seine Gliederwaren ja beweglich!

Gewiß! Doch, wenn ein Neugieriger gewagt hätte,die Hand an das gewaltige Thier zu legen, so hätteAlles seine Erklärung gefunden. Das Ganze war einehöchst gelungene Augentäuschung, eine überraschen-de Nachbildung, die selbst in der Nähe gesehen, an-scheinend Leben besaß.

In der That bestand dieser Elephant aus Stahlblechund verbarg eine vollständige Straßenlocomotive inseinen Weichen.

Der Train, oder »das Steam-House«, um die ihm ge-ziemende Bezeichnung zu gebrauchen, war die vondem Ingenieur versprochene fortrollende Wohnung.

Der erste Wagen, oder richtiger das erste Haus,diente dem Oberst Munro, Kapitän Hod, Banks und mirals Wohnstätte.

In dem zweiten hauste der Sergeant Mac Neil nebstden zum Personal der Expedition gehörigen Leuten.

Banks hatte sein Versprechen gehalten, Oberst Mun-ro das seinige, und so kam es, daß wir am Morgen des6. Mai in dieser außergewöhnlichen Weise aufbrachen,um die nördlichen Theile der Indischen Halbinsel zubesuchen.

Wozu aber dieser künstliche Elephant? Warum die-ses Aufgebot von Phantasie, die dem so praktischenSinne der Engländer sonst doch so fern liegt? Bisherwar es noch Niemand in den Sinn gekommen, einer

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Locomotive, ob diese nun auf dem Macadam der Land-straße oder auf den Schienen der Eisenwege dienensollte, die Gestalt eines Vierfüßlers zu geben!

Ich gestehe, daß sich unserer beim ersten Anblickdieser überraschenden Maschine ein nicht geringes Er-staunen bemächtigte. Anfragen nach dem Warum undWie regneten förmlich auf Freund Banks hernieder.Nach seinen Plänen und unter seiner Leitung war die-se Straßenlocomotive hergestellt worden. Wer in allerWelt konnte ihn auf den bizarren Einfall gebracht ha-ben, sie unter den Stahlwänden eines mechanischenElephanten zu verbergen?

»Liebe Freunde, antwortete Banks gelassen undernsthaft, kennen Sie den Rajah von Bouthan?

– Ich kenne ihn, antwortete Kapitän Hod, oder viel-mehr ich kannte ihn, denn er ist seit drei Monaten todt.

– Richtig, bestätigte der Ingenieur; bevor er aberstarb, lebte der Rajah von Bouthan nicht allein, son-dern auch auf andere Weise als andere Menschenkin-der. Vor Allem liebte er den Prunk auf jede Art undWeise. Er versagte sich nichts – ich sage nichts von Al-lem, was ihm einmal in den Kopf gekommen war. SeinGehirn arbeitete stets, das Unmögliche zu erdenken,und wenn dieses Organ auch unerschöpft gebliebenwäre, so wäre doch seine Börse erschöpft worden, umalle seine Hirngespinnste in’s Werk zu setzen. Er warja reich, wie die Nababs der früheren Zeit. Seine Cas-sen strotzten von Gold. Er hatte nur die Leidenschaft,

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seine Thaler auf etwas weniger banale Weise wegzu-werfen, als seine Millionär-Brüder. Da kam ihm denneines Tages ein Gedanke, der sich seiner bald so sehrbemächtigte, daß er ihm den Schlaf raubte, ein Ge-danke, auf den auch Salomo stolz gewesen wäre undden er unzweifelhaft verwirklicht hätte, wenn er schonden Dampf kannte, es war der, auf eine vollkommenneue Art zu reisen und ein Fuhrwerk zu besitzen, wiees Niemand vor ihm geträumt hatte. Er kannte mich,ließ mich an seinen Hof kommen und entwickelte mirselbst den Plan zu seinem Locomotions-Apparat. WennSie etwa glauben, ich hätte bei diesem Vorschlage desRajah hell aufgelacht, so irren Sie sich stark. Ich begriffsehr wohl, wie diese großartige Idee in dem Gehirn desindischen Rajah entstehen konnte, und hatte nur deneinen Wunsch, sie sobald als möglich so zu verwirkli-chen, daß sie meinen poetischen Clienten und mich be-friedigte. Ein beschäftigter Ingenieur hat nicht alle Ta-ge Gelegenheit, sich im Gebiete der Phantasie zu bewe-gen und die Fauna der Apokalypse oder die Wesen ausTausend und einer Nacht durch ein Geschöpf seinerLaune zu bereichern. Alles in Allem schien die Idee desRajah realisirbar. Sie wissen, daß man durch die Me-chanik so gut wie Alles leistet! Ich ging also an’s Werk,und es gelang mir, in dieser Hülle von Stahlblech, dieeinen Elephanten vorstellt, den Dampfkessel, die Ma-schine und den Tender einer Straßenlocomotive nebstallem Zubehör unterzubringen. Der bewegliche Rüssel,

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der nach Bedarf gehoben und gesenkt werden kann,diente mir als Rauchfang; ein Excenter vermittelt dieVerbindung der Beine meines Thieres mit den Räderndes Apparates; die Augen desselben richtete ich gleichden Linsen eines Leuchtthurmes ein, um zwei elektri-sche Lichtbündel daraus hervorstrahlen zu lassen, undso wurde der künstliche Elephant vollendet. Die Sacheging aber nicht so glatt vorwärts. Ich hatte so mancheSchwierigkeit zu überwinden, die nicht im Handum-drehen zu lösen war. Dieser Motor – ein großes Spiel-zeug, wenn Sie wollen – kostete mir manche Nachtwa-che, so daß mein Rajah, der seine Ungeduld gar nichtzu zügeln vermochte, und der den größten Theil seinerZeit in meiner Werkstätte zubrachte, mit Tode abging,bevor der letzte Hammerschlag des Monteurs seinenElephanten in den Stand gesetzt hatte, seinen Gangüber Land zu beginnen. Der Arme kam nicht mehrdazu, sein bewegliches Haus zu erproben. Die Erbenaber, übrigens nüchternere Leute als er, betrachtetenden Apparat mit Entsetzen und Aberglauben als dasWerk eines Thoren. Sie hatten nichts Eiligeres zu thun,als sich dessen zu jedem annehmbaren Preise zu entle-digen, und so kaufte ich das Ganze für Rechnung desObersten zurück. Sie begreifen nun, meine Freunde,warum und auf welche Weise wir allein in der ganzenWelt, wofür ich einstehe, jetzt einen Dampf-Elephantenzur Verfügung haben mit achtzig Pferdekräften, um

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nicht zu sagen von achtzig Elephantenkräften zu drei-hundert Meter-Kilogramm!

– Bravo, Banks, bravo! rief Kapitän Hod. Ein Meistervon Ingenieur, der noch dazu Künstler ist, ein Dichterin Stahl und Eisen, daß ist ein weißer Sperling heutzu-tage!

– Nach des Rajah Tode und dem Kaufe seines Ele-phanten, fuhr Banks fort, konnte ich es nicht über michgewinnen, meinen Elephanten zu zerstören und derLocomotive ihre gewöhnliche Gestalt wiederzugeben.

– Und daran haben Sie sehr wohlgethan! rief der Ka-pitän. O unser Elephant ist prächtig, ist herrlich! Undwelches Aufsehen werden wir erregen mit diesem ge-waltigen Thiere, wenn es uns durch die weiten Ebenenund die Dschungeln von Hindostan befördert! Das istein Rajah-Gedanke! Und diesen Gedanken werden wiruns zunutze machen, nicht wahr, Herr Oberst?«

Oberst Munro hatte dazu fast gelächelt. Das warbei ihm gleichbedeutend mit der vollkommensten Bil-ligung der Worte des Kapitäns. Die Reise wurde alsoendgiltig beschlossen und so war denn ein Elephantvon Stahl, ein ganz eigenes Geschöpf seiner Art, einkünstlicher Leviathan, dazu ausersehen, die bewegli-che Wohnung von vier Engländern fortzuschleppen,statt einen der reichsten Rajahs der Indischen Halbin-sel in all’ seinem Pomp spazieren zu fahren.

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Die Straßenlocomotive, bei welcher Banks alle Er-rungenschaften der modernen Wissenschaft verwert-het hatte, war folgendermaßen construirt:

Zwischen den vier Rädern befand sich der ganzeMechanismus, mit Cylindern, Treibstangen, Steuerung,Speisepumpe, Excentern, worüber der Kessel ange-bracht war. Dieser Röhrenkessel, ohne rücklaufendeFlammenzüge, bot sechzig Quadratmeter Feuerfläche.Er nahm den vorderen Theil des Raumes in dem stäh-lernen Elephanten ein, während dessen Rücken nachhinten zu den für den Wasser- und Kohlenvorrath be-stimmten Tender bedeckte. Zwischen Kessel und Ten-der, die beide auf einem Gestelle montirt waren, bliebein Raum für den Heizer frei. Der Maschinist hieltsich in dem kugelfesten Thürmchen auf dem Rückendes Thieres auf, in welchem für den Fall eines ernstli-chen Angriffes Alle Platz finden konnten. Der Maschi-nist hatte die Sicherheitsventile und den Manometerzur Angabe der Dampfspannung vor Augen und denRegulator sowie den Hebel zur Steuerung bequem zurHand, so daß er letzteren von hier aus beliebig um-legen und den ganzen Apparat folglich nach Beliebenvor- oder rückwärts gehen lassen konnte.

Von dem Thürmchen aus vermochte er auch durchdie dicken Linsengläser, die in enge Fensteröffnungen

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eingesetzt waren, die Straße nach vorwärts zu beob-achten und mittelst eines Pedals die Stellung der Vor-derräder zu verändern und damit jeder beliebigen Cur-ve zu folgen.

An den Achsen befestigte Federn aus bestem Stahltrugen Kessel und Tender, um bei Unebenheiten desBodens die Stöße zu mildern. Die Räder selbst, welchemehr als die nöthige Tragkraft hatten, waren an ihremUmfange gerieft, so daß sie in den Boden eingreifenund nicht »gleiten« konnten.

Die Maschine leistete, wie Banks gesagt, achtzig no-minelle Pferdekräfte, man konnte sie aber auf hundert-fünfzig effective Pferdekräfte steigern, ohne die Ge-fahr einer Explosion befürchten zu müssen. Die nachdem System Field construirte Maschine hatte doppelteCylinder mit verstellbarer Expansion. Ein hermetischgeschlossener Kasten umschloß den ganzen Mechanis-mus, um diesen vor dem Straßenstaube zu schützen,der ihn sonst bald beschädigt haben würde. Der größteVorzug desselben lag aber darin, daß er wenig consu-mirte und viel leistete. Im Vergleiche zu dem Nutzef-fect war der mittlere Verbrauch der Maschine ein un-erhört geringer, ob man nun mit Kohle oder mit Holzheizte, denn der Rost des Feuerherdes war zur Verwen-dung jedes Brennmaterials gleich geeignet. Die Nor-malgeschwindigkeit dieser Straßenlocomotive schätz-te der Ingenieur auf fünfundzwanzig Kilometer in derStunde, bei günstigem Terrain könne sie wohl auch

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vierzig erreichen. Die Räder konnten, wie gesagt, nichtgleiten, und zwar nicht allein, weil sie ein wenig inden Boden eingriffen, sondern auch weil die Aufhän-gung des Apparates in Federn erster Sorte eine höchstvollkommene war und das durch die Stöße sich ver-schiebende Gewicht sehr gleichmäßig vertheilte. DieRäder hatte man übrigens durch Luftbremsen gänzlichin der Gewalt, wodurch sie nach Belieben langsam an-gehalten oder sofort unbeweglich festgestellt werdenkonnten.

Auch die Leichtigkeit, mit der die Maschine Steigun-gen überwand, war wirklich bemerkenswerth. Bankserreichte diese Resultate durch die sorgsame Berück-sichtigung des Gewichts und der auf jeden Kolben wir-kenden Triebkraft seiner Locomotive, so daß sie Stei-gungen von zehn bis zwölf Procent bequem emporlief.

Uebrigens sind die von den Engländern in Indien an-gelegten Straßen, deren Netz eine Gesammtlänge vonmehreren tausend Meilen hat, wirklich ausgezeichnet.Sie mußten sich zu dieser Art der Fortbewegung vonLasten besonders gut eignen. Erwähnt sei hier nur dieGreat Trunk Road, welche die Halbinsel durchschnei-det und sich über eine Strecke von zwölfhundert Mei-len, das heißt nahe zweitausend Kilometer erstreckt.

Gehen wir nun zu dem Steam-House über, das derkünstliche Elephant nachzog.

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Banks hatte von den Erben des Nabab für Rech-nung des Oberst Munro nicht nur die Straßenlocomo-tive, sondern auch den Train, welchen diese schlepp-te, zurückgekauft. Man wird nicht darüber erstaunen,daß der Rajah von Bouthan diesen nach seinem Ge-schmacke und nach indischer Mode hatte herrichtenlassen. Ich nannte ihn einen rollenden Bungalow; erverdient diesen Namen in der That, und die beidenWagen, aus denen er besteht, repräsentiren ein wah-res Wunder der einheimischen Architektur.

Stelle man sich etwa zwei Pagoden ohne Minaretsvor mit ihrer Bedeckung durch einen doppelten Dach-stuhl, der einen ausgebauchten Dom bildet, mit denFenstervorbauen, die auf schön bearbeiteten Pilasternruhen, mit ihrem Schmucke aus farbigen, zierlich ge-schnitzten Holzarten, den Contouren, welche in ele-ganten Bogen verlaufen, und mit den reichen Veran-das an der Vorder- und Rückseite. Ja! Zwei Pagoden,die man für aus dem geheiligten Hügel Sonnaghur ent-nommen ansehen möchte, und welche, die eine ver-bunden mit der anderen, im Schlepptau des stählernenElephanten die Landstraße hinziehen sollten!

Hier ist auch noch eine Eigenschaft dieses wun-derbaren Elephanten zu erwähnen, die ihn sehr be-merkenswerth vervollständigt, nämlich seine Fähig-keit, auch schwimmen zu können. Die untere Partie des

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Elephantenkörpers, oder dessen Bauch, der die Ma-schine enthält, und der Unterbau der beiden beweg-lichen Häuser bilden nämlich wirkliche Schiffsrump-fe aus leichtem Blech. Sperrt nun ein Wasserlauf denWeg, so geht der Elephant hinein, der Train folgt ihm,und die durch Treibstangen gleich Radschaufeln be-wegten Tatzen des Thieres ziehen das ganze Steam-House über die Oberfläche der Flüsse und Ströme hin.Hierin liegt ein unschätzbarer Vortheil, vorzüglich indem ausgedehnten Gebiete Indiens, wo es sehr vielWasserläufe giebt, denen es noch gänzlich an Brückenfehlt.

So war also dieser einzig dastehende Train be-schaffen und so hatte ihn der launenhafte Rajah vonBouthan haben wollen. Wenn Banks aber auch jenerausschweifenden Phantasie insoweit gefolgt war, demMotor die Gestalt eines Elephanten und den Wagen dieäußere Form von Pagoden zu geben, so hatte er dasInnere doch nach englischem Geschmack eingerichtetund für eine lang dauernde Reise berechnet. DieserZweck schien auch vollkommen erreicht.

Steam-House bestand, wie gesagt, aus zwei Wagen,welche im Innern eine Breite von nicht weniger alssechs Meter hatten. Sie übertraf damit die der Rad-achsen, welche nur fünf Meter lang waren. Durch dieAufhängung der Wagen in sehr langen und außeror-dentlich biegsamen Federn glichen sich die Stöße beim

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Fahren ebenso vollkommen aus, wie die geringsten Er-schütterungen auf gut angelegten Eisenbahnen.

Der vordere Wagen maß fünfzehn Meter in der Län-ge. Am Vordertheile bedeckte eine auf leichten Säulenruhende Veranda einen geräumigen Balkon, auf demsich wohl zehn Personen bequem ergehen konnten.Nach dem Salon hin öffneten sich zwei Fenster undeine Thür, übrigens erhielt jener noch weiteres Lichtdurch zwei Fenster an den Seiten. Der mit einem Ti-sche und einer Bibliothek möblirte Salon, um den sichringsum schwellende Divans hinzogen, war kunstreichgeschmückt und mit prächtigen Stoffen ausgeschlagen.Ein dicker Smyrna-Teppich bedeckte seinen Boden.

»Tattis«, das sind eine Art Matten, vor den Fenstern,welche immer mit wohlriechendem Wasser befeuchtetwurden, erhielten stets eine wohlthuende Kühle eben-so im Salon, wie in den als Schlafräume dienenden Ne-benzimmern. Von der Decke herab hing eine »Punka«,die ein Transmissionsriemen in Bewegung setzte, solange der Train in Gang war, und die ein Diener beweg-te, wenn man Halt machte. Es erschien ja unumgäng-lich nothwendig, alle Hilfsmittel gegen die übermäßigeTemperatur in Anspruch zu nehmen, die sich in einigenMonaten selbst im Schatten manchmal bis 45◦ Celsiussteigert. An der Rückseite des Salons und der Veranda-thür gegenüber befand sich eine zweite, aus kostbaremHolz gefertigte Thür, die nach dem Speisesaal führte,der nicht nur durch Seitenfenster, sondern auch durch

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ein Oberlicht aus mattem Glase erhellt wurde. Der inder Mitte befestigte Tisch bot für acht Personen hin-länglich Platz; da wir nur Vier waren, konnten wir esuns mehr als bequem machen. Buffets und Schenkti-sche, ausgestattet mit all’ dem Luxus an Silbergeschirr,Glas und Porzellan, den der englische Comfort ver-langt, bildeten das weitere Meublement des Speisezim-mers. Es versteht sich von selbst, daß alle zerbrechli-chen Gegenstände zur Hälfte in besonderen Einschnit-ten standen, wie es auf Schiffen gebräuchlich ist, undso gegen jede Art Stöße geschützt waren, selbst aufden schlechtesten Wegen, wenn unser Train jemals ge-nöthigt war; solche einzuschlagen. Die Thür am Endedes Speisesaales stellte die Verbindung mit einem Gangher, der nach einem zweiten Balkon auslief, über wel-chem sich wieder eine Veranda ausbreitete. Längs desGanges lagen vier Zimmerchen mit Seitenlicht, darinje ein Bett, eine Toilette und ein kleines Sofa, ganz soeingerichtet wie in den Cabinen der großen transatlan-tischen Dampfboote. Das erste dieser Zimmerchen warfür Oberst Munro bestimmt, das zweite rechts für denIngenieur Banks, letzterem folgte zur rechten Hand dasdes Kapitän Hod, das meinige lag wiederum links ne-ben dem des Obersten.

Der zweite, zwölf Meter lange Wagen hatte so wieder erste eine Balkon-Veranda, die mit einer geräu-migen Küche in Verbindung stand, an deren Seitenzwei, reich mit allem Nothwendigen versehene Speise-

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und Vorrathskammern lagen. Diese Küche communi-cirte ebenfalls mit einem Gange, der sich zu einemviereckigen Mittelraume, dem durch Deckenfenster er-leuchteten Speisezimmer der Bedienung, erweiterte.An dessen Seiten lagen vier Cabinen für den SergeantMac Neil, den Maschinisten, den Heizer und für dieOrdonnanz des Oberst Munro; ferner an der Rücken-wand zwei weitere Cabinen, die eine für den Koch dieandere für den Diener des Kapitän Hod; noch ande-re Räumlichkeiten dienten als Waffenkammer, als Eis-behälter, Gepäckraum u. s. w., und öffneten sich nachdem Balkon auf der Rückseite.

Wie man sieht, hatte Banks die beiden rollendenWohnungen des Steam-Houses ebenso praktisch als be-quem eingerichtet. Im Winter konnten dieselben durcheine von der Maschine ausgehende Luftheizung er-wärmt werden, welche alle Räume versorgte, währendim Salon und im Speisesaale noch überdies zwei kleineOefen aufgestellt waren. Wir konnten also auch jederUnbill der kalten Jahreszeit, selbst an den Abhängender Berge von Thibet, ruhig entgegen sehen.

Natürlich war auch die hochwichtige Frage bezüg-lich der Nahrungsmittel nicht vernachlässigt worden,denn wir führten in ausgewählten Conserven so vielmit, um die ganze Expedition ein Jahr lang davon zu

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ernähren. Den größten Vorrath hatten wir an conser-virtem Fleisch der besten Marken; vorzüglich gekoch-tes und gedämpftes Rindfleisch, und an jenen »Mourg-his« oder Hühnerpasteten, die auf der ganzen indi-schen Halbinsel in so ausgedehntem Maße consumirtwerden.

In Folge der neuen Zubereitungsmethoden, welchees gestatten, flüssige Nahrungsmittel in concentrirtemZustande weithin zu transportiren, sollte uns auchdie Milch nicht bei dem ersten Morgenimbiß fehlen,der dem eigentlichen Frühstück vorausgeht, noch dieBouillon für den »Tiffin«, den gewöhnlichen Vorläuferder Abendmahlzeit.

Nach vorausgegangener Verdampfung nämlich, diesie in teigartigem Zustande zurückläßt, wird die Milchin hermetisch verschlossenen Büchsen von etwa vier-hundertfünfzig Gramm Inhalt gebracht, welche, durchVermengung mit dem fünffachen Gewichte Wasser,gegen drei Liter Flüssigkeit ergeben. Die Mischunghat dann dieselbe Zusammensetzung wie frische guteMilch. Ungefähr ebenso ist es mit der Bouillon, welcheauf ähnliche Weise erst eingedickt, dann in Tafelformgebracht wird und durch einfache Auflösung eine aus-gezeichnete Suppe liefert.

Das in warmen Ländern besonders wichtige und an-genehme Eis konnten wir uns in kurzer Zeit mittelst

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der bekannten Carré’schen Apparate, die durch Ver-dunstung von verflüssigtem Ammoniakgas eine schnel-le Temperatur-Erniedrigung hervorbringen, herstellen.Einer der erwähnten Räume im Hintertheile des zwei-ten Wagens diente als Eisschrank, und unsere Jagdbeu-te konnte auf diese Weise beliebig lange aufbewahrtwerden. Wir besaßen darin, wie Jeder leicht begreift,ein sehr schätzbares Hilfsmittel, das uns unter allenVerhältnissen ausgezeichnet erhaltene Nahrung sicher-te.

Auch der Keller barg einen reichlichen Vorrath anGetränken. Französische Weine, verschiedene deut-sche Biere, Branntwein, Arak hatten darin ihren Platzin einer für die ersten Bedürfnisse mehr als hinreichen-den Menge.

Ich bemerke hierbei, daß unser Weg niemals weitvon den bewohnten Gebieten der Halbinsel abwich.Indien ist ja keineswegs eine Wüste. Wer nur die Ru-pien nicht spart, kann sich daselbst bequem nicht nurdas Nöthigste, sondern auch noch viel darüber ver-schaffen. Höchstens während einer Ueberwinterung imnördlichen Theile, am Fuße des Himalaya, konnten wirvielleicht auf unsere eigenen Hilfsquellen angewiesensein. Der praktische Geist unseres Banks hatte eben Al-les vorgesehen und wir durften die Sorgen für unserenLebensunterhalt getrost ihm überlassen.

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Unsere Reiseroute – die übrigens nur im Princip auf-gestellt wurde, um je nach unvorhergesehenen Um-ständen abgeändert werden zu können – war die fol-gende:

Von Calcutta ausgehend, wollten wir dem Gan-gesthale bis Allahabad folgen und das Königreich Audhhinaufziehen bis zu den ersten Bodenerhebungen vonThibet, daselbst einige Monate an dem einen oder an-deren Orte verweilen, um Kapitän Hod Gelegenheit zugeben, seiner Jagdlust zu fröhnen, und dann bis Bom-bay zurückkehren.

Die zurückzulegende Strecke maß gegen neunhun-dert Meilen, wobei freilich das ganze Haus mit all’seinen Insassen mitreiste. Wer würde unter solchenVerhältnissen einen Augenblick zögern, nöthigenfallsmehrmals eine Reise um die Welt zu machen?

6. ERSTE ETAPPEN.

Am 6. Mai mit Tagesanbruch hatte ich das HôtelSpencer, eines der besten in Calcutta, in dem ich seitmeiner Ankunft in Indien wohnte, verlassen; die großeStadt hatte mir jetzt nichts mehr zu bieten. Morgen-promenaden zu Fuß, während der ersten Tagesstun-den, Abendspaziergänge zu Wagen, am »Strand« biszur Esplanade des Fort William mitten unter den glän-zenden Equipagen der Europäer, welche mit stolzerVerachtung die nicht minder glänzenden Wagen der

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großen und dicken eingebornen Babous kreuzen; Be-suche jener wunderbaren Geschäftsstraßen, die mitRecht den Namen Bazars führen; Ausflüge nach denVerbrennungsstätten der Todten am Ufer des Ganges,nach den botanischen Gärten des Naturforschers Hoo-ker, zur »Madame Kâli«, dem schrecklichen Weibe mitvier Armen, der wilden Todesgöttin, die sich in einemkleinen Tempel einer jener Vorstädte verbirgt, wo diemoderne Civilisation und die einheimische Barbareieinander berühren – das war gethan und geschehen.Den Palast des Vicekönigs zu betrachten, der sich demHôtel Spencer gegenüber erhebt; den merkwürdigenPalast des Chowringhi Road und die Town-Hall, diedem Andenken der großen Männer unserer Zeit ge-widmet ist, zu bewundern; die interessante Moscheevon Hougly eingehend zu studiren; am Hafen zu fla-niren, der von den schönsten Kauffahrteischiffen derenglischen Marine strotzt; Abschied zu nehmen vonden Arghiclas, Adjutanten oder Philosophen – dieseVögel haben gar zu viele Namen – denen es sozusa-gen obliegt, die Straßen zu reinigen und die Stadt ingutem Gesundheitszustande zu erhalten, das war auchgeschehen, und es blieb mir nun nichts Anderes übrig,als abzureisen.

Am erwähnten Morgen nahm mich also ein Palkig-hari, eine Art schlechter vierrädriger, zweispännigerWagen – der sich zwischen den bequemen Erzeugnis-sen der englischen Wagenbaukunst freilich nicht sehen

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lassen darf – am Gouvernementsplatze auf und hattemich bald nach dem Bungalow des Oberst Munro be-fördert.

Hundert Schritte vor der Vorstadt wartete unserTrain. Wir brauchten uns nur darin »häuslich einzu-richten« – das ist die richtige Bezeichnung.

Selbstverständlich war unser Gepäck schon vorherin dem dafür bestimmten Raume untergebracht wor-den. Wir nahmen übrigens nichts als das Nothwen-digste mit. Nur bezüglich der Waffen verblieb KapitänHod bei der Anschauung, daß das unbedingt Nöthigemindestens aus vier Enfields-Büchsen mit explodiren-den Kugeln, vier Jagdgewehren, zwei Entenflinten undnoch einer Anzahl anderer Flinten und Revolver zu be-stehen habe, womit wir Alle überreichlich bewaffnetwerden konnten. Dieses große Kriegsgeräth war ge-wiß mehr zur Erlegung von Bestien ausgewählt, als zurJagd auf eßbares Wild, doch der Nimrod der Expediti-on ließ sich in dieser Beziehung nichts d’reinreden.

Kapitän Hod schwelgte übrigens vor Entzücken! DasVergnügen, den Obersten der Einsamkeit seiner Klausezu entreißen, die Freude, die nördlichen Provinzen In-diens in einem Fuhrwerk ohne Gleichen zu durchstrei-chen, die Aussicht auf ganz außergewöhnliche Jagdzü-ge und Ausflüge in die Himalaya-Berge, Alles das be-lebte und reizte ihn mehr als gewöhnlich und machtesich in unendlichen Ausrufen und Händedrücken Luft,bei denen er den Anderen fast die Knochen zerbrach.

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Die Stunde der Abfahrt kam heran. Der Kessel hatteDampf, die Maschine war bereit zu arbeiten. Der Ma-schinist stand auf seinem Posten, die Hand am Regula-tor. Der gewöhnliche schrille Pfiff erschallte.

»Vorwärts, rief Kapitän Hod, den Hut schwenkend,Stahlriese, vorwärts!«

Der Name Stahlriese, den unser enthusiastischerFreund dem wunderbaren Motor unseres Train gege-ben, war gewiß ein berechtigter und blieb ihm auchfür immer.

Hier noch ein Wort über das Personal der Expedition,das im zweiten beweglichen Hause wohnte.

Der Maschinist Storr, ein Engländer von Geburt, ge-hörte früher zur Compagnie der »Great-Southern of In-dia«, von der er erst vor wenig Monaten ausgeschiedenwar. Banks, der ihn kannte, wußte, daß er sehr tüchtigsei und hatte ihn veranlaßt, in Oberst Munro’s Dien-ste zu treten. Es war ein Mann von vierzig Jahren, eingeschickter Arbeiter und in seinem Fache gründlich er-fahren, der uns sehr wichtige Dienste leisten sollte.

Der Heizer hieß Kâlouth. Er stammte aus jener Clas-se von Hindus, die von den Eisenbahn-Gesellschaftendeshalb so hoch geschätzt werden, weil sie die Tropen-hitze Indiens neben der eines Dampfkessels ungestraftauszuhalten vermögen. Dasselbe gilt von den Arabern,denen die Seetransport-Gesellschaften die Besorgung

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der Kessel bei der Fahrt auf dem Rothen Meere anver-trauen. Diese wackeren Leute begnügen sich, da nurzu sieden, wo Europäer in kurzer Zeit braten würden.

Die Ordonnanz des Oberst Munro war ein Hinduvon fünfunddreißig Jahren der Race nach ein Gourg-kah, Namens Goûmi. Er gehörte dem Regiment an,das als Beweis unerschütterlicher Disciplin ohne Mur-ren den Gebrauch der neuen Munition annahm, wel-che die erste Veranlassung, mindestens den Vorwandfür den Aufstand der Sipahis abgab. Klein, flink, wohl-gebaut, aber von einer Ergebenheit ohne Gleichen,trug er noch immer die schwarze Uniform der »Rifles-Brigade«, an der er mit Leib und Seele hing.

Der Sergeant Mac Neil und Goûmi waren in Kriegund Frieden die beiden Getreuen des Oberst Munro.

Nachdem sie sich an seiner Seite in allen Kämpfenin Indien geschlagen, ihn bei seinen fruchtlosen Ver-suchen, Nana Sahib aufzufinden, begleitet, waren sieihm auch nach seinem Ruhesitze gefolgt, um ihn nie-mals wieder zu verlassen.

Neben Goûmi, der Ordonnanz des Obersten, ist Fox,ein lustiger, sehr mittheilsamer Vollblut-Engländer zunennen, als Diener des Kapitän Hod und nicht mindereifriger Jäger als dieser. Um keinen Preis der Welt hät-te er seine jetzige Stellung gegen irgend eine anderevertauscht. Seine Schlauheit machte ihn des NamensFox, das ist Fuchs, werth; er war aber ein Fuchs, derschon beim siebenunddreißigsten Tiger angelangt war,

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und damit hinter seinem Herrn nur um drei Stück zu-rückblieb. Er rechnete jedoch stark darauf, noch weitervorwärts zu kommen.

Zur vollständigen Aufzählung des Personals der Ex-pedition fehlt nur noch unser schwarzer Koch, der imvorderen Theile des zweiten Hauses zwischen den bei-den Vorrathskammern schaltete. Ein Franzose von Ge-burt, der schon unter allen Breiten gebraten wordenwar, glaubte »Monsieur Parazard« – so lautete sein Na-me – nicht ein gewöhnliches Handwerk auszuüben,sondern ein Amt von hoher Bedeutung zu verwalten.Er entfaltete eine beispiellose Würde dabei, wenn ersich an dem einen oder dem anderen Ofen zu schaf-fen machte, oder mit der peinlichen Genauigkeit einesChemikers Pfeffer, Salz oder andere Würze, welche sei-ne gelehrten Präparate verlangten, hinzugab. Da Mon-sieur Parazard übrigens geschickt und sauber war, soverzieh man ihm wohl gern seine culinarische Eitel-keit.

Zehn Personen also, nämlich Sir Edward Munro,Banks, Kapitän Hod und ich einerseits, Mac Neil, Storr,Kâlouth, Goûmi, Fox und Monsieur Parazard anderseitsbildeten die Expedition, welche der Stahlriese in zweibeweglichen Häusern nach dem Norden der indischenHalbinsel beförderte. Doch vergessen wir auch nichtdie beiden Hunde Phann und Black, die der Kapitän

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bezüglich ihrer ausgezeichneten Eigenschaften als Ge-hilfen bei der Jagd auf Wild und Federvieh gar nichtgenug zu loben wußte.

Bengalen ist, wenn auch nicht die merkwürdigste,jedenfalls aber die reichste Präsidentschaft von Hin-dostan. Es ist zwar nicht das eigentliche Land der Ra-jahs, das mehr den centralen Theil dieses weiten Rei-ches umfaßt; diese Provinz erstreckt sich dagegen überein stark bevölkertes Gebiet, welches vielleicht als daswahre Land der Hindus zu betrachten ist. Es reichtnach Norden zu bis zu der unübersteiglichen Grenze,die der Himalaya bildet, und unsere Reiseroute solltedasselbe schräg durchschneiden.

Nach Feststellung der ersten Etappen der Fahrt hat-ten wir uns über Folgendes geeinigt: Wir wollten eini-ge Meilen dem Hougly, das heißt dem Arm des Gangesfolgen, der an Calcutta vorbeiströmt, dann die franzö-sische Stadt Chandernagor rechts liegen lassen, der Ei-senbahnlinie bis Burdwan nachgehen und auf bequem-stem Wege durch Behar ziehen, um in Benares wiederan den Ganges zu kommen.

»Meine Freunde, hatte Oberst Munro dabei geäu-ßert, ich überlasse Euch vollständig die Bestimmungder Richtung unserer Reise . . . bestimmt sie nur ohnemich, Alles, was ihr thut, wird mir angenehm sein.

– Lieber Munro, erwiderte Banks darauf, Du wirstdoch wohl auch Deine Ansicht zu erkennen geben müs-sen . . .

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– Nein, nein, Banks, fiel der Oberst ein, ich ordnemich Dir unter und beanspruche kein Vorrecht, die ei-ne Provinz etwa eher zu besuchen als die andere. Dochmöge mir eine einzige Frage gestattet sein: WelcheRichtung soll eingeschlagen werden, wenn wir nachBenares gekommen sind?

– Die nach Norden! rief Kapitän Hod bestimmt, derWeg, welcher direct nach den ersten Abhängen des Hi-malaya führt, also quer durch das Königreich Audh!

– Gut, gut, liebe Freunde, antwortete Oberst Munro,dann werde ich an Euch vielleicht das Ansuchen stellen. . . Doch davon sprechen wir später. Bis dahin machtnur Alles nach Eurem Gutdünken!«

Diese Worte Sir Edward Munro’s mußten nothwen-dig einiges Erstaunen erwecken. Welcher Gedanke lagdenselben wohl zugrunde?

Sollte er dieser Reise nur mit dem Hintergedankenzugestimmt haben, daß der Zufall ihn vielleicht findenließ, was dem eifrigsten Willen mißglückte? Glaubteer, wenn Nana Sahib noch am Leben war, diesen et-wa im Norden von Indien aufzuspüren? Ich für mei-nen Theil hatte das bestimmte Gefühl, daß sich OberstMunro von ähnlichen Motiven leiten ließ, und es schi-en mir sogar, als ob der Sergeant Mac Neil in seinesHerrn Geheimnisse eingeweiht sei.

Während der ersten Stunden dieses Morgens hattenwir im Salon vom Steam-House Platz genommen. Die

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Thür und die beiden Fenster nach der Veranda zu stan-den offen, und die Punka, welche die Luft in Bewegungerhielt, machte die Temperatur recht erträglich.

Der Regulator in den Händen Storr’s zügelte denStahlriesen. Nur eine Meile in der Stunde, mehr ver-langten für jetzt die Reisenden nicht, welche neugierigdas Land umher betrachteten.

Von der Vorstadt Calcuttas aus folgten uns zuerstetwa hundert Europäer, welche unser Fuhrwerk an-staunten, neben einer Unmasse Hindus, die es mit ei-ner Art mit Furcht untermischten Verwunderung an-starrten. Nach und nach verminderte sich die Menge,doch entgingen wir nicht den bewundernden Ausrufender Passanten, die ihre »Wahs! wahs!« fast verschwen-deten. Selbstverständlich galten diese Zeichen der Be-wunderung weniger den beiden prächtigen Wagen, alsdem gigantischen Elephanten, der diese unter Aussto-ßen von Dampfwirbeln dahinschleppte.

Um zehn Uhr wurde im Speisesaale die Tafel ge-deckt, und da wir wirklich weniger geschüttelt wur-den, als in einem Salonwagen erster Classe, so that Je-der dem Frühstück Monsieur Parazard’s alle Ehre an.

Der Weg, welchen unser Zug einhielt, führte am Uferdes Hougly hin, dem westlichsten der zahlreichen Ar-me des Ganges, welche zusammen das unentwirrbareNetz der sogenannten Sunderbunds bilden. Der ganzeLandstrich hier besteht aus Alluvialboden.

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»Was Sie hier sehen, Lieber Maucler, sagte Bankszu mir, ist das Erzeugniß des Wettstreites zwischendem heiligen Ganges und dem nicht minder geheilig-ten Golf von Bengalen. Das Ganze ist eine Frage derZeit. Vielleicht liegt hier kein Bröckchen Erde, das nichtvon dem Himalaya herstammt, von wo die Strömungdes Ganges dieselbe herabführte. Der Fluß hat allmäh-lich das Gebirge abgenagt, um den Boden dieser Pro-vinz zu bilden, in dem er für sich selbst ein Bett aus-sparte . . .

– Das er oft genug gegen ein anderes vertauscht!setzte Kapitän Hod hinzu. O, dieser Ganges ist ein Son-derling, ein Phantast, ein Mondsüchtiger! Man erbauteine Stadt an einem Ufer, und wenig Jahrhunderte spä-ter liegt diese mit trockenen Quais mitten im Lande,da der Strom seine Richtung und Mündung gewech-selt hat. So badeten früher Rajmahal und Gaur ihrenFuß in dem ungetreuen Wasserlaufe und sterben jetztvor Durst inmitten der dürren Reisfelder der Ebene.

– Nun, fragte ich, steht nicht auch zu befürchten,daß Calcutta einst dasselbe Los trifft?

– Wer weiß?– Oho, sind wir denn gar nicht da, warf Banks

ein. Giebt es denn keine Deiche? Wenn es sich nö-thig macht, wird man das Austreten des Ganges schonzu hindern wissen. Man legt ihm eben einfach dieZwangsjacke an!

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– Es ist ein Glück für Sie, lieber Banks, bemerkte ich,daß Sie hier keine Hindus in dieser Weise über ihrenheiligen Strom sprechen hören; das würden Sie Ihnenniemals verzeihen.

– Freilich, mußte Banks zugestehen, der Ganges giltihnen ja als der Sohn der Gottheit, wenn nicht als die-se selbst, und was er thut, ist in ihren Augen nie einUebel.

– Nicht einmal das Fieber, die Cholera und die Pest,die er niemals ganz ausgehen läßt! rief Kapitän Hod.Die Tiger und Krokodile, von denen es in den Sunder-bunds wimmelt, befinden sich freilich nicht schlechterdabei. Im Gegentheil, man möchte sagen, die verderb-liche Luft sei für diese Geschöpfe ebenso zuträglich,wie die reine Atmosphäre eines Sanatoriums währendder heißen Jahreszeit für die Anglo-Indianer. O, diesesRaubzeug! – Fox! rief Hod, indem er sich zu seinemDiener wandte, der die Tafel abräumte.

– Herr Kapitän? meldete sich Fox.– Nicht wahr, Du hast den siebenunddreißigsten er-

legt?– Ja, Herr Kapitän, zwei Meilen von Port Canning,

antwortete Fox. Es war eines Abends . . .– Schon gut! unterbrach ihn Kapitän Hod, der ein

tüchtiges Glas Grog ausleerte. Ich kenne die Geschich-te Deines siebenunddreißigsten; die des achtunddrei-ßigsten würde mich weit mehr interessiren.

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Der achtunddreißigste ist noch nicht getödtet, HerrKapitän!

– Du wirst ihn aber tödten, Fox. Ebenso wie ich deneinundvierzigsten!«

Im Gespräche zwischen Kapitän Hod und seinemDiener wurde, wie man sieht, das Wort »Tiger« ein-fach weggelassen. Das war überflüssig. Die beiden Jä-ger verstanden sich schon.

Je weiter sie vorwärts kamen, desto mehr veren-gerte sich das Bett des Hougly, der vor Calcutta na-he einen Kilometer breit ist. Stromaufwärts von die-ser Stadt begrenzen ihn nur sehr niedrige Ufer. Hierentwickeln sich manchmal furchtbare Cyclonen, die ih-re Zerstörung über die ganze Provinz verbreiten. Gan-ze Stadtviertel werden dabei vernichtet, Hunderte vonHäusern eines an dem anderen zertrümmert, ungeheu-re Anpflanzungen verwüstet, während Tausende vonLeichnamen die Stadt und das Land bedecken – dassind die Jammerbilder, welche diese schrecklichen Me-teore hinterlassen, unter denen die Cyclone von 1844die anderen an Heftigkeit besonders übertraf.

Bekanntlich besteht das Klima Indiens aus drei Jah-reszeiten: der Regenzeit, der kalten und der heißenJahreszeit. Die letztere ist zwar die kürzeste, aber auchdie beschwerlichste. März, April und Mai sind beson-ders furchtbare Monate. Unter allen ist der Mai derheißeste. Wer sich zu dieser Zeit mehrere Stunden am

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Tage der Sonne aussetzt, riskirt dabei das Leben, we-nigstens ein Europäer. Es ist nicht so selten, daß dasThermometer selbst im Schatten bis auf 106◦ Fahren-heit (etwa 41◦ Celsius) ansteigt.

»Die Menschen, sagt de Velbezen, dampfen dabeiwie die Pferde, und während des Krieges zur Un-terdrückung des Aufstandes mußten die Soldaten zuKaltwasser-Douchen über den Kopf ihre Zuflucht neh-men, um dem Blutandrang nach dem Gehirn zu steu-ern.«

Dank der eigenen Bewegung des Steam-House, demdurch das Schwingen der Punka unterhaltenen Luft-wechsel und der feuchten Atmosphäre, welche durchdie unausgesetzt benetzten Fenstermatten eindrang,litten wir von der Hitze nicht allzusehr. Uebrigens nä-herte sich die Regenzeit, welche vom Juni bis zum Oc-tober dauert, und diese konnte uns vielleicht unange-nehmer werden, als die heiße Saison. Unter den Ver-hältnissen, wie wir reisten, war indeß von keiner Seiteetwas Ernstliches zu fürchten.

Gegen ein Uhr Nachmittags kamen wir nach einerköstlichen Promenade, die wir machten, ohne aus demHause zu gehen, bei Chandernagor an.

Ich hatte diesen Erdenwinkel, den einzigen, derin der ganzen Präsidentschaft Bengalen noch Frank-reich angehört, schon früher besucht. Diese unter demSchutze der dreifarbigen Fahne stehende Stadt, welchenur das Recht hat, fünfzehn Soldaten zu ihrer eigenen

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Bewachung zu unterhalten, die alte Rivalin Calcuttaswährend der Kämpfe des 18. Jahrhunderts, ist jetztverfallen, ohne Gewerbfleiß, ohne Handel, ihre Bazarssind verlassen, ihre Forts nicht besetzt.

Vielleicht hätte Chandernagor einen neuen Impulsbekommen, wenn die Eisenbahn nach Allahabad durchdieselbe oder doch längs ihrer Mauern hingeführt wor-den wäre; in Folge der Anforderungen der französi-schen Regierung aber sah die englische Gesellschaftsich genöthigt, eine andere Linie auszuwählen und dasfranzösische Gebiet zu umgehen, wodurch Chanderna-gor die letzte Gelegenheit verloren hat, sich wieder zueiniger Handelsbedeutung aufzuraffen.

Unser Train berührte die Stadt also auch nicht. Erhielt drei Meilen davon auf der Straße, beim Eingangin einen Latanien-Wald an. Als wir uns hier zur Rasteinrichteten, sah es aus, als ob der Bau eines Dorfes ander betreffenden Stelle begonnen worden wäre. DasDorf war freilich beweglich, und am Morgen des 7.Mai nahm es seinen unterbrochenen Marsch wiederauf, nachdem wir eine ruhige Nacht in unseren com-fortablen Cabinen zugebracht hatten.

Während des Aufenthaltes sorgte Banks für Erneue-rung des Brennmaterials. Obwohl die Maschine nurwenig gebraucht hatte, hielt er doch stets darauf, daßder Tender seine volle Ladung, an Wasser und an Koh-len, führte, um sechzig Stunden den Bedarf decken zukönnen.

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Diesen Grundsatz wendeten der Kapitän Hod undsein getreuer Fox auch redlich auf sich selbst an, undihr innerer Ofen – ich wollte sagen ihr Magen, der einesehr große Heizfläche bot – war stets mit reichlichemstickstoffhaltigen Brennmaterial versehen, das ja un-entbehrlich ist, um die menschliche Maschine längereZeit gut in Gang zu erhalten.

Die zunächst zurückzulegende Strecke sollte einelängere sein. Wir wollten zwei Tage lang fahren, zweiNächte ruhen, um Burdwan zu erreichen – und dieserStadt einen Besuch abzustatten.

Um sechs Uhr Morgens gab Storr das Abfahrtssi-gnal mit der Dampfpfeife, blies die Cylinder aus, undder Stahlriese setzte sich etwas schneller als vorher inGang.

Einige Stunden lang hielten wir uns in der Nähedes Schienenweges, der über Burdwan das Gangesthalbei Rajmahal wieder erreicht, dem er dann bis Bena-res folgt. Eben flog der Zug von Calcutta vorüber. Erschien uns durch die bewundernden Blicke der Passa-giere herauszufordern. Wir beachteten diese Heraus-forderung nicht. Sie mochten schneller fahren als wir,bequemer jedenfalls nicht.

Die Landschaft, durch welche wir in diesen zweiTagen kamen, war unveränderlich eben und deshalbziemlich einförmig. Da und dort schaukelten sich ei-nige schlanke Cocospalmen, welche Baumgattung jen-seits Burdwan bald ganz verschwindet. Diese zu der

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großen Familie der Palmen gehörenden Bäume sindnämlich Freunde der Küste und gedeihen nur, wennihre Athmungsluft einige Partikelchen Meeresluft ent-hält. Deshalb begegnet man ihnen auch nicht mehraußerhalb einer ziemlich schmalen Uferzone und wür-de sie vergeblich im Innern Indiens suchen. Die Florades Binnenlandes ist jedoch nicht weniger interessantund artenreich. Zu beiden Seiten des Ganges bildetedas Land sozusagen ein riesiges Schachbrett von Reis-feldern, das sich unübersehbar weit hinaus erstreckte.Der Boden war in Vierecke getheilt und eingedeicht, et-wa wie die Salzsümpfe der Lagunen oder die Austern-parks der Seeküste. Hier herrschte jedoch die grüneFarbe vor und die Ernte auf diesem feuchten und war-men Erdreich mit seiner üppigen Fruchtbarkeit schiensehr ergiebig werden zu sollen.

Am nächsten Abend stieß die Maschine zur festge-setzten Stunde und mit einer Pünktlichkeit, um diesie jeder Eilzug hätte beneiden können, die letzteDampfwolke aus und hielt vor den Thoren von Burd-wan. In administrativer Hinsicht bildet diese Stadt denHauptort eines englischen Bezirkes, der aber selbst ei-nem Maharajah unterthan ist, welcher an die Regie-rung nicht weniger als zehn Millionen Steuern bezahlt.Die Stadt besteht größtentheils aus niedrigen Häusernmit schönen Baumalleen zwischen denselben. Letzteresind breit genug, um unseren Train den Durchgang zu

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gestatten. Wir sollten diese Nacht also an einem reizen-den Punkte voller Schatten und Frische zubringen. Anjenem Abend zählte die Residenz des Maharajah einkleines Stadtviertel mehr, nämlich unseren tragbarenWeiler, unser aus zwei Häusern bestehendes Dörfchen,das wir jedoch nicht gegen das ganze Stadtviertel ver-tauscht hätten, in dem sich der glänzende Palast desBeherrschers von Burdwan in anglo-indischem Baustylerhebt.

Unser Elephant brachte natürlich auch hier die ge-wohnte Wirkung hervor, das heißt, einen mit Verwun-derung gemischten Schrecken bei allen Bengalen, dievon rechts und links im bloßen Kopfe mit einer Haar-frisur à la Titus herzuströmten, die Männer nur be-kleidet mit einem Schurz um die Lenden, die Weibermit dem weißen »Sarri« (das ist ein burnusähnlichesHemd), das sie vom Kopf bis zu den Füßen verhüllt.

»Es beschleicht mich hier nur die eine Furcht, be-gann da Kapitän Hod, daß es dem Maharajah einfallenkönnte, unseren Stahlriesen kaufen zu wollen, und daßer dafür eine Summe böte, die uns nöthigte, ihn SeinerHoheit zu überlassen.

– Das wird nie geschehen! rief Banks. Wenn er eswünscht, baue ich ihm eher einen neuen Elephantenund von solcher Stärke, daß er seine ganze Hauptstadtvon einem Ende des Reichs zum anderen fortziehenkönnte. Den unsrigen verkaufen wir jedoch um keinenPreis. Nicht wahr, Munro?

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– Um keinen Preis,« bestätigte der Oberst mit derMiene eines Mannes, den auch das Angebot einer Mil-lion nicht rühren würde.

Ein etwaiger Verkauf unseres Riesen kam jedoch ei-gentlich gar nicht in Frage. Der Maharajah befand sichzur Zeit gar nicht in Burdwan. Wir erhielten nur denBesuch seines »Kândar«, eine Art Geheimsecretär, derunser Gefährt in Augenschein nahm. Dafür bot unsder Mann – worauf wir mit Vergnügen eingingen –an, die Gärten des Palastes zu besuchen, welche dieschönsten Exemplare von tropischen Pflanzen enthal-ten, und von lebendem Wasser, das sich in Teichenansammelt oder in Bächen dahinfließt, benetzt wer-den; ferner den mit phantastischen Kiosks geschmück-ten Park zu durchwandern in dem sich herrliche grüneRasenplätze, aber auch Ziegen, Hirsche, Damhirscheund Elephanten als Repräsentanten der Hausthiere imFreien, dagegen Tiger, Löwen, Panther, Bären als Ver-treter der Raubthiergeschlechter in prachtvollen haus-ähnlichen Käfigen vorfinden.

»Tiger im Käfig wie Stubenvögel, Herr Kapitän! riefFox. Es ist doch zum Erbarmen!

– Gewiß, Fox! antwortete der Kapitän. Wenn es nachihrem Willen ging, würden die letzteren gern frei inden Dschungeln umherschweifen, selbst vor dem Laufeeiner Büchse mit explodirenden Geschossen!

– Das mein’ ich auch!« bestätigte der Diener tief auf-seufzend.

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Am nächsten Tage, am 10. Mai, verließen wir Burd-wan. Das mit Allem wohlversorgte Steam-House kreuz-te die Eisenbahn auf einem Niveau-Uebergang, undwandte sich direct nach Ramghur, eine etwa fünfund-siebzig Meilen entfernt liegende Stadt.

Diese Reiseroute ließ freilich zu unserer Rechten dienicht unbedeutende Stadt Mourchedabad, die wederin ihrem indischen, noch im englischen Quartiere et-was Interessantes bietet; Monghir, eine Art Birming-ham Hindostans, gelegen auf einem Vorberge, der dasBett des geheiligten Stromes beherrscht; Patna, dieHauptstadt jenes Königreiches Behar, das wir schrägdurchziehen wollten, ein reiches Handelscentrum fürden Opium-Export, welches unter den Schlingpflan-zen, die hier besonders üppig gedeihen, zu verschwin-den Gefahr läuft; doch wir hatten Besseres zu thun:wir mußten einer meridianalen Richtung zwei Gradeunterhalb des Gangesthales folgen.

Während dieses Theiles der Fahrt wurde der Stahl-riese etwas mehr angetrieben und unterhielt einenleichten Trott, der uns die vortreffliche Einrichtungunserer schwebenden Häuser überzeugend vor Augenführte. Uebrigens war die Straße gut und eignete sichzu dieser Probe. Vielleicht erschraken die Raubthie-re vor dem gigantischen Elephanten, der Rauch undDampf ausathmete. Mindestens sahen wir zum großenErstaunen des Kapitän Hod in den Dschungeln dieses

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Landes kein einziges. Doch wollte Jener seiner Jagd-leidenschaft ja auch erst in den nördlichen GebietenIndiens, und nicht schon hier in Bengalen nachgehen,so daß er sich vorläufig nicht beklagte.

Am 15. Mai befanden wir uns in der Nähe von Ram-ghur, gegen fünfzig Meilen von Burdwan. Die mittlereFahrgeschwindigkeit betrug bisher fünfzehn Meilen inzwölf Stunden, nicht mehr. Drei Tage später, am 18.,hielt der Zug, hundert Kilometer weiter, bei der klei-nen Stadt Chittra an.

Dieser erste Theil der Reise war ohne jeden Zwi-schenfall verlaufen. Die Tage waren warm, die Siestaunter dem Schutze der Veranda dagegen desto ange-nehmer. Da brachten wir diese heißesten Stunden un-ter köstlichem Farniente zu.

Abends reinigten Storr und Kâlouth unter den AugenBanks’ den Kessel und revidirten die Maschine.

Unterdeß gingen wir, Kapitän Hod und ich, begleitetvon Fox und Goûmi und den beiden Vorstehhunden,in der Nachbarschaft des Halteplatzes jagen. Noch gabes nur kleines Wild und Federvieh; wenn der Kapitändas als Jäger auch verachtete, so schätzte er es dochals Feinschmecker, und am nächsten Tage enthielt derSpeisezettel des Monsieur Parazard zu seiner größtenBefriedigung einige saftige Gerichte mehr, wobei wirunsere Vorräthe schonen konnten.

Zuweilen blieben Goûmi und Fox wohl auch zurück,um Holz zu fällen und Wasser zu tragen. Es mußte ja

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der Tender für den ganzen Tag gefüllt werden. Bankswählte deshalb auch den Halteplatz mit Vorliebe amUfer eines Baches und in der Nähe eines Gehölzes. DieVersorgung mit dem nöthigen Material geschah stetsunter der Aufsicht des Ingenieurs, der sich selbst umAlles bekümmerte.

War das Alles vollbracht, so zündeten wir uns dieCigarren an – ausgezeichnete »Cherouts« aus Manilla– und rauchten während eines Gespräches über die-ses Land, das Hod und Banks ja gründlich kannten.Der Kapitän verachtete die gewöhnliche Cigarre undsog mit seinen kräftigen Lungen durch einen zwanzigFuß langen Schlauch den aromatischen Duft aus einem»Houkah«, den sein Diener mit aller Sorgfalt gestopfthatte.

Unser größtes Vergnügen wäre es gewesen, wennOberst Munro sich einmal diesen kurzen Ausflügen indie nächsten Umgebungen angeschlossen hätte. Stetsmachten wir ihm vor dem Aufbruch diesen Vorschlag,doch ebenso oft lehnte er unser Angebot ab und bliebmit Sergeant Neil zurück. Beide gingen dann nur aufder Straße je hundert Schritt hin und her. Sie spra-chen wenig, schienen sich aber vollkommen zu verste-hen, und hatten es nicht nöthig, viel Worte zu wech-seln, um ihre Gedanken auszutauschen. Beide schie-nen ganz von den furchtbaren Erinnerungen erfüllt zusein, die nichts verlöschen konnte. Wer weiß, ob sichdiese Erinnerungen nicht noch mehr belebten, je mehr

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Oberst Munro und der Sergeant sich dem Schauplatzdes schrecklichen Aufstandes näherten.

Offenbar hatte den Obersten eine fixe Idee, die wirerst später erfahren sollten, und nicht der einfacheWunsch, sich nicht von uns zu trennen, zum Anschlußan diese Fahrt nach Norden von Indien veranlaßt.Banks und Kapitän Hod theilten hierüber meine eige-nen Anschauungen, und wir legten uns unwillkürlichund mit einiger Sorge vor der Zukunft die Frage vor,ob dieser Elephant, während er durch die Ebenen derHalbinsel schritt, nicht ein ganzes Drama zur Entwick-lung bringen werde.

7. DIE PILGER AN PHALGOU.

Behar, das ehemalige Magadha, war zur Zeit derBuddhisten ein geheiligter Bezirk und ist noch jetztvon Tempeln und Klöstern erfüllt. Seit vielen Jahrhun-derten schon sind aber die Brahmanen an die Stelleder Priester Buddha’s getreten. Sie haben die »Viha-ras« (das sind Klöster, von welcher Bezeichnung auchder Name »Behar« abstammen soll) in Besitz genom-men, nutzen dieselben aus und leben von den Erträg-nissen des Cultus; Gläubige strömen ihnen von allenSeiten zu; sie machen dem heiligen Wasser des Gan-ges, den Pilgerfahrten von Benares und den religiösenFeierlichkeiten von Jaggernaut merkbare Concurrenz;mit einem Wort, der ganze Bezirk gehört ihnen an.

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Ein reiches Land mit endlosen, smaragdgrünen Reis-feldern, ungeheueren Mohnplantagen und zahlrei-chen, in üppigem Grün versteckten Flecken, beschattetvon Palmen, Mango-, Dattelbäumen und Taras, überwelche die Hand der Natur ein kaum entwirrbares Netzvon Lianen gebreitet hat. Die Wege, denen das Steam-House folgt, bilden lauter dichtbelaubte Bogengänge,deren feuchter Boden eine erquickende Frische erhält.Die Karte vor den Augen, dringen wir, ohne Furcht, unszu verirren, immer weiter vor. Das Sausen und Brausenunseres Elephanten mischt sich mit dem betäubendenLärmen des gefiederten Geschlechtes und mit dem un-harmonischen Geschrei des Affenvolkes. Sein Dampfwälzt sich in dichten Wirbeln zwischen dem Phönixdes Landes, dem Bananenbaum hindurch, dessen gol-dige Früchte gleich Sternen aus leichten Wolken her-vorglänzen. Wo er hinkommt, fliegen ganze Schwär-me zarter Reisvögel auf, deren weißes Gefieder in denweißen Dampfwirbeln verschwindet. Da und dort he-ben sich Gruppen von Banianen und Pampelpomeran-zen kräftig ab, oder kleinere Feldstücke von »Dahls«,das ist eine Art buschig wachsender Erbsen mit etwameterhohen Stengeln, die in den Dörfern des Hinter-landes zu Einzäunungen verwendet werden.

Aber welche Hitze! Kaum dringt ein wenig feuch-te Luft durch die Matten vor unseren Fenstern! Die»Hot winds« – die warmen Winde – welche sich, wäh-rend sie die weiten Ebenen im Westen bestreichen,

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mit Hitze überladen, bedecken das Land mit ihremfeurigen Athem. Es wird hohe Zeit, daß der Juni-Mousson in diesen Zustand der Atmosphäre eine Aen-derung bringt. Niemand vermöchte, ohne Gefahr derErstickung, diese Gluthsonne auf die Dauer zu ertra-gen.

Das Land ist auch ganz menschenleer. Selbst diean diese feurigen Sonnenstrahlen gewöhnten »Raiots«müssen von jeder Feldarbeit abstehen. Nur die schat-tige Straße ist noch zu benutzen, und auch das nur,da wir sie unter dem Schutze unseres rollenden Bun-galow durchlaufen. Der Heizer Kâlouth muß, ich sagenicht aus Platin bestehen, denn Platin würde schmel-zen, sondern aus reinem Kohlenstoff, um vor seinemglühenden Kesselroste nicht in flüssigen Zustand über-zugehen. Doch nein! Der brave Hindu hält aus! Er be-sitzt gewiß eine andere, wärmerückstrahlende Natur,die er sich auf der Plattform der Locomotiven, auf denSchienenwegen Central-Indiens erworben!

Im Laufe des 19. Mai zeigte das an der Wand desSpeisesaales hängende Thermometer eine Temperaturvon 106◦ Fahrenheit (41,11◦ Celsius). An demselbenAbend mußten wir auf unsere hygienische »Hawakana-Promenade« verzichten. Dieses Wort bedeutet eigent-lich »Luft essen«, das heißt man athmet dabei nach dererdrückenden Hitze des Tropensommertages ein weniglaue, reine Abendluft ein. Diesmal hätte die Atmosphä-re im Gegentheil uns aufgezehrt.

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»Herr Maucler, redete der Sergeant Mac Neil michda an, das erinnert mich an jene letzten Tage im März,als Sir Hugh Rose mit einer nur aus zwei Geschützenbestehenden Batterie eine Bresche in die Umfassungs-mauer von Laknau zu legen versuchte. Vor sechzehnTagen waren wir über die Betwa gekommen und hat-ten seit eben der Zeit die Pferde ein einziges Mal ab-gesattelt. Wir kämpften zwischen ungeheuren Granit-mauern, was hier ebenso viel bedeutet, wie zwischenden Backsteinwänden eines hohen Ofens. In unserenReihen gingen »Chitsis« auf und ab, welche Wasser inSchläuchen herumtrugen und uns das, während wirfeuerten, über die Köpfe gossen. Ja, da kommt mirnoch etwas in den Sinn! Ich war erschöpft, mein Kopfwollte zerspringen und fast sank ich schon zur Erde . . .Da bemerkte es Oberst Munro, entreißt einem Chitsiden Schlauch und gießt dessen Inhalt über mich aus . . .und das war der letzte, den die Träger zu beschaffenvermochten! . . . Sehen Sie, so etwas vergißt sich nicht.Nein! Einen Blutstropfen für jeden Wassertropfen! Undwenn ich mein ganzes Blut für den Herrn Oberst hin-gegeben hätte, ich bliebe doch noch sein Schuldner!

– Sergeant, fragte ich, finden Sie den Oberst Mun-ro seit unserer Abreise nicht noch gedankenvoller undstiller als gewöhnlich? Es scheint, daß jeder Tag . . .

– Ganz recht, Herr Maucler, antwortete Mac Neilmich unterbrechend, das geht auch ganz natürlich zu.Der Herr Oberst nähert sich ja Laknau und Khanpur

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mehr und mehr, wo Nana Sahib jenes Gemetzel . . .o, ich kann nicht davon sprechen, ohne daß mir dasBlut zu Kopfe steigt! Vielleicht wäre es besser gewesen,die Reiseroute zu ändern und nicht durch jene Provin-zen zu fahren, in denen der Aufstand am verheerend-sten wüthete. Wir stehen jenen entsetzlichen Vorgän-gen noch zu nahe, als daß die Erinnerung daran schonverblaßt sein könnte.

– Aendern könnten wir noch jetzt, erwiderte ich.Wenn Sie meinen, Sergeant, sprech’ ich darüber mitBanks und Kapitän Hod . . .

– Nein, nein, das ist zu spät, entgegnete Mac Neil.Ich habe sogar Ursache, zu glauben, daß es dem HerrnOberst am Herzen liegt, den Schauplatz jenes schreck-lichen Krieges noch einmal zu sehen, und daß er dieStelle besuchen will, wo Lady Munro den Tod – undwelchen Tod! – gefunden.

– Wenn es so steht, erwiderte ich, ist es wohl rathsa-mer, dem Oberst Munro zu willfahren und an unserenProjecten nichts zu ändern. Ost liegt ja ein Trost undeine Milderung des Schmerzes darin, sich an dem Gra-be Derer, die uns theuer waren, auszuweinen . . .

– An einem Grabe, ja! rief Mac Neil. Ist jener Brun-nenschacht von Khanpur aber, in den so viele unglück-liche Opfer bunt durcheinander gestürzt wurden, wohlnoch ein Grab zu nennen? Steht etwa ein Leichensteindaran, ähnlich denen, die von pietätreichen Händenauf unseren schottischen Kirchhöfen gepflegt werden,

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die mitten unter Blumen und schattigen Bäumen einenNamen enthalten, den einzigen Namen dessen, derdarunter ruht? Ach, mein Herr, ich fürchte, der HerrOberst wird entsetzlich leiden! Doch, ich wiederhole,jetzt ist’s zu spät, ihn von diesem Wege noch abzulen-ken. Wer weiß, ob er sich nicht weigerte, uns zu fol-gen. Nein, lassen wir die Sache gehen, und Gott seimit uns!«

Offenbar hatte Mac Neil gegründete Ursache, so be-stimmt über die Absichten des Oberst Munro zu spre-chen. Sagte er mir aber auch Alles, und war es nur derZweck, Khanpur wiederzusehen, der den Oberst ver-mochte, Calcutta zu verlassen?

Doch wie dem auch sei, jetzt zog es ihn wie ein Ma-gnet nach dem Platze, wo die Lösung des schauerli-chen Dramas erfolgt war! . . . Jetzt mußte die Sacheihren Gang haben. Da kam mir der Gedanke, den Ser-geant zu fragen, ob er für seinen Theil jeden Gedankenan Rache aufgegeben, mit einem Worte, ob er glaube,daß Nana Sahib todt sei.

»Nein, gab mir Mac Neil schlechtweg zur Antwort.Obwohl ich kein Anzeichen dafür habe, worauf ichmeine Ansicht stützen könnte, so kann ich doch nichtglauben, daß Nana Sahib gestorben sei, ohne die Stra-fe für seine Schandthaten gefunden zu haben! Nein,nein! Und doch, ich weiß nichts und habe auch nichtsdarüber gehört! . . . Es ist wie ein Instinct, der mich be-herrscht . . . O, solch’ wohlberechtigte Rache kühlen zu

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können, das müßte dem Herzen wohlthun! Gott gebe,daß meine Ahnungen nicht trügen und wir noch . . . «

Der Sergeant vollendete den Satz nicht . . . Seine Be-wegungen deuteten an, was die Lippen nicht ausspre-chen wollten. Der Diener stimmte mit dem Herrn voll-kommen überein.

Als ich Banks und Kapitän Hod den Sinn dieses Ge-spräches mittheilte, sprachen sich Beide dahin aus, daßdie Reiseroute weder verändert werden sollte nochkönnte. Uebrigens war niemals davon die Rede gewe-sen, durch Khanpur selbst zu gehen, denn wir beab-sichtigten nach Ueberschreitung des Ganges bei Bena-res durch die Ostprovinzen der Königreiche Audh undRohilkande direct nach Norden zu ziehen. Was MacNeil auch denken mochte, so stand es doch nicht fest,das Oberst Munro Laknau oder Khanpur, für ihn dieStätten der entsetzlichsten Erinnerungen, wiedersehenwolle; doch würde man auch im letzteren Falle seinemWunsche nicht entgegentreten.

Nana Sahib endlich war eine so allgemein bekanntePersönlichkeit, daß wir, wenn sich die, sein Wiederauf-treten in der Präsidentschaft Bombay meldende Anzei-ge bestätigte, unterwegs wohl von ihm hätten sprechenhören. Zur Zeit unserer Abfahrt von Calcutta war vondem Nabab aber kaum noch die Rede, und die von unsgelegentlich eingezogenen Erkundigungen ließen eherden Gedanken aufkommen, daß die Behörden falschberichtet gewesen seien.

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Bargen die Gerüchte aber wider Erwarten docheinen wahren Kern und leitete auch den Oberst Munrojetzt wirklich eine geheime Absicht, so hätte es ver-wundern können, daß er an Stelle Mac Neil’s nichtBanks, seinem vertrautesten Freunde, davon Mitthei-lung gemacht hatte. Eine Erklärung dafür lag jedoch,wie auch Banks selbst sagte, darin, daß er Alles auf-geboten hatte, den Oberst von gefährlichen und nutz-losen Unternehmungen abzuhalten, während der Ser-geant Jenen vielmehr dazu antrieb.

Am 19. Mai gegen Mittag hatten wir den FleckenChittra passirt. Das Steam-House befand sich jetzt vier-hundertfünfzig Kilometer von seinem Ausgangspunkteentfernt.

Mit einbrechender Nacht des nächsten Tages, des20. Mai, kam der Stahlriese nach einem brennend hei-ßen Tage in der Nähe von Gaya an. Wir hielten amUfer eines geheiligten Flusses, des Phalgou, der durchdie dahin gerichteten Pilgerfahrten weit und breit be-kannt ist. Die beiden Häuser nahmen an einem hüb-schen, von prächtigen Bäumen beschatteten Uferab-hange, zwei Meilen von der Stadt, Platz.

Wir gedachten hier sechsunddreißig Stunden, näm-lich zwei Nächte und einen Tag zu rasten, denn dieserOrt ist, wie ich oben andeutete, einer genaueren Be-trachtung werth.

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Am folgenden Morgen, und zwar, um der Mittags-hitze zu entgehen, schon um vier Uhr, verabschiede-ten wir, das heißt Banks, Kapitän Hod und ich, uns beiOberst Munro und wanderten nach Gaya.

Man versichert, daß nach diesem Mittelpunkt desbrahmanischen Cultus jährlich mindestens fünfhun-derttausend Andächtige zusammenströmen. Bei Annä-herung an die Stadt sahen wir die Wege auch von einerunendlichen Menge von Männern, Frauen und Kindernbedeckt. In langem, feierlichem Zuge schritten sie Alledahin, die den Mühsalen einer langen Pilgerfahrt ge-trotzt hatten, um ihre religiösen Pflichten zu erfüllen.

Banks hatte das Gebiet von Behar schon früher ein-mal, bei Gelegenheit der Vorarbeiten für eine nochnicht zur Ausführung gekommene Eisenbahn, kennengelernt, wir konnten also einen besseren Führer nichtleicht finden. Den Kapitän Hod hatte er übrigens zurZurücklassung jedes Jagdgeräthes zu bestimmen ge-wußt, so daß wir auch nicht zu befürchten brauchten,daß unser Nimrod uns unterwegs im Stiche ließe.

Kurz vor dem Orte, den man mit Recht die »heiligeStadt« nennen könnte, machte Banks uns auf einen ge-weihten Baum aufmerksam, welchen Pilger jedes Ge-schlechtes und jedes Alters andachtsvoll umringten.

Es war ein sogenannter »Pipal« mit ungeheuremStamme; obwohl die meisten Aeste desselben vor Alterschon abgefallen schienen, konnte er doch nicht mehr

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als zwei- bis dreihundert Jahre zählen, was Louis Rous-selet während seiner hochinteressanten Reise durchdie indischen Gebiete der Rajahs zwei Jahre später be-stätigte.

Dieser letzte Repräsentant der geweihten Pipals,welche eine lange Reihe von Jahrhunderten denselbenPlatz beschatteten und deren erster fünfhundert Jah-re vor der christlichen Zeitrechnung gepflanzt wordensein soll, trug den religiösen Namen »Boddhi«. Wahr-scheinlich galt er, im Glauben der um seinen Stammknieenden Fanatiker, für denselben, den Buddha einstgesegnet haben soll. Er erhebt sich auf einer jetzthalbverfallenen Terrasse, in der Nähe eines Backstein-Tempels aus offenbar uralten Zeiten.

Die Anwesenheit der drei Europäer inmitten derTausende von Hindus wurde mit ziemlich scheelen Au-gen betrachtet. Man ließ zwar nichts gegen uns ver-lauten, doch vermochten wir weder bis zu der Terrassenoch in den alten Tempel durchzudringen. Die Pilgerbildeten eben wahre Mauern um jene Heiligthümer,durch welche man sich kaum hätte einen Weg bahnenkönnen.

»Wäre ein Brahmane hier, begann Banks, so hättenwir mehr erreichen und das Bauwerk in allen Theilenbesichtigen können.

– Wieso? fragte ich verwundert, sollte ein Priesterminder streng sein als die Anhänger seiner Lehre?

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– Mein lieber Maucler, belehrte mich Banks, es giebtkeine Strenge, die vor dem Angebote einiger RupienStand hielte. Alles in Allem ist es sehr nothwendig, daßes Brahmanen giebt.

– Das begreife ich nicht im mindesten!« erwiderteKapitän Hod, der eine unbezwingliche Abneigung heg-te sowohl gegen die Indier, deren Sitten, Vorurtheileund die Objecte ihrer Verehrung, wie gegen die nach-giebige Duldung, welche seine Landsleute jenen ge-rechter Weise zu Theil werden ließen.

Augenblicklich erschien ihm Indien nur als »reservir-tes Jagdgebiet« und für ihn hatten die wilden Raubt-hiere der Dschungeln mehr Werth als alle Bewohnerder Städte und Dörfer zusammen.

Nach genügendem Aufenthalt in der Nähe des ge-weihten Baumes führte uns Banks in der Richtung nachGaya weiter. Mit der Annäherung an die heilige Stadtvergrößerte sich die Menge der Pilger gleichmäßig.Bald ward uns durch eine Lichtung des Gebüsches Ga-ya auf dem Gipfel des Felsens sichtbar, den es mit sei-nen wunderlichen Baulichkeiten krönt.

Vor Allem ist es der Tempel Wischnu’s, der hier dieAufmerksamkeit der Reisenden erregt. Er erscheint vonneuerer Bauart, da ihn die Königin von Holcar erst vorwenigen Jahren neu aufführen ließ. Die größte Merk-würdigkeit birgt dieser Tempel in den von Wischnupersönlich herrührenden Fußstapfen, als er einst zurErde hernieder stieg, um gegen den Dämon Maya zu

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kämpfen. Der Kampf zwischen einem Gotte und ei-nem bösen Geiste konnte nicht lange unentschiedenbleiben. Der Teufel unterlag, und ein im Bereiche vonWischnu-Pad selbst sichtbarer Felsblock bezeugt durchdie tiefen Fußabdrücke seines Gegners, daß dieser Dä-mon es hier mit einem weit Ueberlegenen zu thun hat-te.

Wenn ich sagte, daß diese Fußstapfen auf dem Steinsichtbar wären, so beeile ich mich jedoch hinzuzufü-gen, daß das nur für Hindus giltig ist. Es wird nämlichkein Europäer zur Betrachtung dieser göttlichen Fuß-spuren zugelassen. Vielleicht gehört zu deren Erken-nung auf dem wunderbaren Steine auch ein handfesterGlaube, der den Leuten aus dem Abendlande ja meistabgeht. Diesmal vermochte Banks durch das Angebotseiner Rupien doch nichts durchzusetzen. Kein Priesterwollte sich für irgend einen Preis zu einer Heiligthums-schändung erkaufen lassen. Ob nur die Höhe der Sum-me die Forderungen eines Brahmanen-Gewissens nochnicht erreichte, wage ich nicht zu entscheiden. Jeden-falls gelang es uns nicht, in den Tempel Zutritt zu er-halten, und ich bin also noch immer ohne Kenntnißvon dem »Eindrucke« jenes sanften und schönen jun-gen Mannes von Azurfarbe, gekleidet wie ein König deralten Zeit, berühmt durch seine zehn Fleischwerdun-gen, den Vertreter des erhaltenden Princips, im Gegen-satz zu Siva, der Verkörperung des zerstörenden Prin-cips, den die Vaichnavas, die Verehrer Wischnu’s, als

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den ersten der dreihundert Millionen Götter betrach-ten, die in ihrer ungemein polytheistischen Mythologievorkommen.

Dennoch hatten wir keine Ursache, unseren Ausflugnach der heiligen Stadt und den Weg nach Wischnu-Pad zu bereuen. Freilich erscheint es unmöglich, denWirrwarr von Tempeln, die Reihe von Höfen und dieMengen von Viharas zu schildern, durch welche oderum welche herum wir uns begeben mußten, um nachdem letzteren zu gelangen. Selbst ein Theseus mit demFaden der Ariadne in der Hand würde sich in diesemLabyrinth verirrt haben! Wir stiegen also den Felsenvon Gaya wieder hinab.

Der Kapitän kochte vor Wuth. Er hatte seinen Zornan dem Brahmanen, der uns den Eintritt in denWischnu-Pad verweigerte, auslassen wollen.

»Wo denken Sie hin, Hod? hatte Banks, der jenenzurückhielt, gesagt. Wissen Sie nicht, daß die Hindusihre Priester, die Brahmanen, nicht nur als ausgezeich-nete Personen, sondern gar als Wesen höherer Abkunftverehren?«

Als wir an dem Theil des Phalgou gelangt waren, derden Felsen von Gaya bespült, lag weit und breit die un-geheuere Menge von Pilgern vor unseren Blicken. Dadrängten sich in einem Wirrwarr ohnegleichen Män-ner, Frauen, Greise und Kinder, reiche Babous und ar-me Raiots der untersten Gesellschaftsclassen, Stadt-

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und Landbewohner, Vaichyas, Kaufleute und Gutsbe-sitzer, Kchatrias, stolze eingeborne Krieger, Sudras, er-bärmliche Künstler der verschiedensten Secten, nebenParias, die außerhalb des Gesetzes stehen und derenAugen die Gegenstände, welche sie ansehen, unreinmachen – mit einem Worte, alle Classen oder KastenIndiens durcheinander, und der kräftige Radjoupt stießden schwächlichen Bengali mit dem Ellenbogen zurSeite, wie die Leute aus dem Pendjab die Mohamme-daner aus Scind. Die Einen waren in Palankins ge-kommen, die Anderen in Wagen mit einem Gespannvon Buckelochsen. Hier lagen Einzelne neben ihren Ka-meelen, deren Vipernkopf selbst den Boden berührte,auf der Erde. Andere haben den ganzen Weg zu Fußzurückgelegt, und noch immer mehr strömen aus al-len Theilen der Halbinsel herbei. Da und dort erhe-ben sich Zelte, stehen abgespannte Wagen umher odersieht man Hütten aus Zweigen, die aller Welt als vor-übergehende Wohnung dienen.

»Welch’ wüster Lärm! bemerkte Kapitän Hod.– Das Wasser des Phalgou wird nach Sonnenunter-

gang nicht appetitlich zu trinken sein! meinte Banks.– Und warum nicht? fragte ich.– Weil dessen Wasser geheiligt ist und diese ganze

verdächtige Menge sich darin baden wird, wie die An-wohner des Ganges in dessen Wellen.

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– Lagern wir stromabwärts von hier? rief Hod, wäh-rend er die Hand nach der Richtung ausstreckte, in derunser Zug hielt.

– Nein, Kapitän, beruhigen Sie sich, antwortete derIngenieur, wir liegen stromaufwärts.

– Das ist ein Glück, Banks; ich möchte nicht, daßunser Stahlriese aus dieser unreinen Quelle getränktwürde!«

Wir wanden uns nun durch die Tausende von Hin-dus hindurch, die auf einem engen Raume zusammen-gepfercht waren.

Dabei hörte man zunächst das unharmonische Ge-räusch von Ketten und Glöckchen, das von Bettlernherrührte, welche die öffentliche Mildthätigkeit er-wecken wollten.

Es wimmelt hier geradezu von Vertretern der aufder ganzen indischen Halbinsel so zahlreichen Brüder-schaft von Landstreichern. Die Meisten trugen falscheWunden zur Schau, wie die Clopin-Trouillefou des Mit-telalters. Wenn diese Bettler auch sonst von den Mei-sten als Betrüger angesehen werden, so war das beiden Fanatikern hier, deren Verblendung den höchstenGrad erreichte, doch ganz anders.

Da fanden sich Fakirs, sogenannte Goussaïns, fastnackt und mit Asche überstreut; der Eine hatte sichdurch fortgesetzte Dehnung den Arm ausgerenkt, derAndere die Nägel der eigenen Finger durch die Handwachsen lassen.

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Wieder Andere waren auf die hirnverbrannte Ideegekommen, den ganzen Weg bis hierher mit ihrem Kör-per zu messen. Dazu strecken sie sich auf der Erde aus,erheben sich an der Stelle, werfen sich wieder niederund legen in dieser Weise Hunderte von Meilen zurück,als hätten sie als Maßketten dienen sollen.

Hier hingen einzelne Gläubige, berauscht vom Hang– das ist eine Art flüssiges Opium mit Hanfaufguß –in Baumzweigen an eisernen Haken, welche in dasFleisch der Schulter eingriffen. Dabei drehten sie sichnoch um, bis die Muskeln durchrissen und sie in dieWellen des Phalgou fielen.

Dort ließen Andere, welche zu Ehren Siva’s die Bei-ne durchstochen oder die Zunge durchbohrt hatten, in-dem sie Pfeile durch diese Theile gestoßen hatten, dasaus den Wunden träufelnde Blut von Schlangen auf-lecken.

Das ganze Schauspiel erschien einem europäischenAuge natürlich im höchsten Grade widerlich. Ich beeil-te mich, weiter zu kommen, als Banks mich plötzlichaufhielt.

»Jetzt naht die Stunde des Gebets!« sagte er.Eben erschien ein Brahmane inmitten des Men-

schengewühls. Er erhob die rechte Hand und wies da-mit nach der Sonne, welche der Felsen von Gaya bisjetzt verdeckt hatte.

Der erste von dem Tagesgestirn ausgehende Strahldiente als Signal. Die fast nackte Menge stürzte in das

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geheiligte Gewässer. Einige begnügten sich mit einerkurzen Untertauchung, wie in den ersten Zeiten derTaufe; Andere dagegen erweiterten das vorgeschriebe-ne Bad zu wirklichen Wasserlustbarkeiten, an denenein religiöser Charakter wohl kaum noch zu erkennenwar. Ich weiß nicht, ob die Eingeweihten, währendsie »Slocas« oder Denkverse hermurmelten, die ihnendie Priester gegen eine gewisse Belohnung vorbeteten,mehr daran dachten, ihre Seele oder ihren Leib zu rei-nigen. Jedenfalls schöpften sie zuerst etwas Wasser mitder hohlen Hand, sprengten dasselbe nach den vierHimmelsgegenden aus und spritzten sich darauf eini-ge Tropfen in das Gesicht, wie die Badenden, die sicham flachen Ufer eines Seebades belustigen. Für jedevon ihnen begangene Sünde rauften sie sich übrigensje ein Haar aus. Wie viele hätten da wohl verdient,nur als Kahlköpfe aus den Fluthen des Phalgou hervor-zugehen! Der Lärm und Jubel der Badenden, die dasWasser durch das rasche Untertauchen in Bewegungsetzten oder wie ein ungeschickter Schwimmer mit derFerse peitschten, ging so weit, daß selbst die Alligato-ren erschreckt nach dem anderen Ufer entflohen. Dasaßen sie, starrten mit glotzenden Augen auf die be-wegte Menschenmenge, die sie aus ihrem Bereiche ver-trieben, und ließen von ihren gewaltigen Kiefern eindrohendes Klappern ertönen. Die Pilger bekümmertensich um sie übrigens nicht mehr als um unschädlicheEidechsen.

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Für uns wurde es nun die höchste Zeit, diese wun-derlichen Heiligen sich selbst zu überlassen, um sichzum Eintritt in den Kaïlas, das heißt das Paradies Brah-ma’s, vorzubereiten. Wir wanderten also am Ufer desPhalgou hinauf, um unseren Halteplatz wieder zu er-reichen.

Das Frühstück vereinigte uns Alle an der Tafel undder übrige, außerordentlich warme Tag verlief ohneweitere Zwischenfälle. Kapitän Hod durchstreifte ge-gen Abend noch einmal die nächste Umgebung undbrachte etwas Wild mit heim. Inzwischen vervollstän-digten Storr, Kâlouth und Goûmi den Vorrath an Was-ser und Brennmaterial und setzten die Feuerung inStand, denn wir gedachten am nächsten Tage zeitigaufzubrechen.

Um neun Uhr Abends hatten Alle ihre Zimmer auf-gesucht. Eine ruhige, aber sehr warme Nacht verhüllteAlles ringsumher. Dicke Wolken verdeckten die Ster-ne und machten die Atmosphäre noch schwerer. Auchnach Sonnenuntergang nahm die Hitze nicht merkbarab.

Die Temperatur war so erstickend, daß ich Mühehatte einzuschlafen. Durch das offen gelassene Fensterdrang nur eine glühende Luft ein, die mir für die Thä-tigkeit der Lungen sehr ungeeignet schien.

Mitternacht kam heran, ohne daß ich einen Augen-blick Ruhe gefunden hätte. Dennoch wollte ich vor derAbreise drei bis vier Stunden geschlafen haben, ich

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täuschte mich aber in dem Glauben, dem Schlafe be-fehlen zu können. Der Schlummer floh mich. Der festeWille vermochte nichts, sondern bewirkte eher das Ge-gentheil.

Es mochte gegen ein Uhr Morgens sein, als ichein dumpfes Geräusch vernahm, das sich längs desPhalgou-Ufers fortzusetzen schien.

Ich glaubte zuerst, daß bei der mit Elektricität über-ladenen Atmosphäre ein Sturm aus Westen auftretenwürde. Ein solcher konnte wohl heiß sein, mußte aberwenigstens die Luftschichten verschieben und das Ath-men leichter machen.

Ich irrte. Die über unserer Haltestelle herabhängen-den Baumzweige blieben vollkommen unbewegt.

Ich steckte den Kopf durch das Fenster und lauschte.Wohl ließ sich entferntes Geräusch vernehmen, dochnirgends war etwas zu sehen. Die Wasserfläche desPhalgou breitete sich tief dunkel vor mir aus, ohne jenezitternden Reflexe, welche jede Bewegung derselbenerzeugt haben würde. Das Geräusch kam also wederaus der Luft noch vom Wasser her.

Etwas Verdächtiges vermochte ich jedoch nicht zuentdecken. Ich legte mich also nieder und begann, vonErmüdung überwältigt, einzuschlummern. Dann undwann drang mir jenes Geräusch noch einmal in’s Ohr,endlich schlief ich aber trotzdem fest ein.

Zwei Stunden später, eben als der erste Morgen-schimmer graute, wurde ich plötzlich erweckt.

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Man rief nach dem Ingenieur.»Herr Banks!– Was giebt es?– Kommen Sie schnell!«Ich hatte die Stimme Banks’ und die des Mechani-

kers erkannt, der in den Gang vor unseren Zimmerngetreten war.

Ich erhob mich sofort und verließ meine Cabine.Banks und Storr befanden sich schon auf der vorde-ren Veranda. Oberst Munro kam mir noch zuvor undKapitän Hod erschien bald darauf.

»Was ist geschehen? fragte der Ingenieur.– Sehen Sie selbst!« antwortete Storr.Das Licht des anbrechenden Tages gestattete die

Ufer des Phalgou und einen Theil der sich an dem-selben hinaufziehenden Straße einige Meilen weit zuerkennen. Unser Erstaunen war nicht gering, als wirmehrere Hundert von Hindus erblickten, welche trupp-weise an den Uferabhängen und auf der Straße lager-ten.

»Das sind ja unsere Pilger von gestern! meinte Kapi-tän Hod.

– Was machen sie aber hier? fragte ich.– Sie erwarten ohne Zweifel den Aufgang der Sonne,

erwiderte der Kapitän, um sich in die heiligen Wellenzu stürzen.

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– Nein, entgegnete Banks. Ihre Abwaschungen kön-nen sie ja in Gaya selbst vornehmen. Wenn sie hierhergekommen sind, so . . .

– Rührt das daher, daß der Stahlriese die gewohnteWirkung hervorgebracht hat! fiel Kapitän Hod ein. Siewerden gehört haben, daß ein gigantischer Elephant,ein Koloß, wie sie nie einen ähnlichen gesehen, sich inder Nähe befinde, und sind in hellen Haufen hergezo-gen, ihn zu bewundern!

– Wenn es bei der einfachen Bewunderung bleibt,bemerkte der Ingenieur kopfschüttelnd.

– Was fürchtest Du sonst, Banks? fragte Oberst Mun-ro.

– O, nichts weiter . . . als daß diese Fanatiker denWeg versperren und uns aufhalten könnten.

– Sei in jedem Falle vorsichtig! Mit derartigen Heili-gen kann man nicht zart genug umgehen.

– Gewiß!« stimmte Banks ihm bei.Dann rief er den Heizer.»Sind die Feuer bereit, Kâlouth?– Ja wohl!– So zünde an!– Ja, ja, zünd’ an, Kâlouth, wiederholte Kapitän Hod;

heize darauf zu, daß unser Elephant seinen Athem vonDampf und Rauch den Pilgern in’s Gesicht speie!«

Es war jetzt gegen halb vier Uhr Morgens. Die Ma-schine bedurfte nur einer halben Stunde, um Dampf zu

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haben. Die Feuer wurden also entzündet, das Holz kni-sterte auf dem Roste, und aus dem Rüssel des riesigenElephanten, der bis in das Gezweig der hohen Bäumereichte, wirbelten schwarze Rauchwolken empor.

Da kamen einzelne Gruppen von Hindus näher her-an. Unter der Menge entstand eine allgemeine Bewe-gung. Bald sahen wir uns dicht umdrängt. Die erstenReihen der Pilger hoben die Arme empor oder streck-ten sie nach dem Elephanten aus, Viele beugten sichnieder, fielen auf die Kniee oder warfen sich ganz zuBoden, jedenfalls als Ausdruck der Verehrung und An-betung.

Oberst Munro, Kapitän Hod und ich befanden unsinzwischen auf der Veranda, einigermaßen beunruhigt,wie weit der Fanatismus gehen werde. Auch Mac Neilwar hinzugekommen und blickte schweigend hinaus.Banks hatte mit Storr in dem Thürmchen, welches dasungeheuere Thier trug, Platz genommen, von wo aussie dasselbe nach Belieben in Gang setzen oder haltenkonnten.

Um vier Uhr schon brodelte und schnaubte der Kes-sel. Dieses dumpfe Geräusch konnte von den Hinduswohl als das Grollen eines überirdischen Elephantenaufgefaßt werden. Der Manometer zeigte jetzt eineSpannung von fünf Atmosphären, und Storr ließ etwasDampf durch die Ventile abblasen, was sich etwa soausnahm, als dränge der letztere durch die Haut dergigantischen Pachyderme.

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»Wir haben vollen Dampf, Munro! rief Banks herab.– So fahr’ zu, Banks, aber vorsichtig und verletze

Niemand!«Es war nun fast tageshell. Den längs des Phalgou

hinauflaufenden Weg bedeckte die andächtige Menge,welche wenig Lust zeigte, uns Platz zu machen. Es er-schien unter solchen Umständen freilich nicht so leicht,vorwärts zu fahren und Niemand zu beschädigen.

Banks ließ einige Male die Dampfpfeife ertönen,worauf die Pilger mit wahrhaft höllischem Geheul ant-worteten.

»Platz da! Aufgepaßt!« rief Banks laut und befahldem Mechaniker, den Regulator ein wenig zu öffnen.Man hörte das Zischen des Dampfes, der in die Cylin-der eindrang. Die Maschine machte eine halbe Radum-drehung, eine mächtige weiße Dampfwolke stieg ausdem Rüssel auf. Die Menge war einen Augenblick zu-rückgewichen. Der Regulator wurde nun zur Hälfte ge-öffnet. Das Schnaufen des Stahlriesen nahm an Stärkezu und unser Zug begann sich durch die dichte Reiheder Hindus zu bewegen, die uns Platz zu machen nichtgewillt schienen.

»Nehmen Sie sich in Acht, Banks!« rief ich da aus.Beim Herabbeugen über das Geländer der Veranda

hatte ich gesehen, wie sich wohl ein Dutzend Fanatikerauf den Weg offenbar in der Absicht niederwarfen, sichvon den Rädern der schweren Maschine zermalmen zulassen.

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»Diese Dummköpfe! rief Kapitän Hod, sie sehen un-seren Zug für den Wagen Jaggernaut’s an! Sie wollensich von den Füßen des heiligen Elephanten zertretenlassen!«

Auf ein Zeichen des Ingenieurs sperrte der Mechani-ker den Dampfzufluß ab. Die quer über den Weg lie-genden Pilger machten keine Miene, sich zu erheben.Rings um sie schrie und heulte die erregte Menge undermuthigte sie durch allerlei Gesten.

Die Maschine stand still. Banks wußte nicht, was erthun solle, und befand sich offenbar in Verlegenheit.

Plötzlich kam ihm ein Gedanke.»Wir wollen doch sehen . . . !« sagte er.Er öffnete den Hahn, der zum Reinigen und Aus-

blasen der Cylinder diente. Sofort zischten mächtigeDampfstrahlen über den Boden hin, daß die Luft vondem Brausen erzitterte.

»Hurrah! Hurrah! Hurrah! brach Kapitän Hod aus.Drauf los, Freund Banks, drauf los!«

Dieses Mittel wirkte. Schreiend sprangen die freiwil-ligen Opfer auf, als der heiße Dampf sie traf. Zermal-men lassen wollten sie sich wohl, aber verbrühen nicht.Die Menge wich zurück und der Weg ward frei.

Der Regulator wurde weit geöffnet und die Rädergriffen tief in den Boden ein.

»Vorwärts! Vorwärts!« drängte Kapitän Hod in dieHände klatschend und aus vollem Herzen lachend.

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In schnellem Tempo eilte der Stahlriese des Wegs da-hin und verschwand bald den Blicken der vor Erstau-nen sprachlosen Menschenmenge, wie ein Märchenwe-sen in einer Wolke von Dampf.

8. EINIGE STUNDEN IN BENARES.

Nun lag die Landstraße also für das Steam-Houseoffen – jene Straße, die uns über Sasseram am rechtenUfer des Ganges bis nach Benares führen sollte.

Eine Meile von der letzten Haltestelle nahm die Ma-schine wieder einen gemäßigteren Gang an und leg-te etwa zweiundeinhalb Meilen in der Stunde zurück.Banks beabsichtigte denselben Abend fünfundzwanzigMeilen von Gaya zu rasten und die Nacht in Ruhe naheder kleinen Stadt Sasseram zu verbringen.

Im Allgemeinen vermeiden die Landstraßen Indienssoweit als möglich die Wasserläufe, welche Brückennothwendig machen, deren Herstellung auf dem Al-luvialboden des Landes große Kosten bedingt. Selbstan solchen Stellen, wo man einem Flusse oder Stro-me nicht aus dem Wege gehen konnte, fehlen sie dochnoch häufig. Zwar findet man dann wenigstens eineFähre, das alterthümliche unzureichende Auskunfts-mittel, das zur Ueberführung unseres Zuges sicherlichnicht genügt hätte. Glücklicher Weise konnten wir des-selben entbehren.

Gerade an diesem Tage mußten wir nun einen be-deutenden Fluß, die Sone überschreiten. Oberhalb

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Rhotas aus seinen Quellflüssen Coput und Coyle ent-springend, mündet derselbe etwa in der Mitte zwi-schen Arrah und Dinapore in den Ganges.

Die Ueberfahrt ging außerordentlich leicht von Stat-ten. Der Elephant verwandelte sich ganz von selbst ineinen Wassermotor. Er stieg den sanft geneigten Ufer-rand hinab bis in den Fluß, schwamm auf dessen Flä-che und die breiten Füße peitschten das Wasser wiedie Schaufeln eines Rades, wobei er den Zug, der hin-ter ihm schwamm, nachschleppte.

Kapitän Hod wußte sich vor Jubel kaum zu fassen.»Ein rollendes Haus! rief er einmal über das andere,

ein Haus, das gleichzeitig ein Wagen und ein Dampf-schiff ist! Nun fehlen ihm nur noch Flügel, um es ineinen Fliegapparat zu verwandeln und den Luftraumzu durchmessen!

– Das wird auch noch kommen, Freund Hod, sagteder Ingenieur ganz ernsthaft.

– Ja, ich weiß, Freund Banks, antwortete ebensoernsthaft der Kapitän, es wird noch Alles werden! NurEines nicht, nämlich, daß wir in zweihundert Jahrennoch einmal unter den Lebenden weilen, um all’ dieseWunder zu schauen! Das Leben ist gar nicht alle Tageso angenehm, und doch wäre ich dabei, zehn Jahrhun-derte zu leben – aus reiner Neugier!«

Gegen Abend, zwölf Stunden nach der Abfahrt vonGaya, nachdem wir unter der stolzen Röhrenbrückeder Eisenbahn, welche vierundzwanzig Fuß über dem

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Spiegel der Sone liegt, hinweggeglitten waren, hieltenwir in der Nähe von Sasseram. Wir wollten hier nur ei-ne Nacht über bleiben, um Holz und Wasser zu fassen,und mit Tagesanbruch wieder aufbrechen.

Dieses Programm wurde in allen Punkten eingehal-ten, und bevor die Sonne ihre brennenden Strahlen,welche uns für den Mittag gespart blieben, aussandte,fuhren wir am frühen Morgen des 22. Mai wieder ab.

Die Landschaft war immer dieselbe, das heißt reichund fleißig angebaut, so wie sie längs der Ufer desherrlichen Ganges-Thales erscheint. Ich erwähne hierdie zahlreichen Dörfer nicht, die inmitten unendlicherReisfelder zerstreut oder unter Palmengruppen mitdichter Blätterkrone, unter dem Schatten von Mango-oder anderen edlen Bäumen versteckt liegen. Wir hiel-ten übrigens bei denselben nicht an. Sperrte dann undwann ein von Zebus langsam dahingezogener Karrenden Weg, so genügte ein schriller Pfiff mit der Dampf-pfeife, ihn zum Ausweichen zu veranlassen, und unserZug rollte zur größten Verwunderung der Bauern vor-über.

Im Laufe dieses Tages hatte ich auch das herrlicheVergnügen, sehr viele Rosenfelder zu sehen. Wir befan-den uns jetzt nämlich nicht mehr fern von Ghazipore,dem Mittelpunkt für die Darstellung des Rosenwassersoder vielmehr der Rosenessenz.

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Ich fragte Banks, ob er mir über diesen so gesuchtenArtikel, den wichtigsten in der Kunst der Zusammen-stellung von Wohlgerüchen, Näheres mittheilen könne.

»Ich will Ihnen Ziffern anführen, antwortete mirBanks, die den Beweis liefern, wie kostspielig die Fa-brikation ist. Vierzig Pfund Rosen werden zuerst beimäßigem Feuer einer Art langsamer Destillation un-terworfen und liefern etwa dreißig Pfund Rosenwas-ser. Dieses Wasser gießt man auf eine neue Quantitätvon vierzig Pfund Blumen und setzt die Destillation solange fort, bis die Flüssigkeit noch zwanzig Pfund be-trägt. Dieselbe wird nun zwölf Stunden lang der kaltenNachtluft ausgesetzt, und am anderen Morgen findetman auf deren Oberfläche – eine Unze wohlriechendesOel. Aus achtzig Pfund Rosen – eine Quantität, welchemindestens zweimalhunderttausend Blumen enthält –gewinnt man am Ende also eine Unze ätherisches Oel!Es ist ein wirklicher Massenmord! Es ist also nicht zuverwundern, daß die Rosenessenz selbst im Producti-onsland die Unze mit vierzig Rupien, gleich hundertFrancs bezahlt wird.

– Ah, meinte Kapitän Hod, wenn man zur Gewin-nung einer Unze Alkohols achtzig Pfund Weintraubenbrauchte, da würde der Grog verwünscht theuer wer-den!«

An diesem Tage hatten wir noch die Karamnaca,einen der Nebenflüsse des Ganges, zu überschreiten.

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Die Hindus haben aus diesem unschuldigen Flusse ei-ne Art Styx gemacht, auf dem zu fahren nicht gerat-hen sei. Sein Ufer ist nicht minder in üblem Ruf alsdas des Jordans oder die Küste des Todten Meeres. DieCadaver, welche in denselben geworfen werden, führter direct in die brahmanische Hölle. Ich gehe auf die-se Glaubensfragen hier nicht ein; wenn aber behauptetwird, das Wasser dieses Höllenflusses sei von unange-nehmem Geschmack und der Gesundheit schädlich, somuß ich dem widersprechen, da es im Gegentheil aus-gezeichnet ist.

Am Abend, nachdem wir durch ein wenig hügeli-ges Land mit unübersehbaren Mohnfeldern und wei-ten Reisplantagen gekommen, lagerten wir am rech-ten Ufer des Ganges, gegenüber dem uralten Jerusalemder Hindus, der heiligen Stadt Benares.

»Vierundzwanzig Stunden Aufenthalt! rief Banks.– Wie weit sind wir jetzt von Calcutta? fragte ich den

Ingenieur.– Etwa dreihundertfünfzig Meilen, erklärte er mir,

und Sie werden zugeben, lieber Freund, daß wir wedervon der Länge des Weges noch von Beschwerden derReise etwas bemerkt haben!«

Der Ganges! Giebt es einen Fluß, dessen bloßer Na-me mehr poetische Legenden in uns wachruft, undscheint sich nicht ganz Indien in ihm zu vereinen? Fin-det sich auf der weiten Erde ein dem seinigen ver-gleichbares Thal, das sich, um seinen stolzen Lauf zu

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regeln, über ein Strecke von fünfhundert Meilen fort-setzt und nicht weniger als hundert Millionen Einwoh-ner zählt? Giebt es einen zweiten Ort, wo seit demAuftreten der asiatischen Racen mehr Wunder zusam-mengehäuft worden wären? Was würde Victor Hugo,der die Donau so erhaben besang, von dem Ganges ge-sagt haben? Ja, man kann es laut von sich verkündi-gen, wenn man

. . . wie ein Meer seine hohle See hat,Wenn man über die Erde dahinziehtWie eine Schlange, und wenn man

strömtVom Abendlande bis zum Morgenland!

Der Ganges aber hat seinen gefährlichen Seegang,seine Cyclonen, die schlimmer auftreten, als die Stür-me des europäischen Stromes! Er windet sich, einerSchlange gleich, durch die paradiesischsten Gegendender Welt! Auch er fließt vom Abend nach Morgen. Aberseine Quelle entspringt nicht auf mittelmäßigen Hü-geln – die höchste Bergkette der Erde ist es, in denGebirgsriesen von Thibet, von der sie herabstürzt, alleNebenflüsse verschlingend! Vom Himalaya steigt er zurErde herab! Am folgenden Tage, am 23. Mai, lag beiSonnenaufgang der breite Wasserspiegel vor unserenBlicken da. Auf dem weißen Sande lagen einige Ge-sellschaften gewaltiger Alligatoren, welche die erstenStrahlen der Sonne zu trinken schienen. Sie verhiel-ten sich ruhig dem glänzenden Gestirn zugewendet,

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als wären sie die gewissenhaftesten Anhänger Brah-ma’s. Einige vorüberschwimmende Leichen störten siejedoch bald aus ihrer Andacht auf. Von den Cadavern,welche der Strom mit hinabführt, hat man gesagt, daßsie auf dem Rücken schwimmen, wenn es solche vonMännern, auf der Brust aber, wenn es solche von Frau-en wären. Ich kann versichern, daß an dieser Beobach-tung nichts Wahres ist. Schnell stürzten sich die Un-geheuer auf die willkommene Beute, welche ihnen dieStröme der Halbinsel täglich liefern, und schlepptendieselbe in die Tiefe.

Die Eisenbahn von Calcutta verläuft vor ihrer Gabe-lung bei Allahabad, von wo aus sie nordwestlich nachDelhi und südwestlich nach Bombay führt, stets amrechten Ufer des Ganges, dessen Krümmungen sie nurabschneidet. Bei der Station Mogul Seraï, von der wirnur wenige Meilen entfernt waren, zweigt sich einekleinere Strecke ab, die nach Ueberschreitung des Stro-mes Benares berührt und durch das Gounti-Thal sech-zig Kilometer weit bis Jaunpore reicht.

Benares liegt demnach am linken Ufer. Hier wolltenwir indeß nicht über den Ganges gehen, sondern erstbei Allahabad. Der Stahlriese blieb also an dem am Vor-abend des 22. Mai gewählten Halteplatze. Am Fluß-ufer lagen Gondeln bereit, uns nach der heiligen Stadtzu bringen, die ich etwas eingehender zu besichtigenwünschte.

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Oberst Munro hatte in der oft von ihm besuchtenStadt nichts mehr zu lernen, nichts mehr zu sehen. Anjenem Tage kam ihm zwar einmal der Gedanke, sichuns anzuschließen, nach reiflicher Ueberlegung aberentschied er sich für einen in Gesellschaft Mac Neil’slängs des Flusses zu unternehmenden Ausflug. Beideverließen auch das Steam-House, bevor wir aufgebro-chen waren. Kapitän Hod, der früher in Benares inGarnison gelegen hatte, wollte einige Kameraden be-suchen. Banks und ich – der Ingenieur wollte mir alsFührer dienen – wir waren also die Einzigen, welcheein Gefühl von Neugierde nach der Stadt verlockte.

Wenn ich sagte, daß Kapitän Hod in Benares garniso-nirt habe, so darf man nicht vergessen, daß die Trup-pen der königlichen Armee gewöhnlich nicht in denHindustädten selbst untergebracht sind. Ihre Kasernenliegen in den sogenannten »Cantonnements«, welchegleich an und für sich englische Städte darstellen. Soist es in Allahabad, in Benares und an anderen Punktendes Reiches, wo sich nicht allein die Soldaten, sondernauch die Beamten, Kaufleute und Rentiers mit Vorlie-be ansiedeln. Jede von jenen großen Städten bestehtalso eigentlich aus zwei Theilen, dem einen, in demman allen modernen Luxus Europas wiederfindet, unddem anderen, der die Landessitte und die Gebräucheder Hindus mit der ganzen Localfarbe bewahrt hat.

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Die an Benares anliegende englische Stadt ist Secro-le, deren Bungalows und christliche Kirchen nichts In-teressantes bieten. Hier befanden sich auch von Touri-sten frequentirte bessere Hôtels. Secrole ist eine ganzund gar »gemachte« Stadt, welche die Fabrikanten desVereinigten Königreiches in Kisten versenden könnten,um sie sofort wieder aufzustellen. Hier giebt es alsoetwas Merkwürdiges nicht zu sehen. Nachdem Banksund ich in einer Gondel Platz genommen, fuhren wirin schräger Richtung über den Ganges, um zunächsteinen Ueberblick über das prächtige Amphitheater zugewinnen, das Benares oberhalb des hohen Ufers bil-det.

»Benares, sagte Banks zu mir, ist vor allen ande-ren die heilige Stadt Indiens, das Mekka der Hindus,und Jeder, der sich daselbst, wenn auch nur vierund-zwanzig Stunden, aufgehalten hat, versichert sich da-mit eines Theiles der ewigen Glückseligkeiten. Es er-scheint begreiflich, welchen Zufluß von Pilgern ein sol-ches Dogma herbeilocken und welch’ große Anzahl Be-wohner eine Stadt haben muß, der Brahma so hoch-wichtige Vorrechte verliehen hat.«

Benares soll schon über dreißig Jahrhunderte altsein. Es wäre also etwa zu der Zeit gegründet wor-den, als Troja vom Erdboden verschwand. Nachdem esvon jeher einen großen, nicht politischen, aber geisti-gen Einfluß auf ganz Hindostan ausgeübt, wurde esbis zum 9. Jahrhundert der anerkannte Mittelpunkt

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der buddhistischen Religion. Da vollzog sich eine reli-giöse Umwälzung. Der Brahmanismus verdrängte denalten Cultus. Benares wurde die Hauptstadt der Brah-manen, der Brennpunkt für die Fahrten der Gläubigen,und man behauptet, daß hier jährlich dreimalhundert-tausend Pilger zusammenströmen.

Die heilige Stadt hat noch immer ihren eigenen Ra-jah. Dieser von England nur kärglich besoldete Fürstbewohnt einen prächtigen Palast in Ramnagur am Gan-ges. Er ist ein wirklicher Nachkomme der Könige vonKazi (der alte Name für Benares), hat aber keinerleiEinfluß, und würde sich darüber wohl hinwegsetzen,hätte man seinen Ruhegehalt nicht auf ein Lakh Rupienvermindert, das heißt also auf hunderttausend Rupien,gleich zweimalhunderttausend Mark, eine Summe, dieeinem früheren Nabab kaum als Taschengeld ausreich-te. Der Aufstand von 1857 berührte, wie überhaupt al-le Städte des Ganges-Thales, auch Benares. Jener Zeitbestand dessen Garnison aus dem 37. Regiment ein-geborner Infanterie, einem Corps regulärer Cavalle-rie und einem halben Regiment Sikhs. An königlichenTruppen besaß es nur eine halbe Batterie europäischerArtillerie. Diese Handvoll Menschen konnte es nichtwagen, die eingebornen Soldaten zu entwaffnen. DieRegierungsbehörden erwarteten daher auch mit Ver-langen die Ankunft des Oberst Neil, der mit dem 10.

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Regiment der königlichen Armee auf Allahabad mar-schirte. Oberst Neil zog in Benares nur mit zweihun-dertfünfzig Mann ein und ordnete sofort eine Paradeauf dem Exercierplatze an.

Als die Sipahis versammelt waren, erhielten sie denBefehl, die Waffen niederzulegen. Das verweigertendieselben. Damit kam es zwischen ihnen und der Infan-terie des Oberst Neil zum Kampf. Die reguläre Caval-lerie schloß sich sofort den Empörern an, ebenso wiespäter die Sikhs, welche sich verrathen glaubten. Jetzteröffnete die halbe Batterie das Feuer mit einem Hagelvon Kartätschen, der die Aufrührer trotz ihrer Ueber-macht und Erbitterung völlig auflöste.

Das Gefecht fand außerhalb der bewohnten Quartie-re statt. Im Gebiete der Stadt selbst kam es nur zu einerohnmächtigen Erhebung der Muselmanen, welche diegrüne Fahne aufzogen – ein Versuch, der gänzlich fehl-schlug. Von diesem Tage ab wurde Benares währenddes ganzen Aufstandes nicht wieder gestört, nicht ein-mal als die Empörung in den Provinzen des Westenssiegreich zu sein schien.

Banks machte mir diese Mittheilungen, während un-ser Boot über die Fluthen des Ganges glitt.

»Lieber Freund, sagte er, wir wollen also Benares be-suchen; gut! So alt diese Stadt auch ist, so werden Sieselbst kein Bauwerk finden, das mehr als dreihundertJahre zählte. Wundern Sie sich darüber nicht. Es ist dasdie Folge der Religions-Streitigkeiten, bei denen Eisen

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und Feuer stets eine nur zu bedauerliche Rolle spiel-ten. Nichtsdestoweniger bleibt Benares eine merkwür-dige Stadt, und Sie werden keine Ursache haben, ihrenAusflug zu bereuen!«

Bald darauf lag unsere Gondel in geeigneter Entfer-nung still, um uns am Grunde eines Golfs, ähnlich demvon Neapel, das pittoreske Amphitheater von Häusernerkennen zu lassen, die auf einem Hügel übereinan-derliegen, und die Menge Paläste, von denen ein gan-zer Complex in Folge einer Senkung des Bodens, dendie Wellen des Stromes fort und fort unterwühlen, vomEinstürzen bedroht ist. Eine nepalesische Pagode vonchinesischer Architektur, welche Buddha geweiht ist,ein Wald von Thürmen, Spitzen, Minarets und klei-nen Pyramiden, die von Tempeln und Moscheen em-porstreben, überragt von dem goldenen Lingam-PfeileSivas und den beiden unscheinbaren Pfeilen der Mo-schee Aureng Zehs, krönt das wunderbare Panorama.

Statt unmittelbar an einer der »Ghâts« oder Treppen,die vom Wasser zu den Uferstraßen hinausführen, zuhalten, ließ Banks die Gondel längs der Quais weiterfahren, deren unterste Mauerschichten bis zum Stromehinabreichen.

Ich sah hier eine Wiederholung der Auftritte von Ga-ya, nur in anderer Landschaft. An Stelle der grünenWälder des Phalgou trat hier als Hintergrund das Bildder heiligen Stadt.

Das Schauspiel selbst war nahezu das gleiche.

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Auch hier bedeckten Tausende von Pilgern denUferabhang, die Terrassen und Treppen, und stürztensich voller Andacht zu Dreien und Vieren in den Strom.Man darf aber nicht etwa glauben, daß dieses Bad un-entgeltlich zu haben wäre. Wächter mit rothem Turbanund den Säbel an der Seite erhoben auf den unterstenStufen der Ghâts das Eintrittsgeld im Verein mit ge-schäftigen Brahmanen, welche Rosenkränze, Amuletteund andere fromme Bedürfnisse verkauften.

Uebrigens drängten sich hier nicht nur Pilger, wel-che nur selbst zu baden gekommen waren, sondernauch Händler, deren einziges Geschäft darin bestand,heiliges, geweihtes Wasser zu schöpfen, das bis in dieentlegensten Theile der Halbinsel vertrieben wird. AlsGarantie ward jeder Flasche das Siegel der Brahma-nen aufgedrückt. Immerhin darf man annehmen, daßhierbei Betrügereien im größten Maßstabe mit unter-laufen, denn der Export der wunderbaren Flüssigkeithat eine gar zu beträchtliche Höhe erreicht.

»Vielleicht, meinte Banks, genügte der ganze Inhaltdes Ganges noch nicht für den Bedarf der Gläubigen!«

Ich fragte ihn darauf, ob bei dieser »Baderei« nichtzuweilen Unfälle vorkämen, da man von Sicherheits-maßregeln nichts bemerkte. Denn Schwimmmeistergab es z. B. hier nicht, um Unvorsichtige abzuhalten,die sich in die schnelle Strömung des Flusses verirrten.

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»Unfälle kommen häufig genug vor, antwortete mirBanks, doch, wenn der Körper des Gläubigen verlo-ren ist, so ist wenigstens seine Seele gerettet. Deshalbmacht man nicht viel Aufheben darum.

– Und die Krokodile? forschte ich weiter.– Die Krokodile halten sich meist beiseite. Der Lärm

im Wasser erschreckt und verscheucht sie. Diese Unge-heuer sind weit weniger zu fürchten, als die Bösewich-te, welche untertauchen, unter dem Wasser hinglei-ten, Frauen und Kinder herabzerren und ihnen das Ge-schmeide rauben. Man erzählt auch von einem Schur-ken, der mit einem künstlichen Kopfe bedeckt, langeZeit die Rolle eines falschen Krokodils gespielt und beidiesem einträglichen und gefährlichen Geschäfte sichein ganz nettes Vermögen erworben haben soll. EinesTages ward dieser Eindringling von einem wirklichenAlligator aufgefressen und man fand von ihm nichts alsden Kopf von lohgarer Haut, der noch auf dem Stromehinabtrieb.«

Außerdem giebt es auch genug überspannte Gläubi-ge, welche freiwillig den Tod im Ganges suchen unddabei sogar mit Raffinement zu Werke gehen. Um ih-ren Körper befestigen sie dann z. B. einen Rosenkranzvon leeren, aber unverschlossenen urnenartigen Ge-fäßen. Allmählich dringt das Wasser in dieselben einund zieht sie unter dem beifälligen Jubel der andäch-tigen Menge langsam hinunter.

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Die Gondel hatte uns bald an die Manmenka Ghâtgebracht. Hier erhoben sich die Scheiterhaufen, denendie Leichen aller Derjenigen übergeben werden, wel-che wegen des zukünftigen Lebens etwas in Besorgnißsind. Die Gläubigen halten viel auf die Einäscherungan dieser Stelle, und die Scheiterhaufen lodern deshalbTag und Nacht. Aus weiter Ferne her lassen sich die rei-chen Babous nach Benares bringen, sobald sie sich voneiner unheilbaren Krankheit ergriffen fühlen. Benaresgilt ohne Zweifel für den besten Abfahrtsplatz bei »derReise in die andere Welt«. Hat der Verstorbene sich nurverzeihliche Sünden vorzuwerfen, so geht seine Seeleauf den Rauchwolken der Manmenka sofort zur ewi-gen Glückseligkeit ein. War er ein großer Sünder, somuß sich seine Seele dagegen erst in dem Körper ei-nes eben gebornen Brahmanen läutern. Er darf dannhoffen, daß, wenn sein Leben während dieser zweitenFleischwerdung ein tadelloses gewesen ist, ihm keinedritte »Avatâra« (eine dritte Menschwerdung) aufer-legt wird, bevor er für immer zum Genuß der Selig-keiten in Brahma’s Himmel zugelassen wird.

Den Rest des Tages benutzten wir zu einem Besucheder Stadt, ihrer hauptsächlichsten Bauwerke und dervon düsteren Läden nach arabischer Sitte eingefaßtenBazars. Hier bringt man vorzüglich seine Mousselinszum Verkaufe, neben dem »Kinkôb«, einer Art goldbro-schirten Seidenstoffs und das wichtigste Erzeugniß der

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Industrie von Benares. Die Straßen waren gut erhal-ten, aber eng, eine Anlage, die man in allen von denStrahlen der Tropensonne fast senkrecht getroffenenStädten wiederfindet. Empfindet man doch im Schat-ten hier noch eine unausstehliche Hitze. Ich bedauertedie Träger unseres Palankins auf richtig, obgleich diesesich nicht selbst zu beklagen schienen.

Die armen Teufel fanden hierbei ja Gelegenheit, eini-ge Rupien zu verdienen, das genügte, ihnen Kräfte undMuth einzuflößen. Ganz anders erschien dagegen einHindu, oder vielmehr ein Bengali, mit lebhaften Augenund verschlagenem Ausdruck im Gesicht, der uns ohneScheu auf Tritt und Schritt verfolgte. Beim Aussteigenam Quai der Manmenka Ghât hatte ich im Gesprächmit Banks den Namen des Oberst Munro laut fallenlassen. Der Bengali, der unsere Gondel anlegen sah,schien dabei unwillkürlich zu erzittern. Ich beachtetedas zwar nicht weiter, doch kam es mir in den Sinn,als ich diesen Spion immer an unsere Fersen geheftetsah. Er verließ uns nur, um wenige Augenblicke spätervor oder hinter uns wieder aufzutauchen. War er einFreund oder ein Feind? Ich wußte es nicht; jedenfallserregte der Name des Oberst Munro bei ihm ein mehrals gewöhnliches Interesse.

Unser Palankin hielt bald am Fuße der großen Trep-pe von hundert Stufen, die vom Quai nach der Mo-schee Aureng Zeb’s hinaufführt.

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Früher klommen die Gläubigen, so wie die in Rom,diese Art Santa Scala nur auf den Knieen empor. Da-mals erhob sich der Tempel Wischnu’s an derselbenStelle, die später die Moschee des Eroberers einnahm.

Ich hätte Benares gern von der Höhe der Minaretsin Augenschein genommen, die für ein architektoni-sches Meisterwerk gehalten werden. Bei einer Höhevon hundertzweiunddreißig Fuß haben sie doch nurden Durchmesser einer gewöhnlichen Küchenesse unddennoch windet sich in ihrem cylindrischen Schaftenoch eine Treppe empor; es ist aber, und zwar mitRecht, verboten, dieselben zu besteigen. Schon jetztweichen die beiden Minarets nicht wenig von der loth-rechten Linie ab und werden, da sie nicht so stabil sindwie der schiefe Thurm zu Pisa, über kurz oder langeinmal umstürzen.

Als wir die Moschee Aureng Zeb’s verließen, sah ichden Bengali wieder, der uns am Thore derselben er-wartete. Jetzt faßte ich ihn scharf in’s Auge und ersah dabei zur Erde. Bevor ich Banks’ Aufmerksamkeitwach rief, wollte ich mich überzeugen, ob die verdäch-tige Persönlichkeit uns immer nachfolgen werde, undschwieg deshalb.

Die Pagoden und Moscheen der Wunderstadt Bena-res zählen nach Hunderten. Ebenso die glänzenden Pa-läste, deren ohne Zweifel schönster dem Könige vonNagpore gehört. Es versagt sich nämlich kein Rajah,ein Stück Boden in der heiligen Stadt zu erwerben,

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nach der sich Alle zur Zeit der großen religiösen Festevon Mela begeben.

Ich konnte nicht daran denken, in der kurzen unszu Gebote stehenden Zeit alle diese Gebäude zu be-suchen, und beschränkte mich also darauf, den Tem-pel Bicheschwar’s, wo sich der Lingam Siva’s befindet,kennen zu lernen. Dieser unförmige Stein, der als einTheil des Körpers vom wildesten der Götter der Hindu-Mythologie betrachtet wird, bedeckt einen Brunnen,dessen modriges Wasser der Sage nach Wunderkräf-te besitzen soll. Ich sah auch die Mankarnika oderden heiligen Springbrunnen, in dem sich die Gläubigenzum großen Vortheile der Brahmanen baden, fernerden Mân Mundir, ein vor zwei Jahrhunderten durchden Kaiser Akbar errichtetes Observatorium, dessen In-strumente alle aus – Stein hergestellt sind.

Auch von einem Palaste der Affen, den alle Reisen-den in Benares aufsuchen, hatte ich reden hören. EinPariser würde dabei natürlich erwarten, das berühm-te Affenhaus aus dem Jardin de Plantes wiederzufin-den. Weit gefehlt! Der Palast ist nichts als ein Tempel,der Dourga Khound, etwas außerhalb der Vorstädtegelegen. Er stammt aus dem 9. Jahrhundert und ge-hört zu den ältesten Bauwerken der Stadt. Die Affensind hier nicht in einem vergitterten Käfig eingesperrt.Sie schweifen frei durch die Höfe, springen von einerMauer zur anderen, klettern in die Gipfel der riesigenMango-Bäume und zanken sich mit lautem Geschrei

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um geröstete Körner, nach denen sie so lüstern sindund welche die Besucher ihnen mitzubringen pflegen.Hier, wie überall, erheben die Brahmanen, als Wächterdes Dourga Khönnd, eine kleine Steuer, welche diesenStand zu dem einträglichsten in ganz Indien macht.

Selbstverständlich fühlten wir uns von der Hitzenicht wenig erschöpft, als wir gegen Abend darandachten, nach dem Steam-House zurückzukehren. Wirhatten in Secrole, in einem der besten Hôtels der engli-schen Stadt, gefrühstückt und zu Mittag gespeist, dochgestehe ich, daß wir dabei die Küche des Monsieur Pa-razard doch vermißten.

Als die Gondel an den Fuß des Ghât zurückkam, umuns nach dem rechten Gangesufer überzusetzen, sahich jenen Bengali dicht bei unserem Boote zum letztenMale wieder. Ein von einem Hindu geführtes Boot schi-en ihn zu erwarten. Wollte er wohl ebenfalls über denFluß setzen und bis zu unserem Haltepunkte folgen?Die Sache ward allmählich verdächtig.

»Banks, begann ich da mit leiser Stimme, auf denBengali zeigend, das ist ein Spion, der uns auf jedemSchritte folgte.

– Ich hab’ ihn wohl bemerkt, erwiderte Banks, undauch gesehen, daß der von Ihnen ausgesprochene Na-me des Oberst Munro seine Aufmerksamkeit erweckte.

– Sollten wir ihn also nicht . . . ?

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– Nein, nein, lassen wir ihn gehen, fiel mir Banks in’sWort. Besser er hält sich für unbeachtet . . . übrigens ister ja gar nicht mehr da.«

Wirklich war das Canot des Bengali schon unter derMenge von Fahrzeugen verschwunden, welche jetzt diedunklen Wellen des Ganges durchschnitten.

Da wandte sich Banks an unseren Bootsmann.»Kennst Du jenen Mann? fragte er ihn mit möglichst

gleichgiltiger Stimme.– Nein, ich sah ihn zum ersten Male!« antwortete der

Bootsführer.Die Nacht sank herab. Hunderte von beflaggten, mit

bunten Laternen geschmückte Boote, besetzt mit Sän-gern und Musikanten, kreuzten sich in allen Richtun-gen auf dem Strome. Vom linken Ufer leuchteten ver-schiedene Feuerwerke auf und erinnerten mich an dieNähe des Himmlischen Reiches, wo dieselben so hochin Ansehen stehen. Es wäre schwierig, dieses Schau-spiel zu beschreiben, das wirklich kaum seinesgleichenfinden dürfte. Aus welcher Veranlassung dieses schein-bar improvisirte Nachtfest gefeiert wurde, an dem Hin-dus aller Klassen theilnahmen, konnte ich nicht erfah-ren. Als es zu Ende ging, hatte unsere Gondel das linkeStromufer wieder erreicht.

Das Ganze erschien wie eine Vision. Es dauertekaum länger, als der aufblitzende Lichtschein, der denHimmel auf Augenblicke erleuchtet und dann erlischt.Doch wie gesagt, Indien verehrt dreihundert Millionen

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Gottheiten, Untergottheiten, Heilige und Halbheiligejeder Sorte, und das Jahr hat nicht so viel Stunden,Minuten und Secunden, als daß jeder dieser Gotthei-ten eine einzige gewidmet werden könnte.

Bei unserer Rückkehr nach dem Halteplatz warenOberst Munro und Mac Neil daselbst schon wieder ein-getroffen. Banks fragte den Sergeanten, ob währendunserer Abwesenheit etwas vorgefallen sei.

»Nichts, antwortete Mac Neil.– Sie sahen keine verdächtige Persönlichkeit hier

herumschleichen?– Nein, Herr Banks. Haben Sie Veranlassung zu ir-

gend einem Verdachte? . . .– Wir wurden bei unserem Ausfluge nach Benares

fortwährend beobachtet, erwiderte der Ingenieur, unddas gefällt mir nicht.

– Und dieser Spion war . . .– Ein Bengali, den der Name des Oberst Munro erst

aufmerksam zu machen schien.– Was kann der Mann von uns wollen?– Das weiß ich nicht, Mac Neil. Jedenfalls heißt es

aufzupassen.– Ich werde auf dem Posten sein!« versicherte der

Sergeant.

9. ALLAHABAD.

Zwischen Benares und Allahabad beträgt die Entfer-nung etwa hundertdreißig Kilometer. Die Straße folgt

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fast stets dem rechten Ufer des Ganges und liegt zwi-schen der Eisenbahn und dem Strome. Storr hatte Koh-lensteine besorgt und den Tender damit versehen. Fürmehrere Tage war die Ernährung des Elephanten alsogesichert. Wohl gereinigt – ich hätte bald gesagt, ge-striegelt – sauber, als käme er eben aus der Werkstätte,schien er ungeduldig die Zeit der Abfahrt zu erwar-ten. Er bäumte sich zwar nicht, aber das leise Knarrender Räder verrieth die Spannung der Dämpfe, die seineStahlbrust erfüllten.

Unser Zug setzte sich am 24. mit einer Geschwindig-keit von drei bis vier Meilen in der Stunde in Bewe-gung.

Die Nacht war ohne Störung verlaufen und der Ben-gali uns nicht ferner zu Gesicht gekommen.

Hier sei ein- für allemal bemerkt, daß unsere Lebens-weise, bezüglich der Zeit des Aufstehens und Niederle-gens, des ersten und zweiten Frühstücks, des Mittag-sessens und der Siesta nach demselben mit militäri-scher Pünktlichkeit geregelt war. Im Steam-House gingAlles ebenso regelmäßig zu, wie im Bungalow zu Cal-cutta. Unaufhörlich wechselte die umgebende Land-schaft vor unseren Blicken, ohne daß die Wohnung sichnur von der Stelle zu bewegen schien. Wir waren andieses neue Leben schon vollständig gewöhnt, wie einPassagier an Bord eines überseeischen Dampfers – au-ßer dessen Monotonie, denn uns umschloß nicht im-mer der gleichbleibende Horizont des Meeres.

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Um elf Uhr ward an diesem Tage in der Ebene einmerkwürdiges Mausoleum von mongolischer Bauartsichtbar, errichtet zu Ehren zweier geheiligter Persön-lichkeiten des Islam, nämlich Kassim Soliman’s, desVaters und des Sohnes; eine halbe Stunde später diestarke Festung von Chunar, deren pittoreske Bollwerkeeinen uneinnehmbaren, vom Spiegel des Ganges hun-dertfünfzig Fuß senkrecht in die Höhe steigenden Fel-sen krönen.

Es kam nicht in Frage, hier anzuhalten, um die Fe-stung zu besuchen, die eine der bedeutendsten im Gan-gesthale und so gelegen ist, daß sie im Fall eines An-griffs Pulver und Blei gar nicht braucht. Offenbar wür-de jede Sturmcolonne, welche diese Mauern zu erklim-men suchte, durch eine für diesen Fall bereitliegendeLawine von Felsstücken zermalmt werden.

Am Fuße derselben breitet sich die gleichnamigeStadt aus, deren schmucke Häuser sich im Grün ver-bergen.

Von Benares her wissen wir, daß es mehrere privile-girte Orte giebt, die von den Hindus als Heiligthümerverehrt werden. Bei genauerer Zählung würde man aufder Halbinsel leicht Hunderte von solchen finden. Auchdie Veste Chunar besitzt eine solche geweihte Stätte.Hier zeigt man nämlich eine Marmorplatte, auf der ir-gend ein Gott regelmäßig Siesta hält. Freilich bleibtder Gott dabei unsichtbar. Wir haben uns auch nichtbemüht, ihn zu sehen.

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Abends machte der Stahlriese bei Mirzapore für dienächste Nacht Halt. Wenn es dieser Stadt an Tempelnnicht fehlt, so besitzt sie doch auch gewerbliche Eta-blissements und eine Verladestelle für die in der Umge-gend erzeugte Baumwolle. Sie wird sich einst zu einembedeutenden Handelsplatze emporschwingen.

Am nächsten Tage, am 25., kamen wir gegen zweiUhr Mittags durch den kleineren Fluß Tonsa, der zudieser Jahreszeit nur einen Fuß Wassertiefe hat. Umfünf Uhr wurde die Stelle passirt, wo sich die Bahn-strecke von Bombay nach Calcutta anschließt. Nahedem Punkte, wo die Jumma in den Ganges fällt, be-wunderten wir den herrlichen Eisen-Viaduct, der seinesechzehn, je sechzig Fuß hohen Pfeiler in den Wellendieses schönen Nebenstromes badet. Wir kamen ohneSchwierigkeit über die einen Kilometer lange Schiffs-brücke, welche das rechte und linke Ufer verbindet,und am Abend hielten wir nahe einer Vorstadt Allaha-bads.

Der nächste Tag, der 26., war zu einem Besuche die-ser bedeutenden Stadt bestimmt, von der die Haupt-Bahnlinien Hindostans ausstrahlen. Sie besitzt eineganz entzückende Lage, inmitten des reichsten Gebie-tes und zwischen den beiden Wasserläufen der Jummaund des Ganges.

Die Natur hat offenbar Alles gethan, um Allahabadzur Hauptstadt von Englisch-Indien, zum Mittelpunkt

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der Regierung und zur Residenz des Vicekönigs zu ma-chen. Es ist auch gar nicht unwahrscheinlich, daß siedas noch einmal wird, im Falle die Cyclone der heuti-gen Hauptstadt Calcutta gar zu arg mitspielen. Sicherist, daß einige weitblickende Köpfe diese Eventualitätschon in’s Auge gefaßt und erwogen haben. In demgroßen Körper, der sich Indien nennt, liegt Allahabadan der Stelle, die das Herz einnimmt, wie Paris im Her-zen Frankreichs. London freilich liegt nicht in der Mit-te des Vereinigten Königreichs, aber London hat auchnicht ein so ausgesprochenes leitendes Uebergewichtgegenüber den englischen Städten Liverpool, Manche-ster, Birmingham, wie Paris gegenüber allen StädtenFrankreichs.

– Und von hier aus gehen wir geraden Wegs nachNorden? fragte ich Banks.

– Ja, antwortete dieser, mindestens ziemlich geradenWegs. Allahabad bildet im Westen den äußersten Punktdieses ersten Theiles unserer Reise.

– Nun endlich! rief Kapitän Hod, diese großen Städ-te sind ja ganz gut und schön, aber die unendlichenEbenen, die weiten Dschungeln sind doch weit besser.Wenn wir immer so neben dem Schienenstrange hin-ziehen, werden wir zuletzt auch noch darauf hinrollenund unser Stahlriese verwandelt sich zur simplen Lo-comotive! Welche Erniedrigung!

– Beruhigen Sie sich, Hod, das wird nie geschehen.Wir werden bald in ihre Lieblingsgebiete hinausziehen.

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– Wir fahren also direct auf die indo-chinesischeGrenze zu, ohne durch Laknau zu kommen?

– Ich möchte diese Stadt, vor Allem aber Khanpurvermeiden, das für Oberst Munro gar zu viele traurigeErinnerungen birgt.

– Sie haben Recht, bemerkte ich, wir werden niemalsweit genug davon vorüberkommen.

– Sagen Sie, Banks, fiel da Kapitän Hod ein, habenSie in Benares gar nichts von Nana Sahib gehört?

– Nicht das Mindeste, antwortete der Ingenieur.Wahrscheinlich ist der Gouverneur von Bombay wie-der einmal falsch berichtet gewesen und Nana ist über-haupt nicht in der Präsidentschaft Bombay erschienen.

– Wahrscheinlich, erwiderte der Kapitän, denn deralte Rebell würde unzweifelhaft von sich reden ge-macht haben.

– Wie dem auch sei, sagte Banks, jedenfalls drängtes mich, aus dem Gangesthale, das von Allahabad bisKhanpur der Schauplatz so vieler Greuelthaten wäh-rend des Sipahi-Aufstandes war, bald herauszukom-men. Auf keinen Fall darf der Name dieser Stadt, eben-sowenig wie der Nana Sahib’s vor dem Obersten aus-gesprochen werden. Ueberlassen wir ihn selbst seinenGedanken!«

Am nächsten Tage wollte mich auch Banks währendder wenigen Stunden begleiten, die ich einem Besu-che Allahabads zu widmen gedachte. Man hätte wohldrei Tage gebraucht, um die drei Städte, welche jenes

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bilden, gründlich in Augenschein zu nehmen. Alles inAllem ist es jedoch minder merkwürdig als Benares,obwohl es gleichfalls unter die heiligen Städte gehört.

Ueber die Hindustadt ist nichts zu sagen. Sie be-steht aus einem Haufen niedriger, von engen Straßendurchschnittener Häuser, welche da und dort einigewirklich prächtige Tamarinden überragen. Die engli-sche Stadt und die Cantonnements bieten ebensowenigMerkwürdigkeiten, sie haben schöne, wohlerhalteneAlleen, kostbare Wohnstätten, geräumige Plätze, kurzalle Elemente einer Stadt, welche später zur Haupt-stadt emporzusteigen bestimmt scheint.

Das Ganze liegt in einer weiten Ebene, nördlich undsüdlich von den beiden Wasseradern der Jumma unddes Ganges umfaßt. Man nennt diese »die Ebene derAlmosen«, weil die Hindufürsten von jeher dahin ka-men, um Werke der Barmherzigkeit zu üben. NachRousselet’s Berichte, der eine Stelle aus dem »LebenHionen Thsangs« citirt, ist es weit verdienstvoller, andiesem Orte ein Geldstück zu geben, als zehntausendan einem anderen.

Der Gott der Christenheit vergilt Wohlthaten nurhundertfach. Das ist freilich hundertmal weniger, aberes flößt mir doch mehr Vertrauen ein.

Hier noch ein Wort über das Fort von Allahabad,das einen Besuch wohl verdient. Es ist im Westen dergroßen Ebene der Almosen erbaut und erhebt kühn sei-ne hohen, rothen Sandsteinmauern, deren Geschütze,

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wenn uns der Ausdruck erlaubt ist, den beiden Strö-men »die Arme zerbrechen« können. Ein Palast in derMitte des Forts, ehemals die bevorzugte Residenz desSultans Akbar, – in einer der Ecken der »Lât« FerozeSchachs, das ist ein prächtiger, sechsunddreißig Fußhoher Monolith, der einen Löwen trägt, – unsern da-von ein kleiner Tempel, den die Hindu aber, da manihnen den Eintritt in das Fort verwehrt, nicht besuchenkönnen, obwohl er einen der hochheiligsten Orte ih-rer Welt bildet, das sind etwa die Sehenswürdigkeitendieses Forts, das die Aufmerksamkeit aller Reisendenerregt.

Banks erzählte mir, daß das Fort von Allahabad auchseine Legende habe, welche an die Sage von der Wie-deraufrichtung des Tempels Salomo’s in Jerusalem er-innert.

Als der Sultan das Fort von Allahabad zu errichtengedachte, schien es, als ob die Steine sich widersetzenwollten. Kaum war eine Mauer aufgeführt, so brachsie wieder zusammen. Man befragte das Orakel. Die-ses antwortete wie gewöhnlich, daß nur ein freiwil-liges Opfer das zürnende Geschick versöhnen könne.Ein Hindu erbot sich als Sühnopfer. Er wurde den Göt-tern dargebracht und das Fort nun ungestört vollendet.Dieser Hindu hieß Brog, und noch heute führt die Stadtden Doppelnamen Brog-Allahabad.

Banks begleitete mich von hier aus nach den Gär-ten von Khousrou, welche berühmt sind und das in

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der That verdienen. Der eine derselben war der letzteAufenthaltsort des Sultans, dessen Namen diese Gär-ten tragen. In eine der weißen Marmormauern findetsich eine ungeheuere Hand eingefügt. Man zeigte unsdiese mit einer Bereitwilligkeit, die wir bei den heiligenFußabdrücken in Gaya sehr vermißten.

Freilich rührt dieses Schaustück nicht von dem Fußeeines Gottes her, sondern von einem einfachen Sterbli-chen, dem Großneffen Mohammed’s.

Bei dem Aufstande von 1857 wurde in Allahabad dasBlut so wenig geschont wie in den anderen Städtendes Gangesthales. Das von der königlichen Armee denRebellen auf dem Exercierplatze von Benares geliefer-te Gefecht veranlaßte die Empörung der eingebornenTruppen und vorzüglich die Empörung des 6. Regi-ments der Armee von Bengalen. Gleich anfangs wur-den acht Fähnriche ermordet; infolge der entschlosse-nen Haltung einiger europäischen Artilleristen, die zudem Corps der Invaliden von Chounar gehörten, muß-ten die Sipahis aber schließlich die Waffen niederle-gen.

In den Cantonnements ging es ernsthafter zu. DieNatifs erhoben sich, sprengten die Gefängnisse, plün-derten die Docks und setzten die Wohnungen der Euro-päer in Brand. Inzwischen kam Oberst Neil, nachdemer in Benares die Ordnung wieder hergestellt, mit sei-nem Regiment und hundert Füselieren des Regiments

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von Madras an. Er nahm die Schiffsbrücke wieder, er-oberte am Vormittag des 18. Juni die Vorstadt, vertriebdie Mitglieder der von einem Muselman errichtetenprovisorischen Regierung und machte sich zum Herrnder Provinz.

Während dieses kurzen Ausfluges nach Allahabadachteten wir, Banks und ich, immer sorglich darauf, obuns hier Jemand eben so folge, wie in Benares; diesesMal bemerkten wir jedoch nichts Verdächtiges.

»Gleichviel, meinte der Ingenieur, jetzt ist Mißtrau-en am Platze! Ich hätte incognito zu reisen gewünscht,denn Oberst Munro’s Name ist den Eingebornen derProvinz gar zu bekannt!«

Um sechs Uhr trafen wir zum Diner wieder ein.Oberst Munro, der den Halteplatz auch eine Zeit langverlassen hatte, war schon wieder zurückgekehrt underwartete uns. Kapitän Hod hatte einige in den Canton-nements garnisonirende Kameraden besucht und er-schien fast zu derselben Zeit wie wir.

Da bemerkte ich und machte Banks darauf aufmerk-sam, daß Oberst Munro mir, wenn auch nicht geradetrauriger, aber doch gedankenvoller vorkomme als ge-wöhnlich. In seinen Augen schien ein Feuer neu auf-zuglänzen, das die Thränen schon seit langem ver-löscht haben mochten.

»Sie haben Recht, sagte Banks, hier liegt etwas zu-grunde. Was mag wohl vorgefallen sein?

– Wenn Sie Mac Neil darüber fragten? sagte ich.

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– Richtig, Mac Neil weiß vielleicht . . . «Der Ingenieur verließ den Salon und öffnete die Ca-

bine des Sergeanten.Dieser war abwesend.»Wo ist Mac Neil? fragte Banks Goûmi, der eben die

Tafel zurecht machen wollte.– Er ist fortgegangen, erklärte Goûmi.– Seit wann?– Etwa seit einer Stunde, im Auftrag des Oberst

Munro.– Sie wissen nicht, wohin?– Nein, Herr Banks, so wenig wie ich den Grund ken-

ne.– Seit wir nach der Stadt gingen, ist hier nichts Be-

sonderes vorgefallen?– Nichts!«Banks kam zurück, theilte mir die Abwesenheit des

Sergeanten und auch den Nebenumstand mit, daß Nie-mand den Grund dafür kenne, und wiederholte:

»Ich weiß zwar noch nicht, was hier vorliegt, abergeschehen ist irgend etwas. Gedulden wir uns also!«

Wir gingen zu Tisch. Gewöhnlich betheiligte OberstMunro sich dabei an der Unterhaltung. Er ließ sichgern von unseren Ausflügen erzählen und interessirtesich dafür, was wir Tags über begonnen hatten. Ich ach-tete wohl darauf, nie von etwas zu sprechen, was ihnnur entfernt an den Sipahi-Aufstand erinnern konnte.Mir schien, als bemerkte er das auch selbst, ohne daß

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ich weiß, ob ihm meine Zurückhaltung genehm war.Handelte es sich um Städte wie Benares und Allaha-bad, in welchen die Empörung selbst gewüthet, so ko-stete mir dieselbe übrigens genug Mühe.

Heute, während des Essens, mußte ich also die Auf-forderung fürchten, von Allahabad zu erzählen. Ver-gebliche Angst. Oberst Munro fragte weder Banks nochmich, wie wir den Tag verbracht hätten. Er verhieltsich während der ganzen Mahlzeit stumm. Seine Be-sorgtheit schien mit jeder Stunde zu wachsen. Wieder-holt blickte er zu der zu den Cantonnements führen-den Straße hinaus, und ich glaube, er war nahe daran,sich mehrmals von der Tafel zu erheben, um besser da-hin ausschauen zu können. Offenbar erwartete OberstMunro die Rückkehr des Sergeant Mac Neil mit uner-klärlicher Ungeduld.

Das Diner verlief ziemlich eintönig. Kapitän Hodwarf Banks forschende Blicke zu, um zu erfahren, washier vorliege. Banks wußte das ja so wenig wie erselbst.

Nach der Tafel stieg Oberst Munro, statt wie ge-wöhnlich der Ruhe zu pflegen, die Stufen der Verandahinab, ging einige Schritte in der Straße hin und blick-te längere Zeit in deren Richtung hinaus; dann wende-te er sich nach uns zurück.

»Banks, Hod und Sie, Maucler, begann er, würdenSie mich wohl bis zu den ersten Häusern der Canton-nements begleiten?«

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Wir verließen sofort unsere Sitze und folgten demOberst, der langsam und stumm dahinwandelte.

Nach etwa hundert Schritten blieb Sir Edward Mun-ro vor einem Pfahle an der rechten Seite der Straßestehen, an dem eine Bekanntmachung angeheftet war.

»Lesen Sie!« sagte er.Es war die, nun bereits zwei Monate alte Bekannt-

machung eines Preises für den Kopf Nana Sahib’s, wel-che dessen Anwesenheit in der Präsidentschaft Bom-bay ankündigte.

Banks und Hod konnten das Gefühl getäuschterHoffnung nicht verbergen. Bisher hatten sie sich eben-so in Calcutta wie im Verlaufe der Reise mit Erfolgbemüht, diese Bekanntmachung dem Obersten nichtvor Augen kommen zu lassen. Ein unglücklicher Zufallmachte jetzt ihre Vorsicht zuschanden.

»Banks, nahm Sir Edward Munro, die Hand des Inge-nieurs ergreifend, wieder das Wort, Du kanntest dieseNachricht?«

Banks antwortete nicht.»Du wußtest vor zwei Monaten, daß Nana Sahib’s

Auftreten in der Präsidentschaft Bombay gemeldetworden war, und hast mir nichts davon mitgetheilt?«

Banks, der nicht wußte, was er antworten sollte,blieb noch immer stumm.

»Nun denn, ja, Herr Oberst, trat Kapitän Hod da fürJenen ein, wir wußten davon, doch warum sollten wir

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Ihnen davon sprechen? Wer steht dafür, daß die That-sache richtig war, und weshalb sollten wir Erinnerun-gen wachrufen, die Ihnen so viel Herzeleid verursa-chen?

– Banks, rief da Oberst Munro, dessen Gesicht einenganz anderen Ausdruck annahm, hast Du denn ver-gessen, daß mir vor jedem Anderen das Strafgerichtüber jenen Mann zukommt? So wisse denn, wenn ichzustimmte, Calcutta zu verlassen, so geschah es, weildiese Reise mich nach dem Norden Indiens führen soll-te weil ich nimmer an den Tod Nana Sahib’s geglaubtund meine Pflicht als Rächer nie vergessen habe. Alsich mit Euch ging, hatte ich nur Einen Gedanken, nurEine Hoffnung. Ich rechnete darauf, durch die Zufäl-ligkeiten der Reise und mit Hilfe Gottes mein Ziel zuerreichen. Ich irrte nicht! Gott selbst hat mir jene Nach-richt zugeführt. Im Norden ist Nana Sahib also nicht zusuchen, sondern im Süden. Nun wohl! Ich werde nachdem Süden gehen!«

Unsere Ahnungen hatten also nicht gelogen! Es warnur zu richtig – ein Hintergedanke, oder besser einefixe Idee beherrschte noch immer, wenn nicht mehrals jemals, den armen Oberst Munro! Jetzt hatte er sieganz vor uns enthüllt.

»Wenn ich nichts gegen Dich laut werden ließ, Mun-ro, antwortete Banks nach kurzer Pause, so erkläre Dires damit, daß ich an die Anwesenheit Nana Sahib’s in

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der Präsidentschaft Bombay nicht glaubte. Die Behör-den waren, das ist jetzt kaum noch zweifelhaft, wiedereinmal getäuscht worden. Jene Nachricht datirt vom6. März, und seit jenem Tage hat nichts das Wiederauf-treten des Nabab bestätigt.«

Oberst Munro schwieg zunächst auf die Bemerkungdes Ingenieurs und blickte noch einmal nach der Stra-ße hinaus.

»Meine Freunde, nahm er darauf wieder das Wort,ich will Sie über die Sachlage aufklären. Mac Neil istmit einem Briefe an den Gouverneur nach Allahabadgegangen. In kurzer Zeit werde ich darüber belehrtsein, ob Nana Sahib wirklich in den Westprovinzenwieder erschienen, ob er dort noch anwesend oderschon wieder verschwunden ist.

– Und was gedenkst Du zu thun, Munro, wenn erwirklich gesehen wurde? fragte Banks, des OberstenHand ergreifend.

– Ich gehe dahin! antwortete Sir Edward Munro,überall hin, wohin mich das Gebot der ungesühntenGerechtigkeit zu gehen verpflichtet!

– Das ist Dein endgiltiger Beschluß, Munro?– Gewiß, Banks. Ihr, meine Freunde, setzt ohne mich

Eure Reise fort – noch diesen Abend benutze ich denBahnzug nach Bombay.

– Nun gut, aber allein wirst Du nicht gehen, erklär-te der Ingenieur, der sich nach uns umwendete. Wirbegleiten Dich, Munro!

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– Ja, ja, Herr Oberst! rief Kapitän Hod. Ohne unsdürfen Sie nicht des Weges ziehen! Statt Raubthierennachzustellen, machen wir Jagd auf Schurken.

– Gestatten Sie mir, Herr Oberst, fügte ich hinzu,mich dem Kapitän und ihren Freunden anzuschließen.

– Gewiß, Maucler, antwortete Banks, heut’ Abendwerden wir Alle Allahabad verlassen haben . . .

– Nicht mehr vonnöthen!« ließ sich da eine Stimmevernehmen.

Wir sahen uns um. Da stand der Sergeant Mac Neilmit einem Zeitungsblatte in der Hand.

»Lesen Sie, Herr Oberst, sagte er. Der Gouverneurbeauftragte mich, Ihnen dies vorzulegen.«

Sir Edward Munro las wie folgt:»Der Gouverneur der Präsidentschaft Bombay bringt

hiermit zur Kenntniß der Einwohnerschaft, daß dieden Nabab Dandu Pant betreffende Bekanntmachungvom 6. März gegenstandslos geworden ist. Am gestri-gen Tage in den Abhängen der Sautpourra-Berge an-gegriffen, wurde seine Truppe zersprengt und er selbstgetödtet. Ueber die Identität der Person herrscht keinZweifel, da er von Bewohnern Khanpurs und Laknauswiedererkannt wurde. Dazu fehlte dem Gefallenen einFinger der linken Hand, und es ist längst erwiesen,daß er sich diesen abnehmen ließ, als er durch seinevorgebliche Beerdigung den Glauben an seinen Tod er-wecken wollte. Das indische Reich hat also nichts mehr

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zu fürchten von den Anschlägen des grausamen Na-bab, der ihm so viel Blut gekostet hat.«

Oberst Munro hatte diese Zeilen mit dumpfer Stim-me vorgelesen. Das Journal entfiel seinen Händen.

Wir blieben stumm. Das nun unbestreitbare AblebenNana Sahib’s enthob uns jeder Befürchtung für die Zu-kunft.

Nach mehreren Minuten des Schweigens strich sichOberst Munro mit der Hand über die Stirn, als wolle erpeinliche Erinnerungen verwischen.

»Wann werden wir von Allahabad abreisen? fragteer darauf.

– Morgen mit Tagesanbruch, antwortete der Inge-nieur.

– Können wir einige Stunden in Khanpur anhalten?fuhr Oberst Munro fort.

– Du wolltest . . . ?– Ja, Banks, ich möchte . . . ich will Khanpur noch

einmal . . . zum letzten Male wiedersehen!– In zwei Tagen werden wir da sein, erklärte einfach

der Ingenieur.– Und dann . . . ? fragte Oberst Munro weiter.– Dann? . . . wiederholte Banks, dann setzen wir un-

seren Ausflug nach dem Norden Indiens fort.– Ja! . . . nach dem Norden! . . . nach Norden!« rief

auch der Oberst mit einer Stimme, die mir das Herzerzittern machte.

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Man hätte wirklich vermuthen können, daß Sir Ed-ward Munro noch immer über den Ausgang des letzt-gemeldeten Kampfes zwischen Nana Sahib und denenglischen Streitkräften einigen Zweifel hegte. Hat-te er Recht gegenüber den scheinbar unbestreitbarenThatsachen?

Die Zukunft sollte uns das lehren.

10. VIA DOLOROSA.

Das Königreich Audh war früher eines der bedeu-tendsten der Halbinsel und ist noch heute eines derreichsten in ganz Indien. Es besaß verschiedene mäch-tige und ohnmächtige Herrscher. Die Ohnmacht einesderselben, Wajad Ali Schah’s, ermöglichte am 6. Febru-ar 1857 die Einverleibung seines Reiches in das Territo-rium der Compagnie. Es geschah das also kaum einigeMonate vor dem Ausbruche der Empörung, und dieseGebiete bildeten dann auch den Schauplatz der ent-setzlichsten Metzeleien und darauf der furchtbarstenRepressalien.

Zwei Namen von Städten, Laknau und Khanpur, sindseit jener Zeit zu wirklich trauriger Berühmtheit ge-langt.

Laknau ist die Hauptstadt, Khanpur einer der wich-tigsten Orte des ehemaligen Königreiches.

Nach Khanpur wollte Oberst Munro gehen; und nacheiner Fahrt längs des rechten Gangesufers und mitten

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durch eine weite Ebene voller Indigoplantagen lang-ten wir am Morgen des 29. Mai daselbst an. Zwei Tageüber hatte sich der Stahlriese mit einer Durchschnitts-Geschwindigkeit von drei Meilen in der Stunde fortbe-wegt, wobei wir die zweihundertfünfzig Kilometer vonAllahabad nach Khanpur zurücklegten.

Jetzt befanden wir uns tausend Kilometer von Cal-cutta, unserem Ausgangspunkte.

Khanpur ist eine Stadt von etwa sechzigtausend See-len. Es bedeckt am rechten Ufer des Ganges einenschmalen Streifen von fünf Meilen Länge. Hier liegtauch eine Garnison von siebentausend Mann.

In der ganzen Stadt würde der Reisende vergeblichein seiner Aufmerksamkeit würdiges Baudenkmal su-chen, obgleich jene sehr alten Ursprungs sein und so-gar aus der vorchristlichen Aera herrühren soll. Neu-gierde hatte uns auch sicherlich nicht nach Khanpurverlockt. Nur der ausgesprochene Wille Sir EdwardMunro’s führte uns hierher.

Am 30. Mai frühmorgens verließen wir unserenHalteplatz. Banks, Kapitän Hod und ich folgten demOberst und dem Sergeanten Mac Neil auf diesemSchmerzenswege, dessen wichtigste Punkte Sir Ed-ward Munro zum letzten Male besuchen wollte.

Hierzu ist es nöthig, das Folgende zu kennen, was ichnach dem Berichte des Ingenieurs auszugsweise wie-dergebe:

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»Khanpur, das zur Zeit der Annexion des König-reiches Audh von sehr verläßlichen Truppen bewachtwurde, zählte beim Ausbruch des Aufstandes nur zwei-hundertfünfzig Mann der königlichen Armee, gegendrei Regimenter eingeborner Infanterie, das 1., 53. und56., zwei Regimenter Cavallerie und eine Batterie Ar-tillerie der Armee von Bengalen. Außerdem befandensich hier eine beträchtliche Anzahl Europäer, Beamte,Kaufleute und dergleichen, ferner achthundertfünfzigFrauen und Kinder des 32. königlichen Regiments, dasin Laknau garnisonirte.

Oberst Munro wohnte schon seit mehreren Jahren inKhanpur. Hier lernte er auch das junge Mädchen ken-nen, das später sein Weib wurde.

Mrs. Honlay war eine reizende, geistvolle junge Eng-länderin mit edlem Charakter und hochherzigem Sin-ne, eine heroische Natur und würdig, von einem Man-ne wie dem Oberst geliebt zu werden, der sie bewun-derte und anbetete. Sie bewohnte in Gesellschaft ihrerMutter einen Bungalow in der Nähe der Stadt, wo sichEdward Munro 1855 mit ihr vermählte.

Zwei Jahre nach der Hochzeit, 1857, als sich in Mi-rat die ersten Auftritte der Empörung abspielten, muß-te Oberst Munro unverzüglich bei seinem Regimenteeintreten. Gattin und Schwiegermutter ließ er in Khanpur zurück, empfahl ihnen aber, sich sofort zur Abrei-se nach Calcutta bereit zu machen. Oberst Munro sagte

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sich, daß Khanpur nicht sicher sei, und die späteren Er-eignisse sollten seine Ahnung leider in vollstem Maßebestätigen.

Mrs. Honlay’s und Lady Munro’s Abreise erlitt einigeVerzögerungen, die von den schlimmsten Folgen seinsollten. Die unglücklichen Frauen wurden von den Er-eignissen überrascht und konnten Khanpur dann nichtmehr verlassen.

Die Division, zu der Oberst Munro’s Regiment gehör-te, stand damals unter dem Befehle des Generals SirHugh Wheeler, eines geraden, ehrlichen Soldaten, derdem arglistigen Verfahren Nana Sahib’s sehr bald zumOpfer fiel.

Der Nabab bewohnte jener Zeit sein Schloß in Bil-hour, zehn Meilen von Khanpur, und heuchelte immerdas beste Einvernehmen mit den Europäern.

Sie wissen, lieber Maucler, daß die ersten Insurrections-Versuche in Mirat und Delhi zutage traten. Am 14. Maierreichte die Nachricht davon Khanpur. Am nämlichenTage zeigte auch schon das 1. Sipahi-Regiment einefeindselige Haltung.

Da bot Nana Sahib der Regierung seine Dienste an.General Wheeler mußte schlecht genug unterrichtetsein, um an die Ehrlichkeit jenes Schurken zu glau-ben, dessen eigene Soldaten sich fast gleichzeitig derGebäude des Schatzamtes bemächtigten.

Denselben Tag ermordete auch ein auf dem Marschenach Khanpur begriffenes, irreguläres Sipahi-Regiment

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seine europäischen Officiere vor den Thoren der ge-nannten Stadt.

Jetzt zeigte sich die Gefahr in ihrer ganzen Größe.General Wheeler befahl allen Europäern, sich in dieKaserne zu flüchten, welche die Frauen und Kinder des32. Regiments von Laknau bewohnten – eine Kasernein unmittelbarer Nähe der Straße nach Allahabad, dereinzigen, von welcher her man auf eintreffende Hilfehoffen konnte.

Ebenda mußten sich auch Lady Munro und ihre Mut-ter einschließen. Während der ganzen Dauer diesesunfreiwilligen Aufenthaltes bewies die junge Frau ih-ren Unglücksgefährten eine Hingebung ohnegleichen.Sie sorgte für jene mit eigener Hand, unterstützte die-selben aus ihrer Börse, ermuthigte sie durch Wort undBeispiel und zeigte ihre wahre Natur, das große Herzund, wie ich schon sagte, das heldenmüthige Weib.

Das Arsenal wurde inzwischen unter die Obhut derSoldaten Nana Sahib’s gestellt. Nun erhob der Ver-räther aber die Fahne des Aufstandes, und am 7. Junigriffen die Sipahis auf sein Anstiften die Kaserne an,zu deren Vertheidigung nur dreihundert kampffähigeSoldaten vorhanden waren. Die braven Leute wehrtensich jedoch nach Kräften gegen das Feuer der Angrei-fer, trotz eines wahren Hagels von Geschossen, trotzKrankheiten jeder Art, halb sterbend vor Hunger undDurst, denn an Lebensmitteln trat bald empfindlicher

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Mangel ein und die Senkbrunnen versiegten nur zu zei-tig.

Der Widerstand dauerte bis zum 27. Juni.Da brachte Nana Sahib eine Capitulation in Vor-

schlag, auf welche General Wheeler unverzeihlicherWeise einging, trotz Lady Munro’s dringendster Bitte,den Kampf noch nicht aufzugeben. Nach dem Wort-laute jener Capitulation sollten alle Männer, Frauenund Kinder – gegen fünfhundert Personen, auch La-dy Munro nebst ihrer Mutter – auf Fahrzeuge gebrachtund auf dem Ganges nach Allahabad hinunter beför-dert werden. Kaum stießen die Schiffe vom Ufer ab,als die Sipahis ein mörderisches Feuer auf dieselben er-öffneten und sie mit Kanonenkugeln und Kartätschenüberschütteten. Infolge dessen sanken einige dersel-ben, andere geriethen in Brand. Einem einzigen Fahr-zeuge glückte es, wenige Meilen auf dem Strome hin-abzugelangen.

Auf demselben befanden sich Lady Munro und ih-re Mutter. Einen Augenblick konnten sie sich wohl fürgerettet halten. Die Söldner des Nana verfolgten sie je-doch, fingen sie wieder ein und schleppten alle nachden Cantonnements zurück.

Hier traf man eine Auswahl unter den Gefangenen.Die Männer wurden sofort niedergemetzelt. Die Frau-en und Kinder sperrte man mit denen zusammen, dieam 27. Juni dem Tode entgangen waren.

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Das ergab zusammen zweihundert arme Opfer, de-nen ein langer Todeskampf vorbehalten war, und wel-che man in einem Bungalow unterbrachte, dessen Na-me, »Bibi-Ghar«, eine traurige Berühmtheit erlangthat.

– Wie sind Sie aber zur Kenntniß dieser grauenhaf-ten Einzelheiten gekommen? fragte ich Banks.

– Durch einen alten Sergeanten des 32. Regimentsder königlichen Armee, antwortete mir der Ingenieur.Der Mann entkam damals wie durch ein Wunder undwurde von dem Rajah von Raïschwarah – eine der Pro-vinzen des Königreichs Audh – ebenso wie mehrere an-dere Flüchtlinge, mit größter Menschenfreundlichkeitaufgenommen.

– Und was wurde aus Lady Munro und deren Mut-ter?

– Darüber, was später vorgegangen ist, lieber Freund,fuhr Banks fort, fehlen uns Berichte von Augenzeugen,doch läßt sich das ohne Schwierigkeit muthmaßen. DieSipahis waren ja thatsächlich die Herren von Khan-pur, wenigstens bis zum 15. Juli – neunzehn Tage –neunzehn Jahrhunderte! Die unglücklichen Gefange-nen harrten von Stunde zu Stunde auf Entsatz, der lei-der nur zu spät eintreffen sollte.

Schon seit einiger Zeit marschirte General Havelockvon Calcutta aus nach Khanpur zur Hilfe und zog da-selbst, nachdem er die Aufständischen wiederholt ge-schlagen, am 17. Juli ein.

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Zwei Tage vorher aber, als Nana Sahib vernommen,daß die königlichen Truppen den Pandon-Niddi-Flußüberschritten hatten, beschloß er, die letzten Stundenseiner Herrschaft durch einen abscheulichen Massen-mord zu bezeichnen. Gegenüber den Eroberern In-diens hielt er eben Alles für erlaubt!

Einige männliche Gefangene, welche die Hast imBibi-Ghar mit den Frauen getheilt hatten, wurden vorihn geführt und unter seinen Augen erwürgt.

Nun blieb noch die Menge der Frauen und Kinderübrig, und darunter auch Lady Munro nebst ihrer Mut-ter. Eine Abtheilung des 6. Sipahi-Regiments erhielt Be-fehl, diese durch die Fenster des Bungalow niederzu-schießen. Die Execution nahm ihren Anfang; da sie fürNana Sahib, der auf den Rückzug denken mußte, abernicht schnell genug förderte, schickte der blutdürsti-ge Fürst auch noch die muselmanischen Fleischer un-ter seine Henker . . . nun gab es ein Gemetzel wie imSchlachthofe!

Am nächsten Tage wurden die Frauen und die Kin-der, gleichviel ob lebend oder todt, in einen benach-barten Brunnenschacht geworfen, und als Havelock’sSoldaten eintrafen, soll der bis zum Rande angefüllteBrunnen noch gedampft haben!

Jetzt nahm die Wiedervergeltung ihren Anfang. Einegewisse Anzahl Rebellen, Helfershelfer Nana Sahib’s,waren dem General Havelock in die Hände gefallen.

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Dieser erließ einen schrecklichen Tagesbefehl, dessenWortlaut ich nimmermehr vergessen werde.

Der Brunnen, welcher die Ueberreste der armen, aufBefehl Sahib’s ermordeten Frauen und Kinder enthält,wird mit Erde angefüllt und in der Form eines Grabeshergestellt. Ein von ihrem Officier commandirtes Deta-chement europäischer Soldaten wird heute Abend die-se fromme Pflicht erfüllen. Das Haus und die Räum-lichkeiten, in denen das Gemetzel stattgefunden, wer-den nicht durch die Landsleute der Opfer gereinigt undgewaschen. Der Brigadier will, daß jeder Tropfen un-schuldigen Blutes von den Verurtheilten mit der Zungebeseitigt und vor der Vollstreckung des Todesurtheilsaufgeleckt werde, jeder nach seinem Range und demAntheil, den er bei der Mordthat gehabt hat.

Nach Verlesung des Todesurtheils wird also Jedernach jenem Hause geführt werden, um daselbst einenTheil des Fußbodens zu säubern. Man wird Sorge tra-gen, die Arbeit den religiösen Empfindungen der Ver-urtheilten so widerlich wie möglich zu machen, undder Profoß mag die Peitsche nicht schonen, wenn dasnöthig erscheint. Nach vollendeter Arbeit wird der Aus-spruch des Kriegsgerichts an dem neben dem Hauseerrichteten Galgen vollstreckt.«

»So lautete, fuhr Banks tiefbewegt fort, jener Tages-befehl, der Punkt für Punkt zur Ausführung kam. Unddoch, die bedauernswerthen Opfer athmeten ja nicht

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mehr – sie waren einmal ermordet, verstümmelt, zer-fleischt! Als Oberst Munro, der zwei Tage nachher ein-traf, den Versuch machte, von Lady Munro und de-ren Mutter Ueberreste zu entdecken, fand er nichts . . .nichts!«

Obige Mittheilungen hatte mir Banks vor unsererAnkunft in Khanpur gemacht, und jetzt begab sich derOberst nach dem Platze, wo einst jenes entsetzlicheBlutbad stattfand.

Vorher jedoch wollte er den Bungalow wiedersehen,in dem früher Lady Munro gewohnt und ihre Jugendverbracht, die Stätte, wo er sie zum letzten Male ge-sehen, die Schwelle auf der sie ihn zum letzten Maleumarmt hatte.

Dieser Bungalow lag etwas abgesondert außerhalbder Vorstädte, unsern den militärischen Cantonne-ments. Ruinen, geschwärzte Mauerreste, einige umge-hackte, jetzt verdorrte Bäume, das war Alles, was vondem früheren traulichen Heim noch übrig war. DerOberst hatte von einer Wiederherstellung nichts wis-sen wollen. Nach sechs Jahren lag der Bungalow alsonoch ebenso da, wie ihn die Hände der Mordbrennerzugerichtet hatten.

Wir verbrachten eine Stunde an dieser vereinsam-ten Stelle. Sir Edward Munro ging stumm durch denTrümmerhaufen, der ihm so viele Erinnerungen wachrief. Er gedachte wohl der früheren glücklichen Zeiten,die ihm später nichts mehr wiedergeben konnte. Er sah

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wohl das junge Mädchen wieder, wie sie sich heiterenSinnes in ihrem Geburtshause bewegte, in dem er siedereinst kennen lernte, und zuweilen schloß er die Au-gen, um die Bilder seines Geistes besser zu erkennen!

Endlich aber wendete er sich plötzlich, doch als müs-se er sich dabei Gewalt anthun, zurück und führte unsmit hinweg.

Banks hatte gehofft, der Oberst werde sich damit be-gnügen, jenen Bungalow zu besuchen . . . weit gefehlt!Sir Edward Munro mochte beschlossen haben, den bit-teren Kelch bis zur Neige zu leeren. Nach der Wohn-stätte Lady Munro’s wollte er auch die Kaserne wie-dersehen, wo so viele Unschuldige, für welche seineheldenmüthige Frau sich damals so aufopferungsvollabmühte, alle Schrecken einer Belagerung ausgehaltenhatten.

Diese Kaserne lag in der Ebene vor der Stadt, undjetzt baute man eine Kirche an der Stelle, wohin sichseinerzeit die Einwohner von Khanpur flüchten muß-ten. Der Weg nach derselben führte auf einer maca-damisirten, von schönen Bäumen beschatteten Straßehin.

Hier also hatte sich der erste Act der schauerlichenTragödie abgespielt, hier lebten, litten und kämpfteneinst Lady Munro und ihre Mutter mit dem Tode, bisdie Capitulation so viele Opfer den Händen Nana Sa-hib’s auslieferte, welche dieser schon einem schreckli-chen Tode geweiht hatte, als der Verräther gelobte, sie

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heil und gesund nach Allahabad ziehen zu lassen. Inder Umgebung des noch unvollendeten Baues gewahr-te man da und dort Mauerüberreste als Zeugen für dieMaßnahmen zur Vertheidigung, die General Wheelergetroffen hatte.1

Oberst Munro stand lange regungslos und still vordiesen Ruinen. In der Erinnerung traten ihm wohl dieSchauerscenen vor Augen, deren Schauplatz jene ge-wesen – nach dem Bungalow, wo Lady Munro so glück-lich gelebt, die Kaserne, in der sie über alle Beschrei-bung gelitten hatte!

Jetzt war nur noch der Bibi-Ghar zu besuchen, jeneWohnstätte, aus der Nana einen Kerker gemacht hatte,wo einst jener Brunnenschacht gähnte, der die Leichender Opfer seiner Grausamkeit bunt durcheinander auf-nahm.

Als Banks den Oberst sich nach jener Richtung wen-den sah, ergriff er dessen Arm, wie um ihn zurückzu-halten.

1Inzwischen ist jene Gedächtniß-Kirche längst vollendet wor-den. Inschriften auf Marmortafeln erinnern an die Ingenieurs derEast-Indian-Bahnlinie, welche während des großen Aufstandesvon 1857 ihren Wunden oder Krankheiten erlagen; an die Offi-ciere, Unterofficiere und Soldaten des 34. Regiments der königl.Armee, die am 17. November in dem Gefechte vor Khanpur fielen;an den Kapitän Stuart Beathon, die Officiere, Mannschaften undFrauen des 32. Regiments, welche bei der Belagerung von Laknauund Khanpur, oder während des Aufstandes den Tod fanden; end-lich an die Märtyrer des Bibi-Ghar, die im Juli 1857 hingeschlach-tet wurden.

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Sir Edward Munro blickte ihm gerade in’s Gesichtund sagte mit erschreckend ruhiger Stimme:

»Laß uns gehen!– Munro, ich bitte Dich . . .– So gehe ich allein!«Hier half kein Widerstreben.Wir begaben uns also nach Bibi-Ghar, vor dem wohl

gepflegte und mit schönen Bäumen bestandene Gärtenliegen.

Hier erhebt sich eine gothische achteckige Colonna-de. Sie umschließt die Stätte des früheren Brunnens,dessen Mündung jetzt mit Steinen verdeckt ist. Letzte-re bilden eine Art Sockel mit einer Figur aus weißemMarmor, den Engel der Barmherzigkeit darauf, einesdes letzten Werke des Meißels Marochetti’s.

Lord Canning, der General-Gouverneur von Indienzur Zeit der furchtbaren Empörung 1857, ließ die-ses Todtendenkmal nach den Entwürfen des Genie-Obersten Yule errichten und wollte die Kosten sogaraus eigenen Mitteln decken.

An dieser Stelle, wo die beiden Frauen, die Mutterund die Tochter, nachdem sie von den Metzgern NanaSahib’s niedergeschlagen, vielleicht noch lebend in denBrunnen gestürzt worden waren, konnte Sir EdwardMunro sich der Thränen nicht erwehren. Er sank amFuße des Denkmals in die Kniee.

Dicht bei ihm stand der Sergeant Mac Neil und wein-te still.

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Uns Allen brach fast das Herz, da wir keine Wor-te fanden, in diesem unheilbaren Schmerz zu trösten,während wir doch hofften, daß Sir Edward Munro hierdie letzten Thränen vergießen werde.

Ach, wäre er unter den ersten Soldaten gewesen,die in Khanpur eindrangen und nach jener beispiello-sen Metzelei in den Bibi-Ghar gelangten – der Schmerzwürde ihn getödtet haben.

Einer der englischen Officiere lieferte darüber fol-genden Bericht, den Rousselet in seinem erwähntenWerke citirt:

»Gleich nach unserem Eindringen in Khanpur, forsch-ten wir nach den armen Frauen und Kindern, die wirin des scheußlichen Nana Sahib’s Händen wußten, er-fuhren aber nur zu bald von deren unmenschlicher Ab-schlachtung. Gepeinigt von unstillbarem Durste nachRache und durchdrungen von dem Gefühle der furcht-baren Leiden, welche jene armen Opfer zu erduldengehabt, erwachten in uns ganz fremdartige, wilde Ge-danken. Halb wahnsinnig stürzten wir nach der Op-ferstelle. Geronnenes Blut, untermischt mit Fetzen je-der Art, bedeckte den Fußboden des kleinen Raum-es, in dem jene eingesperrt gewesen waren, so hoch,daß es uns bis an die Knöchel reichte. Lange, seiden-weiche Haarflechten, zerrissene Stücke von Kleidern,Schuhe von kleinen Kindern neben Spielsachen dersel-ben lagen auf dem besudelten Fußboden umher. Die

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mit Blut bespritzten Wände zeugten für die entsetzli-chen Todesqualen. Ich hob ein kleines Gebetbuch auf,dessen erste Seite folgende ergreifende Worte zeigte:»27. Juni, die Schiffe verlassen . . . 7. Juli, GefangeneNana’s . . . unglücksschwerer Tag.« Das war aber nichtder einzige grause Anblick der unserer harrte. Nochschrecklicher erschien der Anblick des tiefen Brunnens,in den die verstümmelten Ueberreste der zarten Wesengeworfen worden waren! . . . «

Sir Edward Munro war nicht dabei, als die erstenTruppen Havelock’s sich der Stadt bemächtigten. Erkam erst zwei Tage nach dem gräßlichen Menschen-opfer.

Und jetzt zeigte sich seinem Blicke nur die Stelle, wosich einst der schreckliche Brunnenschacht befand, einnamenloses Grab von zweihundert Opfern Nana Sa-hib’s!

Hier gelang es Banks mit Hilfe des Sergeanten, ihnmit Gewalt wegzuziehen.

Oberst Munro vergaß gewiß niemals die zwei Worte,die einer der Soldaten Havelock’s mit dem Bajonnetauf den Rahmen des Brunnens gekritzelt hatte:

»Remember Cawnpore!« – »Gedenk’ an Khan pur!«

11. DER WECHSEL DES MOUSSONS.

Um elf Uhr waren wir an unserem Halteplatz zurückund hätten erklärlicherweise Khanpur gern so schnellals möglich verlassen; eine nothwendige Reparatur an

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der Speisepumpe der Maschine hielt uns jedoch biszum nächsten Tage zurück.

Es verblieben mir also anderthalb Tage. Ich glaubtediese Zeit nicht besser als durch einen Besuch Laknausverwerthen zu können.

Banks gedachte diese Stadt nicht zu berühren, inwelcher Oberst Munro nur den Schauplatz der furcht-barsten Greuel des Krieges wiedergesehen hätte. Erhatte wohl Recht. Auch dort erwarteten Jenen noch zupeinigende Erinnerungen.

Nachdem ich zu Mittag das Steam-House verlassen,benutzte ich die kurze Zweigbahn, welche Khanpurmit Laknau verbindet. Die Strecke beträgt kaum zwan-zig (englische) Meilen, und binnen zwei Stunden lang-te ich in der bedeutenden Hauptstadt des KönigreichsAudh an, von der ich nur einen flüchtigen Ueberblickgewinnen, sozusagen einen Eindruck mitnehmen woll-te.

Ich fand übrigens das bestätigt, was ich über die un-ter der Herrschaft muselmanischer Kaiser im 12. Jahr-hundert errichteten Bauwerke Laknaus schon gehörthatte.

Ein Franzose aus Lyon, Martin mit Namen, und ge-wöhnlicher Soldat in der Armee Lally-Tollendal’s, dersich 1730 zum erklärten Günstling des Königs zu ma-chen wußte, war der Schöpfer, der Erfinder, man könn-te sagen, der Baumeister der sogenannten Wunderwer-ke der Hauptstadt von Audh gewesen.

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Die officielle Residenz der Herrscher, der Kaiserbagh,ein sinnloses Gemisch aller Baustyle, das nur dem Ge-hirn eines Korporals entspringen konnte, ist nichts alsein »äußerliches« Bauwerk. Darin ist nichts, Alles ander Außenseite, aber diese selbst erscheint gleichzeitigindisch, chinesich, maurisch und . . . europäisch. Eben-so verhält es sich mit einem anderen, kleineren Palaste,dem Farid Bâkh, gleichfalls eine Schöpfung Martin’s.Der Inâmbara dagegen, erbaut in der Mitte der Citadel-le von Kaïhiatoulla, einem der ersten Architekten In-diens im 17. Jahrhundert, ist wirklich ein stolzes Denk-mal und bringt mit den Tausenden von Glockenthürm-chen, die seine Zinnen krönen, eine wirklich großarti-ge Wirkung hervor.

Ich konnte Laknau nicht verlassen, ohne den Constantin-Palast zu besuchen, wiederum ein persönliches Werkdes französischen Korporals, der deshalb auch den Na-men »Palais de la Martinière« führt. Ich wollte dabeiauch den nahegelegenen Garten, den Secunder Bâkh,sehen, wo Hunderte von Sipahis, welche die Grabstät-te des einfachen Soldaten beraubt hatten, bevor sieaus der Stadt flüchten konnten, niedergemacht wor-den waren.

Uebrigens ist der Martin’s nicht der einzige, franzö-sische Name, der in Laknau in hohem Ansehen steht.Ein alter Unterofficier der französischen Jäger, NamensDuprat, zeichnete sich während des Aufstandes durchseine Kühnheit so aus, daß die Empörer ihm anboten,

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sich an ihre Spitze zu stellen. Trotz der ihm versproche-nen Schätze, und trotz der Drohungen für den Fall derWeigerung, wies Duprat das Anerbieten ab und bliebden Engländern treu. Da er nun aber den Angriffender Sipahis, denen es nicht gelang, ihn zum Verrätherzu machen, desto mehr ausgesetzt war, fand er auchseinen Tod bei einem Gefecht mit jenen.

»Ungläubiger Hund, hatten sie gerufen, Du wirstauch gegen Deinen Willen der Unsere!«

Er wurde es, aber als – ein todter Mann.Bei den Repressalien spielten die beiden französi-

schen Soldaten also zusammen eine Rolle: die Sipa-his, welche das Grab des einen beraubt und die, durchderen Hand der andere den Tod fand, wurden ohneErbarmen niedergemacht.

Nachdem ich noch die prächtigen Parkanlagen, dengrünen blumenreichen Rahmen der großen, eine hal-be Million Einwohner zählenden Stadt bewundert undauf dem Rücken eines Elephanten deren Hauptstraßenund den großartigen Boulevard Hazrat Gaudj in Au-genschein genommen, ging ich wieder zur Bahn undgelangte am nämlichen Abend nach Khanpur zurück.

Am 31. Mai mit Tagesanbruch reisten wir weiter.»Endlich! rief Kapitän Hod, ist es doch nun aus

mit den Allahabad, Khanpur, Laknau und den anderenStädten, um die ich mich gerade soviel bekümmere,wie um eine leere Patrone!

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– Ja wohl, das ist zu Ende, Hod, bestätigte Banks,und nun werden wir direct nach Norden ziehen, umden Fuß des Himalaya auf kürzestem Wege zu errei-chen.

– Bravo! jubelte der Kapitän. Was ich eigentlich In-dien nenne, das sind nicht die Provinzen voller Städteund mit einer zusammengedrängten Bevölkerung vonHindus – nein, das ist das Land, wo meine Freunde,die Elephanten, Löwen, Tiger, Panther, Guepards, Bä-ren, Büffel und Schlangen in der Freiheit hausen! Da istder einzige bewohnbare Theil der Halbinsel! Sie wer-den das selbst sehen, Maucler, und werden die Wunderdes Gangesthales nicht vermissen.

– In Ihrer Gesellschaft, lieber Kapitän, erwiderte ich,werde ich überhaupt gar nichts vermissen.

– Uebrigens giebt es im Nordwesten, warf Banks ein,noch recht interessante Städte, wie Delhi, Agra, Lahore. . .

– Aber, bester Banks, unterbrach ihn Hod, wer hatdenn je von diesen erbärmlichen Nestern reden hören!

– Erbärmliche Nester! versetzte Banks, nein, Hod,das sind sehr schöne Städte. Doch, beruhigen Sie sich,lieber Freund, fuhr der Ingenieur an mich gewendetfort, wir werden Ihnen das zu zeigen wissen, ohne dieFeldzugspläne unseres Kapitäns zu kreuzen.

– Sehr schön, Banks, meinte Hod, aber eigentlichfängt unsere Reise doch erst heute an!«

Dann rief er lauter:

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»Fox!«Der Diener erschien.»Hier, Herr Kapitän!– Fox, die Flinten, Carabiner und Revolver sind doch

in Ordnung?– Gewiß!– Sieh’ mir die Schlösser nach.– Ist auch besorgt.– Fertige Patronen an.– Ich habe Vorrath . . .– Es ist also Alles in Stand?– Alles!– Wenn’s möglich ist, so bring’ es in noch besseren!– Soll geschehen.– Der Achtunddreißigste wird bald auf der Liste Dei-

nes Ruhmes paradiren, Fox!– Der Achtunddreißigste! rief der Diener, in dessen

Augen ein flüchtiger Blitz aufleuchtete. Ich werde fürden Burschen eine hübsche explodirende Kugel zu-recht machen, über die er nicht zu klagen haben soll.

– Schon gut, Fox, nun geh’ nur!«Fox grüßte militärisch, machte eine halbe Schwen-

kung und wandte sich nach der Waffenkammer.Ich verzeichne hier die für den zweiten Theil der

Reise festgestellte Richtung, von der, außer im Falledes Eintritts unvorzusehender Ereignisse, nicht abge-wichen werden sollte.

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Diese folgt auf etwa fünfundsiebenzig Kilometerdem Laufe des Ganges nach Nordwesten, von dazweigt sie sich, längs eines Nebenflusses des gewalti-gen Stromes und eines anderen bedeutenden Armes,der Goutmi, nach Norden ab. Damit vermeidet sie vie-le Wasserläufe, die sich zur rechten und linken Seiteverbreiten, und führt in schräger Linie durch das west-liche Gebiet der Königreiche Audh und Rohilkande aufdie ersten Wellen der Gebirgslandschaften von Nepalzu.

Der Ingenieur hatte diesen Weg, auf dem wir vielenSchwierigkeiten entgingen, vorsorglich ausgewählt.Wurde auch die Beschaffung von Kohle im nördlichenHindostan etwas beschwerlicher, so konnte uns da-für Holz niemals fehlen. Unser Stahlriese war also inder Lage, auf der so gut gehaltenen Straße durch dieschönsten Wälder der indischen Halbinsel in jeder be-liebigen Gangart vorwärts zu traben.

Gegen achtzig Kilometer trennten uns noch von derkleinen Stadt Biswah. Wir wollten diese Strecke nursehr langsam durchreisen und es wurden dazu sechsTage bestimmt. Dabei konnten wir nach Belieben an-halten, wo es uns gefiel, und die Jäger der Expeditiongewannen hinlänglich Zeit, ihre Heldenthaten auszu-führen.

Kapitän Hod mit seinem Diener Fox, denen sich auchGoûmi zuweilen anschloß, vermochten so bequem auf

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Kundschaft umherzuschweifen, während der Stahlrie-se langsamen Schrittes weiterzog. Auch mir stand esfrei, Jene bei ihren Treibjagden zu begleiten, und ob-wohl nur ein unerfahrener Waidmann, leistete ich ih-nen doch dann und wann Gesellschaft.

Ich muß gestehen, daß Oberst Munro, seit der Zeit,da unsere Reise gleichsam in eine neue Phase trat, sichweniger zurückzog. Außerhalb des Bezirkes der Städ-te wurde er inmitten der Wälder und Ebenen, ferndem eben durchzogenen Thale des Ganges, entschie-den umgänglicher. Unter diesen Verhältnissen schiener die Ruhe wieder zu finden, in der er sein Leben inCalcutta verbrachte. Und doch, konnte er wohl je ver-gessen, daß sein rollendes Haus ihn nach dem NordenIndiens führte, wohin ihn ein unwiderstehliches Ge-schick zog? Wie dem auch sei, jedenfalls gewann seineUnterhaltung an Lebhaftigkeit, während der Mahlzei-ten sowohl, wie unter der Siesta, und zuweilen setz-te er dieselbe sogar noch weit in die schönen Nächtehinein fort, deren wir uns während der heißen Jah-reszeit erfreuten. Mac Neil dagegen erschien seit demBesuche des Brunnenschachtes in Khanpur finsterer alsgewöhnlich. Hatte der Anblick des Bibi-Ghar in seinerSeele vielleicht den Rachedurst, den er noch zu löschenhoffte, auf’s Neue geweckt?

»Nana Sahib, sagte er eines Tages in abgerissenenSätzen zu mir . . . nein . . . nein! Es ist unmöglich, daßsie ihn uns getödtet hätten!«

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Der erste Tag verlief ohne bemerkenswerthen Zwi-schenfall. Weder Kapitän Hod noch Fox fanden Gele-genheit, auch nur auf das winzigste Thier zu feuern.Es war bedauerlich und sogar wunderbar, wenn man esnicht der Erscheinung des Stahlriesen selbst zuschrei-ben wollte, der die Raubthiere der Umgegend viel-leicht verscheuchte. Wir kamen z. B. durch verschiede-ne Dschungeln, in denen sich Tiger und andere Raubt-hiere mit Vorliebe aufzuhalten pflegen, aber nicht eineskam zum Vorschein, obwohl die Jäger bis auf ein undzwei Meilen seitwärts von unserem Zuge die Umge-bung absuchten. Sie mußten sich also begnügen, Blackund Phann auf die Jagd nach eßbarem Wild mitzuneh-men, von dem Monsieur Parazard seine gewohnte täg-liche Ration beanspruchte. Unser schwarzer Küchen-chef nahm einmal keine Vernunft an, und wenn derDiener des Kapitäns ihm von Tigern, Guepards und an-deren minder schmackhaften Bestien erzählte, zuckteer verächtlich die Achseln und sagte blos:

»Kann man das Zeug essen?«An diesem Abend hielten wir unter dem Schutze ei-

ner Gruppe riesiger Banianen. Die Nacht war ebensostill wie der Tag ruhig. Nicht einmal das Heulen derRaubthiere unterbrach das Schweigen der Natur. Auchunser Elephant ruhte ja. Das Zischen und Brausen desabblasenden Dampfes hatte aufgehört. Die Feuer wa-ren gelöscht und um dem Kapitän zu willfahren, hatte

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Banks nicht einmal den elektrischen Strom in Gang ge-setzt, der die Augen des Stahlriesen in zwei glänzendeLeuchtfeuer verwandelte. Doch auch dieses Mittel er-wies sich als fruchtlos.

Ganz ebenso vergingen der 1. und 2. Juni. Es warzum Verzweifeln.

»Man hat mir das Königreich Audh vertauscht! riefder Kapitän wiederholt. Man hat es mitten nach Euro-pa hinein versetzt! Hier giebt’s jetzt ebensowenig Tiger,wie in den schottischen Niederungen!

– Möglicherweise, lieber Hod, erwiderte OberstMunro, sind in der Gegend Treibjagden abgehaltenund die Thiere in Menge verscheucht worden. Dochverzweifeln Sie noch nicht; warten Sie, bis wir am Fu-ße der Berge von Nepal sind. Dort werden Sie Gele-genheit finden, Ihre Meisterschaft im edlen Waidwerkzu erproben.

– Ich hoffe es, lieber Oberst, antwortete Hod, im an-deren Falle müßten wir die Kugeln wahrlich zum Um-gießen in die Schrotmühle schicken!«

Im Laufe des 3. Juni herrschte eine bis dahin unbe-kannte Hitze. Wäre der Weg nicht von großen Bäumenbeschattet gewesen, ich glaube, wir wären in unsererbeweglichen Wohnung buchstäblich gesotten worden.Der Thermometer stieg im Schatten bis auf 48 Grad,ohne den geringsten Luftzug. Es war also möglich, daßauch die Raubthiere bei so erstickender Gluth selbst

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in der Nacht gar nicht daran dachten, ihre Höhlen zuverlassen.

Am nächsten Tag bei Sonnenaufgang erschien derwestliche Horizont zum erstenmale etwas neblig. Wirgenossen da das herrliche Schauspiel einer sogenann-ten Luftspiegelung, die man in einigen Gegenden In-diens »Seekote«, das ist Luftschlösser, in anderen »Des-sasur«, das ist Augentäuschung, nennt.

Es war jedoch keine scheinbare Wasserfläche mit denwunderbaren Effecten der Strahlenbrechung, die vorunseren Augen lag, sondern eine ganze Kette mäßi-ger Hügel, besetzt mit den phantastischsten Schlös-sern, die es nur geben kann, so etwa wie die Ufer desRheinthales mit ihren alterthümlichen Burggrafensit-zen. Wir sahen uns für kurze Zeit nicht nur in das Herzdes alten Europa, sondern auch fünf bis sechs Jahrhun-derte zurück, mitten in’s Mittelalter versetzt.

Die überraschend deutliche Erscheinung machte aufuns völlig den Eindruck der Wirklichkeit. Der Stahlrie-se mit Allem, was dazu gehörte, erschien mir, als er soauf eine Stadt aus dem 11. Jahrhundert zuzog, nochfremdartiger, als wenn er, in Dampfwolken gehüllt,durch das Land Wischnu’s und Brahma’s trabte.

»Hab’ Dank, Mutter Natur! rief entzückt der Kapi-tän. Nach so vielen Minarets und Kuppeln, so vielenMoscheen und Pagoden doch endlich einmal eine alteStadt aus der schönen Feudalzeit mit der romanischen

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und gothischen Pracht, die sie vor meinen Augen ent-rollt!

– Alle Wetter, scherzte Banks, was unser Freund Hodheute poetisch gestimmt ist. Sollte er vor dem Früh-stück schon eine Ballade verzehrt haben?

– Immer lachen Sie, lieber Banks, scherzen und spot-ten Sie nach Herzenslust, entgegnete Hod; aber blickenSie nur dorthin! Sehen Sie Alles, wie es im Vorder-grund noch größer erscheint; da werden Gebüsche zuBäumen, Hügel wachsen zu Bergen an, und . . .

– Und einfache Katzen würden zu Tigern, wenn eshier gerade Katzen gäbe, nicht wahr, Hod?

– O, Banks, das wäre nicht zu verachten! . . . Ei,rief der Kapitän, da schmelzen ja meine Schlösser amRhein, die Stadt verschwindet und wir fallen aus demHimmel auf die Erde, in eine gewöhnliche Landschaftdes Königreichs Audh, welches nicht einmal die Tigermehr bewohnen mögen!«

Die im Osten jetzt mehr heraufgestiegene Sonne hat-te das Spiel der Strahlenbrechung plötzlich verwan-delt. Die Burgen stürzten gleich Kartenhäusern zusam-men und die Hügel sanken zur Ebene herab.

»Wollt Ihr, da die Luftspiegelung verschwunden ist,begann Banks, und mit ihr die ganze dichterische Be-geisterung des Kapitän Hod verflogen zu sein scheint,nun vielleicht erfahren, worauf diese Erscheinung hin-deutet?

– Sprechen Sie, Ingenieur! antwortete der Kapitän.

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– Auf eine demnächstige Veränderung der Witte-rung, erklärte Banks, wir befinden uns übrigens in denersten Tagen des Juni, welche stets klimatische Ver-änderungen herbeiführen. Der Wechsel des Moussonswird die periodische Regenzeit einleiten.

– Nun, lieber Banks, sagte ich darauf, sind wir nichtwohlverwahrt? Mag der Regen immer kommen! Undwenn’s ein diluvianischer wäre, dieser unausstehlichenHitze ist er allemal vorzuziehen . . .

– Ihr Wunsch wird in Erfüllung gehen, besterFreund, antwortete Banks. Ich glaube, daß der Regennicht mehr fern ist und wir bald am Südwesthorizontedie ersten Wolken werden aufsteigen sehen!«

Banks täuschte sich nicht. Gegen Abend belud sichder westliche Horizont mit Dunstmassen, eine Hindeu-tung darauf, daß der Mousson, wie es nicht selten zugeschehen pflegt, in der Nacht umspringen werde. Hiersandte uns der indische Ocean über die Halbinsel je-ne mit Elektricität gesättigten Dünste, gleich großenSchläuchen des Gottes Aeolus, die mit Unwettern undStürmen gefüllt sind.

Während des Tages zeigten sich auch noch einige an-dere Erscheinungen, über welche kein Anglo-Indianerhätte im Unklaren bleiben können. Längs der Straßewirbelten vor unserem Zuge ganze Wolken sehr fei-nen Staubes her. Zwar mußte die jetzt etwas schnelle-re Bewegung der Räder – sowohl der unseres Motors,wie der beiden rollenden Häuser – Staub aufwirbeln,

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sicherlich aber nicht in solcher Intensität. Es sah auswie eine Wolke von Flaumfedern, die eine in Thätig-keit gesetzte Elektrisirmaschine tanzen machte. Wirk-lich konnte man den Boden für einen ungeheueren Re-ceptor ansehen, in dem das elektrische Fluidum sichseit mehreren Tagen schon angehäuft hatte. Uebrigenszeigte jener Staub eine merkwürdige gelbliche Farbeund in jedem Molekül desselbenglänzte ein leuchten-des Pünktchen. Dann und wann schien unser ganzerZug sich mitten durch Flammen zu bewegen – frei-lich Flammen ohne Wärme, die aber weder durch ih-re Färbung, noch durch ihre Lebhaftigkeit an das be-kannte St. Elmsfeuer erinnerten. Storr erzählte uns, erhabe mitunter Eisenbahnzüge zwischen einer Doppel-wand solch’ leuchtenden Staubes dahinbrausen gese-hen, und Banks bestätigte die Aussagen des Mecha-nikers. Während einer Viertelstunde konnte ich dieseeigenthümliche Naturerscheinung durch die Lichtpfor-ten des Thürmchens genau beobachten, von wo ausich die Straße auf eine Strecke von fünf bis sechs Kilo-meter überblickte. Der baumlose Weg war staubig undvon den senkrechten Sonnenstrahlen grell beleuchtet.Jetzt schien mir die Hitze der Atmosphäre fast dieunserer Maschinenfeuerung zu übersteigen; jedenfallswar sie geradezu unerträglich, und ich halb erstickt, alsich unter dem Flügelschlage der Punka einige Athem-züge frischerer Luft schöpfte.

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Abends gegen sieben Uhr hielt das Steam-House an.Die von Banks ausgewählte Haltestelle lag am Saumeeines Waldes von prächtigen Banianen, der sich un-übersehbar weit nach Norden zu erstreckte. Eine schö-ne Straße durchschnitt denselben und versprach unsfür den folgenden Tag eine angenehmere Fahrt unterseinem hohen und ausgebreiteten Blätterdache.

Die Banianen, diese Riesen unter der Flora Indiens,sind wirkliche Großväter, man könnte sagen Häuptervon Pflanzenfamilien, umringt von ihren Kindern undKindeskindern. Aus gemeinschaftlicher Wurzel ent-springend, erheben sich die letzteren rings um denHauptstamm, mit dem sie sonst in keinerlei Verbin-dung stehen, während sie sich in der Höhe wieder-um in dem väterlichen Gezweig verlieren. Sie machenunter dem dichten Blattwerke denselben Eindruck wieKüchlein unter den schützenden Flügeln der Glucke.Daher rührt der merkwürdige Anblick, den diese oftmehrhundertjährigen Wälder darbieten. Die alten Bäu-me erscheinen wie isolirte Pfeiler, welche das unge-heuere Gewölbe tragen, dessen feinere Rippen sich aufjunge Banianen stützen, die einst selbst zu Pfeilernwerden sollen.

An diesem Abend richteten wir uns umfassender alsgewöhnlich zum Rasten ein. Sollte der nächstfolgendeTag sich ebenso heiß zeigen wie der eben vergangene,so hatte Banks beschlossen, noch zu verweilen und nurwährend der Nacht zu fahren.

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Oberst Munro wünschte nichts mehr, als einige Stun-den in dem schönen, stillen und schattenreichen Wal-de zu verbringen. Alle stimmten ihm bei, die Einen,weil sie wirklich der Erholung bedurften, die Anderen,weil sie versuchen wollten, endlich ein, der Büchse ei-nes Anderson oder eines Gérard würdiges Thier zu ent-decken. Man erräth leicht, wer diese Anderen waren.

»Fox, Goûmi, rief Hod, jetzt ist es erst sieben Uhr!Noch einen Streifzug in den Wald, bevor die Nacht her-einbricht. Werden Sie uns begleiten, Maucler?

– Mein lieber Hod, sagte Banks, ehe ich noch ant-worten konnte, Sie thäten besser, sich nicht mehr vonhier zu entfernen. Der Himmel hat ein drohendes Aus-sehen. Wenn das Unwetter losbricht, würden Sie Mühehaben, den Rückweg zu finden. Im Falle, daß wir mor-gen noch hier rasten, könnten Sie ja dann aufbrechen.

– Morgen, o, da ist’s heller Tag, erwiderte KapitänHod, jetzt ist die Stunde günstiger zu einem Versuche.

– Das weiß ich, Hod, aber die kommende Nacht siehtmir doch zu unsicher aus. Wenn Sie darauf bestehen,noch heute zu jagen, so wagen Sie sich wenigstensnicht zu weit hinaus. Binnen einer Stunde schon dürftees sehr finster, und dann schwierig sein, die Haltestellewieder aufzufinden.

– Seien Sie außer Sorge, Banks, es ist erst sieben Uhr,ich werde den Herrn Oberst nur um einen Urlaub vonzwei Stunden ersuchen.

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– So gehen Sie, lieber Hod, antwortete Sir EdwardMunro, doch lassen Sie Banks’ Warnung nicht außerAcht.

– Gewiß nicht, Herr Oberst!«Mit prächtigen Jagdgewehren versehen, verließen

Kapitän Hod, Fox und Goûmi das Lager und ver-schwanden unter den hohen Banianen zur rechten derStraße.

Mich hatte die Hitze des Tages so sehr ermüdet, daßich es vorzog, im Steam-House zurückzubleiben.

Inzwischen wurde auf Banks’ Anordnung das Feuerunter dem Kessel nicht ganz gelöscht, sondern nur ge-dämpft, um stets eine bis zwei Atmosphären Dampf zubehalten. Der Ingenieur wollte für jeden Zufall gerü-stet sein.

Storr und Kâlouth erneuerten einstweilen den Brennmaterial-und Wasservorrath. Ein kleiner Bach, der zur linkenSeite des Weges floß, lieferte ihnen den letzteren unddie nahen Bäume das nöthige Holz zur Füllung desTenders. Monsieur Parazard besorgte seine gewöhnli-chen Geschäfte und grübelte, während er die Reste desheutigen Diners abtrug, schon über das für den folgen-den Tag.

Noch war es ziemlich hell. Oberst Munro, Banks, derSergeant Mac Neil und ich wollten am Ufer des Ba-ches Siesta halten. Das klare plätschernde Wasser er-frischte einigermaßen die wahrhaft erstickende Luft.

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Die Sonne stand noch über dem Horizonte. Der Wi-derschein ihres Lichtes färbte die Dunstmassen, welcheman durch Lücken in dem Blätterdache sich im Zenithansammeln sah, mit blaugrauen Tinten. Es waren dasschwere, dichte, gleichsam condensirte Wolken, wel-che kein Wind bewegte, sondern die ihren Motor insich selbst zu haben schienen.

Wir plauderten etwa bis acht Uhr. Von Zeit zu Zeiterhob sich Banks, um den Himmel in größerer Ausdeh-nung übersehen zu können, indem er bis zum Saumedes Waldes ging, der ziemlich eine Viertelmeile von un-serer Haltestelle die Ebene scharf begrenzte.

Zurückkehrend, schüttelte er bedenklich den Kopf.Das letzte Mal hatten wir ihn begleitet. Schon wur-

de es unter den Kronen der Banianen allmählich dü-ster. Vom Waldessaume aus erblickte ich nach Westenzu eine weite Ebene, die sich bis zu einer Reihe klei-ner, schon mit den Wolken verschwimmender Hügelerstreckte.

Der Anblick des Himmels in seiner Ruhe war wirk-lich schrecklich. Kein Lufthauch bewegte die Blätterder hohen Bäume. Die Ruhe der eingeschlummer-ten Natur, von der die Dichter so oft gesungen, wardas aber nicht, sondern ein bleischwerer, krankhafter

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Schlaf. Es schien, als stände die ganze Atmosphäre un-ter einer gewissen Spannung. Ich kann den Himmels-raum nicht besser vergleichen, als mit dem Dampfrau-me eines Kessels, wenn der Dampf zu stark comprimirtist und eine Explosion bevorsteht.

Diese Explosion drohte hier in kürzester Zeit.Die Gewitterwolken erschienen, wie es über Ebenen

gewöhnlich der Fall ist, hoch übereinander gethürmtund zeigten gebogene, sehr scharf umschriebene Rän-der. Sie schienen anzuschwellen, an Zahl ab- und anAusdehnung zuzunehmen, während sie immer auf der-selben Basis ruhten. Offenbar mußten sie bald in eineeinzige Masse zusammengeflossen sein, was die Dicht-heit der Wolke nur vermehren konnte. Schon verlorensich kleinere Nebenwolken, wie von einer Art Anzie-hungskraft getrieben und hin und her gestoßen, in derallgemeinen Dunstmasse.

Gegen achteinhalb Uhr zerriß ein Zickzackblitz mitsehr scharfen Winkeln die dunkle Masse in einer Längevon zweitausendfünfhundert bis dreitausend Metern.

Fünfundsechzig Secunden später erreichte uns derDonner und rollte lang hin, wie es bei jenen, etwa fünf-zehn Secunden dauernden Blitzen stets der Fall ist.

»Einundzwanzig Kilometer, sagte Banks, der seineUhr beobachtet hatte. Das ist fast die größte Entfer-nung, auf welche hin der Donner noch hörbar ist.Wenn das Unwetter aber einmal losbrach, wird es

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schnell heraufziehen, und wir dürfen es hier nicht er-warten. Kehren wir also zurück, meine Freunde.

– Und Kapitän Hod? fragte Mac Neil.– Der Donner wird ihn wohl zur Heimkehr mah-

nen, meinte Banks, ich hoffe, daß er dieser Stimmegehorcht.«

Fünf Minuten später langten wir wieder an der Hal-testelle an und nahmen unter der Veranda des SalonsPlatz.

12. FEUER RINGSUM.

Indien theilt mit gewissen Gegenden von Brasilien –unter Anderen der von Rio de Janeiro – das Privileg,von allen Ländern der Erde am häufigsten von Gewit-tern heimgesucht zu werden. Wenn im mittleren Euro-pa, wie in Deutschland, Frankreich, England, etwa anzwanzig Tagen des Jahres die Stimme des Donners zuhören ist, so ist das auf der indischen Halbinsel minde-stens fünfzigmal im Jahre der Fall.

Wie die Umstände heute lagen, hatten wir allen An-zeichen nach ein Gewitter von besonderer Heftigkeitzu erwarten.

Nach unserer Rückkehr in das Steam-House beob-achtete ich das Barometer. Die Quecksilbersäule warin kürzester Zeit um zwei Zoll, von 29 auf 27 (etwa730 Millimeter) gefallen.

Ich theilte das dem Oberst mit.

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»Mich beunruhigt die Abwesenheit des Kapitän Hodund seiner Begleiter, erwiderte er. Das Unwetter mußgleich zum Ausbruch kommen, die Nacht rückt heranund die Dunkelheit nimmt schneller zu. Jäger entfer-nen sich stets weiter, als sie versprechen und selbst, alssie gewollt haben. Wie werden Jene in der tiefen Fin-sterniß den Rückweg finden?

– Die Tollköpfe! fiel Banks ein. Sie wollten auch kei-ne Vernunft annehmen. Besser, sie wären ganz hier-geblieben.

– Gewiß, Banks, doch sie sind einmal weg, entgeg-nete Oberst Munro, und an uns ist es, Alles zu thun,um ihnen die Rückkehr zu erleichtern.

– Giebt es kein Mittel, ihnen die Stelle, wo wir lie-gen, zu bezeichnen? wandte ich mich an den Ingenieur.

– O doch, antwortete Banks, wenn wir unser elek-trisches Licht anzünden, das sehr mächtig und weithinzu sehen ist. Ich werde den Strom schließen.

– Eine herrliche Idee, Banks!– Soll ich mich zur Aufsuchung des Kapitän Hod auf-

machen? fragte der Sergeant.– Nein, mein alter Neil, erklärte Oberst Munro, Du

würdest ihn nicht finden und Dich nur noch selbst ver-irren.«

Banks brachte die Elemente der Säule in Stand,schloß den Strom und bald warfen die beiden Augendes Stahlriesen, gleich zwei elektrischen Leuchtthür-men, ihre Strahlenbündel durch die Finsterniß unter

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den Banianen. Bei der besonders dunklen Nacht muß-te die Tragweite des Lichtes gewiß eine weite sein undkonnte unseren Jägern als Leitstern dienen.

Da erhob sich plötzlich ein Orkan mit entsetzlicherGewalt. Er zerriß die Gipfel der Bäume, bog die jungenBanianenstämme zu Boden und pfiff durch dieselbenwie durch die Pfeifen einer Orgel.

Alles war das Werk eines Augenblickes.Ein Hagel von vertrockneten Zweigen und ein Regen

von abgerissenen Blättern bedeckte die Straße. Die Be-dachung des Steam-Houses hallte wider vom fortwäh-renden Rauschen des Stromes, der sich darüber hin-wegwälzte.

Wir mußten uns in den Salon flüchten und alle Fen-ster dicht verschließen.

»Das ist eine Art Tofan,« sagte Banks.So bezeichnen die Indier die heftigen und urplötzli-

chen Stürme, welche vorzüglich die Berggegenden ver-wüsten und im ganzen Lande gefürchtet sind.

»Storr, rief Banks dem Mechaniker zu, hast Du dieFensteröffnung des Thurmes gut verschlossen?

– Gewiß, Herr Banks, erklärte der Mechaniker, vondieser Seite ist nichts zu fürchten.

– Wo ist Kâlouth?– Er schichtet eben das letzte Brennmaterial in dem

Tender auf.– Morgen werden wir das Holz nur aufzulesen brau-

chen, meinte der Ingenieur. Der Wind fällt es selbst und

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erspart uns die Mühe. Pass’ auf, daß wir Druck behal-ten, Storr, und suche unter Dach und Fach zu bleiben.

– Soll geschehen.– Sind die Bunker voll, Kâlouth? fragte Banks.– Ja, Herr Banks, antwortete der Heizer. Auch der

Wasservorrath ist ergänzt.– Gut, so komm herein!«Maschinist und Heizer hatten bald im zweiten Wa-

gen Platz genommen.Jetzt leuchteten die Blitze häufiger auf und aus den

Wolken hörte man ununterbrochen das dumpfe Rol-len. Der Tofan hatte die Luft nicht abgekühlt. Es warein trockener Wind mit heißem Athem, so als käme erselbst aus der Mündung eines Hochofens her. Sir Ed-ward Munro, Banks, Mac Neil und ich verließen denSalon, um nach der Veranda zu gehen. Das hohe Ge-äst der Banianen zeichnete sich gleich einer seinenschwarzen Spitze auf dem feurigen Hintergrunde desHimmels ab. Auf jeden Blitz folgte schon nach wenigenSecunden ein heftiger Donner. Das Echo davon konntegar nicht verstummen, weil sich stets schon ein neu-er Donnerschlag hineinmischte. So rollte unausgesetztein tiefer Baß daher und unter diesen mischten sichnoch jene trockenen Detonationen, welche Lucretiusso passend mit dem scharfen Schrei zerreißenden Pa-pieres verglichen hat.

»Warum sie nur auch wegen des Unwetters nicht zu-rückkehren? begann Oberst Munro.

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– Vielleicht, meinte der Sergeant, hat Kapitän Hodmit seinen Begleitern ein Obdach im Walde, in derHöhlung eines Baumes oder unter einem Stein gefun-den, und sie kommen erst morgen zurück. Wir sind jadann noch immer zur Stelle!«

Banks schüttelte den Kopf. Er schien Mac Neil’s An-sicht nicht zu theilen.

Jetzt – es mochte gegen neun Uhr sein – begann derRegen in furchtbaren Strömen herabzustürzen. Er warmit großen Hagelkörnern vermischt, welche uns stei-nigten und auf das klingende Dach des Steam-Housesniederprasselten. Es klang wie ein furchtbarer Trom-melwirbel. Einander zu hören, war vollständig unmög-lich, auch wenn es nicht unaufhörlich gedonnert hätte.Die von den Schloßen abgeschlagenen Banianenblätterflogen auf allen Seiten umher.

Banks, der sich inmitten dieses betäubenden Lär-mens nicht verständlich machen konnte, erhob denArm und wies uns auf die Schloßen hin, welche dieSeiten des Stahlriesen trafen.

Unglaublich! Alles funkelte bei der Berührung mitden harten Eisstücken. Man hätte meinen sollen, daßaus den Wolken wirklich Tropfen geschmolzenen Me-talles kämen, die bei Berührung mit dem StahlpanzerLichtfunken auswarfen. Diese Erscheinung bewies, wiestark die Atmosphäre mit Elektricität geladen war. Un-ausgesetzt durchströmte sie die leuchtende Materie, sodaß der ganze Himmelsraum ein Feuer zu sein schien.

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Banks winkte uns wieder nach dem Salon zurückund schloß die nach der Veranda führende Thür. Ge-wiß konnte man sich in freier Luft diesen elektrischenEntladungen nicht ungestraft aussetzen.

Im Innern des Hauses standen wir fast im Finstern,wodurch die Beleuchtung der Außenwelt nur um sosichtbarer wurde. Wie erstaunten wir aber, sogar deneigenen Speichel leuchten zu sehen! Auch wir mußtenvon dem umgebenden Fluidum im höchsten Grade im-prägnirt sein.

»Wir spieen Feuer,« um den Ausdruck zu gebrau-chen, mit dem man diese selten beobachtete und im-mer erschreckende Erscheinung charakterisirt hat. Inder That mußte unter diesem fortwährenden Aufleuch-ten, dem Feuer draußen, unter dem Krachen des Don-ners bei den gewaltigen Blitzen auch das furchtlosesteHerz doch etwas schneller schlagen.

»Und sie! sagte bedauernd Oberst Munro.– Ja, wo mögen sie sein!« antwortete Banks.Unsere Lage war entsetzlich. Nicht das Geringste

konnten wir thun, um den so sehr bedrohten KapitänHod und seinen Begleitern zu Hilfe zu kommen.

Wenn sie Schutz gefunden hatten, so konnte dasnur unter den Bäumen selbst sein, und man weiß, mitwelchen Gefahren das unter schweren Gewittern ver-bunden ist. Wie hätten sie sich in dem dichten Waldefünf bis sechs Meter von der die äußersten Zweige ei-nes Baumes schneidenden senkrechten Linie aufhalten

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können – wie man es Denen empfiehlt, die in der Nähevon Bäumen von einem Gewitter überrascht werden?

Alles das ging mir durch den Kopf, als ein furcht-barer Donnerschlag, noch trockener als die anderen,mein Ohr traf, der mit dem Blitze fast zusammenzufal-len schien.

Gleichzeitig machte sich ein scharfer Geruch be-merkbar – der durchdringende Geruch von salpetrigenDämpfen – und gewiß hätte Regenwasser, das währenddieses Wetters aufgefangen wurde, große Mengen der-selben Säure erkennen lassen.

»Der Blitz hat eingeschlagen . . . meinte Mac Neil.– Storr, Kâlouth, Parazard!« rief Banks.Alle Drei erschienen im Salon. Zum Glück war keiner

von ihnen getroffen.Der Ingenieur stieß die Thür zur Veranda auf und

begab sich nach dem Balkon.»Dort . . . seht dort! . . . « sagte er.Zehn Schritte von uns an der linken Seite der Stra-

ße, war eine große Baniane getroffen worden. Bei demunausgesetzten elektrischen Scheine sahen wir sie wieam hellen Tage. Der ungeheuere Stamm, den seineAusläufer nicht mehr zu halten vermochten, lag querzwischen den anderen Bäumen. In seiner ganzen Län-ge war die Rinde abgesprengt und frei in der Luft hing

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ein langer Fetzen derselben, der umhergeworfen wur-de wie eine Schlange, die sich von Baumästen herab-schlängelt. Die Abschälung mußte von unten nach auf-wärts stattgefunden haben, also von einem aufsteigen-den Blitz von ungeheuerer Gewalt herrühren.

»Da fehlte nicht viel, daß unser Steam-House getrof-fen worden wäre! sagte der Ingenieur. Doch bleibenwir hier, es ist immer ein besserer Schutz, als der unterBäumen!«

Da hörten wir einen lauten Aufschrei. Rührte er viel-leicht von unseren heimkehrenden Genossen her?

»Das war Parazard’s Stimme,« sagte Storr.Wirklich rief uns der Koch, der sich unter der letzten

Veranda befand, zu sich hin.Wir folgten eifrigst seinem Rufe.Kaum hundert Meter von unserer Haltestelle und

rechts von derselben war der Banianenwald entzündet.Schon verschwanden die höchsten Gipfel der Bäumeunter den lodernden Flammen. Das Feuer entwickeltesich unglaublich heftig und schritt schneller, als manhätte glauben sollen, auf das Steam-House zu.

Da entstand eine ernste Gefahr. Die lange Dürre unddie hohe Temperatur der drei Monate heißer Jahreszeithatten Bäume, Gebüsche und Gräser ausgetrocknet.An dem leicht entzündbaren Material fand das Feuervollauf Nahrung. Wie das in Indien wiederholt vor-kommt, war der ganze Wald bedroht, von den Flam-men verzehrt zu werden.

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Unzweifelhaft sah man, wie das Feuer an Umfanggewann und sich nach allen Seiten verbreitete. Erreich-te es unsere Haltestelle, so wurden die beiden Wagensicher binnen wenig Minuten zerstört, denn ihre dün-nen Wände konnten nicht den gleichen Widerstand lei-sten, wie die Stahlblechumhüllung eines feuerfestenGeldschrankes.

Schweigend standen wir der Gefahr gegenüber.Oberst Munro kreuzte die Arme.

»Banks, begann er sehr ruhig, es ist Deine Sache, unsaus dieser Lage zu helfen.

– Ja wohl, Munro, antwortete der Ingenieur, und dawir kein Mittel haben, die Feuersbrunst zu löschen, sowerden wir ihr entfliehen müssen.

– Zu Fuße? rief ich erschrocken.– O nein, mit dem ganzen Zuge.– Und was wird aus Kapitän Hod und seinen Beglei-

tern? warf Mac Neil ein.– Wir können nichts für sie thun. Sind sie nicht zu-

rück, bevor wir aufbrechen, so kann ich mir nicht hel-fen.

– Wir dürfen sie aber nicht im Stiche lassen! erklärteder Oberst.

– Wenn der Train in Sicherheit ist, Munro, erwiderteihm Banks, wenn ihn die Flammen nicht mehr errei-chen können, so kehren wir zurück und durchsuchenden ganzen Wald, bis wir Jene entdeckt haben.

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– Thu’ was Du willst, Banks, sagte Oberst Munro, dersich dem Rathe des Ingenieurs, gewiß dem einzigen,der hier am Platze war, fügen mußte.

– Storr, rief Banks, an Deine Maschine, und Du,Kâlouth, an den Kessel und schüre das Feuer! – Wel-chen Druck zeigt das Manometer?

– Zwei Atmosphären, meldete der Mechaniker.– Binnen zehn Minuten müssen wir vier haben. Nun

vorwärts, Ihr Leute, an’s Werk!«Der Mechaniker und der Heizer ließen sich nicht

antreiben. Bald wirbelten schwarze Rauchwolken ausdem Rüssel des Elephanten und mischten sich mit denRegenströmen, um die sich der Riese gar nicht zu küm-mern schien. Auf die Blitze, welche den Himmel inFeuer hüllten, antwortete er mit einem Sprühregenvon Funken. Ein Dampfstrahl pfiff durch den Rauch-fang und der künstlich vermehrte Zug beschleunigtedie Verbrennung des Holzes, das Kâlouth auf dem Ro-ste aufhäufte.

Sir Edward Munro, Banks und ich waren auf derhinteren Veranda zurückgeblieben und beobachtetendie Fortschritte der Feuersbrunst im Walde; die großenBäume sanken in die gewaltige Lohe zusammen,die Zweige krachten wie Revolverschüsse, die Lianenschwankten von einem Stamme zum anderen und dasFeuer pflanzte sich auf neue und immer neue Herdefort. In fünf Minuten war der Brand auf fünfzig Me-ter vorgeschritten und die vom Sturmwind zerzausten

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Flammen züngelten zu einer solchen Höhe auf, daß dieBlitze sie in allen Richtungen kreuzten.

»Binnen fünf Minuten müssen wir den Platz verlas-sen haben, erklärte Banks, oder es fängt Alles Feuer!

– Diese Feuersbrunst greift schnell um sich! bemerk-te ich.

– Wir werden noch schneller vorwärts kommen!– Wenn nur Hod und seine Begleiter da wären! klag-

te Sir Edward Munro.– Wir wollen pfeifen, ja, ja, pfeifen, rief Banks, viel-

leicht hören sie das!«Er eilte nach dem Thürmchen und bald ertönte die

Luft von schrillen Pfiffen, die sich von dem rollendenDonner so auffällig unterschieden, daß sie gewiß weit-hin vernehmbar sein mußten.

Unsere Lage wird sich Jedermann eher denken kön-nen, als man sie schildern kann.

Auf einer Seite die Nothwendigkeit, so schnell alsmöglich zu entfliehen, auf der anderen die Verpflich-tung, die noch nicht Zurückgekehrten zu erwarten.

Banks war nach der hinteren Veranda zurückgekom-men. Der Rand des Feuers lag jetzt kaum noch fünfzigFuß vom Steam-House entfernt. Ringsum verbreitetesich eine unerträgliche Hitze und die glühende Luftwurde unathembar. Schon fielen eine Menge glühen-der Holzstücke auf unseren Train nieder. Zum Glückschützte ihn der noch fortdauernde Platzregen, der ihn

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jedoch gegen das eigentliche Feuer selbst gewiß nichtsichern konnte.

Noch immer dauerte das scharfe Pfeifen der Maschi-ne fort, doch weder Hod, noch Fox oder Goûmi ließensich sehen.

Da trat der Mechaniker zu Banks heran.»Wir haben den verlangten Druck, sagte er.– Nun dann, vorwärts, Storr, erwiderte dieser, doch

nicht zu schnell! . . . Es gilt nur außer dem Bereichedes Waldbrandes zu bleiben.

– Warte noch, Banks, warte noch, bat Oberst Munro,der sich nicht entschließen konnte, den Halteplatz zuverlassen.

– Noch drei Minuten, Munro, antwortete Banks sehrkühl, doch auf keinen Fall länger. In drei Minutenschon kann der Hintertheil des Zuges Feuer fangen!«

Zwei Minuten verstrichen. Das Verweilen auf der Ve-randa wurde jetzt zur Unmöglichkeit. Man konnte dieHand schon nicht mehr auf das erhitzte Blech lagen,welches sich zu krümmen begann. Jetzt noch längerzu warten, wäre die schwerste Thorheit gewesen.

»Vorwärts, Storr! befahl Banks.– Ach, da! . . . rief der Sergeant.– Sie sind es!«Kapitän Hod und Fox erschienen an der rechten

Seite der Straße. In ihren Armen trugen sie Goûmi’sscheinbar leblosen Körper, und gelangten eben an denAuftritt zum zweiten Wagen.

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»Todt? fragte Banks.– Nein, aber vom Blitz getroffen, der ihm das Ge-

wehr in der Hand zertrümmerte, erklärte Kapitän Hod,und auf dem linken Beine gelähmt.

– Gott sei gelobt! brach Oberst Munro aus.– Meinen Dank auch, Banks, setzte der Kapitän hin-

zu. Ohne Ihr Pfeifensignal hätten wir die Haltestelleschwerlich wiedergefunden!

– Nun schnell hier weg, drängte Banks, nun vor-wärts!«

Hod und Fox waren in den Wagen gesprungen, undGoûmi, der den Gebrauch der Sinne nicht ganz verlo-ren hatte, wurde in seiner Cabine niedergelegt.

»Wie viel Druck haben wir? fragte dieser den Mecha-niker.

– Ziemlich fünf Atmosphären, lautete Storr’s Ant-wort.

– Nun dann fort!« wiederholte Banks.Es war jetzt halb elf Uhr. Banks und Storr nahmen in

dem Thürmchen Platz. Der Regulator ward geöffnet,der Dampf strömte in die Cylinder, das erste Schnau-fen ließ sich vernehmen und der Zug setzte sich lang-sam in Bewegung, inmitten der dreifachen Beleuch-tung, durch den Brand der Banianen, durch die elek-trischen Lampen des Elephanten und die flammendenBlitze des Himmels.

Kapitän Hod erzählte uns mit kurzen Worten die Vor-gänge während seines Ausfluges, bei dem die Jäger

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keine Spur eines Thieres angetroffen hatten. Mit demAufsteigen des Gewitters kam die Dunkelheit schnellerund tiefer, als sie gedacht hatten. Sie wurden von demersten Donnerschlage überrascht, als sie etwa drei Mei-len weit entfernt waren. Natürlich wollten sie nun so-fort umkehren, doch trotz aller Mühe, sich zurecht zufinden, verirrten sie sich unter den großen Banianen-gruppen, die einander gar zu sehr ähnelten, da ihnenkein Steg die Richtung angab.

Inzwischen brach das Unwetter mit aller Wuth los.Das elektrische Licht konnte bis zu der Stelle, wo siesich befanden, nicht dringen, so daß sie gewiß nicht ingerader Linie auf das Steam-House zuschritten. Hagelund Regen fiel in Strömen. Ein Obdach gab es nicht,außer dem unzulänglichen des Blätterdaches, das baldgenug durchlöchert wurde.

Plötzlich krachte ein furchtbarer Donnerschlag zu-gleich mit einem blendenden Blitze. Neben dem Ka-pitän sank Goûmi vor Fox’ Füßen zur Erde. Von demGewehre in seiner Hand hielt er nur noch den Schaft.Lauf, Schloß, Drückerbügel, kurz Alles, was von Metalldaran war, hatte die elektrische Entladung zerstreut.

Seine Genossen hielten ihn für todt, was sich glück-licherweise nicht bestätigte; obwohl er aber von demFluidum nicht selbst getroffen schien, war doch seinlinkes Bein gelähmt, so daß der arme Goûmi keinenSchritt gehen konnte.

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Er mußte also getragen werden. Vergeblich bat er,ihn vorläufig zurückzulassen und erst später abzuho-len. Seine Begleiter gaben nicht nach; der Eine erfaßteihn an den Schultern, der Andere an den Beinen, undso zogen sie auf gut Glück durch das Dunkel des Wal-des weiter.

Zwei volle Stunden lang irrten Hod und Fox aufdiese Weise umher, zögerten, hielten einmal an undsetzten dann den Weg weiter fort, ohne irgend einenAnhalt, der ihnen die Lage des Halteplatzes hätte an-deuten können. Endlich hörten sie mitten unter demWüthen der Elemente und dem Sausen des Sturmesden scharfen Ton der Dampfpfeife, der vernehmlicherwar, als es sogar Flintenschüsse gewesen wären. Sie er-kannten die Stimme des Stahlriesen.

Eine Viertelstunde später gelangten alle Drei nachder Stelle, die eben verlassen werden sollte. Es war diehöchste Zeit!

Während der Zug nun auf der breiten und ebenenStraße im Walde dahinrollte, machte der Brand dochnoch schnellere Fortschritte. Daneben wuchs die Ge-fahr noch mehr, als der Wind umsprang, wie es beisolchen Gewitterstürmen häufig vorkommt. Statt vonder Seite zu wehen, blies er jetzt von rückwärts undbelebte durch seine Heftigkeit das Feuer wie ein Ven-tilator, der einem Herde Sauerstoff zuführt. Der Wald-brand nahm rasch weiter zu. Brennende Zweige undglimmende Holzstücke wirbelten in einer Wolke von

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glühender Asche umher, die sich von der Erde erhob,als ob ein Krater seine vulkanischen Massen gen Him-mel schleuderte. Wirklich ließ sich die Feuersbrunstmit nichts besser vergleichen, als mit einem Lavastro-me, der sich über das Land wälzt und Alles auf seinemWege vernichtet.

Banks bemerkte das wohl. Hätte er’s auch nicht ge-sehen, so mußte es ihm der glühend heiße Luftstromsagen, der über uns dahinstrich.

Die Fahrt wurde also beschleunigt, obgleich das aufdem unbekannten Wege nicht ohne Gefahr war. Dievon Regen überfluthete Straße hatte aber so tiefe Fur-chen, daß die Maschine nicht so viel leistete, als derIngenieur gern wollte.

Gegen halb zwölf Uhr erfolgte ein neuer Donner-schlag mit einem furchtbaren Blitze. Unwillkürlich ent-rang sich unser ein lauter Schrei. Wir glaubten nichtanders, als daß Banks und Storr im Thürmchen, vonwo aus sie die Fahrt leiteten, erschlagen worden wä-ren.

Dieses Unglück sollte uns jedoch erspart bleiben.Nur unser Elephant war an der Spitze eines seiner lan-gen, hängenden Ohren von der elektrischen Entladunggetroffen worden. Die Maschine hatte dabei zum Glückkeinen Schaden erlitten, und der Stahlriese schien demWüthen des Unwetters nur durch vermehrtes Brausenund Sausen antworten zu wollen.

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»Hurrah! rief Kapitän Hod, Hurrah! Ein Elephant ausFleisch und Bein wäre auf der Stelle zusammengesun-ken. Du, Du trotzest dem Blitze, Dich vermag nichtsaufzuhalten. Hurrah, Stahlriese! Hurrah!«

Während einer halben Stunde hielt sich unser Zugimmer in geeigneter Entfernung. Da er fürchten muß-te, zu heftig gegen irgend ein Hinderniß zu stoßen,wollte Banks die Geschwindigkeit nicht weiter stei-gern, als nothwendig war, um vor dem Feuer geschütztzu bleiben.

Von der Veranda aus, wo Oberst Munro, Hod und ichPlatz genommen hatten, sahen wir gewaltige Schattenvor uns her eilen, welche im Lichte des Brandes undder Blitze dahinflogen. Das waren endlich Raubthiere!

Aus Vorsicht ergriff Hod seine Büchse, denn es war jamöglich, daß die entsetzten Bestien sich auf den Trainstürzen konnten, um dort Schutz oder ein Obdach zusuchen.

Ein ungeheuerer Tiger machte wirklich diesen Ver-such; als er sich aber mit gewaltigem Sprunge erhob,fingen ihn die Ausläufer einer Baniane am Halse. DerHauptstamm, der sich unter der Wucht des Sturmesbog, zog dieselben an wie zwei lange Stricke, welchedas Thier erwürgten.

»Armer Kerl! sagte Fox bedauernd.– Diese Thiere, fuhr Kapitän Hod entrüstet fort, sind

dazu geschaffen, von einer ehrlichen Büchsenkugel er-legt zu werden. Ja, Du armer Teufel!«

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Wahrlich, Kapitän Hod hatte Pech! Als er Tiger such-te, fand er keinen, und als er sie sah, stürmten sie imFluge vorbei, ohne daß er auf sie schießen konnte, odererwürgten sich wie eine Maus im Drahte der Falle!

Um ein Uhr Morgens verdoppelte sich die Gefahrnoch, so groß sie auch schon gewesen war.

Unter dem unbeständigen Winde, der von allenRichtungen her wehte, hatte sich der Waldbrand so-gar schon vor uns ausgebreitet, und wir waren jetztvollständig eingeschlossen.

Das Gewitter hatte indessen an Heftigkeit abgenom-men, wie das stets geschieht, wenn solche Wetter übereinen großen Wald ziehen, wo die Bäume die Elektri-cität anziehen und nach und nach erschöpfen. Doch,wenn auch die Blitze seltener wurden und der Don-ner nur in Zwischenräumen ertönte, auch der Regenschwächer fiel, so sauste doch der Sturm noch mit glei-cher Gewalt über die Erde hin.

Jetzt mußte die Fahrt unseres Zuges unbedingt,selbst auf die Gefahr, gegen ein Hinderniß anzustoßenoder in einen Abgrund zu stürzen, so viel als möglichbeschleunigt werden.

Banks that das auch, und zwar mit erstaunlich kal-tem Blute, die Augen an den Linsen des Thürmchensund die Hand am Regulator, den er nie losließ.

Zwischen zwei Feuerspalieren lag unsere Straße of-fen. Es gab keine Wahl, wir mußten dazwischen hin-durch.

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Banks drang mit einer Geschwindigkeit von sechs bissieben Meilen in der Stunde hinein.

Ich glaubte schon unser Ende nahe, als wir auf dieStrecke von fünfzig Metern eine sehr enge Stelle zwi-schen den Flammen passiren mußten. Die Räder desZuges knirschten auf glühenden Kohlen, welche dieStraße bedeckten, und eine glühende Atmosphäre um-hüllte uns ganz und gar! . . .

Wir kamen glücklich hindurch!Endlich, um zwei Uhr Morgens, erschien der entge-

gengesetzte Waldessaum unter dem Scheine der schonsehr seltenen Blitze. Hinter uns breitete sich ein gren-zenloses Flammenmeer aus. Das Feuer erlosch gewißnicht eher, als es den ausgedehnten Wald bis zur letz-ten Baniane verzehrt hatte.

Mit Tagesanbruch machte unser Zug Halt; das Ge-witter hatte sich vollständig verzogen und wir richte-ten uns zu einer vorläufigen Rast ein. Unser Elephant,der nun sorgfältig untersucht wurde, zeigte an derSpitze des rechten Ohres einige Löcher, deren Rändernach innen umgebogen waren.

Gewiß wäre einem solchen Blitzschlage jedes andereThier als ein Elephant aus Stahl unterlegen, um sichnicht wieder zu erheben, und der Waldbrand würdeden ganzen Zug in kurzer Zeit vernichtet haben!

Um sechs Uhr Morgens ging die Fahrt nach kurzerRast weiter und gegen Mittag langten wir in der Nach-barschaft von Rewah an.

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13. KAPITÄN HOD’S HELDENTHATEN.

Die Hälfte des 5. Juni und die darauf folgende Nachtbrachten wir ruhig lagernd zu. Nach so viel Strapazenund ausgestandenen Gefahren that uns diese Erholungsehr noth.

Jetzt war es nicht mehr das Königreich Audh, dasseine reichen Ebenen vor uns entfaltete. Das Steam-House dampfte nun durch das zwar noch fruchtbare,aber von sogenannten »Nullas« oder tiefen Hohlwegendurchschnittene Gebiet von Rohilkande. Bareille ist dieHauptstadt dieses gewaltigen Vierecks von hundert-fünfundfünfzig Meilen Seite, das zahlreiche Neben-und Zuflüsse der Cogra bewässern und in dem sichda und dort Gruppen prächtiger Mangobäume nebeneinzelnen dichten Dschungeln erheben, welche vor derfortschreitenden Cultur zu verschwinden scheinen.

Hier lag nach der Einnahme von Delhi der Mittel-punkt der Empörung, gegen welche der eine FeldzugSir John Campbell’s gerichtet war; hier erzielte die Co-lonne des Brigadiers Walpole anfänglich keine glückli-chen Erfolge; endlich kam hier ein Freund Sir EdwardMunro’s, der Oberst des 93. Regimentes der Schott-länder, um, der sich am 14. April bei dem Sturme aufLaknau besonders ausgezeichnet hatte.

Abgesehen von dem ganzen Charakter der Land-schaft, konnte kein anderes Gebiet der Fahrt unseresZuges günstiger sein. Schöne, gut geebnete Straßen,leicht zu überschreitende Wasseradern zwischen den

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beiden von Norden herabfließenden Hauptarterien, Al-les wirkte zur Erleichterung unserer Reise günstig zu-sammen. Jetzt hatten wir nur noch wenige hundert Ki-lometer zurückzulegen, dann mußten sich schon dieersten Bodenwellen bemerkbar machen, welche dieEbene mit den Bergen von Nepal verknüpfen.

Freilich durfte die nun eingetretene Regenzeit nichtaußer Rechnung gelassen werden.

Der in den ersten Monaten des Jahres herrschendeNordost-Mousson hatte jetzt gewechselt. Die Regenzeitist an der Küste schlimmer als im Innern der Halbinselund tritt hier auch etwas verzögert auf, weil die Wol-ken sich schon zum Theile erschöpfen, bevor sie diemittleren Theile Indiens erreichen. Außerdem wird ih-re Richtung durch hohe Bergwände verändert, welcheeine Art atmosphärischen Wirbels erzeugen. So trittder Mousson-Wechsel an der Malabar-Küste schon An-fang Mai ein, in der Mitte der Central- und der Nord-provinzen macht er sich erst einige Wochen später, alsoim Juni, bemerkbar.

Wir waren jetzt im Juni, und unsere weitere Reisesollte nun unter jenen veränderten, aber wohl vorhergesehenen Verhältnissen vor sich gehen.

Unserem wackeren Goûmi, den der Blitz so jämmer-lich entwaffnet hatte, ging es vom folgenden Tage abbesser. Die linksseitige Lähmung des Beines erwies sichnur als vorübergehend. Er behielt davon nichts zurückals – einen Groll gegen das Feuer des Himmels.

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Im Laufe des 6. und 7. Juni hatte Hod mit HilfePhanns und Blacks mehr Jagdglück. Er erlegte ein Paarjener Antilopen, die man hierzulande »Nilgaus« nennt.Es sind das die blauen Ochsen der Hindus, die manrichtiger als Hirsche bezeichnen sollte, denn den letz-teren gleichen sie weit mehr als den Verwandten desGottes Apis. Auch sollte man sie eigentlich perlgraueHirsche nennen, denn ihre Farbe erinnert mehr an diedes wolkenbedeckten, als an die des azurblauen Him-mels. Man behauptet jedoch, daß einzelne Exempla-re dieser prächtigen Thiere mit spitzen, geraden Hör-nern und langem, wenig gebogenem Kopfe wirklich einblaues Fell hätten – eine Farbe, welche die Natur denVierfüßlern völlig verweigert zu haben scheint, selbstdem blauen Fuchse, dessen Fell vielmehr schwarz ist.

Wilde Thiere, von denen Kapitän Hod immer schwärm-te, waren das freilich noch nicht. Immerhin ist der Nil-gau ziemlich gefährlich, wenn er sich, leicht verwun-det, auf den Jäger stürzt. Eine erste Kugel vom Kapitänund eine zweite von Fox unterbrachen sofort den Laufder beiden schönen Thiere. Sie wurden gleichsam imFluge erlegt. Fox schätzte sie indeß nicht höher als Fe-derwild.

Monsieur Parazard vertrat dagegen eine andere An-sicht, und die auf der Stelle gebratenen Keulen, welcheer uns am nämlichen Tage auftischte, brachten auchuns auf seine Seite.

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Mit Tagesanbruch, am 8. Juni, verließen wir unserenHalteplatz, der unweit eines kleinen Dorfes von Rohil-kande lag und den wir am vergangenen Abend nacheiner Fahrt von vierzig Kilometern von Rewah aus er-reichten. Unser Zug hatte sich also auf den vom Regenmehr und mehr durchweichten Straßen nur mit sehrmäßiger Geschwindigkeit fortbewegt. Dazu begannendie Bäche anzuschwellen, und manchmal hielt uns ei-ne überschwemmte Strecke mehrere Stunden lang auf.Trotzdem blieben wir hinter unserem Programm kaumeinen bis zwei Tage zurück. Jedenfalls mußte die Berg-gegend, in der das Steam-House während einiger Som-mermonate wie in einem Sanatorium verbleiben soll-te, gegen Ende des Juni erreicht werden. Hier lag alsokein Grund zur Beunruhigung vor.

An jenem 8. Juni entging dem Kapitän Hod ein rechtinteressanter Büchsenschuß.

Neben unserem Wege verliefen dichte Bambus-Dschungeln, wie das in der Nähe von Dörfern, wel-che wie in einem Blumenkorb gebaut scheinen, öftervorkommt. Es waren das noch nicht die eigentlichenDschungeln im Sinne der Hindus, welche die nackteunfruchtbare Ebene begrenzen, über die das aschgraueBuschwerk emporragte. Noch befanden wir uns in an-gebautem Lande und fruchtbarem Gebiete, das meistvon sumpfigen Reisplantagen eingenommen wurde.

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Von Storr’s Hand geleitet, trabte der Stahlriese ruhigdahin und stieß seine sauberen Dampfwölkchen aus,die er unter die Bambus der Straße verstreute.

Plötzlich sprang ein Thier mit überraschender Ge-wandtheit auf und stürzte sich unserem Elephanten anden Hals.

»Ein Tchita! Ein Tchita!« rief der Mechaniker.Sofort eilte Kapitän Hod nach dem vorderen Balkon

und ergriff die Büchse, die er immer gleich bei derHand hatte.

»Ein Tchita! rief er nun auch selbst.– So schießen Sie ihn doch! drängte ich.– Ich habe ja noch Zeit!« antwortete Kapitän Hod,

der sich begnügte, auf das Thier im Anschlag zu liegen.Der Tchita bildet eine in Indien eigenthümliche Art

von Leoparden, die nicht ganz so groß wie der Tiger,doch der Gewandtheit und der Kräfte ihrer Glieder we-gen nicht minder furchtbar sind.

Oberst Munro, Banks und ich standen auf der Veran-da und warteten auf den Schuß des Kapitäns.

Offenbar hatte sich der Leopard beim Anblick unse-res Elephanten getäuscht; da, wo er lebendes Fleischzu finden hoffte, in das er seine Zähne und Kralleneinschlagen konnte, fand er eine Haut von Stahl, dieseinen Angriffen trotzte. Wüthend über die Enttäu-schung, klammerte er sich an die Ohren des falschenThieres und wollte sich von demselben offenbar schonwegwenden, als er unserer ansichtig wurde.

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Kapitän Hod hielt noch immer den Gewehrlauf aufjenen gerichtet, wie ein seines Schusses sicherer Jäger,der seine Beute im richtigen Augenblick und an derrechten Stelle treffen will.

Knurrend richtete der Tchita sich auf. Jedenfallsfühlte er die Gefahr, wollte aber nicht entfliehen. Viel-leicht erwartete er nur den richtigen Augenblick, umauf die Veranda zu stürzen.

Er kletterte wirklich auf den Kopf des Elephanten,dessen als Rauchfang dienenden Rüssel er mit denPranken umschlang, und stieg dann bis zum Ende des-selben hinauf, aus dem der Dampf hervordrang.

»So schießen Sie doch, Hod! mahnte ich noch ein-mal.

– Dazu habe ich ja noch Zeit!« antwortete der Kapi-tän.

Dann wandte er sich, ohne den Leoparden, der unsanglotzte, aus den Augen zu lassen, an mich.

»Sie haben wohl noch niemals einen Tchita geschos-sen, Maucler? fragte er.

– Niemals.– Wollen Sie einen erlegen?– Kapitän, gab ich zur Antwort, ich will Ihnen nicht

diesen herrlichen Schuß rauben . . .– Pah! stieß Hod hervor, das ist kein Schuß für einen

Jäger! Nehmen Sie eine Büchse. Zielen Sie der Bestienach der Schulter. Wenn Sie fehlen, schieße ich sie imFluge!

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– Meinetwegen!«Fox, der inzwischen herbeigekommen war, reichte

mir eine Doppelflinte, die er in der Hand hielt. Ich er-griff dieselbe, spannte den Hahn, zielte nach der Schul-ter des Leoparden und gab Feuer.

Getroffen, aber offenbar nur leicht verwundet, mach-te das Thier einen gewaltigen Sprung über das Thürm-chen des Mechanikers hinweg und fiel auf dem erstenDache des Steam-Houses nieder.

Ein so guter Schütze Kapitän Hod auch war, so hätteer jetzt doch nicht auf das Thier schießen können.

»Hierher, Fox! Mitkommen!« rief er.Beide verließen die Veranda und nahmen in dem

Thürmchen Platz.Der Leopard begab sich nach dem Dache des zweiten

Hauses, wobei er die Verbindungsbrücke leicht über-sprang.

Eben als der Kapitän feuern wollte, sprang das Thierzur Erde hinab, erhob sich stolz und verschwand in derDschungel.

»Stopp! Stopp!« rief Banks laut dem Mechaniker zu,der den Dampf absperrte und die Räder durch die Luft-bremse sofort zum Stillstande brachte.

Der Kapitän und Fox sprangen auf die Straße hinabund eilten in das Dickicht, um den Tchita womöglicheinzuholen.

— 236 —

Einige Minuten verstrichen. Wir lauschten nicht oh-ne einige Ungeduld. Vergebens. Kein Schuß krachte.Die beiden Jäger kamen mit leeren Händen zurück

»Verschwunden! Entwischt! meldete Kapitän Hod.Und nicht einmal eine Blutspur im Grase.

– Das ist mein Fehler! sagte ich zum Kapitän. Siehätten den Tchita an meiner Statt schießen sollen, Siewürden ihn nicht gefehlt haben!

– Mag sein, doch Sie haben auch getroffen, meinteHod, das weiß ich, vielleicht nur nicht an der richtigenStelle!

– Das war also weder mein achtunddreißigster, nochIhr vierzigster, Herr Kapitän! sagte Fox sehr kleinlaut.

– Ei was, entgegnete Hod mit etwas erheuchelterGleichgiltigkeit, ein Tchita ist kein Tiger! Sonst, HerrMaucler, hätte ich es nicht über mich gebracht, Ihnenden Schuß abzutreten.

– Zu Tisch, meine Herren, fiel da Oberst Munro ein.Das Frühstück erwartet uns und wird Sie trösten . . .

– Um so eher, setzte Mac Neil hinzu, da nur Fox anallem Unglück schuld ist.

– Ich? erwiderte der Diener, dem diese Anschuldi-gung sehr unerwartet erschien.

– Gewiß, Fox, fuhr der Sergeant fort, das Gewehr,das Du Herrn Maucler gegeben hast, war ja nur mitHühnerschrot geladen!«

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Mac Neil zeigte dabei die andere Patrone vor, die eraus der Waffe, die ich benutzt, herausgenommen hatte.Sie enthielt wirklich nur kleinkörniges Schrot.

»Fox! begann der Kapitän.– Herr Kapitän!– Zwei Tage Stubenarrest!– Zu Befehl, Herr Kapitän!«Fox begab sich nach seiner Cabine, mit dem Vor-

satze, sich achtundvierzig Stunden über nicht wiederblicken zu lassen. Er schämte sich seines Fehlers undwollte seine Schande verbergen.

Am nächsten Tage, am 9. Juni, durchstreiften wir,Hod, Goûmi und ich, die Ebene längs der Straße wäh-rend der halbtägigen Rast, welche Banks zugestandenhatte. Der ganze Morgen war regnerisch gewesen, ge-gen Mittag heiterte sich der Himmel indeß ein wenigauf und ließ auf einige Stunden bessere Witterung hof-fen. Hod zog diesmal übrigens nicht als Raubthierjäger,sondern als Jäger auf eßbares Wild hinaus. Im Inter-esse der Küche sollten wir in Gesellschaft Blacks undPhanns ruhig am Rande der Reisfelder hinwandern.Monsieur Parazard hatte dem Kapitän gemeldet, daßdie Speisekammer leer sei, und daß er von seiner Ehr-würden erwarte, »Se. Ehrwürden werde die geeignetenMaßregeln ergreifen«, dieselbe wieder zu füllen.

Kapitän Hod gab nach, und wir brachen, mit einfa-chen Jagdflinten ausgerüstet, auf. Zwei Stunden langerzielten wir keinen anderen Erfolg, als daß wir einige

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Rebhühner und Hasen aufjagten, immer aber in sol-cher Entfernung, daß gar nicht daran zu denken war,sie zu erlangen.

Kapitän Hod verlor bald alle gute Laune. Inmittendieser ausgedehnten Ebene ohne Dschungeln und Ge-büsch, dagegen mit vielen Dörfern und Farmen, konn-te er ja kaum erwarten, ein Raubthier zu treffen, dasihn für den gestern entwischten Leoparden entschä-digt hätte. Er spielte ja nur die Rolle eines Lieferantenund dachte über den bevorstehenden Empfang seitensMonsieur Parazard’s nach, wenn er mit leerer Jagd-tasche heimkehrte. An uns lag die Schuld übrigensnicht. Um vier Uhr hatten wir noch niemals Gelegen-heit gefunden, ein Gewehr abzufeuern. Es wehte eintrockener Wind und alles Wild erhob sich, wie gesagt,außer Schußweite.

»Lieber Freund, redete Kapitän Hod mich da an, sokann’s entschieden nicht weiter gehen! Als wir Calcut-ta verließen, habe ich Ihnen die schönsten Jagdzügeversprochen, und nun hindert mich ein Unglück ohneGleichen, ein ewiges Pech, das ich nicht begreife, meinVersprechen zu erfüllen.

– Ach, bester Kapitän, antwortete ich, nur nicht vor-zeitig verzweifeln. Wenn ich dieses Malheur bedauere,so geschieht das weniger um meinet- als um Ihretwil-len! . . . Wir werden das Versäumte in den Bergen vonNepal wieder einholen.

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– Ja dort, bestätigte Kapitän Hod, auf den erstenAbhängen des Himalaya liegen die Verhältnisse gün-stiger. Sehen Sie, Maucler, ich möchte darauf wetten,daß unser Zug mit Allem, was dazu gehört, das Zischendes Dampfes und vorzüglich der riesenhafte Elephantselbst, die Raubthiere erschreckt, vielleicht noch mehrals eine Eisenbahn, und das wird immer der Fall sein,so lange er in Bewegung bleibt. Liegen wir erst ruhig,so dürfen wir hoffen, glücklicher zu sein. Wahrhaftig,jener Leopard war ein Narr! Er mußte wohl dem Hun-gertode nahe sein, daß er sich auf unseren Stahlriesenstürzte, und verdiente wahrlich mit einer hübschen Ku-gel begrüßt zu werden. Der verteufelte Fox! Ich werdeihm nie vergessen, was er da angerichtet hat! – Um wieviel Uhr ist es jetzt?

– Bald um fünf Uhr.– Schon um Fünf und wir haben noch keine Patrone

verplatzt?– Vor sieben Uhr erwartet man uns nicht zurück.

Vielleicht glückt es noch bis dahin . . .– Nein, das Glück ist einmal gegen uns, versetzte Ka-

pitän Hod, und glauben Sie, das Glück ist der halbeErfolg.

– Die Ausdauer aber nicht minder, antwortete ich.Nehmen wir uns vor, nicht mit leeren Händen heimzu-kehren. Ist’s Ihnen recht, Kapitän?

– Ob mir das recht ist! entgegnete Hod. Tod Allem,was sich blicken läßt!

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– Einverstanden!– Maucler, ich bringe lieber einen Maulesel oder ein

Eichhörnchen mit, als daß ich als Schneider nach Hau-se gehe!«

Kapitän Hod, Goûmi und ich, wir befanden uns inder Gemüthsstimmung, wo uns Alles gute Beute schi-en. Die Jagd wurde also mit einem, einer besseren Sa-che würdigen Eifer fortgesetzt; doch auch die unschul-digsten Vögel mußten unsere Absicht errathen haben,denn es ließ sich keine Feder sehen.

So durchstreiften wir die Reisfelder, bald auf dereinen, bald auf der anderen Seite der Straße, und kehr-ten wieder zurück, um uns nicht zu weit vom Halte-platz zu entfernen. Verlorene Mühe! Noch um ein halbsieben Uhr waren unsere Patronen intact. Wenn wirmit einem Spazierstocke in der Hand ausgegangen wä-ren, hätten wir genau dasselbe erzielt.

Ich sah den Kapitän an. Er ging mit aufeinander ge-bissenen Zähnen dahin. Eine zwischen den Augenbrau-en verlaufende lange und tiefe Furche der Stirn ver-rieth seinen stummen Groll. Er murmelte etwas zwi-schen den gepreßten Lippen und bedrohte alles Feder-und Pelzvieh, von dem sich noch kein einziges Exem-plar zeigte, mit dem Tode. Allem Anschein nach hätteer seine Flinte auf jeden beliebigen Gegenstand, aufeinen Felsen oder einen Baum, abgefeuert – eine be-kannte Jägermanier, um dem Zorne Luft zu machen.Das Gewehr brannte ihm in den Händen, das sah man

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deutlich. Er warf es einmal in den Arm, trug es dannam Riemen oder schulterte damit, scheinbar ganz wi-der Willen.

Goûmi betrachtete ihn verwundert.»Der Kapitän wird noch ganz rasend, wenn das so

fortgeht, sagte er kopfschüttelnd.– Gewiß, ich gäbe gern dreißig Schillinge für die sim-

pelste Haustaube, die eine barmherzige Hand ihm inden Weg triebe. Das würde ihn beruhigen!«

Doch nicht für dreißig Schillinge, nicht für den dop-pelten oder dreifachen Preis hätte man sich hier dasbilligste und gewöhnlichste Stück Jagdwild verschaf-fen können. Das Feld ringsum war menschenleer undwir erblickten weder eine Farm noch ein Dorf.

Wahrlich, wenn es möglich gewesen wäre, hätte ichGoûmi weggeschickt, um jeden Preis ein Stück Geflü-gel zu kaufen, und wenn es ein gerupftes Huhn war,um es als Sühnopfer unserem unwilligen Kapitän dar-bieten zu lassen.

Jetzt kam die Nacht allmählich heran. Nach einerStunde war es nicht mehr hell genug, unsere nutzloseExpedition noch länger fortzusetzen. Obwohl wir über-eingekommen waren, nicht mit leerer Jagdtasche nachdem Halteplatz zurückzukehren, so schien uns dochnichts Anderes übrig zu bleiben, wenn wir nicht dieNacht unter freiem Himmel zubringen wollten. Doch

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ohne Rücksicht darauf, daß für die Nacht Regen droh-te, so wären Oberst Munro und Banks über unser Aus-bleiben gewiß unruhig geworden, was ihnen doch er-spart bleiben mußte.

Mit weit aufgerissenen Augen warf Kapitän Hod denBlick von der Rechten zur Linken und von der Linkenzur Rechten mit der Schnelligkeit eines Vogels, undging immer zehn Schritte voraus, doch in einer Rich-tung, die uns dem Steam-House nicht gerade näherbrachte.

Ich beeilte meine Schritte, um ihn einzuholen, undihn endlich zum Aufgeben dieser vergeblichen Versu-che zu veranlassen, als ich zu meiner Rechten ein star-kes Rauschen von Flügeln hörte. Ich blickte auf.

Eine schillernde Masse erhob sich langsam in einemDickicht.

Ohne Kapitän Hod Zeit zu lassen, sich umzukehren,schlug ich an, und die beiden Schüsse der Flinte krach-ten.

Langsam fiel ein mir unbekannter Vogel am Randedes Reisfeldes nieder.

Phann sprang darauf zu und brachte dem Kapitändie Beute.

»Endlich, rief Hod, wenn Monsieur Parazard nunnicht zufrieden gestellt ist, mag er selbst, mit demKopfe voraus, in seinen Kochtopf springen.

– Sind das aber auch eßbare Vögel, auf die ich ge-schossen habe?

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– Natürlich . . . , wenigstens, wenn man keine ande-ren hat! meinte der Kapitän.

– Zum Glück hat Sie Niemand gesehen, Herr Maucler!bemerkte da Goûmi.

– Zum Glück? . . . Was habe ich denn verbrochen?– Ei, Sie haben einen Pfau getödtet, das ist verboten,

da der Pfau ein in ganz Indien geheiligter Vogel ist.– Der Kukuk hole alle heiligen Vögel und Die, welche

sie heilig sprechen, rief Kapitän Hod. Der hier ist nuneinmal geschossen und wird verspeist werden, mei-netwegen mit aller Ehrfurcht, aber gegessen wird erdoch!«

In der That, ist der Pfau schon seit dem Zuge Alex-ander’s, zu welcher Zeit er sich in Indien verbreitete,überall im Lande der Brahmanen geheiligt. Die Hindusbetrachten ihn als Symbol der Göttin Saravasti, der Be-schützerin der Geburt und Ehe. Auf die Tödtung diesesVogels sind schwere, auch vom englischen Gesetz an-erkannte Strafen gesetzt.

Das Exemplar aus der Hühnerfamilie, das KapitänHod so sehr erfreute, war mit seinen grünen, metal-lisch glänzenden Flügeln, welche ein Goldrand um-gab, wirklich prächtig anzusehen. Der wohlausgebil-dete Schweif erschien wie ein Fächer aus feinstem Sei-denhaar.

»Nun vorwärts, drängte der Kapitän. Morgen wirdMonsieur Parazard uns Pfauenbraten vorsetzen, wasauch alle Brahmanen Indiens dazu sagen mögen. Wenn

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der Pfau an und für sich nichts Anderes als ein an-spruchsvolles Huhn ist, so werden doch die künstle-risch angeordneten Federn von diesem hier uns einenhübschen Tafelschmuck liefern.

– Sind Sie nun zufrieden, Herr Kapitän?– Mit Ihnen, lieber Freund, gewiß; mit mir leider

nicht. Mein Pech ist noch nicht vorüber, ich werde dasalso noch abwarten müssen. Nun vorwärts!«

Wir schlugen die Richtung nach dem Lagerplatz ein,von dem wir gegen drei Meilen entfernt sein mochten.Auf dem Wege, der sich durch die vielen Krümmun-gen der dichten Bambus-Dschungeln wand, gingen wir,Kapitän Hod und ich, nebeneinander. Goûmi, der dieJagdbeute trug, kam wenige Schritte hinter uns. Nochwar die Sonne nicht verschwunden, aber durch großeWolken verschleiert, so daß man den Weg im Halbdun-kel nur mühsam erkannte.

Plötzlich ertönte aus dem Dickicht neben uns ein ge-waltiges Brüllen. Mir erschien es so entsetzlich, daß ichwider Willen auf der Stelle stehen blieb.

Kapitän Hod ergriff meine Hand.»Ein Tiger!« sagte er.Dann kam ein Fluch über seine Lippen.»Alle Donnerwetter Indiens! rief er, nun haben wir

blos Hühnerschrot in den Flinten!«Das war leider nur zu richtig, denn wir Alle besaßen

keine einzige Kugelpatrone.

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Uebrigens würden wir kaum Zeit gehabt haben, dieGewehre damit zu laden. Schon zehn Secunden nachdem Gebrüll erschien das Thier vor dem Dickicht undstand mit einem einzigen Sprung zwanzig Schritte voruns auf der Straße.

Es war ein prächtiger Tiger von der Art, welchen dieHindus »Eater men« (Menschenfresser) nennen, undderen Wuth jährlich noch Hunderte zum Opfer fallen.

Unsere Lage war schrecklich.Ich sah den Tiger an, ich verschlang ihn mit den Au-

gen, und ich gestehe, daß mir die Flinte in den Händenzitterte. Jener maß etwa zehn Fuß in der Länge undhatte ein orangefarbenes Fell mit abwechselnd weißenund schwarzen Streifen.

Er beobachtete uns ebenfalls. Sein Katzenauge leuch-tete durch das Halbdunkel und mit dem Schweifepeitschte er den Boden. Er duckte und erhob sich wie-der wie zum Sprunge.

Hod bewahrte seine gewöhnliche Kaltblütigkeit. Erhielt das Gewehr auf das Thier angelegt und murmeltenur mit einem gar nicht wieder zu gebenden Ausdruck:

»Schrot Numero sechs! Einen Tiger mit Hühner-schrot zu schießen! Wenn ich ihn nicht in beide Augentreffe, sind wir . . . «

Er kam nicht dazu den Satz zu vollenden. Der Ti-ger näherte sich, nicht in Sprüngen, sondern schlei-chenden Schrittes. Goûmi, der hinter uns kauerte, ziel-te ebenfalls auf denselben, seine Flinte enthielt aber

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nur Vogeldunst. Die meinige war gar nicht geladen. Ichwollte eine Patrone aus der Tasche holen.

»Nicht rühren! flüsterte mir der Kapitän zu; der Tigerwürde springen, und dazu darf es nicht kommen!«

Wir verhielten uns also alle Drei stumm und still.Langsam kam der Tiger heran. Den Kopf, den er

früher bewegte, hielt er jetzt völlig still. Seine Augenstarrten voraus, doch scheinbar mehr nach unten. Mitdem weit offenen Rachen, den er nahe der Erde hielt,schien er deren Ausdünstung aufzusaugen.

Bald stand das furchtbare Thier kaum noch zehnSchritte vom Kapitän entfernt.

Fest auf den Füßen und unbeweglich wie eine Sta-tue, concentrirte Hod seine ganze Lebenskraft in denAugen. Der bevorstehende grauenhafte Kampf, dessenAusgang Niemand vorhersagen konnte, machte ihm si-cher kaum das Herz schneller schlagen.

In diesem Augenblicke glaubte ich, der Tiger werdeauf uns zuspringen.

Er machte noch fünf Schritte. Ich mußte mich starkbezwingen, um nicht dem Kapitän zuzurufen:

»So schießen Sie doch! Schießen Sie!«Doch nein, der Kapitän hatte es gesagt – und das war

wohl auch unser einziges Rettungsmittel – er wolltedem Thier die Augen verbrennen; dazu mußte er esjedoch sehr nahe haben.

Der Tiger machte noch drei Schritte und erhob sichzum Sprunge . . .

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Da ertönte ein gewaltiger Krach, dem fast augen-blicklich ein zweiter Knall folgte.

Die zweite Detonation kam aus dem Leibe des Thie-res selbst her, das nach einigem Zucken und Schmerz-gebrüll todt niedersank.

»Wunder über Wunder! rief Kapitän Hod. Mein Ge-wehr ist also mit einer Kugel, und noch dazu mit einerexplodirenden, geladen! O, dieses Mal danke ich Dir,Fox!

– Ist es möglich?– Da, sehen Sie selbst!«Kapitän Hod schlug die Flintenläufe zurück und hol-

te aus dem linken die Patrone heraus.Das war eine Kugelpatrone.Jetzt erklärte sich Alles.Kapitän Hod besaß eine Doppelbüchse und eine

Doppelflinte, beide von demselben Kaliber. Aus Irr-thum hatte Fox gleichzeitig die Büchse mit Jagdpatro-nen und die Flinte mit Explosionskugel-Patronen gela-den. Wenn dieser Mißgriff gestern Abend dem Leopar-den das Leben gerettet hatte, so rettete er heute dasunsere.

»Ja wohl, sagte der Kapitän Hod, als ich das aus-sprach, und so nahe dem Tode bin ich fast noch niegewesen!«

Eine halbe Stunde später waren wir am Halteplatzzurück. Hod ließ Fox rufen und berichtete das erlebteAbenteuer.

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»Herr Kapitän, erwiderte der Diener, daraus gehthervor, daß ich vier Tage Arrest verdiene, da ich michzweimal geirrt habe!

– Das mein’ ich auch, antwortete Hod, doch da mirDein Irrthum den einundvierzigsten eingebracht hat,so ist es meine Absicht, Dir diese Guinee dafür anzu-bieten . . .

– Und die meinige, dieselbe anzunehmen!« fiel Foxein, der das Goldstück in der Tasche verschwindenließ.

So verlief also das erste Zusammentreffen des Kapi-tän Hod mit seinem einundvierzigsten Tiger.

Am Abend des 12. Juni hielten wir nahe einem un-bedeutenden Flecken und fuhren am nächsten Mor-gen wieder weiter, um die hundertfünfzig Kilometerzurückzulegen, die uns noch von den Bergen Nepalstrennten.

14. EINER GEGEN DREI.

Noch wenige Tage, und wir gelangten zu den erstenAbhängen jener nördlichen Gebiete Indiens, die sichvon Stufe zu Stufe, Hügel auf Hügel, Berg auf Berg biszu den höchsten Spitzen der Erdkugel aufthürmen. Bis-her zeigte der Boden eine leichte Unebenheit und eineso allmähliche Steigung, daß unser Stahlriese diese garnicht zu bemerken schien.

Das Wetter blieb stürmisch, vorzüglich regnerisch,die Temperatur aber hielt sich in erträglichen Grenzen.

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Die Wege waren noch nicht schlecht, und die breitenRadkränze der Räder unseres Zuges rollten trotz des-sen hohen Gewichtes bequem darüber hin. Zeigte sichirgendwo eine gar zu tiefe Spur, so genügte ein leichterDruck von Banks’ Hand auf den Regulator, durch dener etwas mehr von dem gehorsamen Fluidum zuströ-men ließ, zur Bewältigung des Hindernisses. An Kraftfehlte es unserer Maschine ja bekanntlich nicht, undeine Vierteldrehung des Einlaßventils vermehrte ihreStärke sofort um mehrere Dutzend Pferdekräfte.

Bis jetzt hatten wir in der That, sowohl die Art derFortbewegung als auch den von Banks gewählten Mo-tor nur zu loben, ebenso wie den Comfort unserer rol-lenden Häuser, vor denen immer ein neuer Horizontaufstieg, der sich vor unseren Augen veränderte.

Allmählich verschwand die grenzenlose Ebene, diesich vom Gangesthale aus bis nach den Gebieten vonAudh und Rohilkande hin erstreckt. Im Norden bilde-ten die Riesengipfel des Himalaya einen Rahmen, ge-gen den die vom Südwestwind getriebenen Wolken an-zukämpfen schienen. Noch vermochten wir zwar daspittoreske Profil jener Bergkette, die sich bis zur mitt-leren Höhe von achttausend Metern über das Meer er-hebt, nicht zu erkennen; mit der Annäherung an diethibetanische Grenze wurde das Land aber nach undnach wilder und an Stelle der cultivirten Felder bedeck-ten nun dichte Dschungeln die Erde.

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Auch die Flora dieses Theiles des Hindugebietesgewann einen anderen Charakter. Schon waren diePalmen verschwunden, um prächtigen Banianen unddichtbelaubten Mangobäumen, welche die schönsteFrucht in ganz Indien liefern, Platz zu machen, undvor Allem den Bambusgruppen, deren Stengel sich gar-benartig verbreitet bis hundert Fuß über den Erdbodenerheben. Hier traten auch Magnolien auf, die mit ih-ren großen Blumen die Luft mit erquickendem Wohl-geruche erfüllten, herrliche Ahornbäume, verschiede-ne Arten von Eichen, Maronenbäume mit ihren gleichden Seeigeln spitzenbesäeten Früchten, Gummibäume,deren Milchsaft aus den geöffneten Gefäßen ström-te, großblättrige Pinien aus der Gattung der Pandane-en und daneben, zwar bescheidener an Wuchs, aberleuchtender an Farbe, Geraniums, Rhododendrons undLorbeerbäume, welche gleich einem Gartenbeete dieStraße einfaßten.

Noch zeigten sich da und dort ein Dorf mit Stroh-oder Bambushütten, zwei bis drei inmitten größererBäume versteckte Farmen, aber schon durch meilen-weite Zwischenräume von einander getrennt. Auch dieBevölkerung nahm mit der Annäherung an das Hoch-land merkbar ab. Ein grauer, dunstiger Himmel bildeteden Hintergrund des ausgedehnten Landschaftsbildes,und fast unausgesetzt strömte ein heftiger Regen her-ab. Während der vier Tage vom 13. bis 17. Juni ver-schonte er uns kaum einen halben Tag. Wir mußten

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uns also im Salon des Steam-Houses aufhalten und dielangen Stunden hinwegzutäuschen suchen, wie mandas rauchend, plaudernd und Whist spielend in jederfesten Wohnung zu thun pflegt.

Während dieser Zeit hatten auch die Gewehre, zumAerger des Kapitän Hod, vollkommen Ruhe; zwei»Schlems« aber, die er an einem Abend machte, gabenihm den verlorenen Humor wieder.

»Man kann wohl jeden Tag einen Tiger erlegen, sag-te er, aber nicht jeden Tag einen »Schlem« machen!

Gegen diese so richtige und klar formulirte Behaup-tung ließ sich füglich nichts einwenden.

Am 17. Juni errichteten wir unser Lager nahe einemSeraï, wie man die speciell für die Reisenden bestimm-ten Bungalows bezeichnet. Das Wetter hatte sich einwenig gebessert, und der Stahlriese, der im Laufe dervier letzten Tage hart gearbeitet hatte, bedurfte, wennauch nicht der Ruhe, doch einiger Pflege. Wir kamenalso überein, einen halben Tag und die folgende Nachtan dieser Stelle zu verbringen.

Der Seraï ist die Karawanserei, das öffentliche Gast-haus an den Straßen Indiens, ein Viereck niedrigerGebäude, welche einen Hof umschließen und derenEcken meist vier Thürmchen überragen, was dem Gan-zen einen völlig orientalischen Charakter verleiht. Indiesen Seraïs fungirt ein ausschließlich für den Dienstin denselben bestimmtes Personal, der »Bhisti« oder

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Wasserträger, der Koch, die Vorsehung der anspruchs-losen Reisenden, welche sich mit Eiern und jungenHühnchen zu begnügen wissen, und der »Khansama«,das heißt der Lebensmittel-Lieferant, mit dem man un-mittelbar und meist zu sehr niedrigen Preisen ein Ab-kommen trifft.

Der Wächter des Seraï, der »Peon«, ist ein einfacherAgent der ehrenwerthen Compagnie, welcher fast al-le diese Etablissements gehören und die sie durch denChef-Ingenieur des Bezirks beaufsichtigen läßt.

Eine merkwürdige, aber in aller Strenge erhalteneVorschrift in diesen Herbergen lautet dahin, daß je-der Reisende den Seraï vierundzwanzig Stunden langbenutzen darf; für einen längeren Aufenthalt daselbstbraucht er die Erlaubniß des Inspectors. In Ermange-lung einer solchen kann der erste Beste, Engländeroder Hindu, verlangen, daß er ihm seinen Platz räu-me.

Selbstverständlich brachte unser Stahlriese, sobaldwir Halt gemacht hatten, seine gewöhnliche Wirkunghervor, das heißt er wurde angestaunt, vielleicht mitneidischen Augen betrachtet. Ich muß indeß erwäh-nen, daß die dermaligen Bewohner des Seraï densel-ben mit einer Art Verachtung betrachteten – eine Ver-achtung jedoch, die viel zu gemacht erschien, um wahrsein zu können.

Freilich hatten wir es nicht mit gewöhnlichen Sterb-lichen zu thun, die in Geschäften oder zum Vergnügen

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reisten; auch nicht mit einem englischen Officier, dersich nach den Cantonnements an der Grenze von Ne-pal begab, noch mit einem Hindu-Kaufmann, der seineKarawane nach den Steppen von Afghanistan, jenseitsLahore und Peschawar, führte.

Es rastete hier nämlich kein Geringerer als der PrinzGourou Singh in höchst eigener Person, der Sohn einesunabhängigen Rajah, der mit großem Pomp durch dasnördliche Indien reiste.

Dieser Fürst nahm allein die drei oder vier Säle desSeraï ein, sogar alle Zugänge und Nebenräumlichkei-ten, welche für die Leute seines Gefolges eingerichtetworden waren.

Ich hatte noch keinen Rajah auf Reisen gesehen.Gleich nachdem wir uns, eine Viertelmeile von demSeraï, an einer reizenden Stelle neben einem kleinenWasserlaufe unter dem Schutze prächtiger Pandaneeneingerichtet hatten, ging ich also, in Begleitung Banks’und des Kapitän Hod aus, um das Lager des PrinzenGourou Singh in Augenschein zu nehmen.

Der Sohn eines Rajah, der eine Ortsveränderung vor-nimmt, thut das natürlich nicht allein. Wenn ich irgendJemand nicht beneide, so sind es Diejenigen, welchekeinen Fuß bewegen können, ohne gleichzeitig mehre-re hundert Menschen in Bewegung zu bringen! Wahr-lich, es ist doch besser, ein einfacher Fußgänger zu seinmit dem Quersack auf dem Rücken, den Stock in der

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Hand und die Flinte im Arme, als ein in Indien reisen-der Prinz mit all’ dem Ceremoniell, das sein Rang ihmauferlegt.

»Da reist nicht ein einzelner Mann von einer Stadtzur anderen, meinte Banks, sondern es wechselt einganzer Flecken seine geographischen Coordinaten!

– Ich lobe mir das Steam-House, erwiderte ich, undich möchte nicht mit jenem Rajahsohne tauschen!

– Wer weiß, bemerkte Kapitän Hod, ob dieser Fürstnicht selbst unser rollendes Haus seinem schwerfälli-gen Reise-Apparat vorzöge?

– Er braucht nur ein Wort zu sagen, rief Banks, undich baue ihm einen vollständigen Dampfpalast, wenner die Kosten tragen will. Doch in Erwartung seinesAuftrages wollen wir uns einstweilen, wenn sich’s derMühe lohnt, das Lager ein wenig ansehen!«

Das Gefolge des Prinzen bestand aus nicht wenigerals fünfhundert Personen. Unter großen Bäumen derUmgebung des Seraï waren gegen zweihundert Wa-gen, symmetrisch wie die Zelte eines Feldlagers, auf-gestellt, für welche theils Zebus, theils Büffel als Zugt-hiere dienten, während drei große Elephanten reichge-schmückte Palankins auf dem Rücken trugen; danebenfanden sich auch noch gegen zwanzig, aus den Län-dern westlich des Indus herstammende Kameele. DerKarawane fehlte wirklich nichts, weder Musiker, wel-che die Ohren Seiner Hoheit ergötzten, und Bajade-ren, die seine Augen entzückten, noch Künstler, um die

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Stunden der Muße zu verkürzen. Dreihundert Trägerund zweihundert Hellebardiere vervollständigten die-ses große Personal, dessen Sold jede andere Börse alsdie eines unabhängigen indischen Rajah erschöpft hät-te.

Die Musiker, Tamburin-, Cymbal- und Tamtam-Spieler, gehörten theils der Sippe an, welche den Lär-men an Stelle der Töne setzt, theils kratzten sie aufGuitarren und viersaitigen Geigen, welche offenbarkaum jemals richtig gestimmt gewesen waren.

Unter den Künstlern befanden sich einige »Sapwal-lahs« oder Schlangenbändiger, welche die Reptiliendurch ihre Beschwörungen anlocken oder vertreiben;ferner »Slutuis«, sehr geschickt in Uebungen mit demSäbel; Akrobaten, die mit einer Pyramide von irde-nen Gefäßen auf dem Kopfe und Büffelhörnern anden Füßen auf schlaffem Seile tanzen, und endlich Ta-schenspieler, welche nach Belieben des Zuschauers al-te Schlangenhäute in giftige »Cobras« oder umgekehrtverwandeln.

Die Bajaderen gehörten zu der Classe jener hüb-schen, »Boundelis«, die für »Nautchs« oder Abendge-sellschaften so gesucht sind, wo sie die doppelte Rol-le der Sängerinnen und Tänzerinnen vertreten. DieseBallerinen gingen sehr prächtig gekleidet, die Einenin goldgesticktem Mousselin, die anderen in faltigenRöcken mit Schärpen, die sie bei ihren graziösen Bewe-gungen ausspannten, und Alle waren geschmückt mit

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reichen Kostbarkeiten, prächtigen Spangen an den Ar-men, mit goldenen Ringen an den Fingern und Zehen,und silbernen Schellen an den Knöcheln. So aufge-putzt, führten sie den berühmten Eiertanz mitaußeror-dentlicher Grazie und Gewandtheit aus, und ich hofftestark, Gelegenheit zu erhalten, Jene auf besondere Ein-ladung des Rajah einmal bewundern zu können.

Außerdem figurirten, ich weiß nicht unter welchemTitel, noch eine Anzahl Männer, Frauen und Kinder un-ter dem Personal der Karawane. Die Männer gingen inlange Streifen Stoff gehüllt, den man »Dhoti« nannte,oder waren mit einer Art Hemd, der, Angarkah«, undlangem, weißem Rocke, der »Jamah«, bekleidet, wasihnen ein sehr bizarres Aussehen verlieh. Die Frauentrugen den »Choli«, etwa eine Jacke mit kurzen Aer-meln, und den »Sari«, entsprechend dem Dhoti derMänner, den sie um die Hüften schlangen und dessenEnde sie kokett rückwärts über den Kopf warfen.

Träge unter den Bäumen ausgestreckt liegend, er-warteten diese Hindus die Stunde der Mahlzeiten undrauchten inzwischen in ein grünes Blatt gewickelte Ci-garretten oder den »Gargouli«, in dem der »Gurago«,eine schwärzliche Mischung aus Tabak, Melasse undOpium, eingeäschert wird. Andere kauten das bekann-te Gemisch aus Betelblättern, Arecanuß und gelösch-tem Kalk, das der Verdauung förderlich sein soll, eineEigenschaft von großem Werthe in dem brennenden

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Klima Indiens. Gewöhnt an den Aufenthalt in Karawa-nen, lebten Alle im besten Einvernehmen und legtennur zur Zeit eines Festes die gewohnte Ruhe ab. Manhätte sie für Mitglieder einer reisenden Schauspieler-Gesellschaft halten können, welche auch in vollständi-ge Apathie zu versinken pflegen, wenn sie nicht auf derBühne beschäftigt sind.

Als wir jedoch an der Lagerstelle ankamen, beeiltensich die Hindus, uns mit einigen »Salams« und tiefenVerbeugungen zu begrüßen. Die Meisten riefen »Sahib!Sahib!« was »Herr! O Herr!« bedeutet, und wir antwor-teten ihnen durch freundschaftliche Zeichen.

Ich erwähnte, daß mir der Gedanke kam, GourouSingh werde uns zu Ehren ein Fest geben, womit dieRajahs sonst nicht zu geizen pflegen. Der für eine der-artige Ceremonie hinreichende Hof des Bungalow schi-en mir wie geschaffen für die Tänze der Bajaderen, dieBeschwörungen der Zauberer und für die Kunststückeder Akrobaten. Ich gestehe gern, daß es mich entzückthätte, einem solchen Schauspiele in einem Seraï, un-ter prächtigen Bäumen und mit der natürlichen, vomPersonal der Karawane gebildeten Scenerie beizuwoh-nen. Wie weit mußte eine solche jede Bühne eines be-schränkten Theaters mit ihren Mauern aus gemalterLeinwand, dem unechten Laubwerk und der geringenZahl Mitwirkender übertreffen!

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Ich theilte diesen Gedanken meinen Gefährten mit,welche ihn zwar theilten, aber an die Erfüllung diesesWunsches nicht glaubten.

»Der Rajah von Guzarate, belehrte mich Banks, istein Unabhängiger, der sich kaum nach dem Aufstandder Sipahis unterworfen hat, während dessen sein Ver-halten mindestens ein sehr zweideutiges war. Er liebtdie Engländer nicht, und sein Sohn wird nichts thun,sich ihnen zuvorkommend zu erweisen.

– Nun gut, was kümmern uns auch seine Nautchs!«erwiderte Kapitän Hod mit verächtlichem Achsel-zucken.

Es kam, wie wir dachten, ja es wurde uns nicht ein-mal gestattet, das Innere des Seraï zu besichtigen. Viel-leicht erwartete Prinz Gourou Singh einen officiellenBesuch von Oberst Munro. Dieser hatte mit jener Per-sönlichkeit indeß nichts zu schaffen und ließ sich alsonicht im mindesten stören.

Nach unserem Halteplatz zurückgekehrt, erwiesenwir dem von Monsieur Parazard bereiteten Diner al-le Ehre. Der Speisezettel bestand in der Hauptsachefreilich nur aus Conserven. Seit mehreren Tagen hatteuns das schlechte Wetter am Jagen verhindert; unserKoch war aber ein solcher Meister seines Faches, daßconservirtes Fleisch und Gemüse unter seinen kundi-gen Händen ihre Frische und natürlichen Geschmackwieder annahmen.

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Trotz Banks’ Erklärung erhielt ein Gefühl von Neu-gierde in mir während des ganzen Abends noch immereinige Hoffnung, die erwünschte Einladung eintreffenzu sehen. Kapitän Hod spottete über meine Vorliebefür das Ballet unter freiem Himmel und behauptete,daß sich das im Opernhause doch weit schöner aus-nähme. Ich glaubte zwar nicht daran, konnte jedoch,angesichts der Unliebenswürdigkeit des Prinzen, kei-nen Beweis dafür beibringen.

Am folgenden Tage, am 18. Juni, wurde Alles zu-recht gemacht, um mit Anbruch des nächsten Tagesaufzubrechen.

Um fünf Uhr begann Kâlouth zu heizen. Unser, jetztübrigens abgespannter Elephant, stand gegen fünfzigFuß von den Häusern entfernt, wo der Maschinist nochmit der Zuführung des nöthigen Wasservorraths be-schäftigt war.

Wir gingen inzwischen am Ufer des kleinen Flussesspazieren.

Vierzig Minuten später hatte der Kessel genügen denDruck und Storr wollte eben rückwärts fahren, als sicheine Truppe Hindus näherte.

Es waren fünf bis sechs Männer in weißen Röckenund seidenen Ueberwürfen, die Turbans mit Gold-stickereien verziert. Ein Dutzend, mit Flinten und Sä-beln bewaffnete Soldaten begleiteten dieselben. Einerdieser Soldaten trug eine grüne Laubkrone – ein Zei-chen, daß irgend welche hohe Person mit im Zuge sei.

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Diese hohe Person war der Prinz Gourou Singhselbst, ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, vonziemlich stolzer Erscheinung – der Typus aller Nach-kommen jener sagenhaften Rajahs, in dem sich derMaharatten-Charakter noch immer wiederspiegelt.

Der Prinz schien unsere Anwesenheit nicht zu be-merken. Er trat einige Schritte vor und näherte sichdem riesigen Elephanten, den Storr’s Hand eben inBewegung setzen wollte. Als er jenen mit einiger,nur schlecht verhehlten Bewunderung betrachtet hat-te, fragte er Storr:

»Wer hat diese Maschine gebaut?«Der Mechaniker zeigte auf den Ingenieur, der jetzt

herankam und in kurzer Entfernung stehen blieb.Prinz Gourou Singh sprach ziemlich geläufig eng-

lisch und wendete sich nun an Banks:»Sie haben das . . . ? sagte er, kaum die Lippen bewe-

gend.– Ja, das ist mein Werk! antwortete Banks.– Hat man mir nicht gesagt, es sei das eine Phantasie

des verstorbenen Rajah von Bouthan gewesen?«Banks nickte bejahend mit dem Kopfe.»Wozu dient es, fuhr Seine Hoheit, nachlässig mit

den Achseln zuckend, fort, wozu dient es, sich von ei-nem mechanischen Elephanten ziehen zu lassen, wennman deren von Fleisch und Bein zur Verfügung hat?

– Nun, antwortete Banks, dieser Elephant ist weitstärker als alle, welche der verstorbene Rajah je besaß.

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– O, versetzte Gourou Singh, der verächtlich denMund spitzte, o . . . stärker! . . .

– Gewiß und ganz bedeutend! behauptete Banks.– Keiner der Ihrigen, fiel der Kapitän Hod ein, den

dies prahlerische Auftreten verletzte, keiner der Ihri-gen wäre im Stande, jenem einen Fuß zu biegen, wenner es nicht selbst will.

– Sie sagten? . . . schnarrte der Prinz.– Mein Freund behauptet, erwiderte der Ingenieur,

und ich bestätige es, daß dieses künstliche Thier demZuge von zehn Paar Pferden Widerstand leisten könne,und daß Ihre drei zusammengespannten Elephanten esnicht um einen Fuß breit fortbewegen würden.

– Das glaube ich unbedingt nicht, antwortete derPrinz.

– Sie thun sehr unrecht, das unbedingt nicht zu glau-ben, gab ihm Kapitän Hod zurück.

– Und wenn Eure Hoheit den Preis dafür zahlen wol-len, fuhr Banks fort, so verpflichte ich mich gern einenzu liefern, der die Kraft von zwanzig, unter den bestenExemplaren Ihrer Ställe ausgewählten Elephanten be-sitzt.

– Das ließe sich hören, erwiderte sehr trocken Gou-rou Singh.

– Und läßt sich auch ausführen!« versicherte Banks.Der Prinz wurde allmählich lebhafter. Man sah, daß

er Widerspruch nicht gern ertrug.

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»Man könnte ja hier auf der Stelle eine Probe anstel-len, sagte er nach kurzem Besinnen.

– Das kann man, antwortete der Ingenieur.– Und sogar diese Probe, fuhr Gourou Singh fort,

zum Gegenstand einer ansehnlichen Wette machen –im Falle Sie nicht die Furcht vor dem Verluste schreckt,so wie Ihr Elephant erschrecken würde, könnte er se-hen, daß er sich mit meinen Elephanten messen soll!

– Der Stahlriese, erschrecken, zurückweichen? riefKapitän Hod. Wer wagt zu behaupten, daß der Stahl-riese zurückweichen würde?

– Ich, erwiderte Gourou Singh.– Und was würden Eure Hoheit einsetzen? fragte der

Ingenieur die Arme kreuzend.– Viertausend Rupien, erklärte der Prinz, wenn Sie

viertausend Rupien zu verlieren haben!«Diese Summe entsprach etwa zehntausend Francs.

Der Einsatz war ziemlich hoch, und ich sah, wie Banks,so zuversichtlich er auch war, doch eine so große Sum-me nicht auf’s Spiel setzen wollte.

Kapitän Hod hätte sofort das Doppelte gehalten,wenn sein bescheidener Sold ihm das erlaubte.

»Sie schlagen nicht ein? sagte da Seine Hoheit, fürden viertausend Rupien nur eine verschwindende Klei-nigkeit waren. Sie fürchten, viertausend Rupien daranzu wagen?

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– Ich halte sie, fiel jetzt Oberst Munro ein, der heran-gekommen war und sich mit den wenigen, aber wich-tigen Worten einmischte.

– Oberst Munro hält gegen mich viertausend Rupi-en? fragte Prinz Gourou Singh.

– Auch zehntausend, erwiderte Sir Edward Munro,wenn es Eurer Hoheit beliebt!

– Wie Sie wünschen!« antwortete Gourou Singh.Die Sache wurde interessant. Der Ingenieur hatte

des Obersten Hand gedrückt, wie um zu danken, daßer ihn gegenüber diesem prahlerischen Rajah nicht imStiche gelassen habe, doch zog eine Wolke über seineStirn, die mir die Frage nahe legte, ob er der mechani-schen Kraft seines Elephanten nicht etwas zuviel zuge-muthet habe.

Kapitän Hod strahlte vor Vergnügen, rieb sich dieHände und schritt auf den Elephanten zu.

»Nun Achtung, Stahlriese, rief er, es gilt für die EhreAltenglands einzutreten!«

Alle unsere Leute standen auf der einen Seite derStraße. Auch von dem Seraï her war eine Anzahl Hin-dus herzugelaufen, dem bevorstehenden Wettkampfebeizuwohnen. Banks hatte sich nach dem Thürmchenzu Storr begeben, der durch künstlich vermehrten Zugdas Feuer noch mehr schürte, indem er durch den Rüs-sel des Stahlriesen einen Dampfstrom abblasen ließ.

Inzwischen waren einige von Gourou Singh’s Die-nern nach dem Seraï zurückgekehrt und holten von

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dort drei Elephanten, die man von Allem, was sie sonsttrugen, befreit hatte. Die drei prächtigen, aus Benga-len stammenden Thiere übertrafen an Größe weit die,welche im südlichen Indien vorkommen. Als diese Rie-sen im kräftigsten Alter herankamen, bemächtigte sichmeiner doch eine gewisse Unruhe.

Auf deren gewaltigen Rücken sitzende »Mahouts«leiteten sie mit den Händen und reizten sie durch Zu-rufe.

Als die Elephanten vor Seiner Hoheit vorüberschrit-ten, blieb der größte derselben – ein wahrer Riese sei-nes Geschlechtes – stehen, beugte beide Kniee, warfden Rüssel in die Höhe und begrüßte so den Prinzenals wohlerzogener Höfling. Dann führte man ihn unddie beiden anderen näher an den Stahlriesen heran,den sie verwundert, und offenbar etwas erschreckt, zubetrachten schienen.

An dem Querriegel des Tendergestelles, das der hin-tere Theil unseres Elephanten verbarg, wurden nunstarke Ketten befestigt.

Ich gestehe, daß mir das Herz da lauter pochte. Ka-pitän Hod kaute an seinem Schnurrbarte und konntekaum am Platze aushalten.

Oberst Munro erschien ruhig, ich möchte sagen,noch ruhiger als Prinz Gourou Singh.

»Wir sind fertig, meldete der Ingenieur. Wenn es Eu-rer Hoheit gefällig ist . . .

– Mir ist’s recht!« antwortete der Prinz.

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Gourou Singh gab ein Zeichen; die Mahouts ließeneinen eigenthümlichen Pfiff ertönen und die drei Ele-phanten zogen, die mächtigen Beine gegen den Bodenstemmend, gleichzeitig an. Die Maschine rollte einigeSchritte rückwärts.

Mir entfuhr ein Schrei. Hod stampfte mit den Füßen.»Bremse die Räder!« befahl einfach der Ingenieur,

indem er sich nach dem Maschinisten zurückwandte.Ein schneller Handgriff, ein Brausen und Zischen

ausströmenden Dampfes, und die atmosphärische Brem-se that ihre Schuldigkeit.

Der Stahlriese stand und rührte sich nicht vomFlecke.

Die Mahouts trieben ihre drei Elephanten hitziger anund diese versuchten eine neue Anstrengung.

Vergeblich! Unser Elephant schien im Boden festge-wurzelt zu sein.

Prinz Gourou Singh biß sich in die Lippen.»Vorwärts!« commandirte Banks.Der Regulator wurde voll geöffnet; dichte Dampf-

wolken wirbelten stoßweise aus dem Rüssel empor;die freigelassenen Räder drehten sich langsam, in denMacadam eingreifend, und trotz ihres verzweifeltenWiderstandes wurden die drei Elephanten rückwärtsgeschleppt, wobei sie tiefe Furchen in den Boden ris-sen.

»Go a head! Go a head!« rief der Kapitän.

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Der Stahlriese marschirte unaufgehalten vorwärts,die drei gewaltigen Thiere fielen dabei auf die Seiteund wurden zwanzig Fuß weit fortgeschleppt, ohnedaß unser Elephant etwas davon zu bemerken schien.

»Hurrah! Hurrah! rief Kapitän Hod, der sich nichtmehr bemeistern konnte. Man könnte noch das ganzeSeraï Seiner Hoheit hinter seine Elephanten anhängen;für unseren Stahlriesen wöge es doch nicht mehr alseine Heidelbeere!«

Oberst Munro gab mit der Hand ein Zeichen. Banksschloß das Einlaßventil und die Maschine stand.

Die drei Elephanten Seiner Hoheit, die mit den in derLuft schwankenden Rüsseln und den zappelnden Bei-nen fast riesigen, auf den Rücken liegenden Scarabäen(Rüsselkäfern) glichen, boten wirklich einen jämmerli-chen Anblick.

Der Prinz hatte aus Aerger und Scham schon denPlatz geräumt, ohne das Ende der Probe abzuwarten.

Die drei Elephanten wurden abgespannt. Sie erho-ben sich, offenbar sehr gedemüthigt durch ihre Nieder-lage. Als sie an dem Stahlriesen vorüber kamen, konnteder größte derselben, obwohl ihn kein Cornac leitete,nicht umhin, vor diesem das Knie zu beugen und mitdem Rüssel zu salutiren, wie er das vor Prinz GourouSingh zu thun gewohnt war.

Eine Viertelstunde später traf ein Hindu, der »Kâm-dar« oder Secretär Seiner Hoheit bei uns ein und

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übergab dem Oberst einen Sack mit zehntausend Ru-pien, den Betrag der Wette.

Oberst Munro ergriff den Sack und warf ihn verächt-lich von sich.

»Für die Leute Seiner Hoheit!« sagte er.Darauf begab er sich ruhig nach dem Steam-House.Gewiß konnte man an dem arroganten Prinzen, der

uns so wegwerfend herausgefordert hatte, kaum einebessere Vergeltung üben.

Banks gab inzwischen, da der Stahlriese wieder vor-gespannt worden war, das Zeichen zur Abfahrt, undunser Zug entfernte sich, inmitten einer großen Mengehöchst erstaunter Hindus, mit großer Geschwindigkeit.

Wo er vorüber kam, ertönten laute Ausrufe, und baldhatten wir, hinter einer Biegung der Straße, den Seraïdes Prinzen Gourou Singh aus dem Gesichte verloren.

Am nächsten Tag erstieg das Steam-House die er-sten mäßigen Erhebungen, welche das ebene Land mitdem Fuße der Himalayagrenze verknüpfen. Für un-seren Stahlriesen war das nur ein Spiel; die vierund-zwanzig in seine Weichen eingeschlossenen Pferde hat-ten ja hingereicht, mit den drei Elephanten des Prin-zen Gourou Singh siegreich zu wetteifern. Er trabtealso mit Leichtigkeit über die allmählich ansteigendeStraße dieser Gegend hin, ohne daß es nöthig gewor-den wäre, die normale Dampfspannung zu überschrei-ten. Es bot wirklich einen merkwürdigen Anblick, denfunkenspeienden Koloß unter nicht etwa schnellerem,

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aber tieferem Schnaufen die beiden Wagen längs derStraße dahinschleppen zu sehen. Die gerieften Rad-kränze drückten Streifen in den Boden, dessen Ma-cadam zerbröckelnd knirschte. Unser gar zu schweresZugthier ließ nämlich tiefe Furchen hinter sich und be-schädigte die von dem unaufhörlichen Regen erweich-te Straße nicht wenig.

Jedenfalls gelangte das Steam-House dabei aber hö-her hinauf, das Panorama erweiterte sich, die Ebenehinter uns sank langsam tiefer und nach Süden zogsich der mehr und mehr umfassende Horizont schonbis über Sehweite zurück.

Diese Erscheinung wurde noch merkbarer, als wireinige Stunden lang unter den Bäumen eines dichtenWaldes dahingezogen waren. Oeffnete sich dann eineweitere Lichtung, gleich einem ungeheuren Fenster, inder Richtung nach dem Gebirge, so hielt der Zug an –einen Augenblick nur, wenn gerade ein feuchter Nebeldas Landschaftsbild verschleierte – einen halben Tag,wenn das großartige Panorama klar vor unseren Au-gen lag.

Dieses Emporklimmen dauerte, in Anbetracht der jenach Umständen längeren oder kürzeren Pausen undder Unterbrechungen durch das Halten während derNacht, nicht weniger als sieben Tage, von 19. bis 25.Juni.

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»Bei einiger Geduld, ließ sich Kapitän Hod verneh-men, gelangten wir mit unserem Zug bis nach denhöchsten Spitzen des Himalaya!

– Trauen Sie ihm nicht zuviel zu, lieber Kapitän, ent-gegnete der Ingenieur.

– Er vollbrächte es doch, Banks!– Ja, Hod, aber nur unter der Bedingung, daß ihm

nicht eine fahrbare Straße mangelte, daß er genügendFeuerungsmaterial, welches in den Höhen nicht mehrzu finden ist, und athembare Luft mit sich führen könn-te, die in der Höhe von zweitausend Toisen allmäh-lich ausgeht. Wir wollen ja aber auch nur die bewohn-bare Zone des Himalaya passiren. Hat der Stahlriesedie mittlere Höhe der Sanatorien erklommen, so machter an einem reizenden Plätzchen am Rande eines Ge-birgswaldes Halt, wo wir die frischere Luft der höhe-ren Regionen genießen. Dann hat Oberst Munro sei-nen Bungalow aus Calcutta nach den Bergen von Nepalverlegt – das ist der ganze Zweck – und wir verweilendaselbst, so lange es ihm beliebt!«

Die Stelle, an der wir endlich für mehrere Monaterasten sollten, wurde im Laufe des 25. glücklich gefun-den. Schon während der letzten vierundzwanzig Stun-den bot die Straße mehr und mehr Schwierigkeiten,indem sie entweder nicht mehr so gut angelegt, oderdurch die Regenzeit ausgewaschen und holprig gewor-den war. Der Stahlriese hätte hier wohl ein Schleppseilgebrauchen können, doch entging er dem durch einen

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etwas erhöhten Verbrauch an Brennmaterial. Kâlouthwarf nur einige Scheit Holz mehr unter den Kessel, dasgenügte, die Spannung der Dämpfe zu steigern. Den-noch ward es nicht nöthig, die Sicherheitsventile zubelasten, welche erst bei einem Drucke von sieben At-mosphären abbliesen, und diese Spannung wurde nie-mals überschritten.

Seit achtundvierzig Stunden schon bewegte sich un-ser Zug durch nahezu verlassene Gebiete. Flecken undDörfer gab es hier nicht mehr, höchstens einzelne An-siedlungen und dann und wann eine in den ausge-dehnten Fichtenwäldern des mittleren Gebirgskammesverlorene Farm. Drei- bis viermal begrüßten uns we-nige Bergbewohner durch ihre verwunderten Zurufe.Wenn sie diesen eigenthümlichen Zug sich bergaufbewegen sahen, mußten sie nicht auf den Gedankenkommen, Brahma selbst mache sich das Vergnügen,eine große Pagode nach den unnahbaren Höhen derGrenze von Nepal zu versetzen?

Am 25. Juni endlich rief Banks zum letzten MaleHalt! – am Schlusse des ersten Theiles unserer Reisedurch das nördliche Indien! Der Zug stand inmitteneiner ausgedehnten Waldblöße, nahe einem Gebirgs-bache, dessen klares Wasser allen Bedarf während ei-nes Aufenthaltes von mehreren Monaten decken muß-te. Von hier aus erblickten wir die Ebene hinter uns aufeine Strecke von fünfzig bis sechzig Meilen.

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Das Steam-House befand sich jetzt dreihundertfünf-undzwanzig Meilen von seinem Abfahrtspunkte ent-fernt, und etwa zweitausend Meter über dem Meereund am Fuße des Dhawalagiri, dessen Gipfel sich inder Höhe von fünfundzwanzigtausend Fuß in der Luftverlor.

15. DER PAL VON TANDIT.

Wir verlassen nun einstweilen den Oberst Munround seine Gefährten, den Ingenieur Banks, KapitänHod und den Franzosen Maucler, und unterbrechen füreinige Seiten den Bericht über die Reise, deren ersterTheil, der Zug von Calcutta bis zur indo-chinesischenGrenze, am Fuße der Bergkette von Thibet schließt.

Der Leser erinnert sich des Zwischenfalles, der sichdamals zutrug, als das Steam-House bei Allahabad lag.Das Journal dieser Stadt meldete dem Oberst Mun-ro, in der Nummer vom 25. Mai, den Tod Nana Sa-hib’s. Sollte sich diese so oft verbreitete und eben sooft widerrufene Nachricht diesmal bestätigen? Konn-te Sir Edward Munro nach den eingehenden Detailsderselben noch immer zweifeln, oder mußte er nichtvielmehr darauf verzichten, an dem Empörer von 1857Gerechtigkeit zu üben?

Das Weitere wird über diese Fragen Aufklärung ge-ben.

Wir erzählen hier, was sich seit jener Nacht vom 7.zum 8. März ereignete, als Nana Sahib in Begleitung

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seines Bruders Balao Rao und seiner getreuesten Waf-fengefährten, nebst dem Hindu Kâlagani die Höhlen-stadt von Adjuntah verließ.

Sechzig Stunden später erreichte der Nabab dieSchluchten der Sautpourraberge, nachdem er die Ta-pi überschritten, die an der Westküste der Halbinsel,nahe bei Surate mündet. Er befand sich jetzt hundertMeilen von Adjuntah, in einem nur dünn bevölkertenTheile der Provinz, was ihm für den Augenblick wenig-stens einige Sicherheit gewährleistete.

Der Ort war in der That gut gewählt.Die nur mittelhohen Sautpourraberge beherrschen

das Thal der Nerbudda, dessen Nordgrenze von denVindhyabergen gekrönt wird. Diese beiden fast paral-lel verlaufenden Gebirgsketten verzweigen sich viel-fach und bilden in dem unebenen Lande schwer zu-gängliche Schlupfwinkel. Wenn die Vindhyas aber, et-wa unter dem 23. Breitengrade, fast ganz Indien vonWesten nach Osten durchschneiden und dadurch eineder großen Seiten des Dreiecks von Central-Indien bil-den, so erstrecken sich die Sautpourraberge dagegennicht über den 75. Längengrad hinaus und schließensich da an den Berg Kaligong an.

Hier verweilte Nana Sahib nun in dem Lande derGounds, jener gefürchteten Stämme alt angesessener,kaum unterjochter Völkerschaften, die er zum Aufstan-de verleiten wollte.

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Das Gebiet von Goudwana umfaßt ein Viereck vonzweihundert Meilen Seite, mit über drei Millionen Ein-wohnern, welche Rousselet als Landeingeborne be-trachtet und unter denen die Keime der Empörung nie-mals absterben.

Es bildet jenes Gebiet einen beträchtlichen Theil vonHindostan und steht in der That nur dem Namen nachunter Englands Herrschaft. Die Eisenbahn von Bombaynach Allahabad durchschneidet zwar diese Gegend vonSüdwesten nach Nordosten und entsendet auch einenZweig nach Nagpore, dem Mittelpunkte der Provinz,das eigentliche Volk beharrt aber in seinem halbwil-den Zustande, verschließt sich jeder Civilisation, trägtdas Joch der Europäer nur mit Groll, und dazu ist ihmin seinen Bergen nur schwer beizukommen, was NanaSahib recht wohl wußte.

Hier wollte er zunächst Zuflucht suchen, um denNachforschungen der englischen Polizei zu entgehen,bis die Stunde schlagen würde, wo er wieder die Fackelder Empörung schwingen konnte.

Gelang dem Nabab dieses sein Vorhaben, gehorch-ten die Gounds seinem Rufe und marschirten sie anseiner Seite, so konnte der Aufstand schnell einen be-deutenden Umfang gewinnen.

Im Norden von Goudwana nämlich liegt Bundel-kund, welches das ganze Berggebiet zwischen demoberen Plateau der Vindhyas und dem mächtigen Was-serlaufe der Jumna einschließt. In diesem, mit den

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schönsten Urwäldern Hindostans bedeckten Lande le-ben die Boundelas, ein hinterlistiges, grausames Volk,bei dem alle Verbrecher, politische und andere, mitVorliebe Zuflucht suchen und finden; hier drängt sicheine Bevölkerung von zweiundeinhalb Millionen aufeiner Fläche von achtundzwanzigtausend Quadrat-Kilometern zusammen, unter der noch völlige Wildheitherrscht; hier leben noch alte Parteigänger, welche un-ter Tippo Sahib gegen die Eindringlinge kämpften; vonhier stammen die berühmten Würger, die Thugs, lan-ge Zeit der Schrecken Indiens und fanatische Mörder,welche, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen, dochunzählige Opfer hinschlachteten; ebenso wie die Ban-den der Pinderris fast ungestraft die scheußlichstenMordthaten begingen; hier schweifen noch die ent-setzlichen Dacoits umher, eine Gesellschaft von Giftmi-schern, welche gern den Fußspuren der Thugs nach-zogen; hierher endlich hatte auch Nana Sahib schonfrüher sich geflüchtet, als er den königlichen Truppennach der Einnahme von Jansie entwischte; hier verei-telte er damals alle Nachforschungen, bis er ein nochsichereres Asyl in den unzugänglichen Schluchten derindo-chinesischen Grenze aufsuchte.

Im Osten von Goudwana liegt Khondistan, oder dasLand der Khounds. So nennen sich die wilden Anhän-ger Tado Pennoe’s, des Gottes der Erde, und MannekSoro’s, des rothen Gottes der Kämpfe, jene blutigenAdepten der »Meriahs« oder Menschenopfer, welche

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die Engländer nur mit größter Anstrengung auszurot-ten vermögen, jene Wilden, welche mit den barbari-schesten Bewohnern der polynesischen Inseln auf ganzgleicher Stufe stehen, und gegen die der Ober-GeneralJohn Campbell und die Kapitäne Macpherson, Marvic-car und Feye von 1840 bis 1854 beschwerliche undlangwierige Feldzüge führten, – Fanatiker, welche be-reit sind, Alles zu wagen, wenn sie nur eine mächtigeHand unter einem religiösen Vorwand antreibt.

Westlich von Goudwana befindet sich ein Landmit einundeinhalb bis zwei Millionen Seelen, das dieBhîles bewohnen, ehemals die Herren von Malwa undRajpoutana; jetzt sind dieselben in einzelne Clans zer-fallen, über das ganze Gebiet der Vindhyas zerstreut,und fast stets berauscht von dem Branntwein, den ih-nen der »Mhowah-Baum« liefert, aber von kühnementschlossenen Charakter, gewandt, und immer des»Kisri«, das ist des Rufes zum Kampf und zur Plünde-rung, gewärtig.

Man sieht, daß Nana Sahib eine gute Wahl getroffenhatte. In diesen Centralgebieten der Halbinsel hoffteer jetzt, anstatt eines gewöhnlichen Militäraufstandes,eine nationale Erhebung zu erregen, an der sich dieHindus jeder Kaste betheiligen sollten.

Bevor er jedoch etwas unternehmen konnte, muß-te er in dem Lande selbst Aufenthalt nehmen, um aufdie Bevölkerung je nach Lage der Umstände erfolgreich

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wirken zu können. Er brauchte einen sicheren Schlupf-winkel, wenigstens für die erste Zeit, den er aufgebenkonnte, wenn sich ein Verdacht erhob.

Das war also Nana Sahib’s erste Sorge. Die Hindus,welche ihm von Adjuntah aus gefolgt waren, konntenin der ganzen Präsidentschaft frei umhergehen. AuchBalao Rao, auf den die Bekanntmachung des Gouver-neurs nicht zu beziehen war, hätte der vollständigenFreiheit genießen können, wäre nur nicht die Aehn-lichkeit mit seinem Bruder gewesen. Seit seiner Fluchtvon Nepal hatte sich die öffentliche Aufmerksamkeitnicht mit seiner Person beschäftigt, vielmehr hatte manalle Ursache, ihn für todt zu halten. Er wäre aber dochverhaftet worden, da man ihn zu leicht für Nana Sa-hib selbst ansehen konnte; das mußte um jeden Preisvermieden werden.

Die beiden, in einem Gedanken vereinigten und aufein und dasselbe Ziel lossteuernden Brüder brauchtendemnach auch ein gemeinsames Asyl. Es konnte nichtschwer fallen und nicht lange dauern, ein solches inden Engpässen der Sautpourraberge aufzufinden.

Gleich anfangs wies einer der Hindus der Truppe, einGound, der das Thal in allen Winkeln kannte, auf einegeeignete Stelle hin.

Am rechten Ufer eines kleinen Nebenflusses der Ner-budda befand sich ein verlassener Pal, der Pal von Tan-dit.

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Ein Pal ist weniger als ein Dorf, kaum ein Weiler, ei-ne Vereinigung von Hütten, oft eine isolirte Wohnung.Jede Nomadenfamilie, die einen solchen bewohnt, ver-weilt hier nur eine Zeit lang. Nach dem Abbrennen ei-niger Bäume, deren Asche für kurze Zeit den Bodendüngt, erbaut der Gound für sich und die Seinigen dieWohnung. Da das Land aber nichts weniger als sicherist, so nimmt das Haus das Ansehen einer kleinen Be-festigung an. Ein Ring von Palissaden umschließt das-selbe und sichert es gegen einen Ueberfall. Uebrigensist es an und für sich schwierig, dasselbe, wie es meistim Dickicht versteckt, unter üppigen Cactus und Busch-werk vergraben liegt, aufzufinden. Gewöhnlich nimmtder Pal den Gipfel eines kleinen Hügels ein, der imGrunde eines engen Thales inmitten undurchdringli-chen Gebüsches zwischen zwei Bergwänden gelegenist. Nichts verräth, daß Menschen hier ein Unterkom-men gesucht hätten. Dahin führende Straßen giebt esnicht, selbst von Fußwegen entdeckt man keine Spur.Um den Platz zu erreichen, muß man gewöhnlich demtiefen Bett eines Bergstromes folgen, dessen Wasser je-de Fußspur verwischt. Wer diesen Weg benutzt, hin-terläßt kein Zeichen davon. Während der heißen Jah-reszeit geht man bis an die Knöchel, während der kal-ten bis zum Knie im Wasser, und nichts deutet daraufhin, daß hier ein lebendes Wesen vorübergekommensei. Dazu würde eine Lawine von Felsstücken, zu de-ren Ablösung schon die Hand eines Kindes hinreichte,

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Jeden zermalmen, der gegen den Willen der Bewohnerdes Pals hinauszudringen versuchte.

So isolirt die Gounds auch in ihren Bergnestern sit-zen, so können sie einander doch leicht genug von Palzu Pal mittheilen. Von den Höhen der ungleichen Käm-me der Sautpourraberge lassen sich die gewohnten Si-gnale binnen wenigen Minuten über eine Strecke vonzwanzig Meilen durch das Land verbreiten. Man pflegtdann auf dem Gipfel eines spitzen Felsens Feuer anzu-zünden, gebraucht wohl gleich einen Baum als Riesen-fackel oder läßt von einem Berge nur eine Rauchsäuleaufsteigen. Die Bedeutung dieser Zeichen kennt Jeder-mann. Der Feind, das heißt eine Abtheilung königli-cher Soldaten, ein Schwarm Agenten der englischenPolizei ist in das Thal eingedrungen, folgt dem Laufeder Nerbudda, durchsucht die Schluchten der Bergket-ten, vielleicht auf der Fährte eines Uebelthäters, demdas Land gern Schutz bietet. Der dem Ohre der Bergbe-wohner so gewohnte Kriegsruf verwandelt sich in einAlarmzeichen. Ein Fremder würde ihn mit dem Heu-len der Nachtvögel oder dem Pfeifen von Reptilien ver-wechseln. Der Gound kann sich dabei nicht täuschen;er ist auf der Hut, wenn das genügt, er flieht, wenn erfliehen muß. Die verdächtigen Pals stehen verlassen,oder werden selbst abgebrannt. Die Nomaden verkrie-chen sich in andere Verstecke, wenn man ihnen zu na-he auf den Fersen ist und an den mit Asche bedecktenWohnplätzen finden die Agenten der Behörden nichts

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als Ruinen. In einem dieser Pals – dem Pal von Tandit –hatten Nana Sahib und die Seinigen ihr Unterkommengewählt. Der, der Person des Nabab mit Leib und Seeleergebene Gound hatte sie hierher geführt, wo sie sicham 12. März dann häuslich einrichteten.

Sobald die beiden Brüder von dem Pal von Tandit Be-sitz genommen, war es ihre erste Sorge, die Umgebun-gen in Augenschein zu nehmen. Sie überzeugten sich,nach welcher Richtung und wie weit ihnen die Aus-sicht offen stand; erkundigten sich nach den nächst-gelegenen Wohnungen und nach den Leuten, welchejene inne hatten. Sie durchforschten sorgfältig die La-ge des isolirten Hügels, den der Pal von Tandit krönte,streiften durch das dichte Gebüsch ringsum und über-zeugten sich schließlich, daß Niemand dahin gelangenkönne, außer indem er dem Bette eines Sturzbaches,des Wazzur, nachging, in dem sie selbst herausgekom-men waren.

Der Pal von Tandit bot also nach allen Seiten die ge-wünschte Sicherheit, vorzüglich, weil er auf einem Un-tergrunde stand, dessen geheime Ausgänge sich an derSeite eines Nebenberges öffneten und im schlimmstenFalle noch ein Entfliehen ermöglichten.

Nana Sahib und sein Bruder hätten ein besseres Ver-steck nicht finden können.

Balao Rao genügte es aber nicht, zu wissen, daß dasder Pal von Tandit sei, er wollte auch von seiner Ver-gangenheit etwas hören, und fragte deshalb, während

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der Nabab das Innere der kleinen Festung besichtigte,den Gound weiter aus.

»Noch einige Fragen, begann er zu diesem. Seitwann steht der Pal verlassen?

– Seit einem Jahre, antwortete der Gound.– Wer bewohnte ihn früher?– Eine Nomadenfamilie, welche sich nur wenige Mo-

nate hier aufhielt.– Warum haben die Leute ihn verlassen?– Weil der Boden, der sie ernähren sollte, ihren Be-

darf nicht lieferte.– Und seit ihrem Abzug hat Deines Wissens Niemand

hier Zuflucht gesucht?– Niemand.– In den Bereich des Pals hat noch kein Soldat der

königlichen Armee, kein Polizeispion den Fuß gesetzt?– Niemals.– Kein Fremder hat ihn besucht?– Keiner . . . erwiderte der Gound, höchstens eine

Frau.– Eine Frau? wiederholte lebhaft Balao Rao.– Ja, eine Frau, die seit drei Jahren schon im Ner-

buddathale umherirrt.– Wer ist diese Frau?– Wer sie ist, weiß ich nicht, erkärte der Gound, kann

auch nicht sagen, woher sie kommt, und kein Menschim Thale weiß überhaupt Näheres von ihr. Man hat nie

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erfahren können, ob sie eine Fremde oder ein Hindu-weib ist!«

Balao Rao sann einen Augenblick nach; dann fuhr erfort:

»Was beginnt das Weib?– Sie kommt und geht, erwiderte der Gound; sie

lebt nur allein von Almosen. Man bringt ihr im ganzenThale eine Art abergläubischer Verehrung entgegen. Inmeinem eigenen Pal habe ich sie wiederholt aufgenom-men. Sie spricht niemals. Man könnte sie für stummhalten, und es sollte mich gar nicht wundern, wenn siedas wirklich wäre. Während der Nacht sieht man siemit einem brennenden harzigen Zweige umherirren.Deshalb nennt man sie allgemein nur »die wandelndeFlamme!«

– Doch, wenn diese Frau den Pal von Tandit kennt,sagte Balao Rao, sollte sie nicht vielleicht während un-serer Anwesenheit zurückkehren, und haben wir nichtsvon ihr zu fürchten?

– Ganz und gar nichts, versicherte der Gound, diePerson hat den Verstand verloren. Ihr Kopf gehört ihrnicht mehr, die Augen verstehen nicht, was sie sehen,die Ohren nicht, was sie hören! Sie ist für alle Dingeder Außenwelt so gut wie blind, taub und stumm. Sieist eine Närrin, und eine Geisteskranke ist eine Todte,die nur noch fortathmet!«

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In der gewöhnlichen Sprache der Hindus der Gebir-ge hatte der Gound das Bild der eigenthümlichen Per-sönlichkeit entworfen, die im ganzen Thale bekanntwar, das der »wandelnden Flamme« der Nerbudda.

Es war eine Frau, deren blasses, noch schönes Ge-sicht alt und wiederum nicht alt aussah, das aber je-des Ausdrucks entbehrte und weder Abstammung nochAlter erkennen ließ. Man hätte sagen können, ihreunsteten Augen hätten sich vor dem Anblick einerSchreckensscene, die ihr noch immer vorschwebte, fürdas Leben des Geistes verschlossen.

Dieser harmlosen und des Verstandes beraubtenCreatur kamen die Bergbewohner stets freundlich ent-gegen. Geisteskranke gelten bei den Gounds, sowieüberhaupt bei wilden Völkern, als geweihte Wesen, de-nen man mit abergläubischer Ehrfurcht begegnet. Ue-berall, wo sie sich zeigte, nahm man die wandelndeFlamme gastfreundlich auf. Kein Pal schloß vor ihr sei-ne Pforte. Man speiste sie, wenn sie hungerte, bot ihrein Lager, wenn sie müde war, ohne von ihr einen Dankzu erwarten, den ihr Mund ja nicht auszusprechen ver-mochte.

Wie lange führte sie schon dieses Leben? Woher kamdas Weib? Wann erschien sie zuerst in Goudwana? Sol-che Fragen wären schwer zu beantworten gewesen.Warum durchirrte sie die Nächte mit einer Fackel in derHand? Wollte sie sich dadurch nur leuchten? Dachte

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sie die Raubthiere damit abzuwehren? Niemand hät-te das sagen können. Manchmal blieb sie ganze Mo-nate lang aus. Was wurde dann aus ihr? Vertauschtesie die Engpässe der Sautpourraberge mit den Schluch-ten der Vindhyas? Streifte sie jenseits der Nerbudda, inMalwa oder Bundelkund umher? Keiner wußte es. Oef-ter, wenn ihre Abwesenheit länger dauerte, hätte manglauben können, dieses traurige Leben habe ein Endegefunden. Doch nein! Sie kam immer wieder, wie frü-her, ohne daß Anstrengung, Krankheit oder Entbehrun-gen ihren scheinbar so gebrechlichen Körper zerstörenzu können schienen.

Balao Rao hatte dem Hindu mit größter Aufmerk-samkeit zugehört. Er legte sich die Frage vor, ob indem Umstande, daß die wandelnde Flamme den Palvon Tandit kannte, daß sie daselbst schon Zuflucht ge-sucht und vielleicht auch wiederkehren könnte, eineGefahr zu erblicken sei.

Er fragte also den Gound, ob er oder die Seinigenwüßten, wo sich die Wahnsinnige jetzt aufhielt.

»Ich weiß es nicht, erwiderte der Gound. Sechs Mo-nate lang hat sie Niemand im Thale gesehen. Vielleichtist sie nun doch todt. Doch wenn sie wirklich zu demPal von Tandit zurückkehrte, wäre von ihrer Anwesen-heit nicht das Mindeste zu fürchten. Sie ist nur eine le-bende Statue. Sie würde Euch nicht sehen, nicht hören,nicht wissen, wer Ihr seid. Sie träte eben ein, setztesich an Euren Herd, ruhte einen oder zwei Tage, dann

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würde sie einfach ihre Fackel wieder entzünden, denPal verlassen und auf’s Neue von Haus zu Haus um-herschweifen. So vergeht ihr ganzes Leben. Uebrigensbleibt sie diesesmal so lange aus, daß sie wahrschein-lich niemals wieder kommt. Sie, die schon geistig todtwar, wird es nun auch leiblich sein!«

Balao Rao hielt es hiernach nicht für nothwendig,mit Nana Sahib über die Sache zu sprechen, undschenkte ihr auch selbst bald keine besondere Auf-merksamkeit mehr. Einen Monat nach ihrem Einzugein den Pal von Tandit hatte man von der Rückkehr derwandelnden Flamme im Nerbuddathale noch nicht dasGeringste wieder vernommen.

16. DIE WANDELNDE FLAMME.

Einen Monat lang, vom 12. März bis 12. April, hieltNana Sahib sich in dem Pal verborgen. Er wollte denenglischen Behörden Zeit lassen, bis sie entweder je-de weitere Nachforschung aufgegeben, oder sich auffalsche Fährten verirrt hätten.

Wenn die beiden Brüder am Tage niemals ausgin-gen, so durchstreiften dafür ihre Getreuen das Thal,besuchten die Dörfer und Weiler desselben, verkündig-ten durch verhüllte Anspielungen die bevorstehendeErscheinung eines, »gewaltigen Moulti«, eines halbenGottes und halben Menschen, und suchten auf dieseWeise die Geister zu einer nationalen Erhebung vorzu-bereiten.

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Mit Anbruch der Nacht wagten sich auch Nana Sahibund Balao Rao aus ihrem Versteck hervor. Sie schweif-ten dann bis zu den Ufern der Nerbudda hinaus, gin-gen von Dorf zu Dorf, von Pal zu Pal, in Erwartung derStunde, wo sie auch im Gebiete der den Engländernlehnspflichtigen Rajahs mit einiger Sicherheit auftre-ten könnten. Nana Sahib wußte übrigens, daß einigehalbunabhängige und des fremden Joches müde Für-sten seinem Rufe auf der Stelle folgen würden. Fürjetzt galt seine Thätigkeit jedoch nur den wilden Volks-stämmen von Goudwana.

Die barbarischen Bhils, die nomadisirenden Koundsund die Gounds – ein ebenso wenig wie die eingebor-nen Inselbewohner im großen Ocean civilisirter Stamm– fand Nana bereit, sich zu erheben, erbötig, ihmzu folgen. Gab er sich aus Klugheit auch nur zweioder drei mächtigen Stammeshäuptlingen zu erken-nen so genügte ihm das doch, sich zu überzeugen, daßsein Name allein mehrere Millionen der auf den inne-ren Hochebenen Hindostans zerstreut lebenden Hin-dus heranziehen werde.

Nach der Rückkunft in den Pal von Tandit berich-teten die beiden Brüder dann einander was sie ge-hört, gesehen und ausgerichtet hatten. Auch ihre Leu-te sammelten sich um sie und brachten von überallher die Kunde, daß der Geist der Empörung schonwie ein Sturmwind durch das Nerbuddathal wehe. Die

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Gounds warteten nur darauf, den »Kisri«, den Kriegs-ruf der Bergbewohner, erschallen zu lassen und sichauf die Militär-Niederlassungen der Präsidentschaft zustürzen.

Noch war der rechte Zeitpunkt nicht gekommen.Offenbar genügte es noch nicht, das Gebiet zwischen

den Sautpourrabergen und den Vindhyas in Flammenzu setzen. Die Fackel des Aufstandes mußte sich viel-mehr von Ort zu Ort weiter verbreiten. Daraus ergabsich die Nothwendigkeit, auch in den, der Botmäßig-keit der Engländer mehr untergebenen Nachbarprovin-zen der Nerbudda Brennmaterial aufzuhäufen. Alle je-ne Städte und Flecken von Rhopal, Malwa und Bun-delkund, sowie das ganze Königreich Scindia sollteneinen einzigen, entzündungsfertigen Herd bilden. Mitgutem Grunde ließ es Nana Sahib aber seine eigeneSorge sein, die alten Parteigänger aus der Erhebungvon 1857 aufzusuchen, die Eingebornen, welche, treuseiner Sache und niemals an seinen Tod glaubend, vonTag zu Tag darauf harrten, ihn wieder auftreten zu se-hen.

Einen Monat nach seiner Ankunft im Pal von Tan-dit glaubte Nana Sahib mit voller Sicherheit vorgehenzu können. Er meinte, die Kunde von seinem Wieder-erscheinen in der Provinz werde nun für falsch gehal-ten werden. Vertraute Spießgesellen unterrichteten ihn

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von allen Maßregeln, die der Gouverneur der Präsi-dentschaft Bombay zu seiner Gefangennehmung ge-troffen hatte. Er wußte recht gut, daß die Behördenwährend der ersten Tage, freilich vergebens, eifrig thä-tig gewesen waren. Jener Fischer von Aurungabad, derfrühere Gefangene Nana’s, war unter seinem Dolchegefallen und Niemand hatte Verdacht geschöpft, daßder fliehende Fakir mit dem Nabab Dandu Pant, aufdessen Kopf ein Preis gesetzt war, identisch sei. EineWoche später legte sich die anfängliche Aufregung, dieBewerber um den Preis von zweitausend Pfund gabenalle Hoffnung auf, und Nana Sahib’s Name versankwieder in Vergessenheit. Der Nabab konnte also wie-der persönlich thätig sein und ohne Furcht, erkanntzu werden, seine Aufwiegeleien fortsetzen. Bald in derKleidung eines Parsi, bald in der eines schlichten Raïot(Bauern), heute allein, morgen in Begleitung seinesBruders, zog er nun von dem Pal von Tandit aus, wand-te sich nach Norden, nach der anderen Seite der Ner-budda, und selbst bis über den Westabhang der Vind-hyas hinab.

Ein Spion, der ihm auf allen Schlichen und Wegengefolgt wäre, hätte jenen am 12. April in Indore ge-troffen.

Von dieser Hauptstadt des Königreiches Holcar aussetzte sich Nana Sahib, unter Einhaltung des streng-sten Incognitos, mit der zahlreichen, meist der Cul-tur von Mohnfeldern obliegenden Landbevölkerung in

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Verbindung. Diese bestand aus thatenlustigen und fa-natischen Rihillas, Mekranis und Valayalis, meist fah-nenflüchtigen Sipahis aus den Natifs-Regimentern, diesich unter der Verkleidung als Hindubauern verbargen.

Dann ging Nana Sahib über die Betwa, einen Neben-fluß der Jumna, die an der Westgrenze Bundelkundsnach Norden zu verläuft, und kam am 19. April durchein herrliches Thal mit zahllosen Dattel- und Mango-bäumen, in Souari an.

Hier befinden sich merkwürdige Baudenkmäler vonsehr hohem Alter, nämlich die sogenannten »Tôpes«,eine Art Grabmäler mit halbkugeligem Kuppeldache,welche im Norden des Thales die Hauptgruppe vonSaldhara bilden. Aus den Grabstätten, diesen Woh-nungen der Todten, deren, dem buddhistischen Ritusgeweihte Altäre unter steinernen Schirmen geschütztstehen, quollen, auf Nana Sahib’s Ruf, Hunderte vonFlüchtlingen hervor. Vergraben unter diesen Ruinen,um den schrecklichen Repressalien der Engländer zuentgehen, genügte ein Wort, ihnen klar zu machen,was der Nabab von ihnen verlangte, eine Andeutungzur rechten Zeit mußte hinreichen, sie in Menge aufdie Eroberer zu hetzen. Am 24. April weilte Nana inBhîlsa, der Hauptstadt eines mächtigen Bezirks vonMalwa, und versammelte in den Ruinen der alten Stadtdie Elemente zur Empörung, welche ihm die neuenicht geliefert hätte.

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Am 27. April erreichte der Nabab Rayguoh, nahe derGrenze des Königreichs Pannah, und am 30. die Re-ste der alten Stadt Sangoe, nicht weit von der Stelle,wo General Sir Hugh Rose den Aufständischen einesehr blutige Schlacht lieferte, die ihm mit dem Engpaßvon Maudampore den Schlüssel zu den Schluchten derVindhyas in die Hände lieferte.

Hier schloß sich dem Nabab sein Bruder wieder an,der in Begleitung Kâlagani’s nachgekommen war, undBeide gaben sich den Häuptlingen der hervorragend-sten Stämme zu erkennen. In den mit diesen eröffne-ten Verhandlungen wurden die Grundzüge einer all-gemeinen Erhebung besprochen und festgestellt. Wäh-rend Nana Sahib und Balao Rao im Süden operirten,sollten ihre Bundesgenossen auf dem nördlichen Ab-hange der Vindhyas das Commando führen.

Bevor sie nach dem Nerbuddathale zurückkehrten,wollten die beiden Brüder noch das Königreich Pannahbesuchen. Sie begaben sich dahin längs der Keyne, un-ter dem Dache riesiger Teks, gewaltiger Bambus undunter dem Schutze unzähliger Schlingpflanzen, wel-che bestimmt scheinen, ganz Indien zu überwuchern.Hier gewannen sie zahlreiche, wilde Anhänger unterdem armseligen Personal, das für den dortigen Rajahdie Diamantengruben der Umgegend ausbeutet. »Die-ser Rajah, sagt Rousselet, zog, da er einsah, zu welcherRolle die Herrschaft der Engländer ihn verurtheilte, die

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eines reichen Grundbesitzers der Rolle eines Schatten-fürsten vor. Ein reicher Grundbesitzer war er in derThat! Die ihm gehörende Diamantenregion erstrecktesich im Norden von Pannah in einer Länge von drei-ßig Kilometern hin, und die Bearbeitung seiner Gru-ben, deren Edelsteine in Benares und Allahabad zu dengesuchtesten zählen, beschäftigte eine große MengeHindus. Unter diesen Unglücklichen, welche die här-testen Arbeiten auszuführen hatten und die der Rajaheinfach köpfen ließ, wenn sich die Ausbeute an Dia-manten verminderte, mußte Nana Sahib Tausende vonParteigängern finden, welche entschlossen waren, fürdie Unabhängigkeit ihres Vaterlandes zu kämpfen undzu sterben – und er fand sie.

Von hier aus begaben sich die beiden Brüder endlichnach der Nerbudda hinab, um sich vorläufig wieder imPal von Tandit zu verbergen. Bevor der Aufstand näm-lich im Süden, gleichzeitig mit dem im Norden losbre-chen sollte, gedachten sie erst noch Bhopal aufzuwie-geln. Das ist eine große muselmanische Stadt, die stetsder Hauptsitz des Islam in Indien geblieben ist, und de-ren Begum sich den Engländern während des ganzengroßen Aufstandes treu ergeben erwiesen hatte.

In Begleitung von etwa zwölf Gounds kamen NanaSahib und Balao Rao am 24. Mai in Bhopal, am letzten

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Tage der Moharum-Feste an, mit denen die Muselma-nen Neujahr feiern. Beide trugen die Kostüme der »Jo-guis«, einer unheimlichen Bettlersecte, deren Mitglie-der lange Dolche mit abgerundeten Klingen bei sichführen, mit denen sie sich in Verzückung schlagen, oh-ne sich dabei besonders zu verletzen.

Unkenntlich in dieser Kleidung, folgten die beidenBrüder einer Procession durch die Straßen der Stadt,inmitten zahlreicher Elephanten, die auf dem Rückensogenannte »Tadzias«, das heißt kleine Tempel vonzwanzig Fuß Höhe, trugen; sie mischten sich dabeiunter die Muselmanen mit reichen goldgestickten Ue-berröcken und hohen Musselin-Mützen, und befandensich dann wieder unter den Musikern des Zuges oderunter Soldaten, Bajaderen, jungen Leuten in weibli-cher Tracht – eine bunte Menge, welche der ganzen Ce-remonie einen mehr carnevalistischen Anstrich verlieh.Mit den Hindus aller Klassen, unter denen sie viel Ge-treue zählten, hatten sie dabei unmerkbare, aber denAufständischen vom Jahre 1857 verständliche Zeichentauschen können.

Später Abends begab sich die ganze Volksmasse nachdem See, der dicht vor der östlichen Vorstadt liegt.

Unter betäubendem Geschrei, dem Knattern vonFeuerwaffen und dem Krachen von Petarden, so wiebeim Scheine Tausender von Fackeln stürzten dieGläubigen die Tadzias in die Fluthen des Sees. DieMoharum-Feste fanden damit ihren Abschluß.

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Da fühlte Nana Sahib, wie sich eine Hand auf seineSchulter legte. Er drehte sich um. Ein Bengali standneben ihm.

Nana Sahib erkannte in dem Hindu einen seiner al-ten Waffengefährten von Laknau. Er blickte den Mannfragend an.

Der Bengali theilte ihm flüsternd das Folgende mit,was Nana Sahib anhörte, ohne seine Erregung auchnur durch eine Miene zu verrathen.

»Der Oberst Munro hat Calcutta verlassen.– Und wo ist er?– Er war gestern in Benares.– Wohin geht er?– Nach der Grenze von Nepal.– In welcher Absicht?– Einige Monate daselbst zu verweilen.– Und nachher . . . ?– Nach Bombay zurückzukehren.«Jetzt erschallte ein leiser Pfiff. Ein Hindu glitt durch

die Menge und näherte sich Nana Sahib.Das war Kâlagani.»Mach’ Dich sofort auf den Weg, befahl diesem der

Nabab. Suche Munro auf, der jetzt nach Norden zu un-terwegs ist. Schließ’ Dich ihm an. Erweise ihm irgendwelche Dienste und setze schlimmsten Falles das Lebenauf’s Spiel, aber weiche nicht von seiner Seite, bevor er

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jenseits der Vindhyas nach dem Nerbuddathale hinab-gezogen ist. Dann, aber erst dann, gieb mir von seinemAufenthalte Nachricht!«

Kâlagani antwortete nur durch ein bestätigendesZeichen und verschwand wieder unter der Menge. EinWink des Nabab galt ihm als Befehl. Zehn Minuten spä-ter hatte er Bhopal schon im Rücken.

Jetzt trat Balao Rao an seinen Bruder heran.»Es ist Zeit, daß wir aufbrechen.– Ja wohl, erwiderte Nana Sahib, wir müssen vor

Tagesanbruch wieder im Pal von Tandit sein.– Auf den Weg also!«Beide folgten nun in Begleitung ihrer Gounds dem

nördlichen Ufer des Sees bis zu einer verlassenen Farm.Hier erwarteten sie und ihre Escorte die nöthigen Pfer-de. Diese gehörten zu der flüchtigen Race, denen manein sehr gewürzreiches Futter verabreicht und welchefünfzig Meilen in einer Nacht zurücklegen können. Umacht Uhr galoppirten sie auf der Straße von Bhopalnach den Vindhyas hin.

Nur aus Vorsicht wollte der Nabab vor Tage im Palvon Tandit eintreffen, da es jedenfalls gerathener er-schien, unbemerkt in das Thal zurückzukehren.

Die kleine Truppe flog also dahin, was die Pferde lau-fen konnten.

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Nana Sahib und Balao Rao sprachen zwar, währendsie so nebeneinander ritten, kein Wort, doch erfüll-te sie ein und derselbe Gedanke. Von diesem Ausflu-ge über die Vindhyas brachten sie nicht nur die Hoff-nung, nein, die Gewißheit mit heim, daß sich unzäh-lige Anhänger ihrer Sache anschließen würden. DasHochland von Central-Indien war vollständig in ihrerHand. Die auf den weiten Gebieten zerstreuten schwa-chen Militär-Cantonnements konnten unmöglich demersten Anprall der Empörer Widerstand leisten. Mitihrer Vernichtung gewann der Aufstand freien Raum,und bald mußte sich dann von einer Küste zur ande-ren eine Mauer fanatischer Hindus erheben, an der diekönigliche Armee voraussichtlich zerschellte.

Gleichzeitig dachte Nana Sahib aber auch an denglücklichen Zufall, der ihm Munro in den Weg führte.Endlich hatte der Oberst Calcutta, wo ihm nur schwerbeizukommen war, einmal verlassen. In der nächstenZeit konnte ihm keine seiner Bewegungen entgehen.Ohne daß er sich dessen versah, würde ihn Kâlagani’sHand ja nach den wildesten Berggegenden der Vind-hyas leiten, und dort konnte ihn nichts mehr vor derRache retten, die Nana Sahib noch immer gegen ihnhegte.

Balao Rao wußte von der Unterredung seines Bru-ders mit jenem Bengali kein Wort. Erst nahe dem Auf-gange zu dem Pal von Tandit, als man die Pferde kurze

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Zeit verschnaufen ließ, machte ihm Nana Sahib einekurze Mittheilung darüber.

»Munro hat Calcutta verlassen und begiebt sich nachBombay.

– Die Straße nach Bombay führt bis zum Strande desindischen Oceans!

– Die Straße nach Bombay, entgegnete Nana Sahibmit eigenthümlichem Tone, reicht diesesmal nur bis zuden Vindhyas!«

Diese Antwort sagte Alles.Die Gesellschaft stieg wieder zu Pferde und ver-

schwand in dem Baumdickicht vor dem Ufer der Ner-budda.

Es war jetzt fünf Uhr Morgens. Schon graute der Tag.Nana Sahib, Balao Rao und ihre Genossen kamen ebenan dem Wildbett der Nazzur an, das den Weg nach demPal hinauf bildet.

An diesem Punkte ließ man die Pferde unter der Auf-sicht zweier Gounds zurück, die sie nach dem nächstenDorfe führen sollten.

Die Uebrigen folgten den beiden Brüdern und Allekletterten die unter dem Wasser des Bergbaches erzit-ternden Stufen hinan.

Ringsum war es still. Noch unterbrach das Geräuschdes Tages nicht die Stille der Nacht.

Plötzlich donnerte ein Schuß durch die Luft, demmehrere andere nachfolgten. Gleichzeitig hörte manvon oben ein dreifaches Hurrah!

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Ein Officier, der einen Trupp von fünfzig Soldatenführte, erschien neben dem Pal.

»Feuer! Daß Keiner entkomme!« rief er noch einmal.Sofort erfolgte eine neue Salve, welche aus nächster

Nähe auf die Nana Sahib und seinen Bruder umgeben-den Gounds abgegeben wurde.

Fünf oder sechs Hindus fielen; die Uebrigen spran-gen in das Bett des Nazzur zurück und verschwandenim Walde.

»Nana Sahib! Nana Sahib!« riefen die Engländer,während sie in die enge Schlucht hinabdrangen.

Da erhob ein zu Tode Getroffener noch einmal dieHand gegen sie.

»Tod und Verderben den Eroberern!« preßte er mitschrecklicher Stimme noch hervor und fiel bewegungs-los zurück.

Der Officier trat an den Leichnam heran.»Ist das etwa Nana Sahib? fragte er.– Ja, er ist es, antworteten zwei Soldaten des De-

tachements, die den Nabab von ihrem Aufenthalte inKhanpur her genau kannten.

– Nun, dann auf die Anderen!« commandirte der Of-ficier. Die ganze Abtheilung eilte in den Wald zur Ver-folgung der Gounds.

Kaum waren Alle verschwunden, als ein Schatten ge-räuschlos den Abhang vom Pal herunterglitt.

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Es war die wandelnde Flamme, eingehüllt in ein lan-ges Stück braunen Stoffes, den ein Strick um die Hüf-ten zusammenhielt.

Am Vorabend hatte die Wahnsinnige unbewußt denOfficier und seine Leute hierher geführt. Kaum in dasThal zurückgekehrt, suchte sie ganz willenlos den Palvon Tandit auf, nach dem eine Art Instinct sie hin-zog. Diesmal aber ließ das sonderbare Wesen, das mansonst für stumm hielt, einen Namen über die Lippengleiten, nur den einen des Massenmörders von Khan-pur!

»Nana Sahib! Nana Sahib!« wiederholte sie immer,als ob das Bild des Nabab durch eine unerklärliche Ah-nung wieder vor ihre Seele getreten wäre.

Dieser Name erregte die Aufmerksamkeit des Offi-ciers im höchsten Grade. Er folgte der Wahnsinnigenauf dem Fuße. Sollte hier der Nabab sich versteckt hal-ten, auf dessen Kopf ein Preis ausgesetzt worden war?

Der Officier traf die geeigneten Maßregeln und ließdas Bett des Nazzur bis zum Anbruch des Tages bewa-chen. Als Nana Sahib und die Gounds dasselbe betre-ten hatten, empfing er sie mit einer Salve, welche meh-rere zu Boden streckte und unter diesen den Anführerdes Aufstandes der Sipahis.

Der Art war das Zusammentreffen, welches der Te-legraph noch am nämlichen Tage dem Gouverneur derPräsidentschaft Bombay meldete. Die Nachricht ver-breitete sich blitzschnell über die ganze Halbinsel, und

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so konnte sie Oberst Munro am 26. Mai aus der Zei-tung von Allahabad erfahren.

Diesesmal war an dem Tode Nana Sahib’s nicht zuzweifeln. Seine Identität wurde ja festgestellt und dasJournal brachte die Worte:

»Das indische Reich hat für die Zukunft nichts mehrzu fürchten von dem unmenschlichen Rajah, der ihmso viel Blut gekostet hat!«

Nachdem die Wahnsinnige den Pal verlassen, stiegauch sie in dem Bette des Nazzur herab. Aus ihren un-steten Augen leuchtete es wie ein inneres Feuer, dasplötzlich aufgeflammt schien, und ihre Lippen murmel-ten den Namen des Nabab.

So kam sie nach der Stelle, wo die Leichen lagen,und stand vor der still, welche die Soldaten von Khan-pur erkannt hatten. Das Gesicht des Todten hatte nocheinen drohenden Ausdruck.

Die Wahnsinnige kniete nieder und legte ihre Handauf den von Kugeln durchbohrten Körper, dessen Blutdie Falten ihrer Hülle befleckte. Sie sah ihn lange stieran, erhob sich, mit dem Kopfe schüttelnd, und stieglangsam das Bett des Nazzur hinab. Dann versank diewandelnde Flamme wieder in ihre gewohnte Theil-namlosigkeit, und der Name des von Allen verwünsch-ten Nana Sahib kam nicht mehr über ihre Lippen.

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17. UNSER SANATORIUM.

»Die Unmeßbaren der Schöpfung!« – Sollte dieserstolze Name, den der Mineralog Hauy zur Kennzeich-nung der amerikanischen Anden gebrauchte, nichtmit noch mehr Berechtigung Anwendung finden kön-nen auf die ausgedehnte Himalayakette, welche derMensch heute noch nicht mit mathematischer Sicher-heit zu messen im Stande ist?

Dieser Gedanke erfüllte mich beim Anblick jenergroßartigen Hochgebirgsnatur, in der Oberst Munro,Kapitän Hod, Banks und ich mehrere Wochen zubrin-gen sollten.

»Diese Bergriesen sind nicht allein unmeßbar, erklär-te uns der Ingenieur, sondern ihre Gipfel dürfen auchals unersteigbar gelten, da der menschliche Organis-mus in solchen Höhen nicht mehr zu functioniren ver-mag, wo die Dichtigkeit der Luft zu gering ist, um demAthembedürfnisse zu genügen!«

Ein zweitausendfünfhundert Kilometer langer Wallvon Urgebirgsformationen, wie Granit, Gneis undGlimmerschiefer, der vom zweiundsiebenzigsten biszum fünfundneunzigsten Meridian reicht und zweiPräsidentschaften, Agra und Calcutta, nebst zwei Kö-nigreichen, Bouthan und Nepal, theilweise bedeckt;– eine Kette, an der sich bei ihrer, den Gipfel desMontblanc um ein Drittel übersteigenden Höhe dreiverschiedene Zonen erkennen lassen, die erste vonfünftausend Fuß und einem gemäßigteren Klima als

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dem der vorgelagerten Ebenen, welche im Winter eineRoggen-, im Sommer eine Maisernte liefert; die zweitevon fünf- bis neuntausend Fuß, wo der Schnee schonschmilzt, wenn der Frühling einzieht; die dritte vonneun- bis fünfundzwanzigtausend Fuß Höhe und mitdickem Eise bedeckt, das selbst in der heißen Jahres-zeit der Sonnenstrahlen spottet; – in dieser großar-tigen Anschwellung der Erdkugel elf Pässe, von de-nen einige das Gebirge in einer Höhe von zwanzig-tausend Fuß durchbrechen und durch die man, we-gen der immerfort drohenden Lawinen, der Zerstörungdurch Bergströme und wegen des Vordringens gewal-tiger Gletschermassen nur unter großen Beschwerdennach Thibet gelangen kann; über diesem Kamme, ein-mal oben abgerundet zu mächtigen Kuppeln, ein an-dermal glatt wie der Tafelberg am Cap der Guten Hoff-nung, sieben bis acht theilweise vulkanische Einzelber-ge, welche die Quellen der Cogra, Djumma und desGanges beherrschen, wie der Doukia und der Kint-chindjinga, die über siebentausend Meter emporstei-gen, der Dhiodounga mit achttausend Meter, der Dha-walagiri mit achttausendfünfhundert, der Tchamoularimit achttausendsiebenhundert Meter Höhe; der MountEverest, der seinen Gipfel sogar bis neuntausend Me-ter emporsendet, und von welchem aus das Auge desBeobachters ein Ländergebiet so groß wie ganz Frank-reich müßte überblicken können; eine Aufhäufung vonBergmassen, welche die Alpen, wenn man sie auf die

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Alpen, die Pyrenäen, wenn man sie auf die Andenthürmte, in der Höhenscala der Erdkugel nicht über-treffen würden – das ist die kolossale Bodenerhebung,deren äußerste Gipfel auch der Fuß des verwegenstenBergsteigers niemals betreten wird, und die man dieHimalayakette nennt!

Die ersten Stufen dieser gigantischen Propyläen sindin großen Strecken dicht bewaldet. Hier findet manverschiedene Vertreter aus der reichen Familie der Pal-men, die in höheren Zonen endlosen Wäldern vonEichen, Cypressen und Pinien oder üppigen Bambus-dickichten und hohen Gräsern Platz machen.

Banks, der uns hierüber belehrte, erwähnte auch,daß die Grenze des ewigen Schnees am indischen Ab-hange des Gebirges bis auf viertausend Meter herab-reiche, sich am thibetanischen aber bis sechstausendMeter über dem Meere zurückziehe. Es kommt das da-her, daß die vom Südwinde herzugeführten Dunstmas-sen von dem ungeheueren Walle aufgehalten werden.Deshalb sind auf der anderen Seite von Gerstenfeldernund herrlichen Wiesen umgebene Dörfer noch in fünf-zehntausend Fuß Höhe anzutreffen. Wenn man denEingebornen glauben darf, reicht dort schon eine ein-zige Nacht hin, die Weideplätze mit einem grünen Tep-piche zu überziehen.

In der mittleren Zone repräsentiren Pfauen, Reb-hühner, Fasanen, Trappen und Wachteln die befiederte

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Welt. Ziegen giebt es in Ueberfluß, von Schafen wim-melt es überall. In der oberen Zone findet man nurnoch den Eber, die Gemse nebst der wilden Katze, undeinsam zieht der Adler seine weiten Kreise hoch überder dürftigen Pflanzenwelt, der schwach besetzten Mu-sterkarte einer arktischen Flora.

Bis dahin zog Kapitän Hod seine Sehnsucht freilichgar nicht. Weshalb hätte dieser Nimrod den Himalayaaufsuchen sollen, wenn er auch hier nur das gewöhnli-che Tafelwild hätte jagen können? Zum Glück sollte esaber an großen Raubthieren, die seiner Enfieldbüchseund seiner Explosionsgeschosse würdig waren, gewißnicht fehlen.

Am Fuße der ersten Abhänge der Bergkette hin er-streckt sich nämlich eine tiefere Zone, von den Hindusder Gürtel von Tarryani genannt. Es ist das eine lange,geneigte, sechs bis acht Kilometer breite, feuchtwarmeEbene mit düsterer Vegetation und dichten Wäldern,in welchen reißende Thiere mit Vorliebe hausen.

Ueber diesem Paradiese eines Jägers, der die nerve-nerschütternde Aufregung des Kampfes liebt, befandsich nur fünfzehnhundert Meter höher der von uns ge-wählte Halteplatz. Es war also leicht genug, nach die-sem Jagdreviere, das unter Niemandes Aufsicht stand,hinunter zu gehen.

Aller Aussicht nach durfte man annehmen, daß Ka-pitän Hod lieber die unteren Stufen des Himalaya als

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dessen obere Zonen aufsuchen werde. Hier harrten üb-rigens nach Aussage aller Reisenden, darunter auchdes humorvollen Victor Jacquemont, noch viele geo-graphische Räthsel ihrer endlichen Lösung.

»Man kennt also diese riesenhafte Bergkette nochimmer nur unvollkommen? fragte ich Banks.

– Sehr unvollkommen, antwortete der Ingenieur. DerHimalaya gleicht einem kleinen Planeten, der sich un-serer Erdkugel zwar angeschlossen hat, aber seine Ge-heimnisse bewahrt.

– Doch ist er bereist, erwiderte ich, und durch-forscht, soweit das möglich war!

– Gewiß! An Himalaya-Reisenden hat es nie gefehlt,bestätigte Banks. Die Brüder Gérard, Webb, die Officie-re Kirpatrik und Fraser, Hogdson, Herbert, Lloyd, Hoo-ker, Cunningham, Strabing, Skinner, Johnson, Moor-croft, Thomson, Griffith, Vigne, Hügel, die MissionäreHuc und Gabet, neuerdings die Gebrüder Schlagint-weit, Oberst Wangh und die Lieutenants Reuillier undMontgommery haben durch ausgezeichnete Arbeitendie orographische Anordnung dieses Rückens der Er-de in weitem Umfange kennen gelehrt. Trotz alledembleibt noch gar Vieles zu wünschen übrig. Die genaueHöhe der hervorragendsten Bergspitzen hat unzähligeBerichtigungen erfahren. So galt z. B. früher der Dha-walagiri für den König der ganzen Kette; nach späte-ren Messungen mußte er diesen Ehrenplatz dem Kint-chindjinga abtreten, der seinerseits wieder durch den

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Mount Everest entthront werden zu sollen scheint. Bis-her übertrifft der letztere alle seine Rivalen. Indessenwürde nach Aussage der Chinesen der Kouin-Lun –der freilich mit den präcisen Instrumenten der euro-päischen Geometer noch nicht gemessen wurde – denMount Everest noch um eine Kleinigkeit überragen,und der höchste Punkt unserer Erde wäre demnachüberhaupt nicht im Himalaya zu suchen. Jene Mes-sungen können übrigens erst dann als mathematischsicher gelten, wenn ihnen Barometer-Beobachtungenzugrunde liegen und dabei alle, für solche directeMessungen unerläßliche Vorsichtsmaßregeln beachtetwurden. Wie kann man aber dazu gelangen, ein Baro-meter nach jenen fast unersteigbaren Gipfeln zu schaf-fen? Das ist bisher eben noch nicht geschehen.

– Es wird aber dazu kommen, ließ Kapitän Hodsich vernehmen, ebenso wie man noch Reisen bis zumNord- und zum Südpol ausführen wird.

– Ganz ohne Zweifel!– Wie eine Reise bis in die unergründeten Tiefen des

Oceans!– Gewiß, gewiß!– Eine solche nach dem Mittelpunkte der Erde!– Bravo, Hod!– Wie überhaupt Alles noch einmal gelingen wird,

fügte ich hinzu.

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– Selbst die Fahrt nach einem beliebigen Planetenunseres Sonnensystems! fuhr Hod fort, der in solchenPhantasien nicht so leicht ein Ende fand.

– Nein, Kapitän, erwiderte ich. Der Mensch als einfa-cher Bewohner der Erde wird niemals im Stande sein,deren Grenzen zu überschreiten. Doch wenn er auchan ihrer Rinde festgenietet ist, so vermag er doch alleGeheimnisse derselben zu ergründen.

– Er kann das nicht nur, es ist sogar seine Pflicht! fielBanks ein. Alles was innerhalb der Grenzen der Mög-lichkeit liegt, wird und muß erreicht werden. Nachher,wenn der Mensch auf der von ihm bewohnten Kugelnichts mehr zu lernen hat, dann . . .

– Dann verschwindet er sammt dem Sphäroïd, dasfür ihn keine Geheimnisse mehr hat, vollendete Hodden Satz.

– Mit nichten! entgegnete Banks . . . , dann herrschter über dasselbe und nutzt es ganz zu seinem Vortheileaus. Da wir uns aber gerade im Himalayagebiete befin-den, will ich Ihnen, lieber Hod, Gelegenheit zu einermerkwürdigen Entdeckung bieten, die Sie vielleicht in-teressirt.

– Was meinen Sie, Banks?– In seinem Reiseberichte erwähnt der Missionär

Huc eines sonderbaren Baumes, der in Thibet ganzallgemein »der Baum der zehntausend Bilder« ge-nannt wird. Der Hindu-Legende nach soll nämlich

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Tong Kabac, der Reformator der buddhistischen Re-ligion, schon einige Tausend Jahre früher in einenBaum verwandelt worden sein, ehe Philemon, Baucisund Daphne, jene merkwürdigen Pflanzenwesen dermythologischen Flora, dasselbe Schicksal ereilte. DerHaarschmuck Tong Kabac’s soll damals zur Laubkronejenes heiligen Baumes geworden sein und auf seinenBlättern sollen sich, der Missionär behauptet das gese-hen – mit eigenen Augen gesehen – zu haben, von denBlattnerven gebildete thibetanische Schriftzüge vorfin-den.

– Ein Baum also, dem gleich gedruckte Blätter ent-sprießen! rief ich.

– Ja, und von denen man Sprüche der reinsten,höchsten Moral ablesen kann, fügte der Ingenieur hin-zu.

– Das lohnt der Mühe einer Untersuchung, sagte ichlachend.

– Suchen Sie darüber Gewißheit zu erlangen, meineFreunde, meinte Banks. Wenn solche Bäume im süd-lichen Theile Thibets vorkommen, so müssen sie auchin der oberen Zone, auf dem Abhange des Himalaya zufinden sein. Also haben Sie bei unseren Ausflügen einAuge darauf, diesen . . . ja, wie soll ich sagen . . . diesen»Sittenlehrer« zu entdecken.

– Nein, daran denke ich nicht! erwiderte Hod. Ichbin hier, um zu jagen, und habe keinen Nutzen vomBergklettern.

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– Aber, Freund Hod, entgegnete Banks, ein so kühnerBergsteiger wie Sie wird doch wenigstens einmal denGebirgskamm erklimmen?

– Niemals! erklärte der Kapitän bestimmt.– Und warum?– Ich habe auf alle Bergfahrten verzichtet!– Und seit wann?– Seit dem Tage, antwortete Kapitän Hod, da ich,

immer in Lebensgefahr schwebend, unter größterAnstrengung den Gipfel des Vrigel im KönigreicheBouthan erklomm. Man hatte mir versichert, daß nochkeines Menschen Fuß diese Spitze betreten habe. Dasstachelte meine Eigenliebe an! Unter tausend Gefah-ren gelange ich nach dem First, was finde ich aber dain einem Felsblock eingemeißelt? . . . »Durand, Zahn-arzt, Rue Caumartin 14, Paris!« – Seitdem klettere ichnicht mehr!«

Armer Kapitän! Ich muß indeß gestehen, daß Hoddie Erzählung dieser fatalen Enttäuschung mit so lu-stiger Geberde zum Besten gab, daß wir nicht umhinkonnten, aus vollem Herzen zu lachen.

Ich erwähnte wiederholt der »Sanatorien« der Halb-insel. Diese in den Bergen gelegenen Gesundheitssta-tionen werden während des Sommers, wo die bren-nende Hundstagssonne der Ebenen Indien zu verzeh-ren droht, von Rentiers, Beamten und Kaufleuten viel-fach aufgesucht.

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In erster Linie ist hier Simla zu nennen, das un-ter dem einunddreißigsten Breitengrade westlich vomfünfundsechzigsten Meridian liegt. Es ist das wirklichein Stückchen Schweiz mit Wasserfällen und Gebirgs-bächen und den im Schatten von Cedern und Pinienverstreuten Sennhütten, zweitausend Meter über demMeere. Nach Simla nenne ich Dordjiling mit seinenweißen Häusern, überragt vom Kintchindjinga, etwafünfhundert Kilometer von Calcutta und in einer Höhevon zweitausenddreihundert Metern, nahe dem sechs-undachtzigsten Längen- und dem siebenundzwanzig-sten Breitengrade – ein herrliches Plätzchen im schön-sten Lande der Welt.

An verschiedenen Punkten der Himalayakette findensich noch andere Sanatorien.

Jetzt tritt nun zu diesen frischen, gesunden Statio-nen, welche das brennende Klima Indiens unentbehr-lich macht, noch unser Steam-House hinzu. Doch dasgehört uns ganz allein. Es bietet allen Comfort der lu-xuriösesten Wohnungen der Halbinsel; hier finden wirin einer glücklichen Zone neben allen Erfordernissendes modernen Lebens eine Ruhe, die man in Simla oderDordjiling, wo sich Anglo-Indier in großer Zahl aufhal-ten, vergeblich suchen würde.

Unsere Niederlassung ist mit gutem Vorbedacht aus-gewählt. Die nach dem unteren Theile des Gebirges

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führende Straße theilt sich hier in zwei Aeste, um ei-nige im Osten und Westen verstreute Dörfer zu ver-binden. Das nächste derselben liegt gegen fünf Meilenvom Steam-House entfernt. Bevölkert ist dasselbe vonbiederen Bergbewohnern, welche Ziegen und Schafezüchten und ergiebige Korn- und Gerstenfelder besit-zen.

Bei unserem zahlreichen Personal bedurfte es unterBanks’ Leitung nur weniger Stunden, um ein Lager zuorganisiren, in dem wir sechs bis sieben Wochen ver-weilen wollten.

Einer der Vorberge jener vielgliedrigen Nebenketten,welche den ungeheueren Kamm des Himalaya stüt-zen, bot uns ein leicht wellenförmiges, etwa eine Mei-le langes und eine halbe Meile breites Plateau dazudar. Der grüne Teppich, der dasselbe bedeckt, gleichteinem weichen Sammetgewebe aus kurzem, dichtem,sozusagen plüschartigem Grase mit duftenden Veil-chen durchstickt. Baumähnliche Rhododendrons in derGröße kleiner Eichen, natürliche Blumenkörbe vollerCamelien erhöhen den Liebreiz des anmuthigen Bildes.Hier bedarf die Natur nicht der fleißigen Arbeiter vonIspahan oder Smyrna, um diesen Teppich aus feinervegetabilischer Wolle herzustellen. Einige tausend Sa-menkörner, die der Südwind diesem fruchtbaren Bo-den zuführt, ein wenig Wasser und ein wenig Sonnereichen hin, jenes weiche und unverwüstliche Gewebezu bilden.

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Auf dem Plateau erhebt sich ein Dutzend prächti-ger Bäume. Es sieht aus, als hätten diese sich als Irre-guläre von dem endlosen Walde abgesondert, der dieSeiten des Vorberges bedeckt und auf den Nachbarge-birgen noch sechshundert Meter emporsteigt. Cedern,Eichen, langblättrige Pandanen, Buchen, Ahorn- undJohannisbrotbäume grünen hier mitten unter Bana-nen, Bambus, Magnolien und japanischen Feigenbäu-men. Einzelne dieser Riesen streben mit ihren äußer-sten Zweigen über hundert Fuß von der Erde empor.Sie scheinen wirklich dazu geschaffen, eine Waldwoh-nung zu beschatten. Das Steam-House dient gewisser-maßen zur Vervollständigung der Landschaft. Die run-den Dächer seiner zwei Pagoden vermählen sich glück-lich mit all’ diesem grünen Gezweig, den starren oderbiegsamen Aesten und den Blättern, welche einmalklein und zart sind wie Schmetterlingsflügel und dannwieder breit und lang wie polynesische Pagaien. Unse-re fahrbaren Häuser verschwinden fast ganz unter ei-nem Dickicht von Laubwerk und Blumen. Nichts giebtKunde von ihrer besonderen Eigenschaft; sie erschei-nen vielmehr wie eine festbegründete Wohnstätte, dieihre Stelle nicht mehr wechseln soll.

Hinter uns rauscht zur rechten Seite des Bildes überden Abhang des Vorberges ein Wildbach, dessen ge-wundenes Silberband wir über tausend Fuß hinaufverfolgen können, und stürzt sich in ein natürlichesBecken, das eine Gruppe schöner Bäume beschattet.

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Aus dem Becken fließt dann quer durch das Wiesen-land ein Bach ab, der in einem rauschenden Wasserfallendigt und als solcher in eine, mit dem Auge nicht zuermessende Tiefe hinabstürzt.

So liegt das Steam-House ebenso bequem für dashäusliche Leben, wie es eine wahrhaft entzückendeAugenweide bietet.

Geht man nach dem vorderen Rande des Plateaus,so gewahrt man, daß jenes viele andere, minder be-deutende Bergrücken überragt, welche in gigantischenStufen bis zur Ebene hinabreichen. Der Hintergrund istgerade entfernt genug, um ihn mit dem Blicke umfas-sen zu können.

Rechts steht unser erster Wagen so in schiefer Rich-tung, daß man den südlichen Horizont ebenso vondem Balkon der Veranda, wie von den Seitenfensterndes Salons, von denen des Speisezimmers und von denCabinen der linken Seite übersehen kann. Große Ce-dern ragen darüber empor und heben sich deutlich vondem entfernten Hintergrunde der großen Bergkette ab,welche unter ewigem Schnee begraben liegt. Zur lin-ken Hand lehnt sich der zweite Wagen an die Wandeines gewaltigen, von der Sonne vergoldeten Granit-felsens. Sowohl durch seine bizarre Form wie durchseinen warmen Farbenton erinnert dieser Felsen leb-haft an jene riesigen »Plum-Puddings«, welche Russel

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Kilough in seiner Reise durch das südliche Indien er-wähnt. Von dieser, Mac Neil und dem übrigen Perso-nal überlassenen Wohnung sieht man nur eine Seite.Sie steht etwa zwanzig Schritte von der Hauptwoh-nung entfernt, wie das Nebengebäude einer bedeuten-den Pagode.

Am Ende eines der Dächer, welche dieselbe über-wölben, erhebt sich ein feiner Streifen bläulichen Rau-ches aus dem Küchenlaboratorium des Monsieur Para-zard. Weiter nach links hin bedeckt eine, von dem Wal-de kaum getrennte Baumgruppe den westlichen Randund bildet gleichsam die Seitencoulissen der Land-schaft. Im Rücken und zwischen den beiden Wohnun-gen erhebt sich ein riesenhafter Mastodon. Es ist unserStahlriese, der unter die Laubwölbung großer Panda-nen gestellt ist. Mit seinem erhobenen Rüssel scheinter die oberen Zweige derselben »abzunagen«. Aberer steht jetzt still. Er ruht aus, obwohl er der Ruhenicht bedarf. Jetzt dient er als furchtloser Wächter desSteam-Houses, wie ein ungeheures antediluvianischesGeschöpf, und vertheidigt an der Straße, welche erselbst emporklomm, den Zugang zu unserem beweg-lichen Weiler.

So kolossal unser Elephant auch erscheint – wenig-stens so lange man nicht an die himmelhohe Bergkettedenkt, welche sich sechstausend Meter über das Pla-teau erhebt – so gleicht er doch fast gar nicht mehr

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jenem künstlichen Riesen, mit dem Banks’ geschickteHand die indische Fauna beschenkte.

»Eine Mücke auf der Façade einer Kathedrale!« sagteKapitän Hod mit einem gewissen Aerger.

Der Vergleich war nur zu passend. Dahinter ragtenämlich ein Granitblock empor, aus dem man bequemtausend Elephanten von der Größe des unserigen hät-te meißeln können, und dieser Block bildete nur einenAbsatz, eine der hundert Stufen jener Treppe, die nachdem Kamm des Gebirges hinausführt und die der Dha-walagiri mit seinem spitzen Gipfel bekrönt.

Manchmal senkt sich der Himmel über diesem Bil-de nach dem Beobachter herab. Nicht allein die höch-sten Bergspitzen, sondern auch der mittlere Kamm ver-schwindet zeitweilig. Es rührt das von dichten Dunst-massen her, welche sich in der mittleren Zone des Hi-malaya verbreiten und den ganzen unteren Theil des-selben verhüllen. Die Landschaft schrumpft gewisser-maßen zusammen, und dann erst scheinen, wie durchoptische Täuschung, die Wohnstätten, Bäume, die be-nachbarten Berge und auch der Stahlriese selbst ihrenatürliche Größe wieder zu gewinnen.

Es kommt zuweilen auch vor, daß niedriger stehen-de Wolken von gewissen feuchten Winden gejagt, nochunterhalb unseres Plateaus hinziehen. Dann erblicktdas Auge nichts als ein schäumendes Meer, auf dessenbewegter Fläche die Sonne wunderbare Farbenspiele

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hervorzaubert. Nach oben und nach unten verschwin-det der Horizont und es scheint, als wären wir in ir-gend eine, außerhalb der Grenze des Erdballes liegen-de Luftregion versetzt.

Da schlägt der Wind um; eine durch die Lückender Bergkette dringende nördliche Brise fegt die Nebelweg, das Dunstmeer condensirt sich fast augenblick-lich, die Ebene weicht bis zum südlichen Horizont zu-rück, das prächtige Profil des Himalaya zeichnet sichwieder an dem gereinigten Grunde des Himmels ab,der Rahmen des Bildes nimmt seine normale Größe an,und der entzückte Blick, den kein Hinderniß einengt,umfaßt alle Einzelheiten eines Panoramas von sechzigMeilen Durchmesser.

18. MATHIAS VAN GUITT.

Am nächsten Morgen, dem 26. Juni, weckte michdas Geräusch wohlbekannter Stimmen. Ich sprang auf.Kapitän Hod und sein Diener Fox waren im Speisezim-mer in lebhafter Unterhaltung begriffen. Ich geselltemich zu ihnen.

Gleichzeitig hatte Banks sein Zimmerchen verlassenund der Kapitän redete ihn mit volltönender Stimmean.

»Nun, Freund Banks, da wären wir ja endlich in demersehnten Hafen! Hier wird nun Rast gemacht! Es han-delt sich nicht mehr um einen Aufenthalt von mehre-ren Stunden, sondern von einigen Monaten.

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– Gewiß, lieber Hod, antwortete der Ingenieur, undnun können Sie auch nach Belieben jagen. Die Pfeifedes Stahlriesen wird Sie nicht mehr nach dem Lager-platz zurückrufen.

– Hörst Du, Fox?– Gewiß, Herr Kapitän, bestätigte der Diener.– Nun sei mir der Himmel günstig, rief Hod, das

Sanatorium des Steam-Houses verlasse ich aber nichteher, als bis der Fünfzigste von meiner Büchse gefallenist! Der Fünfzigste, Fox! Es scheint mir nur, als werde esmit dem Fünfzigsten so seine Schwierigkeiten haben!

– Wir werden sie zu besiegen wissen, bemerkte Fox.– Weshalb glauben Sie das, Kapitän Hod, fragte ich.– O, Maucler, das ist so eine Ahnung . . . Eine Jäge-

rahnung, weiter nichts!– So werden Sie also, sagte Banks, schon von heute

an von hier ausziehen und den Feldzug eröffnen?– Von heute an, erwiderte Hod. Wir werden damit

beginnen, das Terrain zu recognosciren und die unte-re Zone bis zu den Wäldern von Tarryani abzusuchen– vorausgesetzt, daß die Tiger ihre alte Heimat nichtaufgegeben haben . . .

– Wie können Sie das glauben? . . .– Ah, mein bekanntes Pech!– Bekanntes Pech! . . . Am Himalaya! . . . versetzte

der Ingenieur, wäre das möglich?– Nun, wir werden ja sehen! Sie begleiten uns doch,

Maucler? fragte Kapitän Hod, sich an mich wendend.

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– Ei, gewiß!– Und Sie, Banks?– Ich ebenfalls, antwortete der Ingenieur, und ich

hoffe sogar, daß auch Munro sich so wie ich, das heißtmehr als Dilettant, Ihnen anschließen wird.

– Oho, entgegnete Kapitän Hod, als Dilettant! Nun,meinetwegen, aber als wohlbewaffneter Dilettant. Hierist nicht die Rede davon, mit dem Stocke in der Handspazieren zu gehen. Das wäre eine Beleidigung für dieRaubthiere von Tarryani!

– Einverstanden! antwortete der Ingenieur.– Also, Fox, fuhr der Kapitän, sich an seinen Diener

wendend, fort, diesmal keine Mißgriffe! Wir sind imLande der Tiger! Vier Enfieldbüchsen für den Oberst,für Banks, Maucler und mich, und zwei Gewehre mitexplodirenden Geschossen für Dich und Goûmi.

– Seien Sie ohne Sorgen, Herr Kapitän, versicherteFox. Das Wild soll sich nicht zu beklagen haben!«

Dieser Tag sollte also der Erforschung jenes Waldesvon Tarryani gewidmet werden, der, noch unterhalbunseres Sanatoriums, den Fuß des Himalaya bedeckt.Nach eingenommenem Frühstück, gegen elf Uhr, stie-gen wir, Sir Edward Munro, Banks, Hod, Fox, Goûmiund ich, die schräg nach der Ebene hinabfallende Stra-ße hinunter, ließen aber die beiden Hunde zurück, dieuns heute nichts nützen konnten.

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Der Sergeant Mac Neil, Storr, Kâlouth und der Kochblieben gleichfalls im Steam-House, um unsere Ein-richtung zu vollenden. Nach zweimonatlicher Fristmußte auch der Stahlriese innerlich und äußerlich un-tersucht, gereinigt und in Stand gesetzt werden. Daserforderte eine lange, sorgsame und ausdauernde Ar-beit, bei der seine gewöhnlichen Cornacs, der Heizerund der Maschinist, nicht viel feiern konnten.

Um elf Uhr hatten wir das Sanatorium verlassen,und wenige Minuten später, bei der ersten Wendungdes Weges, verschwand das Steam-House unserenBlicken hinter einem dichten Baumvorhang.

Es regnete nicht mehr.Unter dem Antrieb eines frischen Nordostwindes

jagten die in den oberen Schichten der Atmosphäretreibenden, zerrissenen Wolken mit großer Schnellig-keit dahin. Der Himalaya war grau – die Tempera-tur für Fußgänger wie geschaffen; freilich fehlten jetztauch jene reizenden Spiele des wechselnden Lichtesund Schattens, welche große Wälder sonst zu bietenpflegen.

Zweitausend Meter auf directem Wege hinabzustei-gen, das wäre eine Sache von fünfundzwanzig bis drei-ßig Minuten gewesen, wenn die vielen Windungen,welche die Steilheit der Abhänge nöthig machte, nichtden Weg bedeutend verlängert hätten. So brauchten

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wir nicht weniger als anderthalb Stunden, um die obe-re Grenze der Wälder von Tarryani, fünf- bis sechstau-send Fuß über der Ebene zu erreichen. Doch legten wirden Weg in fröhlichster Laune zurück.

»Achtung, rief der Kapitän Hod. Jetzt betreten wirdas Gebiet der Tiger, Löwen, Panther, Guepards undanderer wohlthätiger Bewohner der Himalaya-Region.Es ist zwar ganz schön, die wilden Thiere zu besiegen,aber noch besser, nicht von ihnen besiegt zu werden!Halten wir uns demnach hübsch beieinander und las-sen wir der klugen Vorsicht ihr Recht!«

Eine derartige Empfehlung aus dem Munde eines sounerschrockenen Jägers verdiente gewiß alle Beach-tung. Jeder von uns schrieb sich dieselbe hinter dasOhr. Die Büchsen und Flinten wurden geladen, dieSchlösser nachgesehen, die Hähne in Sicherheit ge-setzt. Wir waren auf Alles vorbereitet.

Ich bemerke hierzu noch, daß man sich nicht nur vorreißenden Thieren, sondern auch vor Schlangen hütenmußte, von denen in den Wäldern Indiens die gefähr-lichsten Arten vorkommen. Die »Belongas«, die grü-nen, die Peitschenschlangen nebst manchen anderensind außerordentlich giftig. Die Zahl der Opfer, welchejährlich dem Bisse jener Reptilien unterliegen, über-steigt fünf- bis sechsmal die der Hausthiere und Men-schen, welche durch die Zähne der Raubthiere um-kommen.

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Im Gebiete von Tarryani erforderte es also die ein-fache Klugheit, das Auge überall zu haben, aufzumer-ken, wohin man den Fuß setzte, worauf man die Handstützte, auf das leiseste Geräusch zu achten, das ausdem Grase kam oder sich durch das Gebüsch verbrei-tete.

Um halb ein Uhr gelangten wir unter das Laubdachmehrerer, am Waldessaume dicht zusammenstehenderBäume. Ihr hohes Geäst verstrickte sich über einigenbreiteren Wegen, welche der Stahlriese bequem hättepassiren können.

Durch diesen Theil des Waldes beförderten die Berg-bewohner schon seit langer Zeit das geschlagene Holz;auch jetzt zeigte der weiche Thonboden ziemlich fri-sche Wagenspuren. Diese Hauptstraßen verliefen inder Richtung der Bergkette, reichten der Länge nachdurch ganz Tarryani und verknüpften die Lichtungen,welche die Axt der Holzschläger hier und da geschaf-fen hatte; auf beiden Seiten mündeten ferner schma-le Fußsteige aus, die sich in dem undurchdringlichenDickicht verloren.

Wir folgten also diesen Alleestraßen, mehr als Feld-messer denn als Jäger, da es uns zunächst darum zuthun war, deren Lage und Verlauf kennen zu lernen.Kein Geheul unterbrach das Schweigen des tiefen Wal-des. Breite, offenbar noch ganz frische Fährten bewie-sen jedoch, daß die Raubthiere Tarryani keineswegsverlassen hatten.

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Plötzlich, eben als wir um eine Ecke der Allee bogen,welche vor einem scharf vorspringenden Berge etwasnach rechts ausbog, hemmte unsere Schritte ein Ausrufdes Kapitän Hod, der immer vorausging.

Zwanzig Schritt vor uns erhob sich, an der Ecke ei-ner von mächtigen Pandanen begrenzten Waldblöße,ein, wenigstens seines Aussehens wegen merkwürdi-ges Bauwerk. Ein Haus war es nicht, dazu fehlten ihmRauchfang und Fenster; eine Jägerhütte auch nicht,denn dazu fehlten ihm die Schießscharten. Man hättedas Ganze wohl für ein, in der Tiefe des Waldes verlo-renes Hindu-Grab ansehen können.

Stelle man sich einen verlängerten Würfel vor, er-richtet aus nebeneinander gestellten, in den Bodenfestgerammten Stämmen, deren obere Enden durchbiegsame Zweige fest verbunden waren. Das Dach bil-deten andere, wagrecht liegende und am Kopfe der er-steren haltbar eingezapfte Stämme. Offenbar hatte derErbauer dieses kleinen Bollwerkes demselben nach al-len fünf Seiten die größtmögliche Festigkeit zu verlei-hen gesucht. Es maß etwa sechs Fuß in der Höhe, zwölfin der Länge und fünf in der Breite. Von einem Zugan-ge war nichts zu erblicken, wenn diesen nicht an derVorderseite eine starke, oben abgerundete Bohle ver-deckte, welche das ganze Bauwerk ein wenig überrag-te.

Ueber dem Dache erhoben sich mehrere biegsame,eigenartig angeordnete und untereinander verknüpfte

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Zweige. Am Ende eines horizontalen Hebels, der die-se Armatur trug, hing ein Laufknoten, oder eigentlicheine aus starken Lianenflechten gebildete Schnalle her-ab.

»Ah, was ist das? rief ich verwundert.– Das ist, erwiderte Banks nach kurzer Betrachtung,

weiter nichts als – eine Mäusefalle! Welche Mäuse zufangen sie bestimmt ist, das werden sich die Herrenselbst sagen.

– Also eine Tigerfalle? platzte Hod heraus.– Ja wohl, bestätigte Banks, eine Tigerfalle, deren

von der Bohle, welche der Lianenknoten gewöhnlichoben hält, jetzt verschlossene Thür zugefallen ist, weildas Stellbrett im Innern gewiß durch ein Thier berührtwurde.

– Es ist das erste Mal, sagt Hod, daß ich in den Wäl-dern Indiens eine derartige Falle sehe. Eine Mäusefalle,wahrhaftig! Das erscheint aber eines Jägers unwürdig!

– Und eines Tigers ebenfalls! fügte Fox hinzu.– Gewiß! meinte Banks, wenn es sich aber darum

handelt, wilde Bestien auszurotten, und nicht darum,sie zum Vergnügen zu jagen, so bleibt das beste Mittelimmer dasjenige, durch welches die meisten unschäd-lich gemacht werden. Diese Falle hier scheint mir rechtsinnreich erdacht, um wilde Thiere anzulocken und ge-fangen zu halten, so mißtrauisch und stark sie auchsein mögen.

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– Da das Gleichgewicht des Fallbrettes, welches dieThüre hielt, gestört worden ist, bemerkte Oberst Mun-ro, so glaube ich, daß sich wahrscheinlich irgend einRaubthier gefangen hat.

– Das werden wir bald erfahren! rief Kapitän Hod,und wenn die Maus nicht schon todt ist . . . «

Der Kapitän begleitete seine Worte mit einer entspre-chenden Geste und knackte mit dem Hahne der Büch-se. Die Uebrigen folgten seinem Beispiel, indem sie sichzum Schießen fertig machten.

Wir konnten gar nicht darüber in Zweifel sein, daßdieses hölzerne Blockhaus eine Falle darstelle, wie mansie in den Wäldern der Malayenländer häufiger an-trifft.

Das Werk eines Hindus schien sie nicht zu sein, wohlaber ließ ihre höchst empfindliche und doch überaussolide Construction die Zweckmäßigkeit der ganzenAnlage auf den ersten Blick erkennen.

Nach kurzer Ueberlegung näherten sich KapitänHod, Fox und Goûmi der Falle, um sie zuerst von allenSeiten zu besichtigen. Nirgends gewährte jedoch etwaeine Lücke zwischen den lothrechten Stämmen einenEinblick in das Innere derselben.

Sie lauschten gespannt. Nicht das leiseste Geräuschverrieth die Anwesenheit eines lebenden Wesens indem Holzwürfel, der stumm wie ein Grab vor uns lag.Kapitän Hod und die Anderen kamen wieder nach derVorderseite zurück. Sie überzeugten sich davon, daß

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die bewegliche Bohle in den verticalen Fugen herab ge-glitten sein mußte. Wenn man diese emporhob, wurdeoffenbar der Zugang zur Falle freigelegt.

»Es ist nicht das mindeste zu hören! sagte KapitänHod, der das Ohr an die Thür gelegt hatte, nicht einmalein Athemzug! Die Mäusefalle ist leer.

– Jedenfalls keine Unvorsichtigkeit!« ermahnte OberstMunro.

Er nahm auf dem Stamme eines Baumes zur Linkender Lichtung Platz, und ich setzte mich neben ihn.

»Nun vorwärts, Goûmi!« trieb Kapitän Hod.Der gewandte, wie ein Affe bewegliche und wie

ein Leopard geschmeidige Goûmi – ein wahrer Hindu-Clown – verstand, was der Kapitän meinte. Seine Ge-schicklichkeit bestimmte ihn naturgemäß zu dem ver-langten Dienste. Er schwang sich mit einem Satze aufdas Dach der Falle und ergriff einen der Zweige, wel-che die obere Armatur bildeten. Dann glitt er auf demHebel nach dem Lianenringe vor, den er durch seinKörpergewicht bis zu dem Kopftheile der den Eingangverschließenden Bohle herabzog.

Dieser Ring wurde darauf in einem dazu ausgespar-ten flachen Einschnitte der Bohle befestigt. Nun be-durfte es nur noch der nöthigen Belastung am ande-ren Hebelende, um die Maschinerie in Bewegung zusetzen.

Das erforderte jedoch die vereinten Kräfte unsererkleinen Gesellschaft. Oberst Munro, Banks, Fox und

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ich, wir begaben uns deshalb nach der Rückseite derFalle, um diese Bewegung auszuführen.

Goûmi verblieb in der Armatur, um den Hebel frei zumachen, wenn irgend ein Hinderniß dessen Functionbeeinträchtigen sollte.

»Wenn Sie mich noch brauchen, rief Kapitän Hoduns zu, so komme ich; geht es aber ohne mich, so blei-be ich lieber vor der Falle. Wenn ja ein Tiger heraus-käme, soll ihn wenigstens eine Kugel begrüßen.

– Und den würden Sie sich als zweiundvierzigstenanrechnen? fragte ich den Kapitän.

– Warum nicht? antwortete Hod, wenn er durch mei-ne Büchse fällt, findet er den Tod ja in der Freiheit!

– Verkaufen wir das Fell des Bären, fiel der Ingenieurda ein, nicht eher, als bis er erlegt ist.

– Vorzüglich, da dieser Bär ein Tiger sein dürfte! füg-te Oberst Munro hinzu.

– Nun faßt kräftig an, Alle zusammen!« rief Banks.Die Bohle war sehr schwer und glitt nur schwierig in

ihren Falzen, doch gelang es uns, sie zu bewegen. Baldschwebte sie etwa einen Fuß hoch über dem Boden.

Halbgebückt und die Büchse in Anschlag, bemühtesich Kapitän Hod zu sehen, ob sich eine kräftige Tatzeoder ein drohender Rachen an der Oeffnung der Fallezeigte, doch vergebens.

»Noch einen Ruck! rief Banks.Mit Hilfe Goûmi’s, der am hinteren Hebelende an-

faßte, gelang es, die Bohle nach und nach höher zu

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ziehen. Bald wurde die Oeffnung weit genug, um aucheinem größeren Raubthiere den Durchgang zu gestat-ten.

Aber kein Thier ließ sich sehen.Noch erschien es möglich, daß der Gefangene sich

bei dem, rings um die Falle entstandenen Geräuschevielleicht in die dunkelste Ecke derselben verkrochenhatte. Vielleicht lauerte das Thier nur auf den günsti-gen Augenblick, mit einem Satze heraus zu springen,Jeden, der ihm im Wege war, zu überrennen und in derTiefe des Waldes zu verschwinden.

Es waren das Augenblicke der höchsten Spannung.Da sah ich den Kapitän einige Schritte vortreten, den

Finger an der Krappe der Büchse, wobei er sich bemüh-te, den ganzen Innenraum der Falle zu überblicken.

Die Bohle war schon ganz emporgezogen und dasLicht drang in breitem Strahle durch die Oeffnung ein.

Jetzt vernahm man durch die Wände hindurch einleises Geräusch, dann einen dumpfen Laut, wie einfurchtbares Gähnen, das mir sehr verdächtig erschien.

Ohne Zweifel war ein Thier hier, welches vorherschlief und das wir plötzlich geweckt hatten.

Kapitän Hod trat näher heran und richtete das Ge-wehr nach einer unbestimmten Gestalt, die sich imHalbschatten regte.

Plötzlich ward es in der Falle lebendig. Ein Schreckens-ruf erschallte und ihm folgten die in gutem Englischgesprochenen Worte:

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»Nicht schießen, um des Himmels willen! Nichtschießen!«

Gleich darauf trat ein Mann aus der Falle.Unser Erstaunen war so groß, daß wir die Armatur

losließen, wodurch die Bohle zurückfiel und den Ein-gang auf’s Neue verschloß.

Indessen ging die so unerwartet erschienene Persön-lichkeit auf Kapitän Hod zu, dessen Büchse noch im-mer nach der Brust des Fremdlings zielte, und sagte inziemlich bestimmtem, von einer emphatischen Hand-bewegung begleitetem Tone:

»Wollen Sie gefälligst Ihr Gewehr aufrichten, meinHerr! Sie haben es hier nicht mit einem tarryanischenTiger zu thun!«

– Mit wem haben wir denn die Ehre . . . ? fragte daBanks, auf den Mann zutretend.

– Mit dem Naturforscher Mathias Van Guitt, Haupt-lieferanten von Pachydermen, Tardigraden, Proboscidi-en, Raub- und anderen Säugethieren für die Handlun-gen der Herren Charles Rice in London und Hagenbeckin Hamburg.«

Darauf wies er mit der Hand auf unseren Kreis.»Und die Herren? . . .– Oberst Munro nebst dessen Reisegefährten, ant-

wortete Banks, uns summarisch vorstellend.– Auf einer Vergnügungsfahrt durch die Forsten

des Himalaya! ergänzte der Händler gleich selbst. Ein

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herrlicher Ausflug, wahrhaftig! Ich mache Ihnen meinCompliment, meine Herren!«

Welch’ ein Original hatten wir da vor uns? Hätte mannicht glauben können, sein Gehirn habe durch die Ein-sperrung in der Falle etwas gelitten? War es ein Narroder war der Mann bei Verstande? Welcher Kategorievon Zweihändern gehörte das Individuum an?

Wir sollten das nicht nur erfahren, sondern diesePersönlichkeit, die sich für einen Naturforscher ausgabund es in der That war, in der Folge auch noch weiterkennen lernen.

Herr Mathias Van Guitt, der Menagerie-Lieferant,trug eine Brille und mochte fünfzig Jahre zählen. Einglattes Gesicht, blinzelnde Augen, eine gewaltige Nase,die ewige Bewegung des ganzen Körpers, seine jedemSatze, den er sprach, angepaßten, mehr als ausdrucks-vollen Gesten drückten ihm unverkennbar den Stem-pel des bekannten alten Komödianten aus der Provinzauf. Wer ist nicht einmal solchen ergrauten Theater-helden begegnet, deren ganzes, von dem Horizonteeiner Rampe und eines Prospectes begrenztes Lebensich zwischen der »Hof-« und der »Gartenseite« eineswandernden Thespiskarrens abspielte? UnermüdlicheSprecher, gefährliche Gesticulatoren und höchst einge-nommen für das werthe Ich, pflegen sie den nach rück-wärts geworfenen Kopf möglichst hoch zu tragen, nurerscheint dieser im Alter oft so leer, daß man zu der

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Ueberzeugung kommt, er werde auch im kräftigen Le-bensalter nicht besonders gefüllt gewesen sein. In Ma-thias Van Guitt stak so ein Stückchen eines verwitter-ten Bretterhelden.

Ich habe einige Male die lustige Anekdote von einemarmen Teufel von Sänger gehört, der jedes Wort seinerRolle mit der entsprechenden grobsinnlichen Geste be-gleiten zu müssen glaubte.

So z. B. in der Oper, »Masaniello« (das ist die Stum-me von Portici), bewegte er bei der in vollem Brusttonherausposaunten Stelle:

Wenn aus einem Fischer von Neapel . . .

den gegen die Zuschauer ausgestreckten Arm so, alsob er an einem Angelhaken einen zappelnden Hechthängen hätte. Dann weiter bei den Worten:

Der Himmel einen Fürsten machenwollte . . .

erhob er die Hand nach dem Zenith, um auf den Him-mel hinzuweisen, während die andere, zur Verbildli-chung der Königskrone einen Kreis um das edle Hauptbeschrieb –

Würde er, ein Rebell gegen des Schick-sals Rathschluß . . .

dabei schien er mit Gewalt einem auf ihn wirkendenDrucke Widerstand zu leisten –

Seine Barke weiter treibend rufen . . .

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hierzu endlich bewegte er beide Arme lebhaft vonrechts nach links und umgekehrt, als handhabte ereinen Bootsriemen, um seine Geschicklichkeit in derFührung eines Fahrzeuges zu beweisen.

Ganz ähnliche Gewohnheiten, wie jener Sänger,hatte nun auch der Händler Mathias Van Guitt. Erschmückte seine Rede gern mit den gewähltesten Phra-sen und konnte für den Zuhörer, der sich nicht außerdem Bereiche seiner Handbewegungen zu halten wuß-te, leicht gefährlich werden.

Wie wir später aus seinem eigenen Munde hörten,war Mathias Van Guitt ursprünglich Professor der Na-turwissenschaften am Museum von Rotterdam, demsein Lehrstuhl nicht zugesagt hatte. Offenbar regte dasAuftreten des würdigen Mannes schon jener Zeit dieLachmuskeln besonders an, und wenn jemals Schaarenvon Zuhörern zu seinem Katheder strömten, so wolltendiese offenbar weniger lernen, als sich nur belustigen.Unter so bewandten Umständen hatte er sich, über-drüssig, theoretische Zoologie erfolglos vorzutragen,nach Indien begeben, um sich der praktischen Zoologiezu widmen. Diese Thätigkeit behagte ihm weit mehrund er schwang sich dabei zum wohlbestallten Liefe-ranten der großen Hamburger und Londoner Handels-firmen empor, aus denen die öffentlichen und privatenMenagerien der Alten und Neuen Welt ihren Bedarf zudecken pflegen.

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Mathias Van Guitt befand sich augenblicklich in Tar-ryani, um eine umfassende Bestellung auf Raubthierefür Europa auszuführen. Sein Lagerplatz befand sichkaum zwei Meilen von der Stelle, wo wir ihn aus derFalle befreit hatten.

Wie war der Händler aber da hineingerathen? Die-se Frage richtete Banks an ihn, und er gab darauf fol-gende, mit abwechslungsreichen Gesten illustrirte Ant-wort:

»Ja, das war gestern, die Sonne hatte schon denHalbkreis ihres täglichen Umlaufes vollendet. Da fieles mir ein, eine der von mir eigenhändig errichteten Ti-gerfallen zu besichtigen. Ich verließ also meinen Kraal,den die Herren hoffentlich bald mit ihrem Besuchebeehren werden, und gelangte nach dieser Waldblöße.Ich war allein; meine Leute hatten dringende Arbeitenvor und ich wollte sie nicht davon abhalten. Das wareine Unklugheit. Als ich zur Falle kam, überzeugte ichmich sogleich, daß die, die Thür bildende beweglicheBohle noch aufgezogen war, und zog daraus die logi-sche Schlußfolgerung, daß sich bis jetzt kein Raubt-hier gefangen haben könne. Indessen wollte ich michüberzeugen, ob der Köder sich noch vorfinde und obder Hebel richtig und leicht functionire. Ich glitt alsomit geschickter kriechender Bewegung durch den en-gen Eingang.«

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Mathias Van Guitt’s Hand erläuterte dabei durch ei-ne elegante Wellenbewegung etwa das Schleichen ei-ner Schlange durch das hohe Gras.

»Im Innern der Falle angelangt, fuhr der Händlerfort, prüfte ich das Ziegenviertel, dessen Ausdünstungdie Bewohner dieses Theiles des Waldes anlocken soll-te. Der Köder erwies sich unberührt. Eben wollte ichumkehren, als ein Stoß meines Armes das Spiel desHebels auslöste: die Klappe fiel nieder, und ich saß,ohne jede Möglichkeit, daraus entkommen zu können,in meiner eigenen Falle gefangen.«

Mathias Van Guitt schwieg einen Augenblick, umden ganzen Ernst seiner fatalen Lage zu kennzeichnen.

»Immerhin, meine Herren, nahm er seine Rede wie-der auf, muß ich gestehen, daß ich die Sache anfäng-lich von ihrer komischen Seite auffaßte. Ich war einge-sperrt, richtig! Hier gab es keinen Stockmeister, um dieThüre des Kerkers zu öffnen, auch wahr! Aber ich sag-te mir, daß meine Leute, wenn ich ihnen allzu langeausbliebe, Nachforschungen anstellen würden, die janicht ohne Erfolg bleiben konnten. Das Ganze erschienmir nur als eine Frage der Zeit.

»Was soll man in einer Herberge wohl anderes thunals schlafen? sagt ein französischer Erzähler. Ich schliefalso ein, und so verflossen zwei Stunden ohne Verände-rung meiner Situation. Der Abend sank hernieder, derHunger meldete sich. Das Beste, was ich thun zu kön-nen glaubte, war, ihn durch Schlaf hinweg zu täuschen.

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Ich handelte als Philosoph und verfiel in tiefen Schlaf.Die Nacht war still; im Walde regte sich nichts. MeinSchlummer blieb ungestört, und vielleicht schliefe ichnoch, wenn mich nicht ein ungewohntes Geräusch ge-weckt hätte. Die Klappe der Falle stieg langsam em-por, das Licht des Tages brach sich Bahn in meinendunklen Schlupfwinkel, und ich brauchte nur heraus-zutreten . . . Den Schreck können Sie sich vorstellen,als ich da das Mordinstrument auf meine Brust gerich-tet sah. Noch einen Augenblick und ich war von einerKugel durchbohrt! Der Herr Kapitän beliebte aber inmir noch rechtzeitig ein Wesen seiner eigenen Gattungzu erkennen, und so habe ich Ihnen, meine Herren,nur noch den verbindlichsten Dank für meine Erlösungauszusprechen!«

So lautete die Erzählung des Händlers. Ich gestehe,daß wir uns nur mit Mühe bemeistern konnten, dasLachen zu unterdrücken, welches seine Worte und Ge-sten unwillkürlich erregten.

»Ihr Lagerplatz, fragte Banks, ist also in diesem Thei-le Tarryani’s aufgeschlagen?

– Ja, mein Herr, bestätigte Mathias Van Guitt. Wieich schon die Ehre hatte, Ihnen mitzutheilen, liegtmein Kraal kaum zwei Meilen von hier entfernt, undwenn Sie diesen mit Ihrer Gegenwart beehren wollen,wird es für mich ein Vergnügen sein, Sie daselbst zuempfangen.

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– Gewiß, Herr Van Guitt, versicherte Oberst Munro,wir werden nicht verfehlen, unseren Besuch abzustat-ten.

– Wir sind Jäger, fügte Kapitän Hod hinzu, und dieEinrichtung eines Kraals hat für uns ein natürliches In-teresse.

– Jäger! rief Mathias Van Guitt, Jäger!«Sein Gesicht nahm unverkennbar einen Ausdruck

an, der uns sagte, daß er die Söhne Nimrod’s nicht all-zu hoch schätzte.

»Sie jagen Raubthiere . . . natürlich, um sie zu töd-ten? fuhr er, gegen den Kapitän gewendet, fort.

– Einzig und allein, um sie zu tödten, erklärte Hod.– Und ich einzig und allein, um sie zu fangen! ver-

setzte der Händler, der sich bei diesen Worten stolz indie Brust warf.

– Nun, Herr Van Guitt, erwiderte Kapitän Hod, dawerden wir uns ja keine Concurrenz machen!«

Der Händler schüttelte den Kopf. Jedenfalls veran-laßte ihn unsere Eigenschaft als Jäger nicht, direct aufseine Einladung zurückzukommen.

»Wenn die Herren mir folgen wollten!« sagte er nurmit graziöser Verneigung.

In diesem Augenblicke ließen sich im Walde ver-schiedene Stimmen vernehmen und ein halbes Dut-zend Hindus kamen um eine Ecke der Straße, welchevon der Lichtung ausging.

»Ah, da sind meine Leute!« sagte Mathias Van Guitt.

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Dann trat er näher an uns heran, legte den Fingerauf den Mund und flüsterte uns halblaut zu:

»Bitte, kein Wort von meinem Abenteuer! Die Leu-te aus dem Kraal brauchen nicht zu wissen, daß ichmich wie ein Raubthier in eigener Falle fangen ließ.Das könnte das Ansehen vermindern, welches ich mirin deren Augen immer bewahren muß!«

Ein zusagendes Zeichen unsererseits beruhigte denHändler.

»Herr, begann da einer der Hindus, dessen ruhigesund doch intelligentes Gesicht meine Aufmerksamkeiterregte, Herr, schon über eine Stunde lang suchen wirSie ohne . . .

– Ich war bei diesen Herren, welche mich nach demKraal begleiten wollen, fiel ihm Mathias Van Guitt in’sWort. Bevor wir aber aufbrechen, bringt mir die Fallewieder in Ordnung!«

Die Hindus gehorchten willig dem Befehle des Händ-lers. Inzwischen lud uns Mathias Van Guitt ein, das In-nere der Falle in Augenschein zu nehmen.

Kapitän Hod schlüpfte nach ihm hinein und ich folg-te Beiden nach. Der Raum war etwas beschränkt fürdie Entwickelung der Gesten unseres Wirthes, der da-mit so freigebig war, als ob er sich in einem Salon be-fänd.

»Ich zolle Ihnen alle Achtung, sagte Kapitän Hod,nachdem er sich den Apparat angesehen, das ist wirk-lich recht sinnreich!

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– Das dürfen Sie glauben, Herr Kapitän, antworte-te Mathias Van Guitt. Diese Art von Fallen ist den frü-heren, mit Pfählen aus hartem Holze versehenen Gru-ben und den bogenförmig herabgezogenen elastischenZweigen mit Laufknoten beiweitem vorzuziehen. Imersten Falle spießt das Thier sich auf, im zweiten Fal-le erwürgt es sich. Wenn es nur darauf ankommt, diereißenden Thiere auszurotten, so ist das ja ziemlichgleichgiltig. Ich aber, wie ich hier mit Ihnen rede, ichbrauche jene lebendig, unverletzt, ohne jegliche Wert-hverminderung!

– Alles in Allem, bemerkte Kapitän Hod dagegen,verfahren wir Beide nicht auf gleiche Weise.

– Aber ich wahrscheinlich besser als Sie! versetzteder Händler. Wenn man die Raubthiere fragen könnte. . .

– Ja, ich befrage sie eben nicht!« erwiderte der Kapi-tän.

Kapitän Hod und Mathias Van Guitt hatten entschie-den einige Mühe, sich zu verständigen.

»Aber, fragte ich den Händler, wenn sich nun einThier in solch’ einer Falle fing, wie bringen Sie es inGewahrsam?

– Dazu wird ein fahrbarer Käfig vor die Oeffnung ge-bracht, erklärte Mathias Van Guitt, in den die Gefange-nen selbst hineinstürzen, und ich brauche sie dann nur,ruhig und sicher von meinen zahmen Büffeln gezogen,nach dem Kraal zu schaffen!«

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Kaum hatte er diese Worte vollendet, als wir von au-ßen her ein lautes Geschrei vernahmen.

Was mochte da geschehen sein?Eben hatte ein Hindu eine Peitschenschlange von der

gefährlichsten Art mit einem dünnen Stocke in zweiTheile getrennt, als sich das giftige Reptil gerade aufden Oberst Munro zuschlängelte.

Es war derselbe Hindu, der mir schon vorher auffiel.Sein rasches, entschlossenes Handeln hatte Sir EdwardMunro von einem unerwarteten schnellen Tode geret-tet, wie wir selbst zu sehen Gelegenheit hatten.

Der zu unseren Ohren dringende Schrei rührte näm-lich von einem Diener aus dem Kraal her, der sich imletzten Todeskampfe auf dem Boden wälzte.

Durch ein bedauernswerthes Mißgeschick war derglatte abgehauene Kopf der Schlange dem Armen andie Brust geflogen, die Zähne bohrten sich hier nochein, und der Unglückliche hauchte, das entsetzlicheGift in den Adern, in kaum einer Minute sein Lebenaus, ohne daß wir im Stande gewesen wären, ihn zuretten.

Zuerst erstarrt vor Schreck über dieses gräßlicheSchauspiel, eilten wir dann sofort auf den Oberst Mun-ro zu.

»Du bist doch nicht verletzt? fragte Banks, der seineHand besorgt ergriff.

– Nein, Banks, beruhige Dich!« antwortete Sir Ed-ward Munro.

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Dann erhob er sich und ging auf den Hindu, seinenLebensretter, zu.

»Ich danke Dir, mein Freund!« sagte er.Der Hindu gab durch eine Bewegung zu verstehen,

daß er für seine That keinen besonderen Dank verdienthabe.

»Wie ist Dein Name? fragte ihn Oberst Munro.– Kâlagani!« antwortete der Hindu.

19. DER KRAAL.

Der Tod des armen Teufels erregte, vorzüglich beiden Umständen, unter denen er erfolgte, unsere in-nigste Theilnahme, doch der Biß der Peitschenschlan-ge, der giftigsten der ganzen Halbinsel, schont einmalnicht. Es war nur ein weiteres Opfer zu den Tausenden,welche jenen furchtbaren Reptilien jährlich in Indienerliegen.1

Man hat, – jedenfalls nur scherzweise – behauptet,daß es auf Martinique früher keine Schlangen gegebenhabe und die Engländer solche nur dahin gebracht hät-ten, als sie die genannte Insel an Frankreich ausliefernmußten. Den Franzosen fehlte jede Veranlassung zusolchen Repressalien, als sie ihre Erwerbungen in In-dien aufgaben. Die wären unnütz gewesen, denn nach

1Im Jahre 1877 sind nicht weniger als 1677 Menschen durchden Biß von Schlangen umgekommen. Aus den von der Regie-rung für die Vernichtung jener Reptilien gezahlten Prämien, er-giebt sich, daß im Laufe desselben Jahres 127,295 solcher erlegtworden sind.

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dieser Seite hin hatte schon die Natur sich wahrhaftverschwenderisch erwiesen.

Der Körper des Indiers ging unter dem Einflusse desGiftes rasch in Zersetzung über, so daß er ohne Zögernbeerdigt werden mußte. Seine Kameraden unterzogensich dieser Pflicht, und er wurde in eine hinreichendtiefe Grube gelegt, um dem Ausscharren durch Raubt-hiere vorzubeugen.

Nach Beendigung der traurigen Ceremonie lud unsMathias Van Guitt ein, ihn nach seinem Kraal zu beglei-ten – eine Einladung, welche von uns mit Vergnügenangenommen wurde.

Binnen einer halben Stunde erreichten wir denLagerplatz des Händlers, welcher den Namen eines»Kraals« vollkommen rechtfertigte, während man die-sen sonst nur auf die Ansiedlungen im südlichen Afrikaangewendet findet.

Jener bestand aus einer geräumigen, länglichen Ein-zäunung tief im Walde und in der Mitte einer größerenLichtung. Mathias Van Guitt hatte denselben den Be-dürfnissen seines Geschäftes anzupassen gewußt. Aufallen vier Seiten umschloß ihn eine Palissadenwandmit einem hinreichend weiten Thore, um seine Wagendurchzulassen. In der Mitte des Hintergrundes dienteeine lange, aus Baumstämmen und Planken roh ge-zimmerte Hütte als Wohnstätte für alle Insassen des

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Kraals. Sechs, in mehrere Einzelzellen abgetheilte Käfi-ge auf vierrädrigen Gestellen schlossen sich rechtwink-lich an das linke Ende der Umplankung an. Das Ge-brüll aus denselben verrieth, daß sie nicht leer waren.Rechts lagerten etwa ein Dutzend Büffel im Freien undweideten die fetten Bergwiesen ab. Diese bildeten diegewöhnlichen Zugthiere der beweglichen Menagerie.Sechs Büffeltreiber, welchen die Führung der Wagenoblag, und zehn mit der Jagd auf Raubthiere vorzüg-lich vertraute Hindus bildeten das Personal der Nieder-lassung.

Die Büffeltreiber waren nur für die Dauer der Jagd-zeit gemiethet. Ihre Beschäftigung bestand darin, dieKarren mit den Käfigen nach den Jagdgründen zu fah-ren und dieselben dann nach der nächsten Eisenbahn-station zu schaffen. Hier verlud man die Karren aufTrucks und beförderte sie in kurzer Zeit nach Alla-habad, Bombay oder Calcutta. Die Hindujäger gehör-ten zu den Leuten, welche man allgemein »Chikaris«nennt. Sie suchen die Spuren der Raubthiere, treibendiese auf und fangen sie mit großer Geschicklichkeitein.

Das war die Mannschaft des Kraals. Mathias VanGuitt und seine Leute bewohnten denselben schon seitmehreren Monaten. Sie waren hier freilich ebenso denUeberfällen wilder Thiere, wie dem Fieber ausgesetzt,das besonders in Tarryani herrscht. Die Feuchtigkeit

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der Nächte die Ausdünstung schädlicher Bodenfermen-te und die feuchte Hitze unter dem dichten Laubgewöl-be, das die Sonnenstrahlen nur wenig durchdrangen,machen die untere Zone des Himalaya zu einer unge-sunden Gegend.

Der Händler und die Hindus waren hier jedoch sovortrefflich acclimatisirt, daß ihnen die »Malaria« nichtmehr schadete als den Tigern oder den Eingebornenvon Tarryani. Wir hätten freilich nicht lange ungestraftin dem Kraal verweilen dürfen. Das lag auch gar nichtin Kapitän Hod’s Plan. Wir wollten nur einige Nächteauf den Anstand gehen und dann nach dem Steam-House in die höhere Zone zurückkehren, welche dieAusdünstungen der Ebene nicht mehr erreichen.

An dem Lagerplatze Mathias Van Guitt’s angelangt,öffnete sich uns das Thor zu demselben.

Mathias Van Guitt schien unser Besuch sehr zuschmeicheln.

»Jetzt, meine Herren, begann er, gestatten Sie mir,die Pflichten des Wirthes zu erfüllen. Diese Niederlas-sung entspricht allen Anforderungen meiner Kunst. Sieist freilich nicht viel mehr als eine große Hütte, wie siedie Jäger der Halbinsel einen »Houddi« zu nennen pfle-gen.«

Während dieser Anrede hatte der Händler die Thü-ren der Wohnstätte geöffnet, welche er mit seinen Leu-ten theilte. Alles darin war höchst einfach. Ein erstesZimmer – wenn man ihm diesen Namen geben darf –

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für den Herrn; ein zweites für die Chikaris, ein drit-tes für die Wagenlenker; in jedem als einziges Mobiliarein Feldbett; ein vierter Raum, der gleichzeitig als Kü-che und Speisezimmer diente – man sieht, daß MathiasVan Guitt’s Wohnung wirklich sehr dürftig war und dieBezeichnung als Houddi mit Recht verdiente. Wir hat-ten eine größere Hütte vor uns, weiter nichts.

Nachdem wir die Wohnung »dieser zur ersten Clas-se der Säugethiere gehörenden Zweihänder« in Augen-schein genommen, lud man uns ein, nun auch den Auf-enthaltsort der Vierfüßler zu besichtigen.

Das war unbestreitbar der interessanteste Theil desKraals. Die Einrichtung erinnerte mehr an eine wan-delnde Menagerie als an die bequemen und elegantenBehälter eines Zoologischen Gartens. In der That fehl-ten hier nur die in Wasserfarben gemalten und am bun-ten Gerüst aufgehängten Bilder, welche in greller Co-lorirung einen Thierbändiger in rosafarbenen Tricotsund Sammetwamms inmitten einer umherspringendenHorde von Bestien darstellen, welche sich mit blutigemMaule und drohenden Krallen, unter der Peitsche einesheroischen Bidel oder Pezon krümmen. Freilich man-gelte es auch an Publikum für den Zuschauerraum.

Einige Schritte davon lagen die zahmen Büffel. Siebefanden sich zur rechten Hand, in einer besonderenAbtheilung des Kraals, wo man ihnen neben dem Fut-ter, welches der Boden lieferte, noch täglich eine ge-wisse Menge frisches Gras vorlegte. Es wäre unthunlich

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gewesen, sie auf benachbarten Weideplätzen ganz freiherumlaufen zu lassen. Wie Mathias Van Guitt sich ge-wählt ausdrückte, »war diese Hütungsfreiheit, welchein den Clans des Vereinigten Königreichs angebrachtist, gänzlich unvereinbar mit den Gefahren in den Wäl-dern des Himalaya«.

Die eigentliche Menagerie umfaßte sechs Käfige aufvierrädrigen Gestellen. Jeder an der Vorderseite mitEisenstäben vergitterte Kasten zerfiel in drei Zellen.Durch Thüren, oder vielmehr von unten nach oben be-wegliche Schieber konnte man je nach Bedarf die Thie-re aus einer Zelle in die andere treiben. Diese Käfigeenthielten zur Zeit sieben Tiger, zwei Löwen, drei Pan-ther und zwei Leoparden.

Mathias Van Guitt erklärte uns, daß sein Stock erstvollzählig sei, wenn er noch zwei Leoparden drei Ti-ger und einen Löwen gefangen habe. Dann gedach-te er den Lagerplatz zu verlassen, nach der nächstenEisenbahnstation zu ziehen und sich nach Bombay zuwenden.

Die Thiere, welche man in den Käfigen bequem be-obachten konnte, waren prächtige Exemplare, aber of-fenbar sehr wild. Sie befanden sich noch zu kurzeZeit in der Gefangenschaft, um dieser beschränktenLebensweise gewohnt zu sein. Das bewies ebenso ihrentsetzliches Gebrüll, wie das unermüdliche Hin- undHerlaufen von einer Scheidewand zur andern und das

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Schlagen gegen die Gitter, welche vielfach verbogenwaren.

Als wir vor die Käfige traten, verdoppelte sich nurihre Wuth, ohne daß Mathias Van Guitt darauf weiterzu achten schien.

»Arme Thiere! sagte Kapitän Hod.– Arme Thiere! wiederholte der getreue Fox.– Glauben Sie denn, diese hier seien mehr zu bekla-

gen als jene, welche Sie tödten? fragte der Händler imtrockenen Tone.

– Weniger zu beklagen als zu tadeln . . . daß sie sichfangen ließen!« erwiderte Kapitän Hod.

Wenn es zutrifft, daß die Raubthiere in Ländern wieAfrika – wo Wiederkäuer, ihre gewöhnliche Nahrung,nur seltener vorkommen – manchmal lange Zeit fastenmüssen, so ist das in den Gefilden von Tarryani keines-wegs der Fall. Hier tummeln sich in Menge die Biso-nochsen, Büffel, Zebus, Eber und Antilopen, welchenLöwen, Tiger und Panther unablässig nachstellen. Au-ßerdem bieten ihnen Ziegen und Schafe, ganz abge-sehen von den »Raiots« (Bauern), welche jene hüten,eine sichere und bequeme Beute. In den Wäldern desHimalaya können jene ihren Hunger hinreichend stil-len. Ihre Wildheit, welche sie trotzdem niemals able-gen, findet hier also keinen Entschuldigungsgrund.

Die Insassen seiner Menagerie fütterte der Händlerin der Hauptsache mit Bison- und Zebufleisch, welches

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die Chikaris an gewissen Tagen herbeizuschaffen hat-ten.

Man würde sich täuschen, zu glauben, daß eine sol-che Jagd gefahrlos sei. Im Gegentheil. Selbst der Tigerhat den wilden Büffel, ein furchtbares Thier, wenn esverwundet wurde, zu fürchten. Schon mancher Jägerhat es erleben müssen, wie ein Büffel den Baum, aufden er sich geflüchtet, mit den Hörnern entwurzelte.Wohl sagt man, das Auge des Wiederkäuers sei gleicheiner Linse, welche alle Gegenstände in dreifacher Ver-größerung erscheinen lasse, und der Mensch imponireihm deshalb wegen seiner riesigen Gestalt. Auch dieaufrechte Haltung soll die Thiere erschrecken, so daßman immer besser thue, ihnen stehend entgegenzutre-ten, als gekrümmt oder liegend.

Ich weiß nicht, wie viel Wahres hieran ist, sicherlichäußert der Anblick des Menschen, wenn er sich auchnoch so hoch aufrichtet, auf den wilden Büffel keiner-lei Wirkung, und jener ist so gut wie verloren, wenn erkeine Waffen zur Hand hat.

Ganz ebenso verhält es sich mit dem indischen Bisonmit kurzem, fast viereckigem Kopfe, schlanken, an derWurzel abgeplatteten Hörnern, höckerigem Rücken– eine Bildung, welche ihn seinem amerikanischenStammverwandten nähert – und von Fuß bis zum Knieweißen Füßen, dessen Länge vom Schwanz bis zurSpitze der Schnauze zuweilen vier Meter beträgt. Ist

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derselbe auch, in Gesellschaft im fetten Grase der Ebe-ne weidend, weniger wild, so wird er dem Jäger, derihn unkluger Weise angreift, doch immer furchtbar.

Mit dem Fleische der Wiederkäuer ernährte VanGuitt also die Raubthiere seiner Menagerie. Um diesel-ben sicherer und gefahrloser zu fangen, suchten sie dieChikaris in Fallen zu locken, aus denen sie gewöhnlichtodt herausgeschafft werden.

Der Händler, ein Mann, der seine Sache verstand,vertheilte die Nahrung nur sehr sparsam unter seineGefangenen. Einmal täglich, zu Mittag, erhielten sievier bis fünf Pfund Fleisch, weiter nichts. Dazu ließer sie – gewiß nicht aus kirchlichen Gründen – vomSonnabend bis Montag regelmäßig fasten. Wahrlich,das war ein trauriger, magerer Sonntag für sie! Wurdeihnen dann nach Ablauf von achtundvierzig Stundenaber der schmale Bissen zugetheilt, da entwickelte sichein unbeschreiblich wildes Leben, ein entsetzliches Ge-heul, da sprangen die Bestien hin und her, daß die rol-lenden Käfige sich bewegten und man fürchten mußte,diese in Stücke gehen zu sehen.

Ja, die armen Thiere! war man versucht mit KapitänHod zu rufen. Mathias Van Guitt hatte jedoch seineguten Gründe, so zu verfahren. Diese Enthaltsamkeitim Gefängniß ersparte seinen Thieren gewisse, sonstleicht auftretende Hautkrankheiten und erhöhte ihrenVerkaufswerth auf den Märkten Europas.

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Man wird sich leicht vorstellen können, daß Mathi-as Van Guitt’s Sprachwerkzeuge, während er uns seineThiere mehr als Naturforscher denn als Schaustellerzeigte, nicht gerade feierten. Im Gegentheil. Er plau-derte, schilderte, erzählte, und da die Raubthiere Tar-ryanis den Hauptgegenstand seiner etwas weitschwei-sigen Redesätze bildeten, hatten sie für uns doch eingewisses Interesse. Wir sollten auch den Kraal nichteher verlassen, als bis uns von der Zoologie des Hi-malaya kein Geheimniß mehr übrig blieb.

»Aber sagen Sie mir, Herr Mathias Van Guitt, fragteBanks, wirft Ihr Geschäft wirklich so viel ab, daß es diedamit verbundenen Gefahren aufwiegt?

– In früherer Zeit, antwortete der Händler, gab eseinen recht guten Ertrag. Seit einigen Jahren freilich,muß ich gestehen, sind die Raubthiere im Preise sehrgesunken. Sie können sich durch die neuesten Preis-courante leicht überzeugen. Unser Hauptmarkt ist derZoologische Garten von Antwerpen, für Vögel, Schlan-gen, Affen und eidechsenartige Reptilien, Raubthiereaus der Alten und Neuen Welt, dahin befördere ich»fachgewohnheitsmäßig« . . .

Kapitän Hod verbeugte sich bei diesem Worte.. . . die Beute unserer abenteuerlichen Jagdzüge in denWäldern der Halbinsel. Leider scheint der Geschmackdes Publikums zu wechseln, und die Verkaufspreisewerden bald niedriger stehen als die Beschaffungsun-kosten. Kürzlich ist z. B. ein männlicher Strauß für

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elfhundert Francs verkauft worden, und das Weibchenbrachte gar nur achthundert. Ein schwarzer, weiblicherPanther fand nur zu sechzehnhundert Francs einen Ab-nehmer, eine javanische Tigerin zu zweitausendvier-hundert, und eine große Löwenfamilie – der Vater, dieMutter, ein Onkel und zwei hoffnungsvolle junge Lö-wen – zu siebentausend Francs zusammen.

– Das ist freilich so gut wie nichts! meinte Banks.– Was die Proboscidien betrifft . . . fuhr Mathiaas Van

Guitt fort.– Proboscidien? fragte Kapitän Hod.– Ja, mit diesem wissenschaftlichen Namen bezeich-

nen wir die Pachydermen, welche die Natur mit einemRüssel ausstattete.

– Also die Elephanten.– Ja wohl, die Elephanten der quaternären Periode,

die Mastodons der vorhistorischen Zeiten . . .– Ich danke verbindlichst, fiel Kapitän Hod ein.– Was die Proboscidien also angeht, nahm Mathias

Van Guitt den Faden seiner Rede wieder auf, so mußman von deren Fang jetzt fast ganz absehen, außerwo es sich um die Gewinnung ihrer Zähne handelt,denn der Elfenbeinconsum hat sich nicht vermindert.Seitdem aber die am Ende ihres Latein angelangten

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dramatischen Autoren angefangen haben, jene in ih-ren Theaterstücken vorzuführen, reisen die Impresa-rios damit von Stadt zu Stadt, und ein einziger Ele-phant, der mit der wandernden Gesellschaft die Pro-vinzen durchzieht, genügt, die Neugier eines ganzenLandes zu befriedigen. Elephanten sind jetzt auch weitweniger gesucht als früher.

– Aber liefern Sie diese Vertreter der indischen Fau-na, fragte ich da, nur in die Menagerien von Europa?

– Sie verzeihen, erwiderte Mathias Van Guitt, wennich, ohne besonders neugierig zu sein, erst eine be-scheidene Frage an Sie richte.«

Ich verbeugte mich zustimmend.»Sie sind Franzose, mein Herr, begann der Händler.

Das erkennt man nicht allein an Ihrem Accent, sondernauch an Ihrem, aus dem gallo-romanischen und kelti-schen gemischten Typus. Als Franzose nun werden Siekeine Vorliebe für weite Reisen haben und z. B. nochnicht um die Erde gekommen sein?«

Hierzu beschrieb Mathias Van Guitt mit den Händeneinen weiten Kreis in der Luft.

»Ich hatte noch nicht das Vergnügen! antwortete ich.– Ich richte an Sie, fuhr der Händler fort, nicht die

Frage, ob Sie nach Indien gekommen sind, denn Siebefinden sich ja ebenda, wohl aber die, ob Sie die indi-sche Halbinsel gründlich kennen?

– Nur zum Theile, gestand ich. Ich habe indeß Bom-bay, Calcutta, Benares, Allahabad und das Thal des

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Ganges besucht. Ich sah dabei die Baudenkmäler, be-wunderte . . .

– Ah, was soll das bedeuten!« unterbrach mich Ma-thias Van Guitt, den Kopf abwendend, während er miteinem Zeichen der Hand seine Geringschätzung aus-drückte.

Dann ging er zur Hypotypose über, d. h. er begannmit lebhaften Redewendungen.

»Ja, was soll das bedeuten, wenn Sie die Menage-rien der mächtigen Rajahs noch nicht kennen lern-ten, welche es sich angelegen sein lassen, die präch-tigen Thiere, den Stolz und Schmuck Indiens, zu er-halten! O, dann nehmen Sie nur den Wanderstab wie-der zur Hand! Gehen Sie nach Guicowar, um den Kö-nig von Baroda ehrfurchtsvoll zu begrüßen! Bewun-dern Sie seine Menagerie, die den größten Theil ih-rer Insassen an Löwen aus Kattyvar, an Bären, Pan-thern, Tchitas, Luchsen und Tigern meiner Person zudanken hat. Wohnen Sie einmal der Hochzeit der sech-zigtausend Tauben bei, welche jedes Jahr mit großemPompe gefeiert wird. Bewundern Sie die fünfhundert»Boulbouls«, die Nachtigallen der Halbinsel, auf derenErziehung so viel Sorgfalt verwendet wird, als wärensie die Erben des Thrones! Sehen Sie die Elephantenan, von denen einer, als Vollstrecker der Todesurtheile,auf dem Hinrichtungsblocke den Kopf des Verdammtenmit einem Fußtritte zermalmt! Dann begeben Sie sich

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nach den Anlagen des Rajah von Maissour, des reichs-ten Souveräns von Asien. Besuchen Sie den Palast, indem die Rhinocerosse, Elephanten, Tiger und Thierevon hohem Range, welche zur animalischen Aristo-kratie Indiens gehören, zu Hunderten vertreten sind.Wenn Sie das gesehen haben, mein Herr, dann wirdman Sie wenigstens nicht mehr der völligen Unkennt-niß der Wunder dieses unvergleichlichen Landes be-schuldigen können!«

Ich erwiderte Mathias Van Guitt nur durch einestumme Verbeugung. Seine leidenschaftliche Darstel-lungsweise schnitt ja von vornherein jede Discussionab.

Kapitän Hod konnte es aber doch nicht unterlassen,einige, speciell die Fauna von Tarryani betreffende Fra-gen an jenen zu richten.

»Ich möchte Sie noch um einige Aufklärung über dieRaubthiere bitten, die ich in diesem Theile Indiens auf-zufinden hoffe. Da ich nur Jäger bin, werde ich Ihnen,Herr Van Guitt, keine Concurrenz machen, im Gegent-heile, wenn ich mich bei dem Fange einiger Tiger, wel-che noch an Ihrer Sammlung fehlen, nützlich machenkönnte, würde ich es gerne thun. Ist Ihre Menagerieaber vollzählig, so werden Sie es nicht übel deuten,wenn ich mir zum persönlichen Vergnügen mit der Ver-tilgung dieser Bestien die Zeit vertreibe!«

Mathias Van Guitt nahm die Haltung eines Mannesan, der sich in das Unvermeidliche fügt, das er nicht zu

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ändern vermag. Er gab übrigens auch zu, daß Tarrya-ni eine große Menge schädlicher Thiere beherberge,nach welchen auf europäischen Märkten keine beson-dere Nachfrage herrsche, und deren Ausrottung ihmerlaubt erscheine.

»Schießen Sie die Eber, da habe ich nichts einzu-wenden, antwortete er. Obschon diese Vertreter derSchweinefamilie keine Fleischthiere sind . . .

– Keine Fleischthiere? bemerkte Kapitän Hod ver-wundert.

– Ich verstehe darunter, daß sie Herbivoren sind, sosind sie doch wild genug, um den Jäger, der sie kühnangreift, zu gefährden.

– Und die Wölfe?– Ach, Wölfe giebt es auf der Halbinsel genug, und

dazu sind sie, wenn sie sich in großer Zahl auf eine ein-same Farm stürzen, nicht wenig zu fürchten. Die hie-sigen gleichen ganz und gar dem wilden Wolfe Polens,und für mich haben sie nicht mehr Werth als Schakalsund wilde Hunde. Ich leugne übrigens keineswegs, daßsie mancherlei Verwüstungen anrichten, da sie aberkeinen Handelswerth haben und nicht würdig sind, un-ter den höheren Classen der Zookraten zu figuriren, soüberlasse ich diese Ihnen ebenfalls, Herr Kapitän.

– Wie steht es mit den Bären? fragte ich.– O, die Bären haben ihre guten Seiten, erklärte der

Händler mit zustimmendem Kopfnicken. Wenn die von

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Indien auch nicht so stark begehrt sind, wie einige an-dere Arten, so besitzen sie dennoch einen gewissenHandelswerth, der ihnen die wohlwollende Beachtungder Kenner sichert. Man kann zweifelhaft sein, welcheder beiden Abarten man vorziehen soll, ob die aus denThälern von Kaschmir, oder die aus den Berggegendenvon Raymahal. Die Thiere sind aber, außer wenn sie imWinterschlafe gestört werden, ganz unschuldiger Na-tur und können eigentlich die cygenetischen Begierdeneines wahren Jägers, wie ich einen solchen in der Per-son des Herrn Kapitän vor mir habe, nach keiner Seiteerregen!«

Jetzt verneigte sich der Kapitän, obwohl man dabeierkannte, daß er bei solchen speciellen Fragen mit oderohne Erlaubniß Mathias Van Guitt’s nur sein eigenesUrtheil zu Rathe ziehen werde.

»Uebrigens, nahm der Händler das Wort wieder auf,sind die Bären nur Botanophagen . . .

– Botanophagen? sagte der Kapitän.– Ja wohl, meinte Mathias Van Guitt, sie leben nur

von Vegetabilien und haben nichts mit den wildenRaubthieren zu thun, deren sich die Halbinsel mit vol-lem Rechte rühmt.

– Rechnen Sie den Leoparden zu den Raubthieren?fragte Kapitän Hod.

– Ohne Widerrede. Diese Katze ist behend, kühn,muthig, erklettert die Bäume und wird dadurch manch-mal fast gefährlicher als der Tiger.

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– Oho, ließ Kapitän Hod sich vernehmen.– Mein Herr, erwiderte Mathias Van Guitt, darauf

sehr trockenen Tones, sobald ein Jäger nicht mehr si-cher ist, in den Bäumen Zuflucht zu finden, kommtsehr bald die Reihe an ihn, gejagt zu werden!

– Und der Panther? fragte Kapitän Hod weiter, umdie Belehrung kurz abzuschneiden.

– Das ist ein prächtiger Kerl, antwortete Mathias VanGuitt, und Sie können sich selbst überzeugen, welch’schönes Exemplar ich besitze! Wunderbare Thiere das,die in Folge eines seltsamen Widerspruches, einer Anti-logie, um ein weniger gebräuchliches Wort zu verwen-den, sogar selbst zur Jagd abgerichtet werden können!Gewiß, meine Herren, vorzüglich in Guicowar erziehendie Rajahs ihre Panther zu dieser vornehmen Passion.Man nimmt sie in einem Palankin mit hinaus, den Kopfverbunden wie ein Geier oder Lerchenfalke. Wahrlich,das sind richtige vierfüßige Falken. Sobald die Jägereiner Heerde Antilopen ansichtig werden, wird demPanther seine Maske abgenommen und er stürzt sichauf die furchtsamen Wiederkäuer, deren schnelle Bei-ne sie doch nicht vor seinen furchtbaren Tatzen rettenkönnen! Ja, ja, Herr Kapitän, so ist es! Panther wer-den Sie in Tarryani genug antreffen, vielleicht mehr,als Ihnen lieb ist; ich mache Sie aber freundschaftlichdarauf aufmerksam, daß dieselben gewöhnlich keineFuttervorräthe haben . . .

– Das hoffe ich wenigstens, sagte Hod.

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– So wenig wie die Löwen, fügte der Händler, vondieser Antwort betroffen, hinzu.

– Ah, die Löwen! wiederholte Kapitän Hod, plaudernwir ein wenig von den Löwen!

– Nun, antwortete Mathias Van Guitt, meiner An-sicht nach stehen die hiesigen sogenannten Könige desThierreiches weit unter ihren Stammverwandten im al-ten Libyen. Hier schmückt die männlichen Thiere nichtdie stattliche Mähne, das Erbtheil des afrikanischen Lö-wen, im Gegentheile erscheinen sie mir wie kläglichgeschorene Simsons! Aus Central-Indien sind sie auchgänzlich ausgewandert und haben sich nach Kattywar,nach der Wüste von Theil und nach Tarryani zurück-gezogen. Diese entarteten Katzen leben jetzt als Ere-miten, als Einsiedler und können kaum noch aus demUmgange mit ihresgleichen frische Lebenskräfte schöp-fen. Bei mir stehen sie auf der Stufenleiter der Vierfüß-ler auch keineswegs im ersten Rang. Ja, meine Her-ren, einem Löwen kann man entgehen, einem Tigerniemals!

– Ah, die Tiger! rief Kapitän Hod.– Ja, die Tiger! wiederholte Fox.– Dem Tiger allein gebührt die Krone! fuhr Ma-

thias Van Guitt lebhafter werdend fort. Man sprichtvom »Königstiger«, nicht vom Königslöwen, und dasist auch ganz richtig. Ihm gehört ganz Indien. War er

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nicht der erste Besitzer des Bodens? Ist er nicht berech-tigt, nicht allein die angelsächsischen Eroberer, son-dern auch die Kinder der Sonne als fremde Eindring-linge zu betrachten? Er allein ist ja das erste Kind desheiligen Bodens von Argavarta. Man begegnet diesenprächtigen Raubthieren auch auf der ganzen Halbinsel,und vom Cap Camorin bis zum Wall der Himalayaber-ge haben sie kein Stückchen Gebiet, das ihre Vorfahreninne hatten, verlassen!«

Mathias Van Guitt’s Arme beschrieben dazu, nach-dem er zuerst ein Vorgebirge im Süden bezeichnet, ei-ne ganze Reihe von Bergspitzen.

»In Sunderbund, fuhr er fort, sind sie vor Allem zuHause! Da spielen sie die Herren, und wehe Dem, derihnen dieses Gebiet streitig zu machen suchte! In denNilgheries streifen sie in Massen umher, gleich wildenKatzen.

Si parva licet componere magnis!

Sie werden also begreifen, daß diese prächtigen Kat-zen auf den Märkten von Europa besonders gesuchtsind. Welche Anziehung äußern die öffentlichen undprivaten Menagerien durch den Tiger! Wann fürchtenSie für das Leben des Thierbändigers? Nur, wenn erden Käfig des Tigers betritt. Welches Thier bezahlen dieRajahs mit gleichem Gewichte an Gold zum Schmuckeihrer fürstlichen Gärten? Den Tiger! Wer erzielt den

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höchsten Preis an den zoologischen Börsen von Lon-don, Antwerpen und Hamburg? Der Tiger! Durch wel-che Art von Jagd erwerben sich die Jäger Indiens, dieOfficiere der königlichen oder der Natifs-Armee denhöchsten Ruhm? Durch die Jagd auf den Tiger! WissenSie, meine Herren, welche Unterhaltung die unabhän-gigen Fürsten Indiens ihren Gästen bieten? Man sperrteinen Königstiger zunächst in einen Käfig. Der letzterewird inmitten einer weiten Ebene aufgestellt. Der Ra-jah, seine Gäste, Officiere und Leibwache sind alle mitLanzen, Revolvern und Flinten bewaffnet, meist reitensie auf flüchtigen Einhufern.

– Auf Einhufern? fiel Kapitän Hod ein.– Nun ja, auf Pferden, wenn Sie dieses vulgäre Wort

vorziehen. Schon da bäumen sich aber, beunruhigtdurch die Nähe der Katze, ihre Ausdünstung und durchdie Blitze, welche aus ihren Augen zucken, die Einhu-fer gewaltig und die Reiter haben alle Mühe, diesel-ben zu halten. Plötzlich wird die Thüre geöffnet. DasUngeheuer stürzt heraus, es springt, fliegt, wirft sichauf vereinzelte Gruppen und bringt seiner Wuth ganzeHekatomben zum Opfer. Wenn es ihm auch zuweilengelingt, den umschließenden Ring von Eisen und Feu-er zu durchbrechen, so unterliegt es doch gewöhnlich– eines gegen Hundert! Jedenfalls stirbt es einen Tod,den es schon im voraus gerächt hat!

– Bravo, Herr Mathias Van Guitt, rief Kapitän Hod,der nun auch selbst wärmer wurde. Wahrlich, das muß

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ein herrliches Schauspiel sein! Ja, ja, der Tiger ist dochder König der Thiere!

– Ein König, der jede Empörung verachtet! fügte derHändler hinzu.

– Und wenn Sie solche gefangen haben, Herr VanGuitt, begann jetzt Kapitän Hod, so habe ich schon ver-schiedene erlegt, und ich hoffe stark, Tarryani nicht zuverlassen, bevor nicht der fünfzigste von meiner Handgefallen ist.

– Herr Kapitän, erwiderte der Händler, die Stirn run-zelnd, ich habe Ihnen die Eber, die Wölfe, Bären undBüffel überlassen. Befriedigt das Ihre Jagdlust nochnicht?«

Ich bemerkte, daß unser Freund Hod dieser heiklenFrage gegenüber nicht weniger in Feuer gerieth, alsMathias Van Guitt.

Hatte der Eine mehr Tiger gefangen, als der Anderegetödtet? Welch’ unerschöpflicher Redestoff. Was ver-diente den Vorzug: jene einzufangen oder sie zu erle-gen? Welches herrliche Thema! Schon begannen Bei-de, der Kapitän und der Händler, kurze, flüchtige Sät-ze zu wechseln, und gerade herausgesagt, zu gleicherZeit zu reden, so daß Keiner den Anderen verstehenkonnte.

Banks versuchte eine Vermittlung.»Die Tiger sind die Könige der Schöpfung, meine

Herren, sagte er, darüber herrscht kein Zweifel, doch

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erlaube ich mir hinzuzufügen, daß es für ihre Untert-hanen sehr gefährliche Herrscher sind. Im Jahre 1862,wenn ich nicht irre, haben die prächtigen Katzen al-le Telegraphenbeamten auf der Insel Sangor – aufge-fressen. Man erzählt sich auch von einer Tigerin, daßsie binnen drei Jahren nicht weniger als hundertacht-zehn Opfer verschlungen habe, und von einer an de-ren, welche in derselben Zeit gar hundertsiebenund-zwanzig Menschen verzehrt habe! Das ist zu viel, selbstfür Königinnen! Seit der Entwaffnung der Sipahis sindübrigens in einem Zeitraume von drei Jahren zwölftau-sendfünfhundertvierundfünfzig Individuen unter denZähnen der Tiger gefallen.

– Gewiß, mein Herr, antwortete Mathias Van Guitt,doch Sie scheinen ganz zu vergessen, daß diese ThiereOmophagen sind.

– Omophagen? warf Kapitän Hod ein.– Ja, Rohfleischfresser, und die Hindus behaupten,

daß jene, welche einmal Menschenfleisch gekostet ha-ben, gar kein anderes mehr mögen!

– Nun, und was will das sagen? . . . fragte Banks.– Ei, weiter nichts, erwiderte Mathias Van Guitt la-

chend, als daß sie eben ihrer Natur gehorchen! . . . Siemüssen doch Nahrung haben!«

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20. EINE KÖNIGIN VON TARRYANI.

Die letztere Bemerkung beschloß unseren Besuch imKraal; es war jetzt Zeit, nach dem Steam-House zu-rückzukehren.

Kapitän Hod und Mathias Van Guitt schieden eigent-lich nicht als die besten Freunde von einander. Wennder eine die wilden Thiere von Tarryani vernichtenwollte, wollte der Andere sie nur fangen, und doch wa-ren ja genug vorhanden, um Beide zu befriedigen.

Man verabredete inzwischen, daß der Kraal unddas Sanatorium in engerer Verbindung bleiben soll-ten. Man wollte sich gegenseitig benachrichtigen, so-bald sich eine günstige Gelegenheit zur Jagd oder zumFange böte. Die mit allen Wegen und Stegen vertrau-ten Chikaris Mathias Van Guitt’s konnten Kapitän Hodrecht wesentliche Dienste leisten, wenn sie ihn auf dieFährten von Thieren aufmerksam machten. Der Händ-ler stellte ihm jene zuvorkommend zur Verfügung, undvorzüglich Kâlagani. Obschon dieser Hindu nur erstkurze Zeit dem Personal des Kraals angehörte, erwieser sich doch besonders geschickt und nach allen Seitenverläßlich.

Als Gegendienst versprach Kapitän Hod, soweit ihmdas möglich sei, beim Einfangen der wilden Thiere zuhelfen, welche an Mathias Van Guitt’s Sammlung nochfehlten.

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Bevor er den Kraal verließ, wo er wahrscheinlichnicht sobald wieder vorsprechen würde, sprach Sir Ed-ward Munro nochmals seinen Dank gegen Kâlaganiaus, dessen entschlossenes Eingreifen ihn gerettet hat-te, und erklärte, daß er im Steam-House stets willkom-men sein werde.

Der Hindu verneigte sich sehr kühl. Ein Zeichen vonBefriedigung, den Mann, der ihm sein Leben verdank-te, so reden zu hören, ließ er in seinen Zügen nichtdurchblicken.

Wir kamen zur Zeit des Essens zurück. Wie man sichdenken kann, drehte sich unser Gespräch vorwiegendum Mathias Van Guitt.

»Alle Wetter, polterte der Kapitän heraus, was fürGesten er fertig bringt, jener Händler! Welche Auswahlvon Worten, welchen Wechsel von Ausdrücken er hat!Nur daß er in wilden Thieren blos Objecte zur Schau-stellung sieht, darin schießt er fehl.«

An den folgenden Tagen, am 27., 28. und 29. Ju-ni, fiel ein so gewaltiger Regen, daß unsere Jäger, sobegierig sie auch waren, gar nicht daran denken konn-ten, das Steam-House zu verlassen. Bei solch’ schreck-lichem Wetter sind Spuren auch gar nicht zu erkennen,und die Raubthiere, welche, wie die Katzen alle, keinebesonderen Freunde des Wassers sind, verlassen dannihre Höhlen nicht gern.

Am 30. stellte sich besseres Wetter mit heiteremHimmel ein. Am nämlichen Tage rüsteten wir, das

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heißt Kapitän Hod, Fox, Goûmi und ich, uns rechtzei-tig, nach dem Kraal hinunter zu gehen.

Schon am Morgen stellten sich einige Bergbewoh-ner bei uns ein. Sie hatten davon reden gehört, daßeine wunderbare Pagode im Himalayagebiete erschie-nen sei, und nun trieb die Neugier sie nach dem Steam-House.

Es ist ein schöner Menschenschlag, diese Bewohnerder thibetanischen Grenze, ausgezeichnet durch krie-gerische Tugenden, unerschütterliche Loyalität undGastfreiheit, und den Hindus der Ebenen moralischund physisch unzweifelhaft überlegen.

Wenn die angebliche Pagode ihre Verwunderung er-regte, so machte der Stahlriese auf sie einen noch weittieferen Eindruck. Und doch verhielt sich dieser jetztruhig. Was würden die braven Leute erst gesagt haben,wenn sie gesehen hätten, wie er rauch- und flammen-speiend mit sicherem Schritte die Bergabhänge em-porklomm!

Oberst Munro empfing die Eingebornen, von de-nen einige das ganze Gebiet von Nepal bis zur indo-chinesischen Grenze öfter zu durchstreifen pflegten,mit aller Freundlichkeit. Das Gespräch kam auch ein-mal auf jenen Theil der Grenze, wo Nana Sahib nachder Niederlage der Sipahis Zuflucht gesucht hatte, alser sich überall in Indien verfolgt sah.

Die Bewohner der Berge wußten übrigens nichtmehr als wir. Das Gerücht von seinem Tode war auch

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zu ihnen gedrungen und schien nicht angezweifelt zuwerden. Um seine, ihn überlebenden Waffengefährtenkümmerte sich Niemand. Wahrscheinlich hatten diesetief im Innern von Thibet ein sicheres Versteck gefun-den, wo sie jedenfalls nur sehr schwierig zu finden ge-wesen wären.

Wenn Oberst Munro, als er sich nach dem Nordender Halbinsel begab, den Gedanken gehabt hatte, Allesan’s Licht zu ziehen, was Nana Sahib näher oder fernerberührte, so mußte ihn diese Auskunft wohl davon ab-bringen. Als die Bergbewohner aber so sprachen, blieber halb träumend in Gedanken versenkt und nahm amGespräch keinen weiteren Antheil.

Nur Kapitän Hod richtete an diese einige Fragen,freilich ganz anderen Inhalts. Er vernahm dadurch,daß die wilden Thiere, vorzüglich die Tiger, in der un-teren Zone des Himalaya wahrhaft entsetzliche Ver-wüstungen anrichteten. Einzelne Landgüter und gan-ze Dörfer waren deshalb schon von den Einwohnernaufgegeben worden. Heerden von Ziegen und Scha-fen wurden vernichtet und auch nicht wenige Einwoh-ner waren den Bestien zum Opfer gefallen. Trotz desvon der Regierung ausgesetzten nicht unbeträchtlichenPreises – dreihundert Rupien für jeden Tigerkopf –schien die Zahl dieser Katzen nicht abzunehmen, undes entstand schon die Frage, ob der Mensch nicht wei-chen und jenen das Feld überlassen solle.

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Die Leute fügten auch hinzu, daß die Tiger sich jetztgar nicht mehr auf Tarryani beschränkten, sondern daßman ihnen, wo hohes Gras, Dschungeln oder Gebüschenur geeignete Verstecke böten, überall in der Ebene be-gegne.

»Es sind entsetzlich schädliche Thiere!« meinten sie.Die braven Leute huldigten, und das mit gutem

Grunde, bezüglich der Tiger also keineswegs dersel-ben Anschauung wie der Händler Mathias Van Guittund unser Freund, der Kapitän Hod.

Die Landleute zogen sich, hoch erfreut über den ge-fundenen Empfang, zurück und versprachen gelegent-lich wieder nach dem Steam-House zu kommen.

Als sie fort waren, machten wir, Kapitän Hod, un-sere zwei Begleiter und ich, uns wohl bewaffnet undauf jeden Zwischenfall vorbereitet auf den Weg nachTarryani hinunter.

An der Waldblöße mit jener Falle angelangt, aus derwir Mathias Van Guitt glücklicher Weise befreit hatten,trat dieser uns, nicht ohne gewisse Feierlichkeit entge-gen.

Fünf bis sechs seiner Leute, darunter auch Kâlagani,waren eben beschäftigt, einen Tiger, der sich währendder Nacht gefangen hatte, aus der Falle in einen fahr-baren Käfig zu schaffen.

Es war wirklich ein prächtiges Thier, dessen Anblickin Kapitän Hod ein gewisses Gefühl von Neid erwachenließ.

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»Wieder einer weniger in Tarryani, murmelte er miteinem leisen Seufzer, der in Fox’ Herzen ein Echo fand.

– Und einer mehr in der Menagerie, meinte dagegender Händler. Noch zwei Tiger, einen Löwen und zweiLeoparden, und ich werde im Stande sein, meinen ein-gegangenen Verpflichtungen noch vor der bedungenenZeit nachzukommen. Kommen Sie mit nach dem Kraal,meine Herren?

– Wir danken bestens, antwortete Kapitän Hod, heu-te denken wir auf eigene Rechnung zu jagen.

– Kâlagani steht Ihnen zur Verfügung, Herr Kapitän,erwiderte der Händler, er kennt den Wald sehr gut undkann Ihnen von Nutzen sein.

– Er wird uns ein willkommener Führer sein.– Nun denn, meine Herren, fuhr Mathias Van Guitt

fort, viel Glück auf den Weg! Aber versprechen Sie mir,nicht Alles niederzumetzeln!

– Wir lassen Ihnen noch etwas übrig!« versicherteKapitän Hod.

Sich mit einer gewählten Geste empfehlend, ver-schwand Mathias Van Guitt schnell unter den Bäumenund folgte seinem Käfige.

»Nun vorwärts, rief Kapitän Hod, vorwärts, meineFreunde! es gilt meinen zweiundvierzigsten!

– Meinen achtunddreißigsten! ließ Fox sich verneh-men.

– Und meinen ersten!« fügte ich hinzu.

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Der Ton, mit welchem ich diese Worte hervorbrach-te, nöthigte dem Kapitän ein Lächeln ab. Offenbar fehl-te mir die richtige heilige Gluth.

Hod hatte sich zu Kâlagani gewendet.»Du kennst Tarryani gut.– Ich bin wohl zwanzigmal, am Tage und in der

Nacht, nach allen Richtungen durch dasselbe gekom-men, antwortete der Hindu.

– Hast Du davon reden gehört, daß sich in der Nach-barschaft des Kraals ein Tiger gezeigt habe?

– Gewiß, dieser Tiger ist aber eine Tigerin. Man hatsie etwa zwei Meilen von hier im Hochwalde gesehenund sucht sie schon seit mehreren Tagen zu fangen.Wollen Sie etwa . . .

– Ob wir wollen!« rief Kapitän Hod, ohne dem Hinduzur Vollendung seines Satzes Zeit zu lassen.

Wir konnten in der That nichts Besseres thun, alsKâlagani zu folgen, und das geschah denn auch.

Wilde Thiere sind in Tarryani ohne Zweifel sehr häu-fig, und sie brauchen wöchentlich nicht weniger alszwei Ochsen zur Nahrung. Es ist leicht zu berechnen,wie viel deren »Unterhalt« also der ganzen Halbinselkosten mag!

Aber wenn Tiger auch in großer Anzahl vorkommen,so darf man doch nicht glauben, daß sie ohne Nothumherschweifen. Wenn sie der Hunger nicht drängt,bleiben sie ruhig in ihrem Verstecke, und es wäre eingroßer Irrthum, zu glauben, daß man ihnen auf Tritt

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und Schritt begegnete. Wie viele Reisende sind durchWälder und Dschungeln gekommen, ohne nur einenzu Gesicht bekommen zu haben! Auch wenn eine Jagdveranstaltet wird, muß man zunächst die gewöhnlicheFährte des Thieres und vorzüglich den Bach oder dieQuelle aufzufinden suchen, wo es seinen Durst zu lö-schen pflegt.

Doch auch das genügt noch nicht, man muß sie auchnoch anlocken. Das erreicht man sehr bequem durchBefestigung eines Rinderviertels an einem Pfahle undan einer von Bäumen oder Felsblöcken umgebenenStelle, wo die Jäger leicht Schutz finden können. Soverfährt man wenigstens im Walde.

In der Ebene liegt die Sache anders; da wird derElephant der nützlichste Bundesgenosse des Menschenbei diesen gefährlichen Parforcejagden. Diese Thieremüssen dazu jedoch besonders abgerichtet sein. Trotz-dem packt sie zuweilen Schrecken und Furcht, wasdie auf ihren Rücken sitzenden Jäger leicht in Gefahrbringt. Der Tiger springt nämlich ohne Zögern auf denRücken eines Elephanten. Da wird der Streit zwischenihm und dem Menschen auf dem Nacken der riesigen,selbst wüthend werdenden Pachyderme ausgekämpft,und dieser endet nur selten zum Nachtheile des Raubt-hieres.

So gestalten sich die Jagden der Rajahs und reichenSportsmen von Indien, welche einen Platz in den cyne-getischen Annalen mit Recht verdienen.

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Kapitän Hod freilich verfuhr auf andere Weise. Erspürte dem Tiger zu Fuße nach, er pflegte zu Fuß mitihm anzubinden.

Wir folgten also Kâlagani, der raschen Schrittes vor-anging. Zurückhaltend, wie die Hindus im Allgemei-nen, sprach er nur wenig und begnügte sich, an ihngerichtete Fragen kurz zu beantworten.

Eine Stunde später machten wir in der Nähe einesreißenden Baches Halt, an dessen Uferwand sich nochdie frischen Spuren von Thieren zeigten. In der Mitteeiner kleineren Lichtung erhob sich ein Pfahl, an demein großes Rinderviertel hing.

Die Lockspeise war nicht ganz unberührt. Die Zäh-ne von Schakals, diesen Spitzbuben der Fauna Indiens,hatten sie benagt; jene schweifen ja Tag und Nachtnach Beute umher – hier sollte sie ihnen nicht zu Theilwerden. Ein Dutzend jener feigen Räuber flohen beiunserer Annäherung und überließen uns den Platz.

»Herr Kapitän, begann Kâlagani, hier wollen wir dieTigerin erwarten. Sie sehen, daß der Ort zu einem Hin-terhalte ganz passend ist.«

Es bot in der That keine Schwierigkeit, sich in denBäumen oder hinter den Felsblöcken so zu verbergen,daß der Pfahl in der Mitte der Waldblöße unter Kreuz-feuer zu nehmen war.

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Das geschah denn auch sofort. Goûmi nahm mit mirauf demselben Aste Platz. Kapitän Hod und Fox rich-teten sich Beide auf den Zweigen der ersten Gabelungzweier großer, üppig grüner Eichen ein.

Kâlagani selbst hatte sich hinter einem hohen Fels-blocke versteckt, den er, wenn es noth that, erklimmenkonnte.

Das Thier konnte somit in einen Kreis von Feuer ge-nommen werden, aus dem an kein Entrinnen zu den-ken war. Alles lag für jenes so ungünstig als möglich,obwohl wir immer auf unvorhergesehene Zwischenfäl-le gefaßt sein mußten.

Nun hieß es geduldig warten.Die nach allen Seiten auseinander gestäubten Scha-

kals ließen im benachbarten Gebüsch noch immer ihrheiseres Bellen hören, wagten sich aber an das Rinder-viertel nicht wieder heran.

Eine Stunde mochte verflossen sein, als das Bellenplötzlich schwieg. Fast in dem nämlichen Augenblickesprangen zwei oder drei Schakals aus dem Dickichtjagten über die Lichtung und verschwanden im dunk-leren Walde.

Ein Zeichen Kâlagani’s, der sich anschickte, den Fel-sen zu ersteigen, ermahnte uns, jetzt auf der Hut zusein.

Die urplötzliche Flucht der Schakals konnte wirklichnur durch die Annäherung eines größeren Raubthieres– ohne Zweifel der Tigerin – veranlaßt sein, und wir

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durften jeden Moment erwarten, sie irgendwo in dieLichtung heraustreten zu sehen.

Unsere Waffen waren bereit. Schon richteten sich dieGewehre Kapitän Hod’s und Fox’ nach der Stelle desGebüsches, aus dem die Schakals hervorgebrochen wa-ren; ein Fingerdruck und die Schüsse krachten! Baldbemerkte ich in den höheren Zweigen des Dickichts ei-ne leise Bewegung; gleichzeitig hörte man das dürreHolz brechen. Irgend ein Thier bewegte sich vorsich-tig, offenbar ohne Uebereilung, darunter hin. Von denJägern, die ihm im dichten Laub auflauerten, konntees sicherlich nichts bemerken. Dennoch schien ihm derInstinct zu sagen, daß der Ort nicht ganz geheuer sei.Wenn es nicht der Hunger trieb, wenn nicht die Aus-dünstung des Fleisches jenes angelockt hätte, würdees schwerlich weiter gegangen sein.

Doch – da erschien es zwischen den Zweigen einesGebüsches und blieb, wie mißtrauisch, einen Augen-blick stehen.

Es war eine Tigerin von mächtigem Wuchs, präch-tigem Kopfe und geschmeidigem Körper. Sie bewegtesich schleichend vorwärts wie ein Reptil, das sich aufder Erde hinwindet.

Wir ließen sie nach Verabredung bis an den Pfahlherankommen. Sie schnüffelte auf dem Boden hin, er-hob sich wieder und krümmte den Rücken hoch auf,wie eine gewaltige Katze, welche eben nicht springenwill.

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Plötzlich krachten zwei Gewehrschüsse.»Nummer zweiundvierzig! rief Kapitän Hod.– Nummer achtunddreißig!« ließ Fox sich verneh-

men.Der Kapitän und sein Diener hatten zu ganz gleicher

Zeit und so sicher geschossen, daß die Tigerin, von ei-ner, wenn nicht gar von zwei Kugeln im Herzen getrof-fen, todt zusammenbrach.

Kâlagani sprang zuerst auf das Thier zu. Wir selbstkletterten sofort zur Erde.

Die Tigerin zuckte nicht mehr.Wem kam jedoch die Ehre zu, sie tödtlich getroffen

zu haben? Dem Kapitän oder Fox? Man begreift, daßdiese Frage hier von Bedeutung war. Das Thier wurdegeöffnet. Zwei Kugeln hatten das Herz getroffen.

»Ei nun, begann der Kapitän, doch nicht ohne eini-ges Bedauern, so zählt sie für jeden von uns zur Hälfte!

– Zur Hälfte, Herr Kapitän!« wiederholte Fox imnämlichen Tone.

Ich glaube bestimmt, daß Keiner den ihm gebühren-den Antheil abgegeben hätte.

Das war also die Wunderthat, deren erfreulichstesResultat darin lag, daß das Thier ohne Kampf unterle-gen war und die Jäger nicht im Geringsten in Gefahrkamen, was übrigens bei derartigen Jagden nur seltender Fall ist.

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Fox und Kâlagani blieben auf dem Schlachtfelde, umdas prächtige Fell abzuziehen, während Kapitän Hodund ich nach dem Steam-House zurückkehrten.

Es liegt nicht in meiner Absicht, alle die kleinen Er-lebnisse bei unseren Zügen in Tarryani einzeln aufzu-zählen, wenn sie nichts besonders Charakteristischesbieten. Es genüge also die Bemerkung, daß Hod undFox sich in keiner Weise zu beklagen hatten.

Am 18. Juli begünstigte sie das Glück bei einer so-genannten »Houddi«, das ist Hüttenjagd, ganz ausneh-mend, so daß sie einer ernstlichen Gefahr ohne Unfallentgingen. Solch’ ein Houddi ist übrigens zur Jagd aufwilde Thiere recht vortheilhaft eingerichtet. Er bildetein kleines, crenelirtes Fort, dessen Mauern nach ei-nem Bache zu, wo die Thiere zur Tränke zu gehen pfle-gen, mit Schießscharten versehen sind. Da jene an die-se kleinen Bauwerke gewöhnt sind, kommen sie ohneMißtrauen heran und laufen so geradenwegs in’s Feu-er. Doch hier wie allenthalben kommt es darauf an, siemit dem ersten Schuß tödtlich zu treffen, sonst gehtdie Sache ohne gefährlichen Kampf nicht ab, da derHouddi den Jägern nicht immer gegen die, in Folgeeiner Verwundung nur noch wüthenderen Thiere hin-länglich Schutz gewährt. So kam es denn auch, wie wirgleich sehen werden, bei der Gelegenheit, von der hierdie Rede ist.

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Mathias Van Guitt leistete uns Gesellschaft. Viel-leicht hegte er die Hoffnung, einen nur leicht verletz-ten Tiger nach dem Kraal schaffen und dort pflegenund wieder heilen zu können.

An genanntem Tage kamen unseren Jägern nun dreiTiger auf einmal in den Weg, welche die erste Gewehr-salve nicht hinderte, auf die Mauern des Houddi loszu-stürzen. Die beiden ersten wurden zum großen Leid-wesen des Händlers durch eine zweite Kugel hinge-streckt, als sie schon die Mauer erklommen. Der drittegelangte bis in’s Innere desselben, blutete zwar an derSchulter, war aber nicht tödtlich getroffen.

»Hei, den fangen wir! rief Mathias Van Guitt, der beidiesen Worten einige Schritte vortrat, den kriegen wirlebendig! . . . «

Er hatte seinen voreiligen Satz noch nicht vollendet,als das Thier schon auf ihn zusprang und ihn nieder-warf, so daß es um den Händler ohne Zweifel gesche-hen wäre, hätte Kapitän Hod dem Tiger nicht noch eineKugel durch den Kopf gejagt, die ihn niederstreckte.

Schwerfällig erhob sich Mathias Van Guitt wieder.»Aber, lieber Kapitän, sagte er, statt sich bei unse-

rem Freunde zu bedanken, Sie hätten auch noch einbischen warten können! . . .

– Warten! . . . Auf was denn? . . . antwortete KapitänHod, etwa bis der Tiger Ihnen mit einem Tatzenschlagedie Brust zerfleischt hätte?

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– Von einem Tatzenschlage stirbt man auch nochnicht! . . .

– Nun, meinetwegen, erwiderte Kapitän Hod sehrtrocken, ein andermal werde ich warten!«

Das Thier konnte nun einmal nicht die Menageriedes Kraals vermehren und diente also nur dazu, eineDecke vor das Bett zu liefern; diese glückliche Jagdbrachte aber auf zweiundvierzig die Zahl der vom Ka-pitän, auf achtunddreißig der vom Diener erlegten Ti-ger, ohne die halbe Tigerin zu rechnen, welche Jederin seine Activa eingetragen hatte.

Man darf nun aber nicht glauben, daß diese großenJagden uns die kleineren hätten vergessen lassen.Monsieur Parazard würde das nimmer zugegeben ha-ben. Antilopen, Gemsen, große Trappen, welche sich inder Nachbarschaf des Steam-Houses zahlreich vorfan-den, boten unserer Tafel eine fortwährende Abwechs-lung an Wild.

Wenn wir durch Tarryani streiften, schloß sich Banksnur selten an uns an. Während mich diese Züge zu in-teressiren begannen, langweilten sie ihn offenbar. Ihnreizten mehr die oberen Zonen des Himalaya, wohiner sich gern begab, vorzüglich wenn Oberst Munro ihnbegleitete.

Das kam indeß nur ein- bis zweimal vor. Banks hat-te die Bemerkung gemacht, daß Sir Edward Munroseit Erreichung unseres Sanatoriums wieder mehr und

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mehr nachdenklich geworden war. Er sprach nur we-nig, hielt sich abseits und verhandelte mehrfach mitdem Sergeant Mac Neil. Brüteten die Beiden über einneues Project, das sie selbst vor Banks zu verheimli-chen suchten?

Am 13. Juli erhielten wir den Besuch Mathias VanGuitt’s. Vom Glücke weniger begünstigt als KapitänHod, hatte er seiner Menagerie noch keine weitere Er-werbung zuführen können. Weder Tiger, noch Leopar-den oder Löwen schienen Lust zu haben, in die Fallenzu gehen. Ohne Zweifel reizte sie der Gedanke, sich imäußersten Westen zum Angaffen ausstellen zu lassen,nicht im mindesten. Das wurmte den Händler natürlichmit Recht und er machte auch gar kein Hehl daraus.

Kâlagani und zwei Chikaris aus seinem Personal be-gleiteten Mathias Van Guitt bei diesem Besuche.

Die Einrichtung des Sanatoriums in der herrlichenUmgebung gefiel ihm außerordentlich. Oberst Munrolud ihn ein, zu Tische dazubleiben. Er nahm das ohneZögern an und versprach, der Tafel alle Ehre anzuthun.

In der Zeit vor dem Mittagsessen wollte Mathias VanGuitt das Steam-House genauer in Augenschein neh-men, dessen luxuriöse Ausstattung mit der Einfachheitseines Kraals allerdings nicht wenig contrastirte. Diebeiden fahrbaren Häuser fanden seine volle Anerken-nung, ich muß aber gestehen, daß der Stahlriese sei-ne Bewunderung nicht erregte. Ein Naturforscher sei-nes Schlages mußte ja wohl diesem Meisterwerke der

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Mechanik gegenüber unempfindlich bleiben. Wie hät-te er auch die Erzeugung dieses künstlichen Thieres, somerkwürdig das auch war, jemals billigen können?

»Denken Sie nicht so gering von unserem Elephan-ten, Herr Mathias Van Guitt! sagte Banks zu ihm. Dasist ein mächtiges Thier, und im Nothfalle würde es ihmgar nicht schwer fallen, neben unseren beiden WagenIhre ganze fliegende Menagerie mit fortzuziehen.

– Ich habe meine Büffel, antwortete der Händler,und lobe mir deren ruhigen und sicheren Schritt.

– Der Stahlriese fürchtet aber weder die Tatzen, nochdie Zähne des Tigers! rief Kapitän Hod dazwischen.

– Das glaube ich, meine Herren, erwiderte MathiasVan Guitt, aber warum sollten ihn diese auch anfallen?Sie machen sich aus stählernem Fleische verteufelt we-nig!«

Wenn der Naturforscher seine Gleichgiltigkeit ge-genüber unserem Elephanten nicht verhehlte, so konn-ten doch die Hindus, und vorzüglich Kâlagani, garnicht müde werden, ihn mit den Augen fast zu ver-schlingen. Man merkte leicht genug heraus, daß ihrerBewunderung für das riesige Thier auch eine gewissePortion abergläubischen Respects beigemischt war.

Kâlagani schien höchst erstaunt über die wieder-holte Versicherung des Ingenieurs, daß der Stahlriesemehr Kraft habe als alle Zugthiere des Kraals zusam-men. Das war auch Wasser auf Kapitän Hods Mühle,der die Gelegenheit nicht vorbeiließ, nicht ohne einen

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gewissen Stolz unser Abenteuer mit den drei »Probos-cidien« des Prinzen Gourou Singh zu erzählen. Auf denLippen des Händlers spielte dabei zwar ein etwas un-gläubiges Lächeln, er ging aber nicht weiter auf die Sa-che ein.

Das Diner verlief in wünschenswerther Weise. Ma-thias Van Guitt that ihm wirklich alle Ehre an. Frei-lich strotzte unsere Küche eben von der Jagdbeute derletzten Tage, und Monsieur Parazard hatte offenbar ge-strebt, sich selbst zu übertreffen. Der Keller des Steam-Houses lieferte auch verschiedene Getränke, die unse-rem Gaste recht gut zu munden schienen, vorzüglichzwei bis drei Gläser französischen Weines, die er miteinem unvergleichlichen Schnalzen der Zunge schlürf-te.

Nach dem Essen, als wir uns trennen sollten, merkteman sogar, an der Unsicherheit der Pendelschwingun-gen seiner Beine, daß der Wein, wenn er ihm zu Kopfegestiegen war, auch die Beine schwer gemacht hatte.Mit einbrechender Nacht schieden wir als die bestenFreunde der Welt, und Mathias Van Guitt konnte auch,Dank seinen Begleitern, ohne Unfall wieder nach demKraal gelangen.

Am 16. Juli entstand zwischen dem Händler und Ka-pitän Hod aber doch eine kleine Mißhelligkeit.

Der Kapitän hatte einen Tiger gerade in dem Augen-blicke geschossen, wo dieser in eine der Klappfallen

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gehen wollte und zwar zum dreiundvierzigsten für Je-nen, aber nicht zum achten für den Händler wurde.

Nach ziemlich lebhaften Auseinandersetzungen tra-ten indeß die alten guten Beziehungen wieder ein, wasvorzüglich der begütigenden Einmischung des OberstMunro zu verdanken war, indem Kapitän Hod sich ver-pflichtete, diejenigen Raubthiere zu schonen, welche,»die Absicht zu erkennen gäben«, sich in eine der Fal-len Mathias Van Guitt’s fangen zu lassen.

Während der nächsten Tage herrschte geradezu ab-scheuliches Wetter. Wir mußten wohl oder übel imSteam-House bleiben. Unsere Zeit war kurz, dennschon währte die Regenperiode über drei Monate, undwenn unser Reiseprogramm in der von Banks entwor-fenen Weise durchgeführt werden sollte, hatten wir fürden Aufenthalt im Sanatorium nur etwa noch sechsWochen übrig.

Am 23. Juli wiederholten einige Bergbewohner vonder Grenze ihren Besuch bei Oberst Munro. Ihr Dorf,Souari mit Namen, befand sich nur fünf Meilen vonunserem Halteplatze, nahe der obersten Grenze vonTarryani.

Einer derselben theilte uns mit, daß eine Tigerin seitsechs Wochen in ihrer Nachbarschaft furchtbar wüthe.Die Heerden wurden fast decimirt, und man sprachschon davon, das unbewohnbar gewordene Souarigänzlich zu verlassen, da es weder für Thiere noch

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für Menschen hinlängliche Sicherheit mehr bot. Fal-len, Schlingen, Hinterhalte, nichts hatte Erfolg gehabt,und die Tigerin galt schon für eines der furchtbarstenRaubthiere, von denen auch alte Bergbewohner je re-den gehört.

Diese Mittheilung war, wie man sich leicht denkenkann, Wasser auf Kapitän Hod’s Mühle. Er erbot sichgegenüber den Landleuten sofort, sie nach dem Dor-fe Souari zu begleiten, mit seiner Erfahrung als Jägerund seinem sicheren Auge den wackeren Leuten bei-zuspringen, die, wie mir dünkte, auf dieses Anerbietenrechneten.

»Gehen Sie mit, Maucler? fragte mich Kapitän Hod,aber in einem Tone, der es mir völlig freistellte, ja odernein zu sagen.

– Natürlich, gab ich zur Antwort, bei einer so inter-essanten Expedition möchte ich nicht fehlen.

– Auch ich werde Sie diesesmal begleiten, sagte derIngenieur.

– Das ist ja ein herrlicher Gedanke, Banks!– Ja, lieber Hod, es verlangt mich danach, Sie in Thä-

tigkeit zu sehen.– Und ich, soll ich nicht mit dabei sein, Herr Kapitän?

fragte Fox.– Ah, der Schlaukopf! rief der Kapitän, er wäre nicht

böse darüber, seine halbe Tigerin voll zu machen! – Jawohl, Fox, Du wirst dabei sein!«

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Da wir das Steam-House voraussichtlich auf drei bisvier Tage verließen, fragte Banks auch den Oberst, obes ihm Recht sei, uns bis nach Souari zu begleiten.

Sir Edward Munro lehnte das dankend ab. Er hattesich vorgenommen, während unserer Abwesenheit diemittlere über Tarryani gelegene Zone des Himalaya zubesuchen und Goûmi nebst dem Sergeanten Mac Neilmitzunehmen

Banks beruhigte sich damit.Es wurde nun bestimmt, daß wir noch an demselben

Tage nach dem Kraal aufbrechen und uns von Mathi-as Van Guitt einige Chikaris erbitten wollten, welchegewiß sehr ersprießliche Dienste leisten konnten.

Binnen einer Stunde, gegen Mittag, erreichten wirunser Ziel. Der Händler wurde von dem Vorhaben un-terrichtet. Er verhehlte keineswegs seine geheime Be-friedigung, als er von den kühnen Raubzügen der Ti-gerin hörte, »welche, sagte er, dazu geschaffen scheine,bei den Kennern die Achtung vor den Katzen der Halb-insel zu erhöhen.«

Er stellte uns drei seiner Hindus zur Verfügung, ohneKâlagani, der stets bereit war, wo es galt, einer Gefahrentgegen zu gehen.

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Mit Kapitän Hod traf Jener nur das Abkommen, daßdie Tigerin, wenn sie unerwarteter Weise sollte leben-dig gefangen werden können, der Menagerie Mathi-as Van Guitt’s angehöre. Welches Zugmittel, wenn ei-ne an den Balken des Käfigs hängende Notiz in be-redten Worten gesprochen hätte, »von den Großthateneiner der Königinnen Tarryanis, die nicht weniger alshundertachtunddreißig Personen beiderlei Geschlechtsaufgefressen hatte.«

Unsere kleine Gesellschaft verließ den Kraal ge-gen zwei Uhr Nachmittags. Vor vier Uhr noch gelang-ten wir, eine östliche Richtung bergaufwärts einhal-tend, ohne Zwischenfall nach Souari. Hier war derSchrecken auf seinem Höhepunkt. Am nämlichen Mor-gen hatte die Tigerin ein unglückliches Hinduweib, dassich unbedachtsam nach einem Bache begeben, ge-packt und in den Wald geschleppt.

Das Haus eines Bergbewohners, eines reichen eng-lischen Bodenpächters, nahm uns gastfrei auf. UnserWirth hatte mehr als alle Anderen Ursache, sich überdas unergreifbare Raubthier zu beklagen, dessen Feller gern mit einigen tausend Rupien bezahlt hätte.

»Herr Kapitän Hod, begann er, vor mehreren Jah-ren zwang eine Tigerin in den Centralprovinzen dieBewohner von dreizehn Dörfern zur Flucht, wodurchzweihundertfünfzig Quadratmeilen des besten Bodensungenutzt liegen blieben. Wenn das hier so fort geht,

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wie in der letzten Zeit, muß die ganze Provinz aufge-geben werden.

– Und Sie haben schon alle Mittel versucht, der Ti-gerin habhaft zu werden? fragte Banks.

– Alle, Herr Ingenieur! Fallen, Gruben, selbst mitStrychnin vergiftete Köder! Nichts hat Erfolg gehabt!

– Lieber Freund, sagte Kapitän Hod, ich versprechezwar nicht bestimmt, daß wir Ihnen Vergeltung schaf-fen, aber daß wir Alles thun werden, was in unserenKräften steht!«

Sobald wir in Souari vollständig untergebracht wa-ren, wurde noch für denselben Tag ein Treibjagen ver-abredet. Uns, unseren Leuten und den Chikaris ausdem Kraal schlossen sich etwa zwanzig Landleute an,welche das Terrain, auf dem wir operiren wollten,gründlich kannten.

Obwohl Banks nichts weniger als Jäger war, schiendieser Ausflug doch sein Interesse zu erregen.

Während der drei Tage des 24., 25. und 26. Julidurchstreiften wir weite Strecken des Gebirges ganzerfolglos, außer daß zwei Tiger, an die man gar nichtgedacht, der Kugel des Kapitäns erlagen.

»Den fünfundvierzigsten!« begnügte sich Hod anzu-melden, ohne darauf besonderes Gewicht zu legen.

Am 27. endlich verrieth die Tigerin ihre Gegenwartdurch eine neue Uebelthat. Ein unserem Wirthe gehö-riger Büffel verschwand von einer Weide dicht nebenSouari, und eine Viertelmeile vom Dorfe fand man nur

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wenig Ueberreste von demselben wieder. Die Frevel-that – ein Mord mit Vorbedacht, würde ein Jurist sa-gen – war offenbar vor Tagesanbruch geschehen. DerMörder konnte nicht fern sein.

War der eigentliche Urheber jenes Verbrechens aberwirklich jene schon so lange vergeblich gesuchte Tige-rin?

Die Hindus aus Souari hegten darüber keinen Zwei-fel.

»Das ist mein Onkel gewesen, es kann kein anderergewesen sein, der den Streich verübt hat!« erklärte ei-ner der Bergbewohner.

Mein Onkel! So bezeichnen die Hindu nämlich imgrößten Theile der Halbinsel den Tiger ganz allgemein.Es kommt das daher, daß sie die Seele eines ihrer Vor-fahren in dem Körper eines Mitglieds der Katzenfami-lie vermuthen. Hier hätten sie freilich richtiger sagensollen: Das ist meine Tante!

Sofort wurde der Entschluß gefaßt, dem Thiere vorEinbruch der Nacht nachzuspüren, weil jenes sich imDunklen jeder Nachstellung leichter zu entziehen ver-mochte. Jetzt mußte es stark gesättigt sein und verließseinen Schlupfwinkel unter zwei bis drei Tagen voraus-sichtlich nicht wieder.

Wir brachen also auf. Von der Stelle, wo der Büf-fel geraubt worden war, bezeichneten Blutspuren denvon der Tigerin eingeschlagenen Weg. Diese Spurenführten nach einem kleinen Gehege, das freilich schon

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mehrmals abgesucht worden war, ohne etwas darinzu finden. Jetzt sollte das Dickicht dadurch umzingeltwerden, daß man einen Kreis bildete, aus dem dasThier wenigstens nicht ohne gesehen zu werden ent-wischen konnte.

Die Einwohner stellten sich in der Weise auf, daßsie nach und nach durch Verengerung des Kreises demMittelpunkte näher kamen. Kapitän Hod, Kâlagani undich, wir befanden uns auf der einen Seite, Banks undFox auf der anderen, immer aber in einer Stellung, ummit den Leuten aus dem Kraal und jenen aus dem Dor-fe Fühlung zu behalten. Offenbar war jeder Punkt desRinges mit gleicher Gefahr bedroht, da Niemand wis-sen konnte, wohin die Tigerin ausbrechen würde. Daßdas Thier sich in dem Wäldchen befand, stand außerZweifel. Die Spuren, welche an einer Seite des Gehöl-zes ausliefen, waren nirgends anders wieder aufzufin-den. Man konnte eben nicht behaupten, ob hier seingewöhnliches Lager war, da man den Ort schon wie-derholt vergeblich durchsucht hatte; für den Augen-blick sprachen jedoch alle Voraussetzungen dafür, daßes sich in dem Wäldchen verborgen hielt.

Es war jetzt gegen acht Uhr Morgens. Nachdem alleMaßregeln getroffen, gingen wir langsam, geräuschlosvorwärts, indem wir den einschließenden Ring engerzusammenzogen. Eine halbe Stunde später stießen wirauf die Linie der ersten Bäume.

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Bis jetzt regte sich nichts; nichts verrieth die Anwe-senheit des Raubthieres, und ich fragte mich schon, obwir uns nicht ganz zwecklos abmühten.

Augenblicklich konnte man nur Diejenigen sehen,welche ein sehr beschränktes Stück des Bogens einnah-men, und doch lag sehr viel daran, ganz gleichmäßigvorzudringen.

Aus diesem Grunde waren wir übereingekommen,daß der zuerst in den Wald Eindringende einen Ge-wehrschuß als Signal abgeben sollte.

Dieses Signal erfolgte durch Kapitän Hod, der immervoraus war, und wir drangen durch den Waldrand ein.Ich sah nach meiner Uhr; sie zeigte acht Uhr fünfund-dreißig Minuten.

Nach einer weiteren Viertelstunde war der Kreis soeng geworden, daß wir uns fast mit den Ellenbogenberührten, und nun hielt Alles vor der dichtesten Mittedes Gehölzes an – aber noch hatte sich nichts gezeigt.

Das rings herrschende Schweigen unterbrach nurdas Knacken dürrer Aeste, die trotz aller Vorsicht dochzuweilen zertreten wurden.

Da ließ sich ein dumpfes Geheul vernehmen.»Dort steckt die Bestie!« rief Kapitän Hod und zeigte

nach dem Eingange einer Felsenhöhle, über der sicheine Gruppe hoher Bäume erhob.

Kapitän Hod täuschte sich nicht. Mochte das auchnicht der gewöhnliche Schlupfwinkel der Tigerin sein,

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so hatte sie doch, als sie sich von einer großen Gesell-schaft von Jägern verfolgt sah, darin Schutz gesucht.

Hod, Banks, Fox, Kâlagani und einige Leute aus demKraal hatten sich dem engen Eingange genähert, zudem auch einzelne Blutspuren hinführten.

»Wir werden da hineindringen müssen, sagte Kapi-tän Hod.

– Das dürfte gefährlich werden, meinte Banks, derErste, welcher hinein gelangt, könnte ohne schwereVerwundung kaum davonkommen.

– Ich wag’s, rief Hod, nachdem er sich überzeugt,daß seine Büchse gut in Stand war.

– Nach mir, Herr Kapitän, erklärte Fox, der sichschon zu der engen Oeffnung der Höhle niederbog.

– Nein, Fox, nimmermehr! rief Kapitän Hod, derkommt mir zu!

– Aber, Herr Kapitän, entgegnete Fox in sanftem To-ne, ich bin ja um sechs im Rückstand!« . . .

Beide hatten in dem Augenblicke nur die Liste dererlegten Tiger im Kopfe.

»Ihr werdet weder der Eine noch der Andere da hin-ein gehen, fiel jetzt Banks ein; das lasse ich nimmerzu!

– Vielleicht giebt es noch ein anderes Mittel, unter-brach Kâlagani den Ingenieur.

– Und welches?– Nun, wir räuchern die Höhle aus, antwortete der

Hindu. Das Thier muß dann zum Vorschein kommen.

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Wir laufen dabei weniger Gefahr und können es drau-ßen leichter erlegen.

– Kâlagani hat Recht, sagte Banks . . . Wohlan, Leute,schafft trockenes Holz und dürres Laub herbei! Stopftmir die Oeffnung gut zu. Der Wind wird Rauch undFlammen nach innen treiben, dann muß sich die Bestieentweder rösten lassen oder zu entfliehen suchen.

– Die Tigerin wird das Letztere wählen, meinte derHindu.

– Nach Belieben, versetzte Hod, wir werden zurHand sein, sie im Vorübergehen zu begrüßen!«

Sofort wurde nun Laubwerk, vertrocknetes Gras,dürres Holz – daran fehlte es in dem Wäldchen nicht– kurz, ein großer Haufen von brennbarem Materialvor der Oeffnung der Höhle aufgestapelt. Im Innernderselben blieb noch Alles still. Nichts zeigte sich indem dunklen Schlunde, der ziemlich tief zu sein schi-en. Doch hatten mich meine Ohren nicht betrogen. DasGeheul kam bestimmt von hier heraus.

Jetzt zündete man Feuer an. Bald stand Alles in lich-ten Flammen. Ein scharfer, dichter Qualm stieg vondem Brandherd empor, den der Wind zurücktrieb undder die Luft im Innern völlig unathembar machen muß-te.

Da hörte man ein zweites, aber weit wüthende-res Geheul. Das Thier merkte, daß auch sein letzter

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Schlupfwinkel angegriffen wurde, und um nicht zu er-sticken, mußte es wohl oder übel nach außen durch-brechen.

Wir warteten, längs der Seitenwand des Felsens auf-gestellt und halb gedeckt durch Baumstämme, um demersten Ansturm auszuweichen.

Der Kapitän hatte sich einen anderen Platz erwählt,und ich muß gestehen, gerade den gefährlichsten. Die-ser befand sich am Eingange zu einem Stege in demGehölz, dem einzigen, den die Tigerin einschlagenmußte, wenn sie durch das Dickicht entfliehen woll-te. Hod kniete auf der Erde, um einen sicheren Stand-punkt zu haben, und hatte die Büchse schon im An-schlag liegen; der ganze Mensch war unbeweglich wieMarmor.

Kaum drei Minuten verflossen seit der Anzündungdes Holzhausens, als ein drittes Geheul, oder diesmalvielmehr ein halb ersticktes Röcheln aus der Mündungder Höhlung heraustönte. Plötzlich wurde der bren-nende Haufen auseinandergerissen und ein riesigerKörper erschien in dem dicken Rauche.

Es war die gesuchte Tigerin.»Feuer!« rief Banks.Zehn Flintenschüsse krachten, wir überzeugten uns

aber später, daß keine Kugel ordentlich getroffen hatte.Das Thier trat uns gar zu schnell vor die Augen. Wiehätte man auch bei den schwarzen Rauchwirbeln, diees verhüllten, richtig zielen können!

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Die Tigerin berührte nach ihrem ersten Satze nur dieErde, um zu einem zweiten auszuholen und nach demDickicht zu stürzen.

Kapitän Hod erwartete das Raubthier mit größterKaltblütigkeit, und indem er es gleichsam im Flugeauf’s Korn nahm, jagte er demselben eine Kugel entge-gen, welche es freilich nur an einer Schulter verwun-dete.

Mit der Schnelligkeit eines Blitzes hatte die Tige-rin sich auf unseren Freund geworfen, ihn zu Bo-den gestreckt und wollte ihm eben den Kopf mit ei-nem furchtbaren Tatzenschlage zerschmettern . . . Dasprang Kâlagani hinzu, ein langes Messer in der Faust.

Der Aufschrei, der uns entfuhr, war noch nicht ver-hallt, als der muthige Hindu auf die Bestie losstürzteund diese gerade an der Kehle packte, als die rechteTatze schon auf den Schädel des Kapitäns niederfallensollte.

Gestört durch diesen unerwarteten Angriff, warf dasThier den Hindu durch eine Bewegung der Hüfte zuBoden und kehrte sich grimmig gegen diesen.

Kapitän Hod aber hatte sich mit einem Satze erho-ben, ergriff das von Kâlagani verlorene Messer undbohrte es mit sicherer Hand der Katze tief in’s Herz.

Die Tigerin wälzte sich am Boden.Höchstens fünf Minuten lang hatte die ganze aufre-

gende Scene gewährt.

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Kapitän Hod lag noch auf den Knieen, als wir zu ihmeilten. Kâlagani, an der Schulter blutend, erhob sicheben wieder.

»Bag mahryaga! Bag mahryaga!« rief der Hindu, wasso viel bedeutete als: Die Tigerin ist todt!

Ja wohl, sie war todt! Welch’ herrliches Thier! ZehnFuß lang von der Schnauze bis zur Schwanzspitze, derKörper in passendem Verhältniß, mit ungeheueren, mitlangen Krallen bewehrten Tatzen, die auf der Mühledes Schleifers zugeschärft schienen.

Während wir das Raubthier bewunderten, überhäuf-ten es die Hindus, ihrem gerechten Grolle Luft ma-chend, mit Schmähungen aller Art. Kâlagani hatte sichdem Kapitän genähert.

»Ich danke, Herr Kapitän! sagte er.– Was hast Du zu danken? erwiderte der Kapitän,

ich, lieber Freund, stehe in Deiner Schuld. Ohne DeineHilfe wäre es um einen der Kapitäne der ersten Schwa-dron von den Carabiniers der königlichen Armee ge-schehen gewesen!

– Ohne Sie wäre ich jetzt todt! antwortete kühl derHindu.

– Aber, alle Wetter, sprangst Du nicht mit dem Mes-ser in der Hand auf die Tigerin zu, als sie mir eben dieHirnschale einhämmern wollte?

– Sie haben ihr aber den Todesstoß gegeben, HerrKapitän; sie bildet Ihren siebenundvierzigsten!

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– Hurrah! Hurrah! schrieen die Hindus. Hurrah demKapitän Hod!«

Der Kapitän war allerdings berechtigt, diese Tigerinauf sein Conto zu schreiben, aber er dankte auch Kâla-gani durch einen warmen Händedruck.

»Kommt mit nach dem Steam-House, wandte sichBanks an Kâlagani. Euere Schulter ist durch einen Tat-zenschlag zerrissen; in unserer Reise-Apotheke werdenwir hoffentlich Mittel finden, diese Wunde zu heilen!«

Kâlagani verneigte sich zustimmend, und nachdemwir von den Bergbewohnern, welche uns mit Dankes-bezeigungen überschütteten, Abschied genommen, be-gaben wir uns wieder nach dem Sanatorium zurück.

Die Chikaris verließen uns, um nach dem Kraal zugehen. Auch diesesmal kehrten sie mit leeren Händenzurück, und wenn Mathias Van Guitt auf jene »Köni-gin von Tarryani« gerechnet hatte, so blieb ihm nichtsweiter übrig, als diese zu bedauern. Unter den gegebe-nen Verhältnissen war es wirklich unmöglich, dieselbelebendig zu fangen.

Gegen Mittag trafen wir wieder bei dem Steam-House ein. Hier wartete unser eine unangenehme Ue-berraschung. Zu unserem größten Bedauern waren SirEdward Munro, Sergeant Mac Neil und Goûmi wegge-reist.

Ein an Banks gerichtetes Billet theilte diesem zur Be-ruhigung mit, Sir Edward Munro wolle, geleitet auchvon dem Verlangen, einen Ausflug bis zur Grenze von

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Nepal vorzunehmen, dabei gewisse Zweifel, welchenoch über die Genossen Nana Sahib’s herrschten, auf-klären, und er werde sicherlich zurück sein, bevor dieZeit für die Abfahrt aus dem Himalaya herankäme.

Bei der Vorlesung dieser Zeilen schien es mir, als obKâlagani eine halb ärgerliche Bewegung machte.

Weshalb diese Bewegung? Ich täuschte mich wahr-scheinlich.

21. NÄCHTLICHER UEBERFALL.

Die Reise des Oberst Munro erregte in uns doch einelebhafte Unruhe.

Er handelte offenbar in der Erinnerung an eine Ver-gangenheit, die wir längst für immer abgeschlossenglaubten. Doch was war zu thun? Den Spuren Sir Ed-ward Munro’s nachzugehen? Wir wußten ja nicht, wel-che Richtung er eingeschlagen, welches Ziel zu errei-chen er sich vorgenommen habe. Andererseits konntenwir uns nicht verhehlen, daß, wenn er gegen Banksüber nichts gesprochen hatte, er nur die Einwürfe sei-nes Freundes fürchtete, denen er enthoben sein wollte.Banks bedauerte jetzt lebhaft, an unserer Expeditiontheilgenommen zu haben.

Wir mußten uns also zufrieden geben und den Laufder Dinge abwarten. Oberst Munro wollte ja sicherlich

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vor Ende August zurück sein, da dieser Monat der letz-te war, den wir im Sanatorium zuzubringen gedach-ten, um dann in südwestlicher Richtung den Weg nachBombay einzuschlagen.

Kâlagani, dem Banks alle mögliche Sorgfalt wid-mete, blieb nur vierundzwanzig Stunden im Steam-House, seine Wunde schien sehr schnell zu vernarben,und er verließ uns, um seinen Dienst im Kraal wiederanzutreten.

Auch zu Anfang des August fiel reichlicher Regen –es war ein Wetter, bei dem sich »Frösche einen Schnup-fen holen konnten«, wie Kapitän Hod sagte. Immerhindurfte man erwarten, daß dieser Monat weniger re-genreich sein werde als der Juli und uns folglich auchmehr Ausflüge in die Umgegend gestatten würde.

Mit dem Kraal standen wir wie bisher in häufigerBeziehung. Mathias Van Guitt war leider immer nochnicht zufriedengestellt. Auch er wollte sein Lager mitAnfang September aufgeben. Da ihm aber noch immerein Löwe, zwei Tiger und zwei Leoparden fehlten, heg-te er doch einige Zweifel, ob es bis dahin noch gelingenwerde, seinen Thierbestand zu completiren.

Statt der Schauspieler, die er für Rechnung seinerAuftraggeber engagiren wollte, fanden sich in seinerAgentur andere ein, für die er kein Interesse hatte.

So fing sich z. B. am 24. August ein schöner Bär ineiner der Fallen.

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Wir befanden uns eben im Kraal, als die Chikaris ineinem fahrbaren Käfige einen Gefangenen von großemWuchse, mit schwarzem Pelze, scharfen Krallen undlangbehaarten Ohren – dem besonderen Kennzeichenfür die Familie der Bären in Indien – zur Stelle schaff-ten.

»Nun, was thue ich mit diesem unnützen Tardigra-den! rief der Händler achselzuckend.

– Bruder Ballon! Bruder Ballon!« ließen sich dage-gen die Hindus vernehmen.

Es scheint fast, als ob die Hindus, wenn sie nur dieNeffen der Tiger sind, sich als die Brüder der Bärenbetrachten.

Ungeachtet dieses Verwandtschaftsgrades empfingMathias Van Guitt Bruder Ballon doch mit ganz un-zweideutig schlechter Laune. Bären fangen, wo er Ti-ger brauchte, daran konnte ihm nicht viel liegen. Wassollte er mit dem lästigen Thiere beginnen? Er verspür-te keine Lust, dasselbe zu füttern, ohne die Aussicht,auf seine Kosten zu kommen.

Der indische Bär ist auf den Märkten Europas nichtbesonders gesucht. Er hat weder den Handelswerth desamerikanischen Grizzly, noch den des Eisbären. Des-halb bekümmerte sich Mathias Van Guitt als gewieg-ter Kaufmann nicht viel um ein so beschwerlich fortzu-schaffendes Thier, das er nur schwierig wieder an denMann bringen konnte.

»Wollen Sie ihn? fragte er den Kapitän Hod.

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– Was soll ich denn damit anfangen? antwortete derKapitän.

– Ei, Sie machen Beefsteaks davon, sagte der Händ-ler, wenn ich mich dieser Katachrese bedienen darf.

– Herr Mathias Van Guitt, bemerkte da Banks ganzernsthaft, die Katachrese ist eine in jedem Falle erlaub-te Redefigur, wo sie, in Ermanglung eines anderen Aus-druckes, den Gedanken passend verdeutlicht.

– Das war auch meine Absicht, meinte der Händler.– Nun, Hod, fuhr Banks fort, nehmen Sie den Bären

des Herrn Van Guitt oder nehmen Sie ihn nicht?– Meiner Treu, nein! erklärte der Kapitän bestimmt.

Beefsteaks von einem erlegten Bären zu essen, dasmöchte zur Noth noch angehen; aber einen Bären zuschlachten, um ihn zu Beefsteaks zu verarbeiten, dasreizt meinen Appetit wahrlich nicht!

– Nun, so setzt den Plantigraden wieder in Freiheit!«rief Mathias Van Guitt seinen Chikaris zu.

Diese gehorchten dem Befehle. Der Käfig wurde ausdem Kraal hinausgeschafft. Einer der Hindus öffnetedas Gitter desselben.

Bruder Ballon, der seine beschämende Lage fühl-te, ließ sich das nicht zweimal sagen. Er trabte ruhigdurch die Thür des Gefängnisses, schüttelte ein we-nig den Kopf, womit er vielleicht seinen Dank aus-drücken wollte, und trollte mit vergnügtem Grunzenseines Weges.

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»Da haben Sie ein gutes Werk gethan, sagte Banks,das wird Ihnen Glück bringen, Herr Van Guitt!«

Banks sollte richtig prophezeit haben. Schon derMorgen des 6. August brachte dem Händler seine Be-lohnung, da er ihm eines der seiner Menagerie nochfehlenden Raubthiere in die Hand lieferte.

Das ging folgendermaßen zu.Mathias Van Guitt, Kapitän Hod und ich in Be-

gleitung Fox’, des Maschinisten Storr und Kâlagani’sdurchsuchten seit der Morgendämmerung ein Cactus-und Mastixdickicht, als wir plötzlich ein halbersticktesBrüllen vernahmen.

Sofort machten wir die Gewehre zum Feuern fertig,schlossen uns alle Sechs dicht aneinander, um nichteinzeln überfallen werden zu können, und gingen nachder verdächtigen Stelle langsam vor.

Nach fünfzig Schritten ließ der Händler Halt ma-chen. Aus der Art des Gebrülls schien er zu erkennen,um was es sich hier handle, und so bat er – womiter sich vor Allem an Kapitän Hod wandte – darum, janicht unnöthig zu schießen.

Dann ging er allein noch einige Schritte vorwärts,während wir zurückblieben.

»Richtig, ein Löwe!« rief er.An dem Ende eines festen, an der Gabelung zweier

starken Zweige angebrachten Strickes hing in der Thatein gewaltiges Thier.

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Es war ein Löwe, zwar ein Löwe ohne Mähne – wo-durch die hiesigen sich von ihren Stammverwandten inAfrika unterscheiden – aber doch ein wirklicher Löwe,wie ihn Mathias Van Guitt brauchte und längst suchte.

Das wilde Thier, das mit einer Vordertatze durch denLaufknoten des Strickes gehalten war, riß an diesemzwar heftig herum, konnte sich aber nicht davon be-freien.

Kapitän Hod wollte doch schon, trotz der Ermah-nung des Händlers, Feuer geben.

»Schießen Sie nicht, Kapitän! rief Mathias Van Guitt,ich beschwöre Sie, schießen Sie nicht!

– Aber . . .– Nein, nein, sage ich Ihnen! Dieser Löwe hat sich in

einer meiner Schlingen gefangen, er gehört mir!«Wir hatten freilich eine Schlinge – eine Hängeschlin-

ge, möchte ich sagen, – von sehr einfacher und dochsinnreicher Construction vor uns.

Ein tüchtiger Strick wird an einem starken, aberbiegsamen Baumzweige befestigt. Dieser Zweig wirdso zur Erde herabgebogen, daß der untere Theil desStrickes, dessen Ende einen Laufknoten bildet, in denEinschnitt eines fest in den Boden eingerammten Pfah-les geklemmt werden kann. An dem Pfahle selbstbringt man einen Köder in der Weise an, daß ein Thier,wenn es diesen herabholen will, entweder den Kopfoder doch eine Tatze durch die Schlinge stecken muß.

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Wenn es nun aber nur ganz wenig an der Lockspei-se zerrt, zieht es auch den Strick aus dem Einschnitte,der Zweig schnellt empor, das Thier wird mit in die Hö-he gehoben und gleichzeitig gleitet ein schwerer Holz-cylinder an dem Stricke herab, schließt dadurch dieSchlinge fester und verhindert, daß diese sich durchdie Anstrengung des hängenden Thieres wieder öffnet.

Diese Sorten Fallen trifft man in den Wäldern In-diens sehr häufig an, und Raubthiere fangen sich dar-in leichter, als man auf den ersten Blick glauben soll-te. Meist wird das Thier dabei freilich am Halse ein-geschnürt, wodurch es schnell erstickt, während dasschwere Holzstück ihm auch den Schädel halb zer-schmettert. Der Löwe aber, der sich vor unseren Augenwand, hatte sich nur mit einer Tatze gefangen. Er waralso lebend und werth, unter den vierbeinigen Gästendes Kraals zu figuriren.

Erfreut über diesen Fang, sendete Mathias Van GuittKâlagani nach dem Kraal, um den fahrbaren Käfig undeinen Wagenführer herbeizuholen. Inzwischen konn-ten wir das Thier, dessen Wuth unsere Anwesenheitverdoppelte, mit aller Muße beobachten.

Der Händler wendete kein Auge von demselben ab.Er umkreiste den Baum von allen Seiten, natürlich mitder Vorsicht, sich außer Schuß- oder eigentlich Hieb-weite zu halten, da der Löwe mit den Tatzen gewaltigausschlug.

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Nach einer halben Stunde kam der von zwei Büffelngezogene Käfig an. Man ließ den Gehängten hinein-sinken, was kein so leichtes Stück Arbeit war, und wirschlugen wieder den Weg nach dem Kraal ein.

»Ich fing wirklich schon an zu verzweifeln, äußerteMathias Van Guitt; die Löwen sind nicht in zu großerAnzahl unter den Nemoralen Indiens vorhanden . . .

– Was? Unter den Nemoralen? fragte Kapitän Hod.– Ja, das heißt unter den Thieren, welche durch die

Wälder schweifen, und ich gratulire mir, diesen Kerl,der meiner Menagerie Ehre machen wird, gefangen zuhaben.«

Mathias Van Guitt hatte sich von diesem Tage abüberhaupt nicht mehr über den früheren Unstern zubeklagen.

Am 11. August wurden zwei Leoparden zusammenin der nämlichen Falle gefangen, aus der wir den Händ-ler befreit hatten.

Es waren das zwei Tchitas, ähnlich jenem, der in denEbenen von Rohilkande den Stahlriesen so kühn ange-griffen hatte und dessen wir damals nicht habhaft wer-den konnten.

Jetzt fehlten nur noch zwei Tiger, um den Stock Ma-thias Van Guitt’s vollzählig zu machen.

Der 15. August kam heran. Oberst Munro war nochnicht wieder erschienen, ebensowenig erhielten wirNachrichten von ihm. Banks war unruhiger, als er sich

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den Anschein gab. Er befragte Kâlagani, der ja die ne-palische Grenze kannte über die Gefahren, denen SirEdward Munro ausgesetzt sein könne, wenn er sichin jene unabhängigen Gebiete hineinwagte. Der Hin-du versicherte ihm, daß sich in der Nähe von Thibetkein einziger Parteigänger Nana Sahib’s mehr aufhal-te. Jedenfalls bedauerte er, daß der Oberst ihn nichtals Führer mitgenommen habe. Seine Dienste wärenihm in einem Lande, das er bis auf den einsamen Fuß-steg kannte, gewiß von Nutzen gewesen. Jetzt war jaaber gar nicht daran zu denken, jenen aufzusuchen.

Kapitän Hod und Fox setzten ihre Ausflüge durchTarryani unermüdlich fort. Unterstützt von den Chi-karis des Kraals, gelang es ihnen, drei weitere mittel-große Tiger ohne große Gefahr zu erlegen. Zwei vondiesen kamen auf Rechnung des Kapitäns, der eine aufRechnung des Dieners.

»Achtundvierzig! sagte Hod, der die runde Summevon fünfzig gern voll gemacht hätte, bevor er den Hi-malaya verließ.

– Neununddreißig!« zählte Fox, ohne von einem ge-waltigen Panther zu reden, der unter seiner Kugel ge-fallen war.

Am 20. August ging der vorletzte der von MathiasVan Guitt gesuchten Tiger in eine der Fallen, der er ausInstinct oder Zufall bisher ausgewichen war. Wie dasgewöhnlich geschieht, verletzte sich das Thier durchden Fall, doch schien die Wunde keine schwere zu sein.

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Einige Tage Ruhe genügten zur Heilung derselben, undjedenfalls sah man zur Zeit der Ablieferung an Hagen-beck in Hamburg davon nicht mehr das Geringste.

Die Verwendung solcher Fallen wird von allen Ken-nern als eine barbarische Methode verurtheilt. Handeltes sich nur darum, die Thiere zu vernichten, so magwohl jedes Mittel gelten, beabsichtigt man aber, die-selben lebendig einzufangen, so verenden sie doch zuhäufig in Folge des Sturzes, vorzüglich, wenn sie in je-ne fünfzehn bis zwanzig Fuß tiefen Gruben fallen, wel-che zum Fange der Elephanten bestimmt sind. Unterzehn findet man kaum eines, das nicht einen gefährli-chen Knochenbruch erlitten hat. Selbst in Mysore, woman diesem Verfahren mit Vorliebe huldigte, wird es,nach Aussage des Händlers, jetzt mehr und mehr ver-lassen.

Ein einziger Tiger fehlte also noch der Menagerie desKraals, und Mathias Van Guitt hätte diesen gar zu gernin seinem Käfige gesehen, denn es drängte ihn jetzt,nach Bombay aufzubrechen.

Dieser Tiger sollte nun zwar bald genug erlangt wer-den, aber freilich um welchen Preis! Ich muß hierüberetwas ausführlicher berichten, denn das Thier wurdetheuer – sehr theuer – bezahlt.

Kapitän Hod hatte für die Nacht des 26. Augusteinen Jagdausflug verabredet. Alle Vorzeichen ließenauf einen günstigen Erfolg rechnen, da der Himmelwolkenlos, die Luft ruhig und der Mond im Abnehmen

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war. Bei ganz tiefer Finsterniß verlassen die Raubthie-re nur ungern ihre Höhlen, während sie bei mäßigemLichtschein desto lieber umherschweifen. Der »Menis-cus« – ein Wort, womit Mathias Van Guitt den sichel-förmigen Mond zu bezeichnen pflegte – der Meniscusmußte also nach Mitternacht seine bleichen Strahlenherabsenden.

Kapitän Hod und ich, Fox und Storr, der an solchemSport allmählich Gefallen fand, bildeten den Kern derExpedition, der sich der Händler, Kâlagani und einigeHindus anschließen sollten.

Nach beendigter Mahlzeit und nachdem wir uns vonBanks, der eine Einladung, uns zu begleiten, abschlug,verabschiedet hatten, verließen wir das Steam-Housegegen sieben Uhr Abends und kamen gegen acht Uhrohne bemerkenswerthen Zwischenfall in den Kraal an.

Mathias Van Guitt stand eben vom Abendessen auf.Er begrüßte uns in der gewohnten eigenthümlichenWeise. Sofort traten wir zur Berathung zusammen undverabredeten alles Weitere bezüglich der anzustellen-den Jagd.

Wir wollten uns in der Nähe eines Bergstromes aufdie Lauer legen, der im Grunde einer jener Schluch-ten, welche man hier »Nullahs« nennt, zwei Meilenvom Kraal und an einer Stelle vorüberfloß, wohin einTigerpärchen jede Nacht zu kommen pflegte. Ein Kö-der war daselbst nicht angebracht worden, da das nachAussage der Hindus überflüssig schien. Ein vor kurzer

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Zeit in diesem Theile Tarryanis abgehaltenes Treibja-gen hatte den Beweis geliefert, daß die Tiger schon,um ihren Durst zu löschen, jene Schlucht regelmäßigaufsuchten. Es war auch bekannt, daß man sich dortgünstig aufstellen konnte.

Den Kraal sollten wir vor Mitternacht nicht verlas-sen. Jetzt war es erst neun Uhr. Nun hieß es warten zulernen, ohne sich dabei zu sehr zu langweilen.

»Meine Herren, begann Mathias Van Guitt, meineWohnung steht gänzlich zu ihrer Verfügung.Ich ersu-che Sie, es wie ich zu machen und sich niederzulegen.Wir müssen noch vor dem frühen Morgen hinaus, undeinige Stunden Schlaf werden uns für etwaige Strapa-zen stärken.

– Haben Sie Lust, zu schlafen, Maucler? fragte michKapitän Hod.

– Nein, gab ich zur Antwort. Ich werde lieber um-herspazieren, bis wir fortgehen, als mich gerade dannwecken zu lassen, wenn ich im tiefsten Schlafe liege.

– Wie es Ihnen beliebt, meine Herren, bemerkte derHändler. Ich für meinen Theil fühle schon jenes spas-modische Blinzeln der Augenlider, welches die Müdig-keit hervorbringt. Sie sehen, ich schwanke schon sozwischen Wachen und Schlafen!«

Mathias Van Guitt erhob dabei die Arme, warf, wiedurch unwillkürliche Muskelbewegung, den Kopf zu-rück und gähnte recht herzhaft.

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Als er mit seinen Verrenkungen fertig war, winkte eruns noch ein Adieu zu und verschwand in der Hütte,wo er jedenfalls bald in sanftem Schlummer lag.

»Und was beginnen wir nun? fragte ich.– Wir gehen spazieren, antwortete Kapitän Hod, wir

gehen im Kraal auf und ab. Die Nacht ist schön, undich werde zur Zeit besser bereit sein, zu marschiren,als wenn ich jetzt zwei bis drei Stunden lang schliefe.Der Schlaf ist zwar unser bester Freund, leider läßt eraber manchmal lange Zeit auf sich warten!«

So trotteten wir also, plaudernd und träumend,langsam durch den Kraal. Storr, »den sein besterFreund gewöhnlich nicht lange warten ließ«, lag amFuße eines Baumes und schlief schon fest. Die Chi-karis und die Wagenführer hockten ebenfalls in ihrerEcke und überhaupt wachte sonst kein Mensch inner-halb der Einzäunung. Es wäre das auch überflüssig ge-wesen, da der von einer Palissade umschlossene Kraalvollständig abgesperrt war.

Kâlagani hatte sich selbst noch überzeugt, ob dasThor gut verwahrt sei; nachdem das geschehen, wünsch-te er uns im Vorübergehen gute Nacht und begab sichnach dem Häuschen, das er mit seinen Gefährten be-wohnte.

Kapitän Hod und ich, wir befanden uns nun ganzallein.

Nicht allein die Leute Van Guitt’s, sondern auch dieHausthiere und die Raubthiere schliefen alle, diese in

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ihren Käfigen, jene zusammen unter großen Bäumenam Ende des Kraals. Drinnen und draußen herrschteallgemeines Schweigen.

Unsere Promenade führte uns zunächst nach derStelle, wo die Büffel lagen. Die schönen, sanften undgelehrigen Wiederkäuer waren nicht einmal einge-schlossen. Gewohnt, unter dem Blätterdache mächti-ger Ahornbäume zu lagern, sahen wir sie gemächlichhingestreckt, die Hörner untereinander verwickelt, dieFüße untergeschlagen, und man hörte nur das langsa-me, schnaufende Athmen der mächtigen Körper.

Auch unsere Annäherung störte sie nicht aus ihrerRuhe. Nur einer derselben erhob ein wenig den dickenKopf, glotzte uns mit dem unsteten Blicke an, der die-ser Art von Thieren eigenthümlich ist, und duckte sichdann wieder langsam nieder.

»Da sieht man, wie das Leben im Hause oder vielmehr die Zähmung sie verändern kann, sagte ich zumKapitän.

– Ja, erwiderte dieser, und doch sind gerade Büffelsehr gefährliche Thiere, wenn sie in der Wildniß hau-sen. Aber, wenn es ihnen nicht an Kräften fehlt, so gehtihnen dafür jede Gewandtheit ab, und was vermögenihre Hörner z. B. gegen den Zahn der Löwen oder ge-gen die Tatze der Tiger? Offenbar sind diese Raubthie-re ihnen gegenüber im Vortheil.«

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In dieser Weise plaudernd, hatten wir uns den Kä-figen genähert. Auch hier herrschte vollständige Ru-he. Tiger, Löwen, Panther und Leoparden schliefen inihren abgesonderten Käfigen. Mathias Van Guitt ließsie nicht eher zusammen, als bis sie durch einige Wo-chen Gefangenschaft etwas mürber geworden waren,und daran that er ganz recht. Während der ersten Ta-ge der Einsperrung hätten die Bestien wahrscheinlicheinander selbst aufgezehrt.

Vollkommen unbeweglich, lagen die drei Löwen,großen Katzen gleich, krumm zusammengebogen. DenKopf, der zwischen den dicht behaarten schwarzen Tat-zen verschwand, sah man gar nicht; so schliefen sieden Schlaf des Gerechten. In den Zellen der Tigerherrschte nicht derselbe Friede. Glühende Augen blitz-ten zuweilen durch das Dunkel auf, eine kräftige Tatzerüttelte wohl auch einmal an den eisernen Gitterstä-ben. Es war der Schlaf von Raubthieren, deren Grimmselbst der Schlaf nicht sänftigt.

»Sie haben böse Träume, das begreife ich wohl!« sag-te der mitleidige Kapitän.

Einige Gewissensbisse oder wenigstens das Gefühlvon Reue schien auch die drei Panther zu quälen. Umdiese Stunde waren sie, frei von jeder Fessel, in denWäldern umhergestrichen und hatten sich nach denWeideplätzen geschlichen, wo sie lebendes Fleisch wit-terten.

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Den Schlaf der vier Leoparden störte offenbar keinAlpdrücken. Sie lagen friedlich und still. Zwei dieserKatzen, ein Männchen und ein Weibchen, besaßen eingemeinsames Schlafzimmer und befanden sich darinebenso wohl wie im Grunde ihrer Höhle.

Nur eine einzige Zelle stand noch leer – die, welcheder sechste und gar nicht zu erlangende Tiger einneh-men sollte, den Mathias Van Guitt sich noch beschaffenmußte, bevor er Tarryani verlassen konnte.

Unser Spaziergang mochte etwa eine Stunde ge-währt haben. Nachdem wir an der inneren Seite derKraal-Einfriedigung dahingegangen, ließen wir uns amFuße einer mächtigen Mimose nieder.

Im ganzen Walde ringsum regte sich nichts, selbstder Wind, der gegen Abend noch durch die Bäumerauschte, hatte sich jetzt gelegt. Kein Blättchen rührtesich. Die Atmosphäre über der Erde war eben so ruhigwie in den oberen Regionen, wo die Sichel des Mondeslangsam herauszog.

Kapitän Hod und ich saßen dicht bei einander, spra-chen aber kaum noch ein Wort. Der Schlaf überfiel unsnicht etwa, es machte sich vielmehr der mehr geistigeals körperliche Einfluß der Stille in der Natur auf unsgeltend. Man denkt dann wohl, verleiht aber dem Ge-danken keine Worte. Man träumt wie ein Mensch, derdoch nicht schläft, und der Blick, den die Augenlidernicht verschleiern, verliert sich gern in einer phantasti-schen Vision.

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Nur ein Umstand fiel dem Kapitän auf und mit lei-ser Stimme, wie man es unwillkürlich thut, wenn Allesringsumher schweigt, sagte er:

»Wissen Sie, Maucler, eine solche Stille setzt michwirklich in Erstaunen. Gewöhnlich brüllen die Raubt-hiere im Dunklen und während der Nacht schallt essonst durch den ganzen Wald. Fehlt es an Tigern oderPanthern, so hört man dafür die Schakals bellen. Die-ser Kraal voll lebender Wesen sollte sie eigentlich zuHunderten herbeilocken, und doch hört man nicht dasGeringste, kein Knacken von dürrem Holz auf der Erde,kein einziges Geheul da draußen. Wenn Mathias VanGuitt wach wäre, würde er sich ebenso darüber wun-dern wie ich und gewiß irgend ein sonderbares Wortfinden, sein Erstaunen auszudrücken!

– Sie haben Recht, lieber Hod, antwortete ich, undich weiß mir das Ausbleiben aller jener Nachtschwär-mer auch nicht zu erklären. Doch, achten wir auf unsselbst, daß wir bei der Stille ringsum nicht zuletzt nocheinschlafen.

– Nein, nein, wir müssen aushalten, meinte KapitänHod, indem er die Arme dehnte. Die Stunde zum Auf-bruch kommt bald heran!«

Wir fingen also wieder an zu plaudern, wenn auchmit längeren Pausen.

Wie lange das dauerte, vermag ich nicht zu sagen;plötzlich entstand aber eine dumpfe Bewegung, diemich aus diesem Zustande der Somnolenz weckte.

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Kapitän Hod, der ebenfalls wieder völlig munterwurde, sprang gleichzeitig mit mir auf.

Das Lärmen ging offenbar von den Käfigen derRaubthiere aus.

Löwen, Tiger, Panther und Leoparden, die noch ebenganz ruhig gelegen hatten, ließen ein heimliches Mur-ren und Knurren hören. Sie hatten sich erhoben trab-ten in ihren Zellen hin und her, schnüffelten hinaus,als wenn sie irgend etwas witterten, und richteten sichwuthschnaubend an den Eisenstangen der Käfige em-por.

»Was mögen sie nur haben? fragte ich.– Ich weiß es nicht, erwiderte Kapitän Hod, aber ich

fürchte, sie wittern die Annäherung von . . . «Plötzlich entstand rings um den Kraal ein entsetzli-

ches Gebrüll.»Das sind Tiger,« rief Kapitän Hod, und eilte nach

dem Hause Mathias Van Guitt’s.Der Höllenlärm hatte das ganze Personal des Kraals

auf die Füße gebracht und der Händler erschien mitmehreren Leuten an der Thür.

»Ein Ueberfall! . . . rief er.– Ich glaube, ja, antwortete Kapitän Hod.– Ich werde mich sofort überzeugen!« . . .Ohne ein weiteres Wort zu äußern, ergriff Mathias

Van Guitt eine Leiter, die er an die Palissade lehnte. Ineinem Augenblicke stand er auf der obersten Stufe.

»Zehn Tiger und ein Dutzend Panther! rief er herab.

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– Das mag ernsthaft werden, meinte Kapitän Hod.Statt daß wir jene jagen wollten, werden sie nun unszu Leibe gehen!

– Die Gewehre! Schnell die Gewehre her!« befahl derHändler.

Alle beeilten sich, dem Gebote zu folgen, und inzwanzig Secunden waren wir fertig, Feuer zu geben.

Solche Ueberfälle einer ganzen Bande von Raubthie-ren sind in Indien übrigens nicht gar zu selten. Wie oftwurden nicht die Bewohner solcher Gegenden, in de-nen Tiger hausen, vorzüglich die der Sunderbunds, inden Wohnungen geradezu belagert! Das sind kritischeStunden, und leider bleibt der Vortheil häufig genugauf Seite der Angreifer.

In das Geheul von draußen mischte sich nun auchnoch das Gebrüll in den Behältern. Der Kraal schiendem Walde Antwort zu geben. Wir konnten kaum nochdas eigene Wort hören.

»An die Palissaden!« rief Mathias Van Guitt, der sichmehr durch Gesten als durch die Stimme verständlichmachte.

Wir stürzten Alle nach der Einfriedigung.Die Büffel packte der Schreck und sie erhoben sich

eben, um den bisher innegehabten Platz zu verlassen.Vergeblich suchten die Wagenführer sie zurückzuhal-ten.

Plötzlich sprang das Thor, dessen Riegel also nichtordentlich geschlossen sein konnte, heftig auf und in

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tollen Sätzen stürzten eine Menge Bestien in den Kraalherein.

Kâlagani hatte das Thor doch, wie er das immer that,auch heute gut verwahrt.

»In’s Haus! In’s Haus!« schrie Mathias Van Guitt undeilte nach demselben hin, da dieses jetzt allein nocheinigen Schutz gewähren konnte.

Blieb uns auch Zeit genug, dahin zu entfliehen?Schon wälzten sich zwei von Tigern überfallene Chi-

karis auf der Erde. Die Anderen, welche das Haus nichterreichen konnten, eilten durch den Kraal, um irgendeinen Schlupfwinkel zu suchen. Der Händler, Storr undsechs Hindus befanden sich schon in dem Hause, des-sen Thüre gerade in dem Moment zugeworfen wurde,als zwei Panther hineindringen wollten. Kâlagani, Foxund die Uebrigen erkletterten die Bäume, um in derenAesten Schutz zu suchen.

Kapitän Hod und ich fanden weder Zeit noch Gele-genheit, zu Mathias Van Guitt zu gelangen.

»Maucler! Maucler!« rief Kapitän Hod, der von ei-nem Tatzenschlage am Arme verwundet war.

Mich selbst hatte ein furchtbarer Tiger mit demSchweife zu Boden geworfen. Ich raffte mich wiederauf und sprang, als das Thier eben auf mich losgehenwollte, dem Kapitän zu Hilfe.

Nur eine Zuflucht blieb uns noch; die leere Zelle dessechsten Käfigs. In einem Augenblicke hatten wir unsBeide dahin geflüchtet und die schnell zugeschlagene

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Thür schützte uns einstweilen vor den Bestien, welchewüthend an den Gitterstäben emporsprangen.

Die rasende Wuth der Thiere im Hofe und der Ti-ger in den Zellen ging so weit, daß der auf den Rä-dern schwankende Käfig fast umgeworfen worden wä-re. Bald ließen die Tiger jedoch von demselben ab, umsich einer bequemeren Beute zuzuwenden.

Welch’ entsetzlicher Anblick, von dem uns nichtsentging!

»Das ist die verkehrte Welt! rief Kapitän Hod, dersich kaum bemeistern konnte. Sie draußen und wirdrinnen!

– Und Ihre Wunde? fragte ich.– Das hat nichts zu bedeuten!«Jetzt krachten fünf oder sechs Schüsse. Sie blitzten

aus dem Häuschen auf, in dem Mathias Van Guitt sichbefand und welches zwei Tiger und drei Panther be-stürmten.

Eines der Thiere fiel von einer Explosionskugel, wel-che von Storr’s Büchse herrühren mußte.

Die übrigen hatten sich gleich anfangs auf die Büffelgestürzt, die sich gegen solche Gegner freilich kaum zuvertheidigen vermochten.

Fox, Kâlagani und die Hindus, welche, um die Bäu-me erklettern zu können, die Waffen hatten wegwerfenmüssen, konnten sie nicht schützen.

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Nun gab auch Kapitän Hod, die Büchse durch dasGitter unseres Käfiges steckend, Feuer. Trotz der halb-en Lähmung seines rechten Armes in Folge der Wun-de, die ihn nicht so sicher wie gewöhnlich zu zielenerlaubte, gelang es ihm doch, seinen neunundvierzig-sten Tiger zu erlegen.

Da sprangen die erschrockenen Büffel eben brüllenddurch den Kraal. Vergebens versuchten sie, sich den Ti-gern zu widersetzen, die den Stößen der Hörner durchgeschickte, gewaltige Sätze zu entgehen wußten. Aneinem derselben hatte sich ein Panther festgeklam-mert, der ihm mit den Tatzen den Nacken zerfleischte– vor Schmerz betäubt, rannte das arme Thier davon,erreichte das Thor des Kraals und flüchtete nach au-ßen.

Fünf bis sechs andere, denen die Bestien ebenso zu-setzten, folgten jenem und flohen gleichfalls.

Mehrere Tiger eilten denselben nach; die noch imKraal befindlichen Büffel aber lagen schon mit zerbis-sener Kehle und aufgerissenem Leibe am Boden.

Aus den Fenstern des Häuschens dauerte das Ge-wehrfeuer fort. Kapitän Hod und ich suchten auch un-ser Bestes zu thun. Da schien noch eine neue Gefahrzu nahen.

Die in den Käfigen eingesperrten Thiere, welche dasGetöse des Kampfes, der Blutgeruch und das Heulen

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der Bestien nur noch mehr erhitzte, schäumten gera-dezu vor unbeschreiblicher Wuth. Sollte es ihnen ge-lingen, die Gitterstäbe zu durchbrechen? Auf jeden Fallwar das zu befürchten.

Schon kam es so weit, daß ein Tigerkäfig umstürzte.Einen Augenblick glaubte ich, dessen Wände könntengebrochen sein, so daß den Insassen der Weg geöffnetwäre . . .

Zum Glück bestätigte sich diese Annahme nicht; ja,die Insassen konnten jetzt nicht einmal mehr sehen,was draußen vorging, da die vergitterte Seite des Kä-figs auf die Erde zu liegen gekommen war.

»Wahrlich, das sind doch zuviel!« brummte Hod,während er die Büchse wieder lud.

Da machte ein Tiger einen furchtbaren Sprung, undmit Hilfe der Krallen gelang es ihm, die Baumgabelungzu erreichen, nach welcher sich zwei oder drei Chikarisgeflüchtet hatten.

Einer der Unglücklichen, den jener an der Kehlepackte, versuchte vergeblich, sich fest zu halten undstürzte zur Erde.

Gleich fiel ein Panther über den schon leblosen Kör-per her, dessen Knochen in einer breiten Blutlacheknackten.

»So schießt doch! So schießt doch!« rief KapitänHod, als könne er sich Mathias Van Guitt und dessenLeuten vernehmlich machen.

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Wir selbst vermochten nichts mehr auszurichten; un-sere Patronen waren zu Ende und wir sahen uns zuohnmächtigen Zuschauern des entsetzlichen Gemet-zels verurtheilt.

Da gelang es einem Tiger in der Zelle neben uns,als er mit aller Macht an den Eisenstäben rüttelte, denKäfig aus dem Gleichgewichte zu bringen, der einenAugenblick hin und her schwankte und dann gänzlichumfiel.

Von dem Falle trugen wir nur leichte Verletzungendavon und erhoben uns wenigstens schnell wieder aufdie Kniee. Die Wände hatten ausgehalten, aber auchwir konnten nun nicht mehr beobachten, was im Ho-fe geschah. Doch, wenn auch nichts zu sehen war, sohörte man ja genug. Welch’ ein Hexensabbath von Ge-brüll innerhalb der Planke des Kraals! Wie gewahrteman den Dunst von Blut in der Luft! Es schien, alsob jetzt der Kampf noch wüthender entbrannt wäre.Was war wohl vorgegangen? Sollten die Gefangenenaus den anderen Käfigen entkommen sein? Griffen siewohl gar Mathias Van Guitt’s Hütte an? Kletterten viel-leicht Tiger und Panther etwa auf die Bäume, um dieHindus herabzureißen?

»Und aus diesen vermaledeiten Kasten nicht herauszu können!« rief Kapitän Hod in voller Wuth.

So verging eine Viertelstunde – eine Viertelstunde,deren endlose Minuten wir beklommen zählten.

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Dann legte sich allmählich das Getöse, das Gebrüllwurde schwächer. Die Tiger in den anderen Zellen un-seres Käfigs sprangen nur seltener umher. War das Ge-metzel zu Ende?

Da hörte ich, wie das Thor des Kraals heftig zuge-worfen wurde. Kâlagani rief laut nach uns und Fox’Stimme hörten wir daneben, wie er immer »Herr Ka-pitän! Herr Kapitän!« halb jammernd wiederholte.

»Kommt hierher!« antwortete Hod.Man hörte uns und ich fühlte sogleich, wie der Käfig

langsam aufgerichtet wurde. Noch einen Augenblickund wir waren wieder befreit.

»Fox! Storr! rief der Kapitän, dessen erster Gedankeseinen Gefährten galt.

– Hier!« erwiderten der Maschinist und der Diener.Sie waren unverwundet. Auch Mathias Van Guitt

und Kâlagani waren heil und gesund. Zwei Tiger undeine Pantherin lagen leblos auf dem Boden. Die ande-ren waren lebendig aus dem Kraal entkommen, dessenThor Kâlagani sofort sorgfältig verschloß. Wir waren inSicherheit.

Keines der Thiere der Menagerie hatte während desKampfes entwischen können, der Händler zählte sogareinen Gefangenen mehr. Ein junger Tiger hatte sich un-ter dem umgestürzten kleineren fahrbaren Käfig wie ineiner Falle gefangen.

Mathias Van Guitt’s Stock war also vollzählig – aberwie theuer kam ihm das zu stehen! Fünf von seinen

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Büffeln waren erwürgt, die anderen entflohen und dreientsetzlich verstümmelte Hindus schwammen im Hofedes Kraals in ihrem Blute!

22. MATHIAS VAN GUITT ’S ABSCHIED.

Im Laufe der Nacht ereignete sich nichts mehr, we-der im Kraal, noch in dessen Umgebung. Die Pfortewar jetzt fest verriegelt. Wie hatte sie sich aber öff-nen können, als die Bande Raubthiere die Palissadeumschwärmte? Das erschien unerklärlich, da Kâlaganiselbst die schweren Balken, welche gewöhnlich davorlagen, in die Einschnitte geschoben hatte.

Kapitän Hod litt von seiner Verletzung doch ziem-lich stark, obwohl diese nur in einem Einrisse der Hautbestand. Dennoch fehlte nicht viel, so hätte er den Ge-brauch des rechten Armes einbüßen können.

Ich für meinen Theil fühlte von dem heftigenSchweifschlage, der mich zu Boden streckte, gar nichtsmehr.

Wir beschlossen also, noch vor Anbruch des Tagesnach dem Steam-House zurückzukehren.

Bedauerte Mathias Van Guitt den Verlust dreier sei-ner Leute gewiß ganz aufrichtig, so schien ihm dochder Vorgang nicht allzusehr zu Herzen zu gehen, ob-wohl er ohne Büffel, gerade im Moment der Abreise,in einige Verlegenheit gerieth.

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»Das gehört so zum Geschäft, sagte er zu uns, undich ahnte fast, daß mir noch ein ähnliches Abenteuerbevorstand!«

Er ließ hierauf die drei Hindus begraben, deren Ue-berreste in einer Ecke des Kraals so tief versenkt wur-den, daß die wilden Thiere sie nicht wieder ausschar-ren konnten.

Das Morgengrauen drang indessen schon bis in dieniedrigeren Theile Tarryani’s, und wir nahmen alsonach vielen herzhaften Händedrücken von MathiasVan Guitt Abschied.

Zur Begleitung, wenigstens auf dem Wege durch denWald, stellte der Händler uns Kâlagani und zwei sei-ner Hindus zur Verfügung. Wir nahmen das Angebotan und verließen um sechs Uhr die Einfriedigung desKraals.

Der Rückweg ging ohne Störung von statten. Von Ti-gern und Panthern keine Spur mehr. Die gesättigtenBestien mochten sich in ihre Höhlen zurückgezogenhaben, und jetzt erschien es nicht an der Zeit, sie dortaufzustören.

Was die aus dem Kraal entflohenen Büffel betraf, sowaren diese entweder erwürgt und lagen irgendwo imhohen Grase, oder es war, da sie sich im anderen Fal-le nach allen Seiten zerstreut und verirrt haben muß-ten, gar nicht darauf zu rechnen, daß ihr Instinct sienach dem Kraal zurückführen werde. Für den Händler

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waren sie demnach als unwiederbringlich verloren zubetrachten.

Am Saume des Waldes verließen uns Kâlagani unddie zwei Hindus. Eine Stunde später begrüßte Phannsund Blacks Gebell unsere Rückkehr zum Steam-House.

Ich erzählte Banks unser erlebtes Abenteuer. Selbst-verständlich beglückwünschte er uns, demselben soleichten Kaufes entkommen zu sein. Bei nächtlichenUeberfällen dieser Art kommt es nämlich gar zu häu-fig vor, daß Keiner der Belagerten übrig bleibt, um dieGroßthaten der Angreifer zu schildern.

Kapitän Hod mußte wohl oder übel seinen Arm inder Binde tragen; der Ingenieur, der eigentliche Arztunserer Expedition, erklärte die Wunde jedoch fürnicht gefährlich und versicherte, daß sie binnen we-nigen Tagen geheilt sein werde.

Kapitän Hod wurmte es vorzüglich, einen Schlag er-halten zu haben, ohne denselben erwidern zu können.Doch hatte er wenigstens zu den achtundvierzig Ti-gern, die sein Conto zählte, einen weiteren hinzuge-fügt.

Am nächsten Tage, am 27. August, hörten wir dieHunde wieder sehr laut, aber offenbar freudig anschla-gen.

Oberst Munro, Mac Neil und Goûmi kehrten nachdem Sanatorium zurück. Ihr Wiedererscheinen nahmuns eine wahre Centnerlast von den Schultern. HatteOberst Munro von seinem Zuge den erwarteten Erfolg

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gehabt? Noch wußten wir darüber nichts. Er kehrte jaheil und gesund zurück, das war die Hauptsache.

Banks lief ihm eilig entgegen, drückte ihm warm dieHand und fragte ihn nur durch einen Blick.

»Nichts!« antwortete Oberst Munro durch eine ein-fache Bewegung des Kopfes.

Das bedeutete für uns nicht allein, daß seine Nach-forschungen an der nepalischen Grenze nicht nurfruchtlos geblieben waren, sondern auch, daß jedesweitere Gespräch über dieses Thema unerwünscht undnutzlos sei. Er schien uns zu verstehen zu geben, daß erdie Sache nicht weiter erwähnt wissen wolle. Mac Neilund Goûmi, welche Banks während des Abends frag-te, erwiesen sich mittheilsamer. Sie gestanden zu, daßOberst Munro vorzüglich habe jenen Theil von Hindo-stan sehen wollen, nach dem sich Nana Sahib vor sei-nem Wiedererscheinen in der Präsidentschaft Bombaygeflüchtet hatte. Sich zu versichern, was aus den Ge-nossen des Nabab geworden sei, nachzuforschen, obvon ihrem Uebertritt über die indo-chinesische Gren-ze nicht noch Spuren aufzufinden wären, zu erfahren,ob, wenn nicht Nana Sahib, sich doch dessen BruderBalao Rao in dieser der englischen Gewalt nicht un-terworfenen Gegend verberge – das waren Sir EdwardMunro’s Zwecke gewesen. Aus Allem, was ich erfuhr,

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ging jedoch hervor, daß die Rebellen das Land verlas-sen haben mußten. Von ihrer Lagerstelle, wo jenes vor-gebliche Begräbniß stattgefunden hatte, um den Glau-ben an den Tod Nana Sahib’s zu verbreiten, fand sichkaum noch eine Spur. Von Balao Rao war nichts zu hö-ren, so wenig wie von dessen Begleitern, deren Spurvollständig verwischt schien. Da der Nabab also in denSchlachten der Sautpourraberge gefallen, seine Spieß-gesellen wahrscheinlich über die Grenzen der Halbin-sel hinaus vertrieben waren, so blieb für den Oberstals Rächer nichts mehr zu thun übrig. Wir dachten al-so nur daran, die Himalaya-Grenze zu verlassen, dieReise wieder nach Süden hin fortzusetzen und unserenbeabsichtigten Zug von Calcutta bis Bombay vollendsabzuschließen.

Der Aufbruch wurde demnach für über acht Tage,das heißt für den 3. September, festgestellt. Wir muß-ten doch Kapitän Hod Zeit gönnen zur Vernarbungseiner Wunde. Uebrigens schien auch der von seinembeschwerlichen Zuge angegriffene Oberst Munro drin-gend einiger Ruhe zu bedürfen.

Inzwischen traf Banks die nöthigen Vorbereitungen.Er hatte mit Instandsetzung unseres Trains, der wiederin die Ebene hinab und vom Himalaya nach der Prä-sidentschaft Bombay dampfen sollte, die ganze Wochevöllig zu thun.

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Die Reiseroute sollte übrigens zum zweiten Maleverändert werden, um die großen Städte des Nord-westens, wie Mirat, Delhi, Agra, Gwalior, Jansie undandere, in welchen die Empörung von 1857 zu vieleSpuren der Zerstörung zurückgelassen hatte, zu um-gehen. Mit den letzten Rebellen jener Erhebung sollteAlles verschwinden, was Oberst Munro’s trübe Erinne-rungen erwecken konnte. Unsere fahrbaren Wohnun-gen sollten also durch die Provinzen ziehen, ohne beiden Hauptstädten anzuhalten; die Landschaften ver-dienten einen Besuch übrigens auch schon allein umihrer natürlichen Reize willen. Das ausgedehnte König-reich Scindia gerade steht in dieser Hinsicht keinemanderen nach. Unserem Stahlriesen sollten sich jetztdie herrlichsten Wege der Halbinsel eröffnen.

Der Mousson hatte mit dem Ende der Regenzeit,welche sich nicht über den August hinaus ausdehnt,aufgehört. Die ersten Tage des Septembers verspra-chen eine angenehme Temperatur, welche gegenüberdem ersten den zweiten Theil der Fahrt minder be-schwerlich machen mußte.

Während der zweiten Hälfte unseres Aufenthaltes imSanatorium lag es Fox und Goûmi ob, die Bedürfnis-se der Küche zu decken. Von den beiden Hunden be-gleitet, durchstreiften sie die mittlere Gebirgszone, woRebhühner, Fasanen und Trappen in Menge umherflo-gen. Das im Eisbehälter aufbewahrte Geflügel lieferteunterwegs dann ein herrliches Wild.

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Noch zwei- oder dreimal statteten wir dem Kraaleinen Besuch ab. Hier war auch Mathias Van Guitt be-schäftigt, sich zur Abfahrt nach Bombay zu rüsten, wo-bei er seinen Kummer als Philosoph ertrug, der sichüber die kleinen und großen Widerwärtigkeiten des Le-bens erhaben fühlte.

Wir wissen schon, daß die Menagerie des Händlersdurch den Fang des zehnten Tigers, der so theuer zustehen kam, vollständig geworden war. Mathias VanGuitt hatte also nur daran zu denken, wie er sich neueBüffelgespanne verschaffen konnte. Von den Wieder-käuern, die bei jenem Ueberfalle entflohen, war natür-lich keiner wieder im Kraal erschienen; alle Umständesprachen dafür, daß jene zerstreut im Walde einen ge-waltsamen Tod gefunden hatten. Jetzt galt es also, siezu ersetzen, was unter den gegebenen Verhältnissenimmerhin seine Schwierigkeiten bot. In dieser Angele-genheit hatte der Händler Kâlagani ausgesendet nachden Farmen und benachbarten Flecken von Tarryaniund erwartete seine Rückkehr mit einiger Ungeduld.

Die letzte Woche unseres Aufenthaltes im Sanatori-um verlief ungestört. Kapitän Hod’s Wunde heilte all-mählich. Er hegte zwar den Wunsch, seine Campagnenoch mit einem Jagdzuge abzuschließen, mußte aberauf Bitten Oberst Munro’s davon absehen. Warum soll-te er sich auch einer Gefahr aussetzen, da sein Arm den

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Dienst ja halb versagte? Kam uns während der Rück-fahrt ein Raubthier in den Weg, so bot sich ihm ja ganznatürliche Gelegenheit, Revanche zu nehmen.

»Uebrigens, lieber Kapitän, bemerkte ihm Banks,sind Sie noch am Leben, während neunundvierzig Ti-ger von ihrer Hand den Tod fanden – ohne die ange-schossenen zu zählen. Die Bilanz schließt also sehr zuIhren Gunsten ab.

– Neunundvierzig, freilich, erwiderte Kapitän Hod,doch ich hätte den fünfzigsten gar zu gern hinzuge-fügt!«

Der 2. September kam heran, der Tag vor unsererAbreise.

Schon am Morgen meldete Goûmi einen Besuch desHändlers.

Wirklich kam Mathias Van Guitt in Begleitung Kâla-gani’s nach dem Steam-House. Er wollte sich ohneZweifel im letzten Augenblicke nach allen Regeln desAnstandes verabschieden.

Oberst Munro empfing ihn sehr herzlich. MathiasVan Guitt erging sich selbstgefällig in den gewöhn-lichen langen Redesätzen, die er mit allem Aufwandseiner merkwürdigen Phraseologie ausschmückte. Im-merhin schien es mir, als ob seine Höflichkeiten nocheinen Hintergedanken verbargen, dem er nur Worte zuleihen zögerte.

Da berührte Banks gerade den Kernpunkt seiner Be-klemmungen, als er Mathias Van Guitt fragte, ob es

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ihm gelungen sei, seine Büffelbespannung wieder zuersetzen.

»Leider nein, Herr Banks, antwortete der Händler,Kâlagani hat sich vergebens in allen Dörfern darumbemüht. Obwohl ich ihm unbeschränkte Vollmacht ert-heilt hatte, vermochte er doch nicht ein einziges Paarjener nützlichen Wiederkäuer aufzutreiben. Ich mußalso bekennen, daß es mir zur Beförderung meinerMenagerie nach der nächsten Station an einem Mo-tor noch völlig fehlt; daß mir durch den unerwartetenUeberfall in der Nacht vom 25. zum 26. August mei-ne Büffel zerstreut wurden, hat mich in eine gewisseVerlegenheit versetzt . . . meine Käfige sind schwer . . .und . . .

– Ja, wie wollen Sie dieselben dann nach der Stationschaffen? fragte der Ingenieur.

– Das weiß ich eben noch nicht . . . ich suche . . .überlege . . . zögere . . . Inzwischen vergeht die Zeit,und am 20. September, das heißt in achtzehn Tagen,soll ich meine Katzen in Bombay abliefern . . .

– In achtzehn Tagen! Da haben Sie aber keine Stundezu verlieren!

– Freilich, Herr Ingenieur. Und doch steht mir nurein Hilfsmittel, nur ein einziges zu Gebote! . . .

– Und das wäre?– Nun, ich müßte, in der Voraussetzung, dadurch

nicht zu belästigen, eine vielleicht recht aufdringlicheFrage an den Herrn Oberst wagen . . .

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– Bitte, geniren Sie sich in keiner Weise, Herr Mathi-as Van Guitt, sagte Oberst Munro, wenn ich Ihnen nüt-zen kann, werde ich mit Vergnügen dazu bereit sein!«

Mathias Van Guitt verneigte sich, führte die rechteHand an die Lippen, bewegte langsam den Oberkörperund bot überhaupt das Aussehen eines Menschen, dersich von unerwartetem Wohlwollen überrascht sieht.

Die Frage des Händlers lief darauf hinaus, ob es,die große Zugkraft des Stahlriesen vorausgesetzt, nichtausführbar wäre, seine fahrbaren Käfige hinter unsereHäuser anzuschließen und sie bis Etawah, der näch-sten Station an der Bahn von Delhi nach Allahabad,mitzunehmen. Es handelte sich hierbei um eine Entfer-nung von etwa dreihundert Kilometern auf bequemerFahrstraße.

»Sind wir im Stande, Herrn Mathias Van Guitt’sWunsche zu entsprechen? fragte der Oberst den Inge-nieur.

– O gewiß, ohne alle Schwierigkeit, erklärte Banks,der Stahlriese wird diese Vermehrung der Last kaumwahrnehmen.

– Also zugestanden, Herr Van Guitt, sagte OberstMunro. Wir befördern Ihr Material bis Etawah. Nach-barn sollen einander aushelfen, auch im Himalaya.

– Herr Oberst, antwortete Mathias Van Guitt, ichkannte ja Ihre Freundlichkeit, und ganz offen gestan-den, rechnete ich in meiner Verlegenheit ein wenig aufIhre bereitwillige Hilfe.

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– Daran thaten Sie ganz recht!« erwiderte OberstMunro.

Nachdem Alles geordnet war, schickte Mathias VanGuitt sich zur Heimkehr nach dem Kraal an, um einenTheil seines nun überflüssig gewordenen Personals zuverabschieden. Er wollte nur die zur Besorgung dervier Käfige nothwendigen Chikaris ferner beibehalten.

»Also morgen auf Wiedersehen, sagte Oberst Munro.– Auf morgen, meine Herren, antwortete Mathias

Van Guitt, ich sehe dem Eintreffen ihres Stahlriesen beidem Kraal mit Vergnügen entgegen.«

Sehr zufrieden mit dem Erfolge seines Besuches imSteam-House, zog der Händler sich zurück, aber ganzwie ein Schauspieler, der nach allen Regeln der moder-nen Kunst hinter den Coulissen verschwindet.

Kâlagani wendete keinen Blick von Oberst Munro,dessen Reise nach der Grenze von Nepal ihm so sehrim Kopfe herumgegangen war.

Unsere letzten Vorbereitungen waren bald beendigt.Alles lag und stand wieder am rechten Ort, nichts er-innerte mehr an einen längeren Aufenthalt an diesemPlatze. Die fahrbaren Häuser harrten nur noch desStahlriesen. Der Elephant sollte nun zunächst bergab-wärts bis zur Ebene gehen und sich dann nach demKraal wenden, wo der ganze Zug geordnet werden soll-te, um nachher auf geradem Wege durch die Ebenenvon Rohilkande zu dampfen.

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Am folgenden Tage, dem 3. September sieben UhrMorgens war der Stahlriese bereit, seine bisher tadel-los erfüllten Functionen wieder aufzunehmen. Da er-lebten wir noch ein ganz unerwartetes Ereigniß, dasAlle erstaunen machte.

Der Rost des in den Weichen des Thieres enthaltenenKessels war schon mit Brennmaterial beschickt wor-den. Kâlouth hatte dasselbe eben angezündet, als esihm einfiel, den Rauchkasten zu öffnen – an dessenRückwand sich die, zur Abführung der Verbrennungs-producte durch den Kessel führenden Flammenrohreanschließen – um nachzusehen, ob kein Hinderniß fürden Zug vorhanden sei.

Kaum hatte er aber die Thüren jenes Raumes aufge-schlagen, als er entsetzt zurückwich und etwa ein Dut-zend Riemen mit seltsamem Pfeifen herausschossen.

Banks, Storr und ich sahen den Vorgang mit an, ohnedafür eine Erklärung zu finden.

»He, Kâlouth, was giebt es denn? fragte Banks.– Einen Regen von Schlangen, Herr Ingenieur!« rief

der Heizer.Was wir für Riemen ansahen, waren wirklich Schlan-

gen, die sich in den Flammenrohren aufgehalten hat-ten, wahrscheinlich um ungestörter zu schlafen. DasFeuer auf dem Roste mochte sie wohl unsanft auf-gestört haben. Einige jener Amphibien fielen halbver-brannt zu Boden, und hätte Kâlouth den Rauchkasten

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nicht geöffnet, so wären wohl Alle schnell zu Ascheverbrannt worden.

»Was? rief Kapitän Hod, der eiligst herbeilief, unserStahlriese beherbergt auch Schlangen im Leibe?«

Ja, in der That, und darunter auch die giftigsten, wieeinige »Whip snakes« (Peitschenschlange), »Goulabis«,schwarze Cobras und Brillenschlangen, lauter höchstgefährliche Arten.

Gleichzeitig steckte eine prächtige Python- (Tiger-) Schlange, aus der Familie der Boas, ihren spitzigenKopf aus der oberen Mündung des Kamins, das heißtaus dem Rüssel des Elephanten hervor, die sich inmit-ten der ersten dichten Rauchwolken wand.

Die lebend aus den Rohren entkommenen Schlangenzerstreuten sich schnell unter dem nächsten Gebüsche,so daß wir nicht Zeit genug fanden, sie unschädlich zumachen.

Die Pythonschlange konnte freilich nicht so leichtaus dem engen Stahlcylinder entwischen. Kapitän Hodergriff schnell die Büchse und zerschmetterte ihr miteiner Kugel den Kopf.

Goûmi stieg nachher auf den Stahlriesen, klettertebis zur oberen Mündung des Rüssels und es gelang mitHilfe Kâlouth’s und Storr’s, das gewaltige Reptil her-auszuziehen.

Die Boa mit ihrer grünen, bläulich gefleckten Haut,die mit regelmäßigen Ringen verziert ist, als wäre sieaus dem Felle eines Tigers geschnitten, war wirklich

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ein prächtiges Exemplar. Sie maß nicht weniger alsfünf Meter in der Länge und hatte etwa den Durch-messer eines Menschenarmes.

Dieses Musterstück der Ophidien Indiens hätte derMenagerie Mathias Van Guitt’s gewiß zur Zierde ge-reicht, vorzüglich da sie den Beinamen Tigerschlangehat. Kapitän Hod sah aber trotzdem davon ab, sein Re-gister damit zu bereichern.

Kâlouth schloß nun den Rauchkasten wieder, derZug kam in Gang, das Feuer auf dem Roste prassel-te bei der reichlich zuströmenden Luft, so daß es imKessel bald zu brodeln anfing, und drei Viertelstundenspäter zeigte der Manometer schon genügende Dampf-spannung an. Wir konnten nun abreisen.

Die beiden Wagen wurden miteinander verkuppeltund der Stahlriese kam heran, um sich an die Spitzezu stellen.

Noch einen Blick warfen wir über das herrliche Pan-orama, das sich nach Süden hin vor uns ausbreite-te, einen letzten nach der wunderbaren Bergkette, de-ren zackiges Profil den nördlichen Horizont einnahm,noch einmal grüßten wir den Dhawalagiri, dessen Gip-fel stolz auf das ganze nördliche Indien niederschaut –ein kurzer Pfiff und der Zug setzte sich in Bewegung.

Das Herabsteigen auf der vielgewundenen Straßeging ohne Schwierigkeit von statten. Die Luftbremse

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hielt die Räder fest, wenn die Straße zu steil abfiel. Ei-ne Stunde später hielt der Zug an der Grenze Tarryanis,am Anfang des ebenen Landes.

Der Stahlriese ward nun abgespannt und verschwandunter Führung Banks’, des Maschinisten und des Hei-zers langsam auf einer der breiten Straßen des Waldes.

Zwei Stunden nachher hörten wir ihn wieder schnau-fen, und bald kam der Stahlriese, die sechs Käfige derMenagerie im Schlepptau, aus dem Walde hervor.

Gleich nach seinem Eintreffen wiederholte MathiasVan Guitt seine Danksagungen gegen Oberst Munro.Die Käfige und vor diesen ein als Wohnung für denHändler und dessen Leute dienender Wagen wurdenan unseren Zug gehängt – ein wirklicher Train, beste-hend aus neun Wagen.

Ein neues Zeichen von Banks, ein darauf antwor-tendes vorschriftsmäßiges Pfeifen, und der Stahlrieseschritt majestätisch auf der schönen Straße dahin, dienach Süden hinabführte. Das Steam-House und die mitThieren gefüllten Käfige Mathias Van Guitt’s schienenfür denselben nicht mehr zu wiegen als ein gewöhnli-cher Möbelwagen.

»Nun, mein lieber Herr Lieferant, was meinen Siehierzu? fragte Kapitän Hod.

– Ei, Herr Kapitän, antwortete Mathias Van Guittnicht ganz mit Unrecht, ich denke, wenn dieser Ele-phant von Fleisch und Bein wäre, würde er noch merk-würdiger sein!«

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Wir fuhren nicht auf der nämlichen Straße, die unsnach dem Fuße des Himalaya geführt hatte. Die jetztgewählte verlief nach Südwesten gegen Philibit, einekleine Stadt, hundertfünfzig Kilometer von unseremHalteplatz. Die Fahrt ging ruhig, mäßig schnell und oh-ne Hinderniß von statten.

Mathias Van Guitt war ein täglicher Gast an der Tafeldes Steam-Houses, und sein gesunder Appetit that derKüche Monsieur Parazard’s alle Ehre an.

Die Bedürfnisse der Speisekammer setzten die ge-wohnten Lieferanten von Zeit zu Zeit in Bewegung,und der wiedergenesene Kapitän Hod – der Schuß aufdie Pythonschlange lieferte den Beweis – ergriff wiederdie Jagdflinte.

Dabei mußte, ebenso wie für das Personal, auchfür die Insassen der Menagerie gesorgt werden, einePflicht, welche den Chikaris oblag. Unter AnführungKâlagani’s, der selbst ein sicherer Schütze war, ließenes die gewandten Hindus nicht dahin kommen, daßes an Bison- oder Antilopenfleisch gefehlt hätte. Die-ser Kâlagani war wirklich ein ganz außerordentlicherMann. Obwohl er sich meist zurückhielt, behandelteihn Oberst Munro, der einen geleisteten Dienst nichtso leicht vergaß, doch stets mit großer Freundlichkeit.

Am 10. September bewegte sich unser Zug um Phi-libit herum, ohne daselbst anzuhalten, doch lief eineziemliche Anzahl Hindus zusammen, um jenen zu se-hen.

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Die Raubthiere Mathias Van Guitt’s erregten, obwohles sehr schöne Exemplare waren, beiweitem nicht dasAufsehen wie der Stahlriese. Die Leute gaben sich garnicht die Mühe, jene durch die Gitterstäbe in Augen-schein zu nehmen, sondern bewunderten einzig undallein den mechanischen Elephanten.

Der Train zog nun durch die ausgedehnten Ebenendes nördlichen Indiens weiter hinab und ließ Bareilli,eine der bedeutendsten Städte von Rohilkande, eini-ge Meilen westlich liegen. Er dampfte zuweilen durchdichte, reich von Vögeln bevölkerte Wälder, wobei Ma-thias Van Guitt unsere Aufmerksamkeit auf das »ecla-tante Gefieder« der umherflatternden Bewohner lenk-te, zuweilen wieder durch Dickichte von stachlichen,zwei bis drei Meter hohen Akazien, welche die Eng-länder »Wait a bit-bush« nennen. Hier tummelten sichviele Eber umher, die nach den gelben Beeren dieserBüsche sehr lüstern sind. Einige Verwandte der Fami-lie Sus wurden, wenn auch nicht ohne Gefahr, erlegt,denn diese Eber sind sehr wild und muthig. KapitänHod und Kâlagani fanden wiederholt Gelegenheit, ih-re Kaltblütigkeit und Geschicklichkeit zu beweisen, de-nen sie ihren Ruf als ausgezeichnete Jäger verdankten.

Zwischen Philibit und der Station Etawah mußte un-ser Zug einen Arm des oberen Ganges, und bald nach-her einen seiner mächtigsten Nebenflüsse, den Kali-Nadi, überschreiten.

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Das ganze rollende Material der Menagerie wurdenun vom Steam-House abgekuppelt, letzteres selbstaber schwamm, in Folge seiner früher beschriebenenEinrichtung von einem Ufer zum anderen.

Mit Mathias Van Guitt’s Zuge ging das freilich nichtso leicht von statten. Hierzu mußte eine Fähre be-nutzt werden, mittelst der die Käfige einer nach demanderen über die beiden Flüsse geschafft wurden.Wenn diese Ueberführung auch einige Zeit in Anspruchnahm, so verursachte sie wenigstens keine Schwierig-keiten. Der Händler befand sich nicht zum ersten Malein ähnlicher Lage, und seine Leute hatten schon aufdem Wege zur Himalaya-Grenze verschiedene Flüsseüberschreiten müssen.

Kurz, wir erreichten ohne nennenswerthen Zwi-schenfall am 17. September die Eisenbahn von Delhinach Allahabad, etwa hundert Schritte von der StationEtawah.

Hier sollte der ganze Zug in zwei Theile zerlegt wer-den, die jeder einen eigenen Weg einschlagen sollten.

Während der erste die Richtung nach Süden wei-ter inne hielt, um durch das ausgedehnte Gebiet desKönigreichs Scindia nach den Vindhyas und der Prä-sidentschaft Bombay zu gelangen, sollte der andereTheil auf die Frachtwagen der Bahn verladen, erst nachAllahabad geschafft und von da auf der Eisenbahnnach Bombay nach der Küste des Indischen Meeres be-fördert werden.

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Wir hielten also an und bereiteten uns vor, die Nachtan jener Stelle zuzubringen. Am nächsten Tage, wennder Händler sich nach Südosten wendete, sollten wir,jenen Weg ziemlich in rechtem Winkel durchschnei-dend, etwa längs des 77. Meridians weiterziehen.

Zu derselben Zeit, als Mathias Van Guitt sich von unstrennte, entließ er auch einen Theil seines jetzt nichtmehr erforderlichen Personals. Mit Ausnahme zweierHindus zur Besorgung der Käfige während einer zweibis drei Tage nicht überdauernden Reise, brauchte erja Niemand mehr. Im Hafen von Bombay, wo ihn einfür Europa segelfertiges Schiff erwartete, angekom-men, mußte er seine Waare ja durch die gewöhnlichenHilfsarbeiter an Bord bringen lassen. Hierdurch wur-den also einige der Chikaris dienstfrei und unter ande-ren auch Kâlagani.

Der Leser weiß, wie und warum wir mit diesemHindu besonders verknüpft waren, da er sowohl demOberst Munro, wie dem Kapitän Hod so ersprießlicheDienste geleistet hatte.

Als Mathias Van Guitt nun seine Leute verabschiedet,glaubte Banks zu bemerken, daß Kâlagani nicht rechtwußte, was er beginnen sollte, und er fragte densel-ben also, ob es ihm passen könne, uns bis Bombay zubegleiten?

Nach kurzer Ueberlegung nahm Kâlagani das Aner-bieten des Ingenieurs an, und Oberst Munro drückteJenem seine Befriedigung darüber aus, daß er ihm jetzt

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doch ein wenig nützen könne. Der Hindu trat demnachin das Personal des Steam-Houses ein, was uns, bei sei-ner Kenntniß dieses Theiles von Indien, nur von Vort-heil sein konnte.

Am nächsten Morgen wurde das Lager aufgehoben.Wir hatten ja keine Ursache, hier länger zu verweilen.Der Stahlriese stand unter Dampf. Banks gab Storr An-weisung, sich bereit zu halten.

Jetzt war nichts mehr zu thun übrig, als von unse-rem Freunde, dem Lieferanten, Abschied zu nehmen.Von unserer Seite ging das ziemlich einfach, von derseinigen natürlich weit theatralischer zu.

Die Dankesbezeugungen Mathias Van Guitt’s fürden Dienst, den Oberst Munro ihm geleistet, nahmennothwendiger Weise eine möglichst erweiterte Forman. Er »spielte« diesen letzten Act ganz vorzüglich undwar in der großen Abschiedsscene geradezu vollkom-men.

Durch eine Bewegung der Muskeln des Vorderarmesversetzte er seine rechte Hand in Pronation, so daß dieHohlhand nach der Erde gerichtet war. Damit wollte erausdrücken, daß er hienieden niemals vergessen wer-de, was er Oberst Munro verdanke, und daß, wenn dieDankbarkeit auch aus dieser Welt verbannt würde, die-se doch noch ein letztes Asyl in seinem Herzen findensolle.

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Mittelst einer entgegengesetzten Bewegung brachteer die Hand wieder in die Supination, das heißt er wen-dete die Hohlhand nach oben und streckte diese nachdem Zenith empor. Das bedeutete, daß selbst dort obendiese Gefühle nie in ihm erlöschen würden und keineEwigkeit im Stande sei, ihn von seiner eingegangenenVerbindlichkeit zu befreien.

Oberst Munro dankte Mathias Van Guitt nach Ge-bühr, und wenige Minuten später war der Lieferant fürdie Häuser von Hamburg und London unseren Augenentschwunden.

23. DER UEBERGANG ÜBER DIE BETWA.

Heute, am 18. September, war unsere Position in Be-zug auf den Punkt der Abreise, den Halteplatz und un-ser Ziel genau folgende:

1. Von Calcutta tausenddreihundert Kilometer.2. Vom Sanatorium im Himalaya dreihundertachtzig

Kilometer.3. Von Bombay tausendsechshundert Kilometer.Bezüglich der Entfernung hatten wir also kaum die

Hälfte der Reise hinter uns; berücksichtigt man aberdie sieben Wochen, welche das Steam-House an derHimalaya-Grenze verweilt hatte, so war schon weitmehr als die Hälfte der für dieselbe bestimmten Zeitverflossen.

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Wir hatten Calcutta am 6. März verlassen. Vor Ablaufzweier Monate gedachten wir, wenn nichts dazwischenkäme, die Westküste von Hindostan zu erreichen.

Unsere Reiseroute erfuhr übrigens einige Abände-rungen. Da man dahin überein kam, die von der Re-volution von 1857 betroffenen großen Städte zu um-gehen, waren wir genöthigt, eine mehr südliche Rich-tung einzuhalten. Durch die herrlichen Provinzen desKönigreichs Scindia führen schöne fahrbare Straßen,so daß der Stahlriese, wenigstens bis zu den Gebirgendes Centrums hin, nicht auf bemerkenswerthe Schwie-rigkeiten stoßen konnte. Die Fahrt versprach also unterden günstigsten Bedingungen zu verlaufen.

Der Eintritt Kâlagani’s unter das Personal des Steam-Houses konnte hierzu nur noch weiter beitragen. DerHindu kannte diesen Theil der Halbinsel ganz genau,wovon sich Banks noch an diesem Tage überzeugte.Nach dem Frühstück, als Oberst Munro und KapitänHod Siesta hielten, fragte er ihn, unter welchen Ver-hältnissen und als was er durch diese Provinz gekom-men sei.

»Ich war, antwortete Kâlagani, bei einer der zahl-reichen Karawanen von Banjaris angestellt, welche fürRechnung der Regierung, wie für Privatleute Cerealiengewöhnlich mittelst Büffeln befördern. So bin ich dochwenigstens zwanzigmal durch die Gebiete der Central-staaten und des Nordens von Indien hinausgezogenoder herabgekommen.

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– Ziehen jene Karawanen noch immer durch diesenTheil der Halbinsel? fragte der Ingenieur.

– Gewiß, versicherte Kâlagani, und gerade in der jet-zigen Jahreszeit sollte es mich sehr wundernehmen,wenn wir nicht einer Truppe nach dem Norden reisen-der Banjaris begegneten.

– Nun, Kâlagani, fuhr Banks fort, Ihre genaue Kennt-niß des Landes wird uns von großem Nutzen sein. Stattdurch die großen Städte des Königreichs Scindia zu ge-hen, ziehen wir quer durch das Land, und Sie werdenuns als Führer dienen.

– Mit Vergnügen!« antwortete der Hindu mit jenemkalten Tone, der ihm von jeher eigen war, an den ichmich aber noch immer nicht gewöhnen konnte.

Dann fügte er hinzu:»Darf ich Ihnen da im voraus die Richtung andeuten,

der wir im Allgemeinen zu folgen haben?– Recht gern, ich höre!«Mit diesen Worten breitete Banks auf dem Tische ei-

ne im großen Maßstabe entworfene Karte dieses Thei-les von Indien aus, um zu vergleichen, wie weit Kâla-gani’s Angaben damit übereinstimmten.

»Die Sache ist höchst einfach, begann der Hindu.Eine gerade Linie führt uns von der Delhi-Bahn nachder von Bombay, die sich in Allahabad vereinigen. Vonder Station Etawah aus, die wir nahe der Grenze vonBundelkund eben verließen, ist nur ein unbedeutender

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Wasserlauf, die Jumna, zu überschreiten, und von die-ser Grenze bis zu den Vindhyabergen ein zweiter, dieBetwa. Selbst wenn diese Flüsse in Folge der Regen-zeit jetzt aus den Ufern getreten sein sollten, wird das,wie ich glaube, dem Zuge kein besonderes Hindernißbieten, von einem Ufer zum anderen zu gelangen.

– Das wird keine erheblichen Schwierigkeiten ma-chen, erwiderte der Ingenieur; nun, und wenn wirnach den Vindhyas kommen . . .

– Dann wenden wir uns ein wenig nach Südost, umeinen bequemen Paß aufzusuchen. Auch das dürfte un-sere Fahrt nicht wesentlich behindern. Ich kenne z. B.den Paß von Sirgur, den man gewöhnlich mit Wagenund Pferden überschreitet.

– Kann aber unser Stahlriese, sagte ich, auch überallda fortkommen, wo es Pferden noch möglich ist?

– Daran zweifle ich keinen Augenblick, versicherteBanks; aber jenseits des Passes von Sirgur ist das Landsehr bergig. Könnten wir nicht lieber längs der Vind-hyas durch Bhopal fahren?

– Gewiß; doch da finden sich sehr viel Städte, ant-wortete Kâlagani, denen man kaum aus dem Wege ge-hen könnte; gerade diese waren übrigens der Haupt-sitz der Sipahis während des Unabhängigkeitskrieges.«

Ich verwunderte mich nicht wenig über diese Be-zeichnung »Unabhängigkeitskrieg«, welche Kâlaganifür die Empörung von 1857 gebrauchte. Doch mandurfte ja nicht vergessen, daß es ein Hindu und kein

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Engländer war, der hier sprach. Allem Anscheine nachhatte Kâlagani übrigens an der Erhebung nicht theilge-nommen, mindestens hatte er niemals etwas verlautenlassen, was dafür gezeugt hätte.

»Nun gut, fuhr Banks fort, wir lassen also die Städtevon Bhopal westlich liegen, und wenn Sie überzeugtsind, daß der Paß von Sirgur uns nach einer gangbarenStraße führt . . .

– O, diese Straße habe ich oft genug kennen gelernt;sie biegt um den Puturia-See und mündet vierzig Mei-len von da, nahe Jubbulpore, an der Eisenbahn vonBombay nach Allahabad.

– Richtig, sagte Banks, der den Angaben des Hindusauf der Karte folgte; aber von da aus?

– Von da aus wendet sich die Hauptstraße nach Süd-westen und läuft sozusagen neben der Bahnlinie bisBombay.

– Ja, ja, so ist es, antwortete Banks; ich finde alsokein ernsthaftes Hinderniß, durch die Vindhyas zu rei-sen und wir können uns mit diesem Wege einverstan-den erklären. Den Diensten, die Sie uns bisher gelei-stet haben, Kâlagani, reihen Sie hiermit einen neuenan, der Ihnen nie vergessen, werden soll.«

Kâlagani verneigte sich und wollte eben weggehen,als er, sich besinnend, noch einmal auf den Ingenieurzutrat.

»Sie haben noch eine Frage an mich? begann Banks.

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– Ja wohl, antwortete der Hindu. Darf ich wohl er-fahren, warum Sie so geflissentlich die großen Städtevon Bundelkund vermeiden wollen?«

Banks sah mich an. Wir hatten keinen Grund, Kâla-gani zu verheimlichen, daß das aus Rücksicht auf SirEdward Munro geschehe, und so theilten wir ihm denndas Nöthigste darüber mit.

Kâlagani horchte gespannt auf die Worte des Inge-nieurs. Dann sagte er mit einem gewissen eigenthüm-lichen Tone:

»Der Oberst Munro hat von Nana Sahib nichts mehrzu fürchten, wenigstens nicht in diesen Provinzen.

– Weder in diesen Provinzen, noch irgend wo an-ders, bemerkte Banks dazu. Warum sagen Sie gerade,»in diesen Provinzen«?

– Weil der Nabab, wenn er, wie man behauptet, voreinigen Monaten in der Präsidentschaft Bombay aufge-treten war, jedenfalls, da alle Nachforschungen vergeb-lich blieben, die indo-chinesische Grenze wieder über-schritten hat.«

Diese Antwort bewies, daß Kâlagani von den Er-eignissen in den Sautpourra-Bergen nichts wußte undnicht erfahren hatte, daß Nana Sahib bei dem Pal vonTandit durch Soldaten der königlichen Armee getödtetworden war.

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»Ich sehe, Kâlagani, sagte darauf Banks, daß dieNeuigkeiten, welche sich sonst durch ganz Indien ver-breiten, bis in die Wälder des Himalaya nur mit Mühehinauf dringen!«

Der Hindu sah uns, ohne zu antworten, ziemlichstarr an, wie ein Mann, der nicht versteht, was er hör-te.

»Ja, fuhr Banks fort, Sie scheinen nicht zu wissen,daß Nana Sahib todt ist.

– Nana Sahib ist todt? rief Kâlagani.– Gewiß, versicherte Banks; von der Regierung sind

auch die näheren Umstände bekannt gemacht worden,unter denen er den Tod gefunden hat.

– Das ist nicht möglich, sagte Kâlagani, den Kopfschüttelnd; wo wäre Nana Sahib denn getödtet wor-den?

– Bei dem Pal von Tandit, in den Sautpourra-Bergen.– Und wann? . . .– Schon etwa vor vier Monaten, antwortete der In-

genieur, am 25. Mai!«Kâlagani, an dem mir der Ausdruck seiner Augen

hierbei auffiel, kreuzte die Arme und stand schweigendda.

»Haben Sie Gründe, fragte ich ihn, an den Tod NanaSahib’s nicht zu glauben?

– O nein, meine Herren, erwiderte Kâlagani, ichglaube ja, was Sie mir sagen!«

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Bald nachher, als wir allein waren, kam Banks nocheinmal auf diesen Gegenstand zurück.

»Darin gleichen sich doch alle Hindus, sagte er. DerAnführer der rebellischen Sipahis ist zur sagenhaftenPersönlichkeit geworden. Die abergläubischen Leutewerden nimmermehr an seinen Tod glauben, da sie ihnnicht haben hängen sehen!

– Sie erscheinen mir, fügte ich hinzu, wie die al-ten Brummbären des Kaiserreiches, die zwanzig Jah-re nach Napoleon’s Tode behaupteten, daß dieser nochimmer am Leben sei!«

Seit der Ueberschreitung des oberen Ganges, dendas Steam-House vierzehn Tage vorher passirt hatte,dehnte sich ein fruchtbares Land mit schönen Stra-ßen vor dem Stahlriesen aus. Es war Doab, das zwi-schen dem Ganges und der Jumna liegt, bevor diesesich bei Allahabad vereinigen. Weite Alluvialebenen,zwanzig Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung vonden Brahmanen urbar gemacht, sehr lückenhafte Cul-turfortschritte bei den Bauern, große, durch englischeIngenieure ausgeführte Canalisationsarbeiten, Baum-wollanpflanzungen, welche hier ganz besonders gedei-hen, das Knarren der Baumwollpressen, die man in je-dem Dorfe findet, Gesang der Arbeiter, welche jene be-dienen – das sind die Eindrücke, die ich von Doab, woin der Urzeit die erste kirchliche Gemeinschaft gegrün-det wurde, zurückbehalten habe.

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Unsere Fahrt ging ganz nach Wunsch von statten.Die Landschaften wechselten sozusagen nach den Lau-nen unserer Phantasie. Unsere Wohnung zog ohne An-strengung weiter zum Ergötzen unserer Augen. Stell-te sie nicht, wie Banks im voraus behauptet hatte, diehöchste Stufe der Vollkommenheit eines Transportmit-tels dar? Die Karren mit Ochsengespann, die Wagenmit Pferden oder Mauleseln, ja, die Waggons der Ei-senbahnen, was waren sie gegen unsere dahinrollen-den Häuser?

Am 19. September hielt das Steam-House am linkenUfer der Jumna an. Dieser bedeutende Fluß scheidetim mittleren Theile der Halbinsel das eigentliche Landder Rajahs oder Rajasthan von Hindostan, dem enge-ren Vaterlande der Hindus.

Die Jumna hatte eben einen ziemlich hohen Was-serstand und in Folge dessen auch stärkere Strömun-gen als gewöhnlich, wodurch unser Uebergang zwarein wenig erschwert, aber doch keineswegs verhindertwurde. Banks vernachlässigte auch die nöthige Vor-sicht nicht. Zunächst mußte ein passender Landungs-platz gesucht werden; einen solchen entdeckten wirbald. Eine halbe Stunde später schon stieg das Steam-House am anderen Ufer des Flusses langsam empor.Für Eisenbahnzüge braucht man große, oft mit unge-heueren Kosten hergestellte Brücken, und eine solche– eine Röhrenbrücke – führt auch bei der Festung vonSelimgarh, in der Nähe von Delhi, über die Jumna.

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Für unseren Stahlriesen sammt den beiden von ihmgezogenen Wagen boten die Wasserläufe einen eben-so bequemen Weg, wie die schönsten macadamisir-ten Landstraßen der Halbinsel. Jenseits der Jumna lie-gen in dem Gebiete von Rajasthan eine Anzahl Städ-te, welche der Ingenieur vorsichtiger Weise bei unse-rer Fahrt nicht berühren wollte; so zur linken Handz. B. Gwalior, an dem Flusse Rawunrika, auf hochauf-strebenden Basaltfelsen mit seiner prächtigen MoscheeMusjid, dem Palaste Pal, dem merkwürdigen Elephan-tenthore, dem berühmten Festungswerke und mit sei-ner Vihara von buddhistischem Ursprung; es ist eineuralte Stadt, der freilich das in einer Entfernung vonzwei Kilometern angelegte neuere Laschkar eine rechternsthafte Concurrenz macht. Hier, im Herzen diesesGibraltars von Indien, hatte die Rani von Jansi, NanaSahib’s ergebene Bundesgenossin, bis zur letzten Stun-de wahrhaft heldenmüthig gekämpft. Hier wurde sieauch, bei einem Treffen gegen die zweite Escadron derHusaren der königlichen Armee, wie wir wissen, vonder Hand des Oberst Munro getödtet, der mit einemBataillon seines Regimentes bei der Affaire betheiligtwar. Von diesem Tage her schrieb sich, wie uns gleich-falls bekannt ist, der unauslöschliche Haß Nana Sa-hib’s, den der Nabab bis zu seinem letzten Athemzugezu befriedigen gesucht hatte. Ja, es war besser, daß SirEdward Munro’s Erinnerungen unter den Thoren vonGwalior nicht wieder wachgerufen wurden!

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Nach Gwalior lag, westlich von unserer neuen Rei-seroute, Antri mit seiner weit ausgedehnten Ebene,aus der da und dort, gleich den Inseln eines Archi-pels, spitze Einzelberge emporragen. Ferner Duttiah,das noch nicht fünf Jahrhunderte alt ist und an demman die zahlreichen Häuser ebenso bewundert, wiedas Festungswerk inmitten der Stadt, neben den Tem-peln mit den verschiedenartigsten Thürmen, den ver-ödeten Palast Dirding Deo’s, das Arsenal Tope Oana –Alles zusammen die Hauptstadt des Königreichs Dut-tiah bildend, das in der nördlichen Ecke von Bundel-kund liegt und unter englischem Schutze steht. Ganzwie Gwalior, waren auch Antri und Duttiah von der Er-hebung des Jahres 1857 ernsthaft berührt worden.

Endlich kamen wir am 22. September in einer Ent-fernung von wenigstens vierzig Kilometer bei Jansivorüber. Diese Stadt bildet die wichtigste Militärsta-tion von Bundelkund, während unter den niederenVolksschichten daselbst ein leicht erregbarer revolutio-närer Geist herrscht. Jansi, eine verhältnißmäßig neueStadt, treibt bedeutenden Handel mit einheimischemMuslin und blauen Baumwollenwaaren. Es findet sichhier kein Bauwerk aus der Zeit vor der Gründung, wel-che erst im 17. Jahrhundert stattfand. Immerhin ist esvon Interesse, die hiesige Citadelle zu besuchen, de-ren äußere Mauern die Geschosse der Engländer nichtzu zerstören vermochten, und die Grabstätte der Ra-jahs, welche einen äußerst pittoresken Anblick bietet.

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Hier befand sich jedoch der Hauptwaffenplatz der auf-rührerischen Sipahis Centralindiens. Hier war es, wodie unerschrockene Rani die erste Erhebung entfachte,die sich bald über ganz Bundelkund ausbreiten sollte.Hier mußte Sir Hugh Rose eine Schlacht liefern, wel-che nicht weniger als sechs volle Tage dauerte und beider er fünfzehn Percent seiner Truppen einbüßte. Hierunterlagen endlich, trotz ihres Löwenmuthes, TantiaTopi, Balao Rao, der Bruder Nana Sahib’s, und die Ra-ni, obschon sie eine Besatzung von zwölftausend Sipa-his zur Verfügung und eine Armee von zwanzigtausendzur Unterstützung hatten, den überlegenen englischenWaffen. Hier hatte, wie Mac Neil seinerzeit erwähn-te, der Oberst Munro seinem Sergeanten das Lebengerettet, indem er jenem mitleidig den letzten Trop-fen Wasser überließ. Mehr als irgend eine andere jenerStädte traurigen Andenkens mußte deshalb Jansi aufeiner Reise vermieden werden, deren Richtung die be-sten Freunde des Obersten mit Rücksicht auf diesenbestimmt hatten.

Am nächsten Tage, am 23. September, bestätigte ei-ne Begegnung, die unsere Fahrt um einige Stundenverzögerte, die früheren Aussagen Kâlagani’s.

Es war gegen elf Uhr Morgens. Nach dem Früh-stück hatten wir Alle ein bequemes Plätzchen aufge-sucht, die Einen auf dem Balkon, die Anderen im Sa-lon des Steam-Houses. Der Stahlriese trabte mit ei-ner Geschwindigkeit von neun bis zehn Kilometern in

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der Stunde vorwärts. Vor ihm hin erstreckte sich zwi-schen Baumwollen- und Fruchtfeldern eine von schö-nen Bäumen beschattete herrliche Straße. Das Wetterwar schön, die Sonne leuchtete in vollem Glanze. Eine»obrigkeitliche« Besprengung dieser Landstraße wärefreilich nicht zu verachten gewesen, angesichts des fei-nen weißen Staubes, den der Wind vor uns hertrieb.

In der Entfernung von zwei bis drei Meilen schiensogar die ganze Atmosphäre von solchen Staubwirbelnerfüllt, welche auch ein heftiger Samum in der Liby-schen Wüste kaum in dichteren Wolken hätte erhebenkönnen.

»Ich begreife nicht, wie jene Erscheinung zu Standekommen kann, sagte Banks, da nur ein leichter Windweht.

– Kâlagani wird das zu erklären wissen,« erwiderteOberst Munro.

Man rief den Hindu, der nach der Veranda kam undeinen Blick nach jener Stelle hin warf.

»Das ist eine lange Karawane, sagte er ohne Zögern,die nach Norden hinauf zieht, wie ich Ihnen, HerrBanks, das schon vorher gesagt habe; wahrscheinlichist es eine Karawane von Banjaris.

– Nun, Kâlagani, bemerkte Banks, da werden Sie oh-ne Zweifel einige Ihrer früheren Gefährten treffen?

– Das wäre wohl möglich, antwortete der Hindu, daich ziemlich lange unter jenen nomadisirenden Völ-kern verweilte.

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– Beabsichtigen Sie vielleicht, uns in diesem Falle zuverlassen und sich jenen wieder anzuschließen? fragteKapitän Hod.

– Nein, sicherlich nicht!« erwiderte Kâlagani.Der Hindu hatte sich nicht getäuscht; eine halbe

Stunde später mußte der Stahlriese trotz seiner Kraftalles Vorwärtsdringen gegen eine wahrhafte Mauervon Wiederkäuern aufgeben.

Wir sollten diese Verzögerung übrigens nicht zu be-dauern haben. Das Schauspiel, welches sich unserenBlicken darbot, war unstreitig der Beobachtung werth.

Eine mindestens vier- bis fünftausend Ochsen zäh-lende Heerde bedeckte nach Süden zu die Straße aufeine Strecke von mehreren Kilometern. Wie Kâlaganivorausgesagt, bildete dieselbe eine Karawane von Ban-jaris.

»Die Banjaris, erklärte uns Banks, sind die wirkli-chen Zigeuner Hindostans. Mehr ein Volk als nur einStamm, ohne feste Wohnsitze, leben dieselben im Som-mer unter Zelten, im Winter in Hütten. Sie sind dieLastträger der Halbinsel, und ich habe sie sogar wäh-rend der Erhebung von 1857 in Thätigkeit gesehen. InFolge einer Art stillschweigender Uebereinkunft zwi-schen den kriegführenden Theilen, ließ man ihre Zügeunbehelligt durch die aufrührerischen Provinzen pas-siren. Sie waren die eigentlichen Lieferanten und be-schafften die Nahrungsmittel ebenso für die königliche

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Armee wie für die Natifs. Wenn man einen Theil In-diens als die Heimat dieser Nomaden bezeichnen soll-te, so wäre vielleicht Rapoutana, und speciell das Kö-nigreich Milwar zu nennen. Da sie aber bei uns vorbeidefiliren, so mache ich Sie, lieber Maucler, darauf auf-merksam, sich diese Banjaris genau anzusehen.«

Unser Zug stand jetzt längs der Seite der Landstra-ße. Es wäre auch unmöglich gewesen, einer solchenLawine von gehörnten Thieren, vor der alle Raubthie-re eiligst zu entfliehen pflegen, Widerstand zu leisten.

Wie mir Banks empfohlen, beobachtete ich auf-merksam den ganzen Zug; ich muß jedoch gestehen,daß das Steam-House unter den gegebenen Verhält-nissen nicht seine gewohnte Wirkung hervorbrachte.Der Stahlriese, der sonst stets allgemeine Bewunde-rung erregte, zog kaum die Blicke dieser Banjaris aufsich, welche gewohnt zu sein schienen, über nichts zuerstaunen.

Die Männer wie die Frauen dieser Zigeuner-Racezeichneten sich gleichmäßig aus – die Männer warengroß, stark, hatten ausdrucksvolle Gesichtszüge, eineAdlernase, welliges Haar, die Hautfarbe ähnelte einerBronze mit Ueberschuß von Kupfergehalt; sie trugeneinen langen Ueberrock nebst Turban, als Waffen ei-ne Lanze, einen runden Schild und einen langen Sä-bel an schräg über die Brust hängendem Lederzeug;– die Frauen waren ebenfalls hochgewachsen und gutproportionirt, wie die Männer stolz auf ihren Stamm,

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hatten den Oberkörper in eine Art Schnürleib einge-zwängt, während der übrige Körper unter den Falteneines langes Rockes verschwand und die ganze Ge-stalt vom Kopfe bis zu den Füßen ein elegant drapirtesOberkleid umhüllte; dazu trugen sie Edelsteine in denOhren, glitzernde Halsbänder, Armspangen und Ringevon Gold, Elfenbein oder Muscheln um die Knöchel.

Neben den Männern, Frauen, Greisen und Kindernmarschirten in friedlichem Schritt, ohne Sattel undHalfter, Tausende von Ochsen, ihre rothen Troddelnschüttelnd, wobei die am Kopfe angebrachten Schel-len erklangen, und trugen quer über den Rücken einenDoppelsack mit Getreide oder anderen Cerealien.

Wir hatten einen ganzen, zu einer Karawane verei-nigten Stamm vor uns, der unter Führung eines ge-wählten Häuptlings, eines »Naik«, dahinzog, welcherfür die Dauer der Fahrt unbeschränkte Machtvollkom-menheit besitzt.

Die Spitze nahm ein besonders großer Stier ein, derin stolzer Haltung, geschmückt mit scharlachrothenStoffen, einer ganzen Garnitur von Schellen und Mu-scheln, voranschritt. Ich richtete an Banks die Frage,welche Bewandtniß es mit diesem prächtigen Thierehabe?

»Darüber wird Kâlagani uns gewiß aufklären kön-nen, antwortete der Ingenieur. Wo ist er denn?«

Kâlagani wurde gerufen. Er kam nicht, man suchtenach ihm. Er war nicht mehr im Steam-House.

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»Er wird ohne Zweifel einen alten Bekannten getrof-fen haben, meinte Oberst Munro, aber jedenfalls wie-derkehren, bevor wir weiter fahren.«

Eine solche Erklärung schien ganz natürlich, und wirbrauchten uns über die augenblickliche Abwesenheitdes Hindu wohl nicht zu beunruhigen; dennoch konnteich mich eines unangenehmen Eindrucks dabei nichtganz erwehren.

»Nun, sagte Banks, wenn ich nicht irre, repräsen-tirt dieser Stier bei den Karawanen der Banjaris derenGottheit. Wohin er geht, gehen sie nach. Bleibt er ste-hen, so rastet man; ich glaube indeß, der Naik wirddabei heimlich seine Hand mit im Spiele haben. Kurz,die ganze Religion jener Nomaden beruht in der Ver-ehrung dieses Stiers.«

Erst zwei Stunden später vermochten wir das En-de des langen Zuges wahrzunehmen. Ich sachte un-ter den Nachzüglern Kâlagani und sah ihn wirklich imGespräch mit einem Hindu, der nicht zu den Banjarisgehörte. Offenbar war es einer der Eingebornen, wel-che zeitweilig bei den Karawanen Dienste nehmen, wiees ja auch Kâlagani wiederholt gethan. Beide sprachenheimlich mit einander. Von wem und wovon mochtedie Rede sein? Wahrscheinlich von dem Gebiete, durchwelches der wandernde Stamm eben gekommen warund das wir unter der Leitung unseres neuen Führersdurchreisen sollten. Der Eingeborne, welcher sich amEnde der Karawane hielt, blieb auf einen Augenblick

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vor dem Steam-House stehen. Mit einem gewissen In-teresse beobachtete er den Zug, nebst dessen künstli-chem Elephanten, obwohl er am meisten den OberstMunro in’s Auge zu fassen schien und uns übrigensnicht ansprach. Dann winkte er Kâlagani ein Lebewohlzu, schloß sich seinem Zuge wieder an und war baldin den dichten Staubwolken um denselben unserenBlicken verschwunden.

Als Kâlagani zu uns zurückkehrte, sagte er, ohne dar-um gefragt zu sein, zu Oberst Munro:

»Einer meiner alten Kameraden, der seit zwei Mona-ten angestellt ist.«

Das war Alles. Kâlagani nahm seinen gewöhnlichenPlatz wieder ein, und bald dampfte das Steam-Houseauf der, von den Hufen der unzähligen Ochsen zertre-tenen Straße weiter.

Am nächsten Tage, am 24. September, hielt unserTrain an, um fünf bis sechs Kilometer östlich von Ourt-cha, am linken Ufer der Betwa, einem der Hauptzuflüs-se der Jumna, die Nacht zu verbringen.

Von Ourtcha ist nichts zu sagen und war nichts zu se-hen. Es ist die alte Hauptstadt von Bundelkund, welchein der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch ziem-lich in Blüthe stand. Unter den Einfällen der Mongolenvon der einen und denen der Maharaten von der ande-ren Seite litt sie aber so sehr, daß sie sich niemals ganzerholen konnte. Jetzt stellte die frühere große Stadt

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Central-Indiens nur noch einen elenden Flecken dar,der kaum einige Hundert Bewohner beherbergt.

Ich sagte, daß wir am Ufer der Betwa Halt machten;eigentlich war das in einer gewissen Entfernung vondemselben der Fall.

Der an sich bedeutende Fluß hatte jetzt nämlichHochwasser und überschwemmte die Ufergelände inziemlicher Breite. Dieser Umstand drohte unserem Ue-bergange vielleicht einige Schwierigkeiten zu bereiten,doch konnten wir uns darüber erst morgen vergewis-sern. Die Nacht war zu dunkel, um irgend etwas zusehen.

Nach der Abendmahlzeit suchte also Jeder bald sei-nen Schlafraum auf.

Außer unter besonderen Umständen ließen wir un-ser Lager während der Nacht niemals bewachen. Washätte das auch nützen sollen? Unsere fahrbaren Häu-ser konnte doch Niemand wegtragen. Konnte es Je-mand einfallen, unseren Elephanten stehlen zu wol-len? Gewiß nicht. Er hätte sich schon durch sein ei-genes Gewicht vertheidigt. Auch ein etwaiger Ueber-fall von Landstreichern, welche wohl da und dort dieLandstraßen unsicher machen, war nicht gerade wahr-scheinlich. Wenn übrigens auch keiner unserer Leutewährend der Nacht Wache hielt, so hatten wir ja diebeiden Hunde, Phann und Black, welche bei jeder ver-dächtigen Annäherung gewiß angeschlagen hätten.

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Eben das kam nun in dieser Nacht vor. Gegen zweiUhr Morgens wurden wir von wüthendem Gebell er-weckt. Ich sprang vom Lager auf und fand die Anderenschon auf den Füßen.

»Was giebt es? fragte Oberst Munro.– Die Hunde schlagen an, antwortete Banks, und ge-

wiß nicht ganz ohne Ursache.– Es wird sich ein Panther in dem benachbarten Wal-

de haben hören lassen, sagte Kapitän Hod; wir wollenden Saum des Holzes untersuchen und aus Vorsicht dieGewehre mitnehmen.«

Der Sergeant Mac Neil, Kâlagani und Goûni warenschon herausgetreten, um zu lauschen, und erörtertenunter einander, was im Dunklen vorgehen möge. Wirgingen zu ihnen hin.

»Meiner Ansicht nach, sagte Kapitän Hod, werdenzwei oder drei Raubthiere in die Nähe gekommen sein,um im Flusse ihren Durst zu löschen.

– Kâlagani glaubt das nicht, antwortete Mac Neil.– Und was ist Ihre Meinung? fragte Oberst Munro

den Hindu.– Ich bin mir selbst noch nicht klar, erwiderte Kâlaga-

ni, es steht aber fest, daß es sich weder um Tiger oderPanther, auch nicht um Schakals handelt. Ich glaubeunter den Bäumen eine unbestimmte Masse zu sehen. . .

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– Das soll bald aufgeklärt sein! rief Kapitän Hod, derimmer den ihm noch fehlenden fünfzigsten Tiger imGedanken hatte.

– Gedulden Sie sich, Hod, ermahnte ihn Banks, inBundelkund ist es stets gerathen, vor Landstreichernauf der Hut zu sein.

– Wir sind in der Ueberzahl und wohlbewaffnet, ant-wortete Kapitän Hod; ich muß Gewißheit über die Sa-che haben!

– Nun, meinetwegen!« sagte Banks.Die beiden Hunde bellten zwar noch immer, offen-

bar aber nicht so wüthend, wie sie es bei der Annähe-rung reißender Thiere zu thun pflegten.

»Du, lieber Munro, fuhr Banks fort, bleib’ mit MacNeil und den Uebrigen am Platze. Hod, Maucler, Kâla-gani und ich werden inzwischen auf Kundschaft ausge-hen.

– Also vorwärts!« drängte Kapitän Hod, indem er Foxein Zeichen gab, ihm nachzufolgen.

Phann und Black sprangen zwischen den Bäumenvoraus und zeigten den Weg.

Kaum betraten wir den eigentlichen Wald, als sichein auffälliges Geräusch vernehmen ließ. Offenbartrieb sich hier am Saume des Waldes eine ganze Bandelebender Wesen umher. Wir sahen auch undeutlich ei-nige schweigsame Schatten, welche durch das Dickichtentflohen.

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Die Hunde bellten, sprangen hin und her und immertiefer in das Gehölz.

»Wer da?« rief Kapitän Hod.Keine Antwort.»Entweder wollen die Leute nicht Rede stehen,

meinte Banks, oder sie verstehen kein Englisch.– Dann dürften sie die Sprache der Hindus kennen,

bemerkte ich.– Rufen Sie Jene an, Kâlagani, sagte Banks, und

wenn sie nicht antworten, geben wir Feuer.«Kâlagani rief in seiner Muttersprache den schatten-

haften Erscheinungen zu, hervorzutreten.Es erfolgte ebenso wenig eine Antwort wie das erste

Mal.Da krachte ein Schuß. Der ungeduldige Kapitän Hod

hatte nach einem Schatten geschossen, der sich zwi-schen den Bäumen hindurchwand.

Auf den Knall des Gewehres ward es plötzlich le-bendig überall; nach links und rechts sahen wir einegroße Menge Geschöpfe auseinander stieben. Phannund Black, welche ein Stück voraus waren, kamen balddarauf ruhig wieder und überzeugten uns, daß Allesgeflohen sei.

»Ob das nun Landstreicher oder Nachzügler von derKarawane waren, sagte Kapitän Hod, jedenfalls habensie sehr schnell Fersengeld gegeben!

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– Ja, es wird uns nichts Anderes übrig bleiben, als indas Steam-House zurückzukehren. Ich will aber dochbis Tagesanbruch Wachen ausstellen.«

Kurze Zeit darauf waren wir bei den Anderen zu-rück. Mac Neil, Goûmi und Fox übernahmen es, zuwachen, während wir unsere Lagerstätten wieder auf-suchten. Die Nacht verlief ohne weitere Störung. Eswar also anzunehmen, daß die Unbekannten, als siedas Steam-House so vortrefflich vertheidigt sahen, esvorgezogen hatten, zu verschwinden.

Am nächsten Tage, am 25. September, sollten wir,Oberst Munro, Kapitän Hod, Mac Neil, Kâlagani undich, während schon die Abfahrt vorbereitet wurde,noch einmal den Saum des Waldes untersuchen.

Von der Bande, welche diese Nacht hier gewesenwar, fand sich keine Spur mehr. Wir konnten uns al-so wohl jeder Besorgniß entschlagen.

Als wir zurückkamen, traf Banks eben Anstalt überdie Betwa zu gehen. Der stark angeschwollene Flußwälzte seine gelblichen Fluthen auf beiden Seiten weitüber den Ufern hin. Die Strömung erwies sich als soheftig, daß der Stahlriese ihr gerade entgegenarbeitenmußte, um nicht zu sehr thalabwärts gezogen zu wer-den.

Der Ingenieur bemühte sich, zunächst eine geeigne-te Landungsstelle zu erspähen, und betrachtete des-halb mit dem Fernrohr das gegenüberliegende Ufer.Das Bett der Betwa mochte an der Stelle, wo wir uns

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befanden, augenblicklich wohl eine Meile in der Breitemessen. Es war das also der bedeutendste Wasserüber-gang, den unser Zug bisher ausgeführt hatte.

»Aber, fragte ich, was beginnen die Reisenden oderKaufleute, wenn sie an einen solchen, durch Hochwas-ser angeschwollenen Fluß kommen? Ich glaube kaum,daß man mit einer Fähre gegen eine solche Strömung,die schon mehr einer Stromschnelle gleicht, ankämp-fen könnte.

– Ei, versetzte Kapitän Hod, das ist sehr einfach – siegehen eben nicht über das Wasser.

– Und doch, fiel Banks ein, wenigstens, wenn sie Ele-phanten zur Hand haben.

– Wie? Elephanten könnten eine so weite Streckeschwimmend zurücklegen?

– Gewiß, versicherte der Ingenieur, und dabei ver-fährt man in der Weise, daß alles Gepäck auf denRücken . . .

– Dieser Proboscidien geschafft wird! fuhr KapitänHod, in Erinnerung an seinen Freund Mathias VanGuitt, fort.

– Die Mahouts, erklärte Banks weiter, treiben siedann in die Strömung. Zuerst zögert das Thier, weichtzurück und giebt einige unwillige Laute von sich; baldbesinnt es sich aber anders, tritt ruhig in’s Wasser und

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überschreitet wacker schwimmend den Lauf des Flus-ses. Es kommt wohl vor, daß einmal einer von der Strö-mung fortgeführt wird, doch geschieht das unter derHand eines geschickten Führers höchst selten.

– Gut, versetzte Kapitän Hod, wenn wir auch nicht»mehrere« Elephanten zur Hand haben, so besitzen wirdoch einen . . .

– Der uns nicht im Stiche lassen wird, fiel Banks ein.Gleicht er nicht jenem Oructor Amphibolis des Ameri-kaners Evans, der schon im Jahre 1804 auf der Erdehinrollte und auf dem Wasser schwamm.

Jeder nahm nun seinen Platz im Zuge wieder ein;Kâlouth stand an der Feuerthür, Storr saß in demThürmchen und Banks, gleichsam als Steuermann, ne-ben ihm.

Zuerst mußten wir gegen fünfzig Schritte durch dasüberschwemmte Uferland fahren und gelangten dannin die eigentliche Strömung. Der Stahlriese setzte sichlangsam und sicher in Gang. Seine breiten Füße tauch-ten zwar schon in die Fluth, doch schwamm er nochnicht auf derselben. Der Uebergang von dem festenBoden in die dahineilende Fluth erforderte einige Vor-sicht.

Plötzlich schlug ganz dasselbe Geräusch, welcheswir in der Nacht gehört hatten, an unser Ohr.

In den tollsten Sprüngen wälzten sich wohl hundertGestalten aus dem Walde hervor.

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»Alle Teufel, rief Kapitän Hod, aus vollem Herzen la-chend, das sind also Affen gewesen!«

In der That stürzte eine dichte Gesellschaft jenerpossirlichen Geschöpfe auf das Steam-House zu.

»Was mögen die Kerle vorhaben? fragte Mac Neil.– Sie wollen uns sicherlich überfallen, meinte Kapi-

tän Hod, der immer zur Abwehr bereit war.– O, nein, warf Kâlagani, der die Affengesellschaft

beobachtet hatte, ein, das ist nicht zu befürchten.– Nun, was haben sie dann vor? fragte Mac Neil noch

einmal.– Sie wollen in unserer Gesellschaft über den Fluß

setzen, weiter nichts!« antwortete der Hindu.Kâlagani täuschte sich nicht. Wir hatten es hier we-

der mit jenen langarmigen, starkbehaarten Gibbonszu thun, welche unverschämt sind und sogar gefähr-lich werden können, noch mit »Mitgliedern der ari-stokratischen Familie«, die den Palast von Benares be-wohnt. Es waren vielmehr sogenannte »Langours«, diegrößten Affen der Halbinsel, geschmeidige Vierhändermit schwarzem Fell und glattem, von weißem Backen-bart umrahmten Gesichte, was ihnen das Ansehen alterAdvocaten verlieh. Bezüglich ihrer bizarren Haltungund maßlosen Gesticulationen hätte sogar Mathias VanGuitt in ihnen seinen Meister gefunden. Ihr Chinchilla-pelz war auf dem Rücken grau, am Bauche fast weißund den Schwanz trugen sie meist hoch.

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Ich erfuhr bei dieser Gelegenheit, daß die Langoursin ganz Indien als geheiligte Thiere betrachtet werden.Der Sage nach stammen sie von den Kriegern Rama’sab, welche die Insel Ceylon eroberten. In Amber ha-ben sie einen Palast, den Zehnanah, inne, wo sie vonTouristen vielfach aufgesucht werden. Sie zu tödten,ist ausdrücklich verboten, und die Mißachtung diesesGesetzes hat schon manchem englischen Officier dasLeben gekostet.

Diese Affen sind von sanftem Charakter und leichtzähmbar, dagegen äußerst gefährlich, wenn man sieangreift, und Louis Rousselet sagt von ihnen mit Recht,daß sie verwundet ebenso gefährlich wie Hyänen undPanther werden können.

Uns kam es jedoch gar nicht in den Sinn, die Lan-gours anzugreifen, und Kapitän Hod setzte auch dasGewehr wieder beiseite.

Hatte Kâlagani Recht, indem er behauptete, daß dieganze Gesellschaft, welche nicht über den Strom ge-langen konnte, unseren schwimmenden Apparat zu be-nutzen gedachte, um die Betwa zu überschreiten? Daswar ja möglich, und wir sollten uns auch sogleich da-von überzeugen. Der Stahlriese, der jetzt das Uferge-lände überschritten hatte, erreichte eben das eigentli-che Bett des Stromes.

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Bald schwamm der ganze Zug mit ihm. In Folge ei-ner Biegung des Flusses stand das Wasser an eben die-ser Stelle fast stille, so daß auch das Steam-House sichkaum fortbewegte.

Die Affenheerde war inzwischen nahe herangekom-men und plätscherte in dem seichten Wasser, welchesdas nächstliegende Land bedeckte.

Von feindseligen Absichten bemerkten wir nichts.Plötzlich aber fingen Männchen und Weibchen, Alteund Junge an zu hüpfen und zu springen, reichten ein-ander die Hand und gelangten zuletzt bis an den Zug,der sie zu erwarten schien.

Binnen wenig Secunden saßen gegen zehn auf demStahlriesen, etwa dreißig auf jedem Hause – eine ganzeGesellschaft lustiger Burschen, welche untereinanderlebhaft zu plaudern schienen und offenbar ihre Befrie-digung zu erkennen gaben, zu so gelegener Zeit einenschwimmenden Apparat angetroffen zu haben, der ih-nen die Fortsetzung ihrer Wanderung ermöglichte.

Der Stahlriese trieb bald in die Strömung hinein undwendete sich dieser entgegen. Banks hatte einen Au-genblick gefürchtet, diese Ueberlastung mit Passagie-ren werde unseren Zug zu schwer machen; das warjedoch nicht der Fall. Die Affen hatten sich wirklichrecht geschickt über denselben vertheilt. Sie hocktenda auf dem Rücken, dem Thürmchen, Halse und demRüssel des Elephanten bis zur äußersten Spitze, wo sie

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nicht einmal der ausgestoßene Dampf erschreckte. An-dere befanden sich auf den abgerundeten Dächern un-serer Pagoden, die einen zusammengekauert, anderestehend, diese auf die Füße gestützt, jene sich auf demSchwanze haltend – selbst unter der Veranda des Bal-kons.

Das Steam-House hielt sich also, in Folge sei-ner glücklich vertheilten Luftkästen, in der richtigenSchwimmlinie, so daß auch diese Mehrbelastung kei-ne Gefahr erzeugte.

Kapitän Hod und Fox waren höchst verwundert –vorzüglich der Diener. Es fehlte nicht viel, so hätteer das grimassenschneidende lustige Volk im Namendes Steam-Houses begrüßt. Er sprach wirklich mit denLangours, drückte ihnen die Hand und nahm den Hutvor denselben ab. Ja, er hätte gern alle Zuckervorrätheder Speisekammer geplündert, wenn Monsieur Para-zard, ungehalten, sich in solcher Gesellschaft zu befin-den, nicht dagegen Einspruch erhob.

Der Stahlriese arbeitete rastlos mit seinen vier Fü-ßen, welche gleich langen Pagaien wirkten. Immer zu-rückgedrängt, hielt er doch stets die schräge Linie nachdem Punkte ein, wo wir anlanden wollten.

Nach einer halben Stunde hatte er ihn erreicht;kaum berührte er aber das Ufer, als die ganze Gesell-schaft vierhändiger Clowns an’s Land sprang und untertausend lustigen Sätzen verschwand.

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»Sie hätten sich wenigstens bedanken können!« riefFox, den diese Rücksichtslosigkeit der ungebetenenTheilnehmer an der Ueberfahrt verletzte.

Ein allgemeines Lachen antwortete ihm. Mehr ver-diente ja wohl die Bemerkung des empfindlichen Die-ners nicht.

24. HOD GEGEN BANKS.

Die Betwa war überschritten. Schon trennten unshundert Kilometer von der Station Etawah.

Vier Tage verliefen ohne Zwischenfall, sogar ohne je-des Jagdabenteuer. In diesem Theile des KönigreichsScindia hielten sich nur wenige Raubthiere auf.

»Offenbar komme ich nach Bombay, wiederholteHod öfters nicht ohne einen gewissen Groll, ohne mei-nen Fünfzigsten erlegt zu haben.«

Kâlagani führte uns mit wunderbarer Sicherheitdurch dieses nur ganz schwach bevölkerte Gebiet, des-sen Topographie er auf’s genaueste kannte, und am 29.September begann unser Zug den nördlichen Abhangder Vindhyas emporzusteigen, um durch den Paß vonSirgur zu gehen.

Bis hierher war unsere Fahrt durch Bundelkund oh-ne jede Belästigung verlaufen. Gerade dieses Land istaber eines der unsichersten von ganz Indien. Hier su-chen sich alle Verbrecher gern zu verbergen. Landstrei-cher giebt es in Menge. Die Dacoits vorzüglich treibenhier ihr unheimliches Doppelgewerbe als Giftmischer

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und Räuber. Wer durch dieses Gebiet kommt, muß al-so immer sorgsam auf der Hut sein.

Den schlimmsten Theil von Bundelkund nun bil-det die Berggegend der Vindhyas, welche das Steam-House eben betrat. Der Weg ist nicht lang – höchstenshundert Kilometer – bis nach Jubbulpore, der näch-sten Station der Eisenbahn von Bombay nach Allaha-bad. Freilich durften wir nicht daran denken, hier soschnell und bequem fortzukommen wie in den Ebenenvon Scindia. Steile Wegstrecken, schlecht unterhalteneStraßen, ein steiniger Boden, scharfe Biegungen undmanchmal auch die ungenügende Breite des Weges,Alles trug dazu bei, unsere mittlere Geschwindigkeitzu vermindern. Banks rechnete darauf, während derzehn Fahrtstunden jedes Tages nicht mehr als fünfzehnbis zwanzig Kilometer zurückzulegen. Tag und Nachtmußten wir übrigens die Umgebungen der Straße oderunseres Nachtquartiers scharf bewachen lassen.

Kâlagani hatte uns zuerst diesen Rath ertheilt, ob-wohl wir uns ja in günstiger Lage zur Vertheidigungbefanden. Die beiden Häuser und das Thürmchen – ei-ne wirkliche Kasematte, welche der Stahlriese auf demRücken trug – boten ja, um einen beliebten Ausdruckdafür zu gebrauchen, eine gewisse »Widerstandsflä-che« dar. Schwerlich würde es irgend welchen Land-streichern, Dacoits oder anderen, nicht einmal Thugs,

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wenn in diesem Theile Bundelkunds noch solche um-herlungerten, in den Sinn gekommen sein, uns anzu-greifen. Vorsicht ist jedoch niemals vom Uebel, undbesser war es doch, für jeden Fall bereit zu sein.

Noch in den ersten Stunden dieses Tages erreichtenwir den Paß von Sirgur, durch den sich unser Zug oh-ne größere Beschwerden dahinwand. Dann und wann,wenn die Steigung zu stark wurde, mußte wohl et-was mehr Dampf gegeben werden, der Stahlriese ent-wickelte aber unter Storr’s Hand stets hinreichendeKraft, selbst wenn es galt, Steigungen von zwölf bisfünfzehn Centimeter auf einen Meter zu überwinden.

An ein Abweichen vom richtigen Wege war wohlnicht zu denken. Kâlagani kannte alle Schluchten undStege der Vindhyas, und vor Allem des Passes von Sir-gur. Er fand sich stets zurecht, selbst wenn mehrereStraßen an einer zwischen hohen Felsen verlorenenStelle ausmündeten, trotz der dichten Wälder von Al-penbäumen, welche die Aussicht schon in einer Entfer-nung von zwei- bis dreihundert Schritten absperrten.Wenn er uns zuweilen verließ und entweder allein odervon mir, von Banks oder irgend einem Anderen beglei-tet, vorausging, so geschah das nicht, um sich über dieRichtung des Weges, sondern nur über dessen Zustandaufzuklären.

Der viele Regen während der kaum beendeten nas-sen Jahreszeit hatte die Straßen selbstverständlich argbeschädigt und Furchen in dem Erdboden hinterlassen,

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ein Umstand, der nicht ganz unberücksichtigt bleibendurfte, da wir nicht gern Wege einschlugen, von denenwir schwierig hätten umkehren können.

Wir kamen also den Umständen nach ganz leidlichvorwärts. Der Regen hatte völlig aufgehört. Der vonleichtem Gewölk, durch das zuweilen die Sonne blitz-te, halb verschleierte Himmel drohte nicht mehr mitden schweren Unwettern, deren Heftigkeit man vor-züglich im Centrum der Halbinsel fürchtet. Wenn dieHitze auch nicht bedeutend war, so machte sie sichdoch noch während einiger Stunden des Tages bemerk-bar, doch hielt sich die Temperatur im Ganzen auf mitt-lerer Höhe, so daß sie Reisenden mit Schutzmitteln,wie sie uns zu Gebote standen, nicht eigentlich lästigwurde. An eßbarem Wild fehlte es nicht, und unsereJäger beschafften leicht die Bedürfnisse für die Tafel,ohne sich vom Steam-House allzuweit zu entfernen.

Nur Kapitän Hod – und natürlich auch Fox – moch-ten das Nichtvorhandensein von Raubthieren, durchdas sich Tarryani auszeichnete, bedauern. Konnten sieüberhaupt darauf rechnen, Löwen, Tiger und Pantherda anzutreffen, wo es diesen an Wiederkäuern, ihrerhauptsächlichsten Nahrung, fast vollständig mangelte?

Fehlten in der Fauna der Vindhya-Berge aber dieFleischfresser sehr auffallend, so fanden wir destomehr Gelegenheit, die Elephanten Indiens kennen zulernen – ich meine die wilden Elephanten, von denenwir bisher nur sehr wenige Exemplare gesehen hatten.

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Am 30. September gegen Mittag wurde ein Paar die-ser herrlichen Thiere vor unserem Zuge sichtbar. Beiunserer Annäherung wichen sie nach der Seite derStraße aus, um das ihnen noch unbekannte Fuhrwerk,welches sie zu erschrecken schien, vorüberziehen zulassen.

Was hätte es uns nützen können, sie ohne allenGrund, vielleicht nur um die Jagdlust zu befriedigen,zu tödten? Selbst dem Kapitän Hod fiel das gar nichtein. Er begnügte sich, in ihrer Freiheit die schönenThiere zu bewundern, die hier in den oberen Berg-schluchten hausten, wo Bäche und Weideplätze alle ih-re Bedürfnisse decken mußten.

»Eine herrliche Gelegenheit für unseren Freund Ma-thias Van Guitt, bemerkte er, um uns einen gelehrtenVortrag über Zoologie zu halten!«

Bekanntlich ist Indien vor allen anderen das Landder Elephanten. Diese Pachydermen gehören alle ei-ner und derselben Art an, welche aber niedriger steht,als die der afrikanischen Elephanten, und zwar eben-so diejenigen, welche in den verschiedenen Provinzender Halbinsel selbst umherschweifen, als auch die, de-ren Fährten man in Birma, im Königreiche Siam bis zuden östlich vom Busen von Bengalen gelegenen Gebie-ten verfolgt.

Wie man sie einfängt? Gewöhnlich in einem »Kid-dah«, das ist ein von Palissaden umschlossener Platz.Wenn es sich dabei um eine ganze Heerde handelt,

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so treiben sie die in der Zahl von drei- bis vierhun-dert Mann zusammentretenden Jäger unter Führungeines »Djamadar«, das ist ein darauf besonders einge-übter Eingeborner, in den Kiddah zusammen, schlie-ßen sie darin ein, suchen sie mit Hilfe gezähmter, spe-ciell hierzu abgerichteter Elephanten von einander zutrennen, fesseln sie dann an den Hinterbeinen und ha-ben sie damit in ihrer Gewalt. Diese Methode, welcheZeit und einen gewissen Kraftaufwand erfordert, er-weist sich aber häufig nutzlos, wenn man große, star-ke Männchen einfangen will. Es sind das ziemlich bös-artige Thiere, welche den Kreis der Treiber oft durch-brechen und sich nicht in den Kiddah hineindrängenlassen. Auch benutzt man wohl Weibchen, welche je-nen Männchen tagelang folgen. Diese tragen in dunkleStoffe gehüllte Mahouts auf dem Rücken, und wenndie Elephanten sich ahnungslos dem süßen Schlummerüberlassen, werden sie von jenen mit Ketten gefesselt,ehe sie recht wissen, was mit ihnen vorgeht.

Ich erwähnte schon einmal, daß man Elephantenfrüher mittelst tiefer, an den von ihnen gewöhnlich ge-wählten Wegen gelegenen Gruben zu fangen pflegte;da diese fünfzehn Fuß tief ausgehoben wurden, so ver-letzte sich das Thier meist beim Hineinfallen oder fanddabei seinen Tod, so daß man dieses barbarische Mittelfast allgemein aufgegeben hat.

Endlich kommt in Bengalen wie in Nepal auch nochder Lasso zur Verwendung. Eine solche Jagd bietet

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dann die interessantesten Momente. Man benutzt da-zu gut abgerichtete Elephanten, welche drei Mann tra-gen. Auf ihrem Hals sitzt ein Mahout, der sie führt,auf dem Rücken ein Hindu, der den mit einem Lauf-knoten versehenen Lasso zu werfen hat, und noch wei-ter rückwärts ein Treiber, der sie mit einem Schlägeloder scharfen Haken anspornt. So ausgerüstet verfol-gen diese Pachydermen den wilden Elephanten, oftmehrere Stunden lang, weit hin über Ebenen, querdurch dichte Wälder, wobei die Leute auf dem Thie-re nicht immer ohne Schaden davon kommen, endlichaber stürzt das einmal »lassirte« Thier in schwerem Fallzusammen.

Mittelst dieser verschiedenen Methoden fängt manin Indien jährlich eine große Anzahl Elephanten. Es istdas auch kein schlechtes Geschäft. Ein Weibchen wirdmit siebentausend, ein Männchen mit zwanzigtausend,und wenn es von »reinem Blute« ist, bis mit fünfzigtau-send Francs bezahlt.

Wenn man für diese Thiere so hohe Summen anlegt,so müssen dieselben doch sehr nützlich sein. Das istauch wirklich der Fall, wenn man sie genügend nährt,das heißt ihnen im Laufe eines Tages etwa sechzigbis siebenzig Kilo grünes Futter verabreicht; sie die-nen dann zum Transport von Soldaten, Proviant, vonArtilleriematerial in bergigen Gegenden oder durchDschungeln, welche für Pferde unzugänglich sind, oderwerden auch von Einzelnen, welche sie als Zugthiere

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gebrauchen, zu besonders schweren Arbeiten benutzt.Diese mächtigen und gelehrigen, in Folge eines eigent-hümlichen Instincts, der sie zum Gehorsam zu nöthi-gen scheint, leicht zähmbaren und lenksamen Riesenwerden in ganz Hindostan allgemein verwendet. Dasie sich in gezähmtem Zustande nicht vermehren (ganzneuerdings hat doch ein Elephantenweibchen in eineramerikanischen Menagerie ein Junges geworfen), sojagt man sie ohne Unterlaß, um den Bedarf der Halb-insel wie des Auslandes zu decken. Man verfolgt sie,stellt ihnen nach und fängt sie fortwährend auf dieoben angegebene Weise.

Trotzdem scheint ihre Zahl nicht abzunehmen, dennsie streifen noch immer in vielköpfigen Heerden in ver-schiedenen Theilen Indiens umher. Ja, ich möchte fastsagen, in gar zu zahlreichen Heerden, wie man balderkennen wird.

Die beiden Elephanten traten, wie erwähnt, so zurSeite, daß unser Zug bequem vorüber passiren konnte,und trotteten dann ruhig weiter. Da wurden hinter unsplötzlich noch andere Elephanten sichtbar, welche sichoffenbar beeilten, das Pärchen, an dem wir eben vor-über gekommen, einzuholen. Eine Viertelstunde späterzählten wir schon ein ganzes Dutzend. Sie beobachte-ten das Steam-House und folgten uns in einer Entfer-nung von höchstens fünfzig Metern. Sie schienen ebennicht gewillt, uns zu überfallen, aber noch weniger, uns

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zu verlassen. Es wäre ihnen jenes um so leichter gewor-den, als der Stahlriese auf den bergigsten der Vindhya-Kämme kaum schneller fortzutreiben gewesen wäre.

Ein Elephant dagegen läuft schneller, als man glau-ben sollte, und legt, nach Sanderson, der in dieser Be-ziehung vielfache Erfahrung besitzt, sogar bis fünfund-zwanzig Kilometer in der Stunde zurück. Es konnte al-so für die Thiere, welche hinter uns hertrabten, keineSchwierigkeiten haben, uns einzuholen oder sogar zu-vorzukommen.

Das schien aber – wenigstens für den Augenblick –ihre Absicht nicht zu sein. Wahrscheinlich warteten sienur, bis noch mehr dazu gekommen waren. Jetzt bil-deten sie schon eine ganze Gesellschaft, die sich eben-sogut noch weiter vergrößern konnte. Eine solche He-erde von Pachydermen besteht gewöhnlich aus dreißigbis vierzig Individuen, welche eine Familie mehr oderweniger verwandter Glieder bilden; es kommt abernicht selten vor, daß man Haufen von über hundert sol-cher Dickhäuter begegnet, was für die Reisenden, dieihnen in den Weg kommen, immer ziemlich mißlich,wenn nicht gar gefährlich wird.

Oberst Munro, Banks, Hod, der Sergeant, Kâlaga-ni und ich hatten auf der Veranda des zweiten Wa-gens Platz genommen und beobachteten, was hinteruns vorging.

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»Ihre Anzahl wächst noch immer, sagte Banks, undwird sich wahrscheinlich durch alle in der Umgegendzerstreuten Elephanten weiter vermehren.

– Sie können sich aber, bemerkte ich, doch nicht aufso große Entfernungen hin verständigen?

– Das nicht, erwiderte der Ingenieur, aber sie spüreneinander; ja, ihr Geruchsinn ist so fein, daß z. B. zahmeElephanten das Vorhandensein von wilden sogar aufdrei bis vier Meilen Entfernung wittern.

– Das ist ja eine wahre Völkerwanderung! sagte daOberst Munro. Seht nur da, hinter unserem Zuge, eineganze Heerde, vertheilt zu Gruppen von zehn bis zwölfElephanten, welche alle gleichmäßig einhertraben. Wirwerden unsere Fahrt etwas beschleunigen müssen, lie-ber Banks.

– Der Stahlriese leistet, was er kann, Munro, entgeg-nete der Ingenieur. Wir haben fünf Atmosphären undguten Zug, aber die Straße ist zu steil.

– Weshalb sollen wir denn so besonders eilen? mein-te Kapitän Hod, den die ganze Geschichte weidlichamüsirte. Die liebenswürdigen Thiere mögen uns dochbegleiten, wenn ihnen dies Spaß macht. Das ist ja einunseres Zuges ganz würdiges Gefolge. Rings war dasLand verlassen – jetzt ist es das nicht mehr, und wirziehen unter Escorte dahin, wie mächtige Rajahs!

– Wir wollen sie gewähren lassen, antwortete Banks,ja, ich wüßte auch gar nicht, wie wir sie hindern könn-ten, uns nachzufolgen.

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– Das beunruhigt Sie doch nicht? fragte KapitänHod. Sie wissen ohne Zweifel, daß eine Heerde Ele-phanten minder gefährlich ist als ein einziger Tiger.Jene dort sind ja prächtige Kerle! . . . Lämmer, großeLämmer mit Rüsseln, weiter nichts!

– Aha, unser Freund Hod geräth wieder in Begeiste-rung! sagte Oberst Munro. Ich gebe gern zu, daß wirvon jener Heerde nichts zu fürchten haben, so langesie sich in gebührender Entfernung hält; wenn es denLämmern aber einfallen sollte, uns auf dieser schmalenStraße zu überholen, so dürfte das ohne Beschädigungfür das Steam-House wohl nicht abgehen.

– Vorzüglich, fügte ich hinzu, wenn sie Alle ganz indie Nähe unseres Stahlriesen kämen, weiß ich dochnicht, wie sie diesem begegnen würden.

– Sie würden ihn begrüßen, alle Wetter! rief KapitänHod. Sie würden ihn ebenso achtungsvoll begrüßen,wie seiner Zeit die Elephanten des Prinzen Gourou Sin-gh!

– Ja, das waren aber zahme Elephanten, bemerkteder Sergeant Mac Neil.

– Richtig, erwiderte der Kapitän Hod, jene werdenzahm werden, oder dürften bei dem Anblick unseresElephanten vielmehr so sehr erstaunen, daß sie ihn er-furchtsvoll respectiren!«

Offenbar hatte unseres Freundes Enthusiasmus fürden künstlichen Elephanten, »das aus den Händen desenglischen Ingenieurs hervorgegangene Meisterwerk

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der Mechanik«, sich noch nicht vermindert. »Die Pro-boscidien übrigens – er hatte sich das Wort nun einmalangewöhnt – diese Proboscidien, fügte er hinzu, sindsehr intelligent; sie überlegen, urtheilen, vergleichen,sie verbinden ihre Gedanken und legen überhaupt fasteine menschliche Einsicht an den Tag.

– Darüber ließe sich doch streiten, antwortete Banks.– Wie, darüber wäre noch zu streiten? rief Kapitän

Hod. Da müßte man doch nicht in Indien gelebt haben,um so zu sprechen! Benutzt man denn nicht die schö-nen Thiere zu allerhand häuslichen Arbeiten? Giebtes einen zweibeinigen ungefiederten Diener, der ihnengleichkäme? Ist der Elephant im Hause seines Herrnnicht zu jedem Dienste bereit? Ist Ihnen, Maucler, wohlbekannt, was die erfahrensten Schriftsteller über die-selben sagen? Wenn man denselben glauben darf, soist der Elephant gegen Diejenigen, welche er liebt, ge-radezu zuvorkommend aufmerksam; er nimmt ihnenjede Last ab, holt für sie Blumen und Früchte, er sam-melt Geld ein, wie z. B. die Elephanten der berühmtenPagode von Willenoor bei Pondichery; in den Bazarsbezahlt er das Zuckerrohr, die Bananen oder Mango-früchte, die er für sich selbst einkauft; in Sunderbundvertheidigt er die Heerden und das Haus seines Herrngegen reißende Thiere; er pumpt Wasser in die Cister-nen und führt die ihm anvertrauten Kinder mit grö-ßerer Sorgfalt spazieren als die beste Bonne in ganzEngland! Er nähert sich dem Menschen durch seine

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Erkenntlichkeit, denn sein Gedächtniß ist vorzüglich,und so vergißt er niemals die Wohlthaten, die man ihmzugewendet, freilich auch nicht die Neckereien oderüble Behandlung! Seht, meine Freunde, einen solchenRiesen an Humanität – ja, ich sage mit Absicht, an Hu-manität – könnte man nicht vermögen, ein unschul-diges Insect zu tödten. Einer meiner Freunde – dassind so Züge, die man nicht vergißt – hatte ein klei-nes Gottesküchlein sich auf einen Stein setzen sehenund einem zahmen Elephanten geboten, dasselbe zuzerdrücken. Der herrliche Dickhäuter hob seine Tatzeaber nur desto vorsichtiger über den Stein weg, undweder Zureden noch Schläge hatten ihn vermocht, die-selbe auf das Insect zu legen. Als man ihm dagegenbefahl, dasselbe wegzunehmen, faßte er es vorsichtigmit der wunderbaren Art von Hand, welche das Rüs-selende bildet, und gab ihm die Freiheit! Sagen Siedann immer noch, lieber Banks, daß der Elephant nichtgut, edelmüthig und überhaupt allen anderen Thieren,selbst dem Affen und dem Hunde geistig überlegen sei,oder muß man nicht vielmehr zugeben, daß die Indierrecht haben, wenn sie ihm fast so viel Einsicht wie demMenschen zuschreiben?«

Kapitän Hod wußte seine begeisterte Lobrede nichtbesser zu schließen, als daß er den Hut vor der gewal-tigen Heerde zog, die uns gemessenen Schrittes folgte.

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»Sehr schön, Kapitän Hod, sagte Oberst Munro la-chend, die Elephanten haben an Ihnen einen warmenVertheidiger!

– Habe ich aber nicht vollkommen recht, HerrOberst? fragte der Kapitän.

– Es mag sein, daß Kapitän Hod mit dem, was erzum Besten gab, recht hat, antwortete Banks, aber ichglaube nur, ich gehe auch nicht fehl mit meinen Ansich-ten, die ich Sanderson, einem Elephantenjäger und mitallen einschlagenden Verhältnissen vertrauten Manneverdanke.

– Und was sagt denn Ihr Sanderson? fragte KapitänHod in etwas wegwerfendem Tone.

– Er behauptet, der Elephant besitze nur mittelmäßi-gen Verstand und die erstaunlichsten Handlungen, dieman diese Thiere ausführen sieht, wären die Folgeneiner willenlosen Unterwürfigkeit, so daß sie nur we-niger bemerkbaren Winken ihrer Cornaes nachkämen.

– Das möchte ich bewiesen sehen! versetzte KapitänHod, der allmählich wärmer wurde.

– Auch macht er darauf aufmerksam, fuhr Banksfort, daß die Indier den Elephanten auf ihren Denkmä-lern oder Bildern niemals als Symbol der Intelligenzbenutzt haben, sondern daß sie dazu stets den Fuchs,den Raben oder den Affen wählen.

– Dagegen protestire ich! rief Kapitän Hod, währender mit den Armen eine Bewegung gleich dem Schwin-gen eines Elephantenrüssels ausführte.

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– Protestiren Sie nach Belieben, Herr Kapitän, aberhören Sie weiter! erwiderte Banks. Sanderson sagt fer-ner, der Elephant zeichne sich vorzüglich durch denphrenologisch nachweisbaren Sinn für Gehorsam aus– und der muß an seinem Schädel einen hübschenHöcker bilden! Er weist darauf hin, daß der Elephantsich in wahrhaft kindischen Fallen – das ist das richtigeWort – fangen lasse, wie in von Zweigen überdecktenGruben, und daß er nicht einmal versuche, aus den-selben zu entkommen. Er führt an, daß jener sich ohnezu große Schwierigkeiten in Umzäunungen treiben las-se, was mit anderen wilden Thieren niemals gelingenmöchte. Er bestätigt endlich, daß gefangene Elephan-ten, welche etwa wieder entflohen, sich doch so leichtauch wieder fangen lassen, daß es ihrem Scharfsinnwahrlich nicht zur Ehre gereicht. Nicht einmal die Er-fahrung vermag sie klüger zu machen!

– Arme Thiere! seufzte Kapitän Hod in komischemTone, dieser Ingenieur läßt auch kein gutes Haar anEuch!

– Endlich, fuhr Banks fort, und das ist ein weitererBeleg für die Richtigkeit meiner Ansicht, widerstrebenmanche Elephanten, eben aus Mangel an Einsicht, je-dem Zähmungsversuche, und man hat oft große Mü-he, jüngere Thiere oder auch Weibchen zur Vernunftzu bringen!

– O, das ist wieder eine Aehnlichkeit mehr, die siemit dem Menschen haben! antwortete Kapitän Hod.

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Sind nicht Männer auch eher zu leiten als Kinder undFrauen?

– Lieber Kapitän, antwortete Banks, um darüber urt-heilen zu können, fehlt es uns wohl Beiden zu sehr anErfahrung aus der Ehe.

– Sehr richtig!– Schließlich, fügte Banks noch hinzu, darf man ja

nicht zu sehr auf die Gutmüthigkeit jener Thiere bauenoder etwa glauben, man könne mit einer ganzen Heer-de jener Riesen fertig werden, wenn sie durch irgendetwas gereizt würden, und ich sähe es z. B. viel lieber,daß die, welche uns jetzt begleiten, nach Norden zuwanderten, während wir nach Süden fahren.

– Ja, und das umsomehr, sagte Oberst Munro, alsihre Zahl während Deines Streites mit Hod in wirklichbedrohlichem Grade zugenommen hat!«

25. HUNDERT GEGEN EINEN.

Sir Edward Munro täuschte sich nicht. Jetzt mar-schirte schon eine Truppe von fünfzig bis sechzig Ele-phanten hinter unserem Zuge her. Sie gingen in dich-ten Reihen und schon trabten die Vordersten demSteam-House nahe genug – kaum in einer Entfernungvon zehn Metern – um sie genau beobachten zu kön-nen.

An der Spitze marschirte der größte der ganzenGesellschaft, obwohl seine lothrechte Höhe bis zurSchulter drei Meter gewiß nicht überschritt. Wie ich

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schon sagte, erreichen die hiesigen nicht die Größeder Elephanten in Afrika, unter denen man Exem-plare von vier Meter Höhe antrifft. Seine Stoßzähne,welche ebenfalls kleiner bleiben als die der afrikani-schen Race, messen an der äußeren Krümmung etwahundertfünfzig Centimeter bei einen Durchmesser vonvierzig Centimeter an dem Knochenzapfen, der ihreBasis bildet. Wenn man auf der Insel Ceylon eine ge-wisse Anzahl dieser Thiere findet, welche jener furcht-baren Waffen, der sie sich gegebenen Falles sehr ge-schickt bedienen, beraubt sind – ich meine die soge-nannten »Muknas« – so sieht man solche dafür im ei-gentlichen Hindostan ungemein selten.

Diesem Elephanten folgten mehrere Weibchen, diewirklichen Führer der Karawane. Wäre das Steam-House nicht auf der Straße gewesen, so würden dieseden Vortrab gebildet haben, während jenes Männchen,unter den Uebrigen eingereiht, bestimmt zurückgeblie-ben wäre. Die Männchen nämlich scheinen zur Anfüh-rung einer Heerde völlig ungeeignet; sie bekümmernsich ebensowenig um die jungen Thiere, wissen nicht,wann es nöthig ist, wegen der Bedürfnisse dieser »Ba-bies« Halt zu machen, und verstehen sich auch kaumauf die Auswahl eines passenden Lagerplatzes. In derThat sind es nur die Weibchen, welche sozusagen daserste Wort führen und die wandernden Heerden leiten.

Die Frage, warum sich die ganze uns nachfolgen-de Gruppe in Bewegung gesetzt habe, ob sie blos ihre

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erschöpften Weideplätze verließ, vor den Stichen ei-ner sehr gefährlichen Fliegenart entfloh, oder ob sienur die Neugier, unserem seltsamen Gefährt zu folgen,jetzt durch die Vindhya-Berge verlockte – das wäre vor-läufig schwer zu sagen gewesen. Das Land lag jetzt of-fen vor uns, und die Elephanten zogen, wie sie es zuthun gewohnt sind, wenn sie sich nicht in bewaldetenGegenden aufhalten, am hellen Tage weiter. Ob sie miteinbrechender Nacht, so wie wir es gezwungen waren,Halt machen würden, mußte sich ja bald zeigen.

»Nun, Kapitän Hod, fragte ich da unseren Freund,sehen Sie, wie unser Nachtrab sich immer mehr ver-mehrt? Erweckt Ihnen das noch immer keine Besorg-niß? . . .

– Pah! versetzte Kapitän Hod, weshalb sollten dieThiere etwas gegen uns im Schilde führen? Es sind jakeine Tiger, nicht wahr, Fox?

– Nicht einmal Panther!« antwortete der Diener, dernatürlich immer mit seinem Herrn übereinstimmte.

Kâlagani schüttelte freilich den Kopf ein wenig beidiesen zuversichtlichen Behauptungen; er theilte dieAnsicht der beiden Jäger offenbar nicht.

»Sie scheinen mir beunruhigt, Kâlagani, sagte Banks,der jene Bemerkung gehört hatte, zu diesem.

– Könnten wir nicht etwas schneller vorwärts kom-men? antwortete der Hindu.

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– Das dürfte seine Schwierigkeit haben, antworte-te der Ingenieur. Doch wir wollen versuchen, was sichthun läßt!«

Banks verließ die Veranda und begab sich nach demThürmchen, in welchem Storr seinen Platz hatte. Balddarauf pustete und schnaufte der Stahlriese stärkerund in kürzeren Zwischenräumen und unser Zug rollteetwas schneller dahin.

Es war nur wenig und bei dem beschwerlichen We-ge nicht mehr zu erreichen. Doch auch die verdoppelteGeschwindigkeit unseres Zuges hätte an der Sachlagegewiß nichts Wesentliches geändert. Die Elephanten-heerde trabte eben etwas schneller mit. Das that siedenn auch jetzt, so daß unser Steam-House einen Vor-sprung nicht gewinnen konnte.

Ohne besondere Veränderung verliefen so mehrereStunden. Wir nahmen nach dem Essen wieder auf derVeranda des zweiten Wagens Platz.

Jetzt dehnte sich die Straße hinter uns auf eineStrecke von mindestens zwei Meilen in gerader Rich-tung aus, so daß wir sie, durch Windungen derselbennicht mehr behindert, in der ganzen Ausdehnung über-blicken konnten.

Da sahen wir denn mit Schrecken, daß die Zahl derElephanten seit einer Stunde noch immer zugenom-men hatte – es mochten ihrer jetzt mindestens Hundertsein.

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Die Thiere marschirten, je nach der Breite des Wegeszu Zweien, Dreien, schweigend und gleichmäßigenSchrittes, die einen mit hoch erhobenem Rüssel, dieanderen mit den Stoßzähnen hoch in der Luft. DasGanze erschien wie das Wogen eines von Grundwellenbewegten Meeres. Noch zeigte sich – um die Metapherweiter zu führen – keine Brandung; welcher Gefahrwaren wir aber preisgegeben, wenn ein Sturm diesedahinwogende Masse empörte?

Inzwischen sank die Nacht – eine mond- und ster-nenlose finstere Nacht – hernieder. Durch die höherenLuftschichten wallte ein feiner Nebel daher.

Wie Banks vorausgesagt, konnten wir nach dem Ein-tritt völliger Finsterniß gar nicht daran denken, aufdieser gefährlichen Straße weiter zu fahren, sondernmußten wohl oder übel Halt machen. Der Ingenieurbrachte also unseren Zug an einer breiteren Stelle desThales zum Stehen, wo wir in eine kleinere Schluchteinfahren konnten, um der gefährlichen Heerde Raumzu lassen, ihre Wanderung nach Süden fortzusetzen.

Freilich vermochte Niemand vorherzusagen, ob dieHeerde nicht an derselben Stelle wie wir Halt machenwürde.

Als es dunkler wurde, bemächtigte sich unsererNachfolger eine gewisse Unruhe, von der wir vor-her nichts bemerkt hatten. Sie brüllten gewaltig, aberdumpf, und dazu gesellten sich noch ganz eigenthüm-liche, uns unbekannte Töne.

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»Was hat das zu bedeuten? fragte Oberst Munro.– Das ist, erklärte Kâlagani, der Ton, den diese Thie-

re von sich geben, wenn sie einen Feind in der Nähewittern.

– Und als solchen betrachten sie augenblicklich of-fenbar uns, nicht wahr? fragte Banks.

– Das fürchte ich leider auch!« antwortete der Hin-du.

Jenes erwähnte Geräusch glich fast entferntem Don-ner. Es erinnerte an das, welches man hinter den Cou-lissen eines Theaters durch Erschütterung eines großenStahlbleches zu erzeugen pflegt. Die Elephanten be-rührten mit den Rüsseln fast den Boden und triebendie durch tiefe Einathmung aufgesammelte Luft ge-gen denselben aus, wodurch jenes dumpfe rollende Ge-räusch zu entstehen schien.

Es war jetzt neun Uhr Abends.Wir befanden uns auf einer kleinen, etwa eine hal-

be Meile breiten offenen Ebene, an der die zu demPuturia-See hinführende Straße ausmündete. An ge-nanntem See hatte Kâlagani Halt zu machen vorge-schlagen, da jener aber noch gegen fünfzehn Kilome-ter von uns entfernt lag, mußten wir darauf verzichten,ihn noch heute zu erreichen.

Banks gab Befehl, den Dampf abzusperren. DerStahlriese hielt an, wurde aber nicht abgespannt. Auchdas Feuer sollte nicht gänzlich gelöscht werden. Storrerhielt Auftrag, stets Dampf zu halten, um in jedem

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Augenblick weiter fahren zu können. Wir mußten ebenauf Alles vorbereitet sein.

Oberst Munro zog sich in seine Cabine zurück. Banksund Kapitän Hod wollten sich nicht niederlegen, undich beschloß auch, ihnen Gesellschaft zu leisten. Uebri-gens blieb das ganze Personal auf den Füßen. Was soll-ten wir aber beginnen, wenn es den Elephanten einfiel,das Steam-House zu überfallen?

Während der ersten Stunde dauerte rings um un-seren Halteplatz ein dumpfes Gemurmel fort. AllemAnschein nach betrat die vierbeinige Gesellschaft nachund nach die kleine Ebene. Ob sie wohl darüber hin-wegziehen und ihren Weg weiter nach Süden fortset-zen würde?

»Das wäre wohl möglich, meinte Banks.– Sogar wahrscheinlich!« fügte Kapitän Hod hinzu,

der noch immer an seiner optimistischen Auffassungfesthielt.

Gegen elf Uhr wurde es stiller und zehn Minutenspäter herrschte ringsum das tiefste Schweigen. DieNacht war ruhig. Jedenfalls hätten wir das leiseste auf-fällige Geräusch wahrgenommen. Aber nichts ließ sichhören außer dem leisen Brodeln im Kessel des Stahlrie-sen. Nichts war zu sehen, außer dann und wann eineGarbe von Funken, welche aus dessen Rüssel empor-stieg.

»Nun, hatte ich nicht recht? begann da Kapitän Hod.Sie sind abgezogen, die braven Elephanten!

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– Glückliche Reise! sagte ich dazu.– Abgezogen? bemerkte Banks den Kopf schüttelnd.

Das werden wir sogleich sehen!«Darauf rief er nach dem Mechaniker.»Storr, sagte er, die Leuchtfeuer!– Sofort, Herr Banks!«Zwanzig Secunden später blitzten zwei elektrische

Strahlenbündel aus den Augen des Stahlriesen hervorund beleuchteten durch einen automatischen Mecha-nismus bewegt, allmählich jeden Punkt im Bereichedes Horizonts.

Da standen die Elephanten alle im großen Krei-se rings um das Steam-House und unbeweglich wieeingeschlafen – vielleicht schliefen sie auch wirklich,die grellen Strahlen, welche ihre unförmigen Massentrafen, schienen ihnen aber ein übernatürliches Le-ben einzuhauchen. Durch eine einfache optische Täu-schung nahmen diejenigen unter den Ungeheuern, aufwelche die glänzenden Lichtbündel fielen, wahrhaftriesenmäßige Proportionen an, so daß sie an Größe mitunserem Stahlriesen wetteifern zu können schienen.Von den Lichtblitzen getroffen, erhoben sich dieselbenplötzlich, so als hätte sie eine feurige Nadel gestochen.Sie streckten die Rüssel vor und die gewaltigen Zäh-ne in die Höhe. Es sah aus, als wollten sie sich schonauf unseren Train stürzen. Aus den gewaltigen Kinn-laden drang ein heiseres Knurren hervor. Wie durchAnsteckung bemächtigte sich Aller bald eine plötzliche

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Wuth, und rings um unser Lager ertönte ein drohendesGeräusch, als ob hundert Hornisten auf einmal Appellbliesen.

»Auslöschen!« rief Banks.Der elektrische Strom wurde sofort unterbrochen

und der Lärm legte sich augenblicklich wieder.»Sie lagern im Kreise rund umher, sagte der Inge-

nieur, und werden bei Tagesanbruch auch noch dasein.

– Hm!« brummte Kapitän Hod, dessen gutes Zutrau-en doch ein wenig erschüttert schien.

Was war aber zu thun? Kâlagani wurde darum ge-fragt. Er machte kein Hehl daraus, daß er unsere Si-tuation etwas beunruhigend fand.

Konnte man daran denken, den Lagerplatz in dieserpechschwarzen Nacht zu verlassen? Das war von vorn-herein unmöglich. Was hätte das auch nützen können?Die Elephantenheerde wäre uns unzweifelhaft nachge-folgt und unsere Lage erschien dann eher schlimmer,als am hellen Tage. Wir kamen also dahin überein, erstmit dem Morgengrauen aufzubrechen, mit möglichsterVorsicht und Schnelligkeit weiter zu dampfen, aber un-ser furchtbares Gefolge auf keine Weise zu reizen.

»Und wenn nun die Thiere nicht ablassen, uns zufolgen? fragte ich.

– So werden wir versuchen, eine Oertlichkeit zu er-reichen, wo das Steam-House vor ihrem Angriffe gesi-chert ist.

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– Werden wir eine solche aber innerhalb der Vindhya-Berge finden? sagte Kapitän Hod.

– Doch, es giebt eine, fiel der Hindu ein.– Und welche? fragte Banks.– Den Puturia-See.– Wie weit ist er von hier?– Gegen neun Meilen.– Aber Elephanten schwimmen auch, antwortete

Banks, und vielleicht besser als irgend ein anderer Vier-füßler! Man hat schon beobachtet, daß sie sich einenhalben Tag lang auf der Wasseroberfläche erhielten. Istnicht auch zu fürchten, daß jene uns auf den Puturia-See nachfolgen und das Steam-House damit in einenoch gefährlichere Lage käme?

– Ich sehe keinen anderen Ausweg, einem Angriffezu entgehen!

– So werden wir ihn versuchen!« antwortete der In-genieur.

Es blieb uns in der That nichts anderes übrig. Viel-leicht wagten sich die Elephanten unter diesen Verhält-nissen doch nicht in’s Wasser, oder wir konnten sie we-nigstens überholen.

Mit Ungeduld erwarteten wir den Tag. Bald fing derMorgen an zu grauen. Während der Nacht war es zukeiner feindlichen Demonstration gekommen, mit Son-nenaufgang zeigte es sich aber, daß auch kein Elephantvon der Stelle gewichen und das Steam-House von al-len Seiten umschlossen war.

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Da entstand eine allgemeine Bewegung auf dem Ru-heplatze. Es schien, als ob die Elephanten alle einemCommando gehorchten. Sie schwangen die Rüssel, rie-ben die Stoßzähne am Boden, machten gleichsam Toi-lette, indem sie sich mit frischem Wasser bespritzten,und nagten endlich eine Portion des fetten Grases ab,an dem es dieser Stelle nicht fehlte. Endlich nähertensie sich dem Steam-House, manche derselben soweit,daß man sie aus dessen Fenstern schon mit Spießenhätte erreichen können. Banks empfahl uns indessenausdrücklich, ihnen auf keine Weise zu nahe zu treten.Es erschien zu wichtig, ihnen keine Veranlassung zu ei-nem Angriffe zu bieten. Einzelne von den Elephantendrängten sich jetzt immer mehr an unseren Stahlrie-sen heran. Offenbar wollten sie sehen, was an diesemgewaltigen, augenblicklich unbeweglichen Thiere sei.Erkannten sie in ihm wohl einen ihresgleichen? Vermu-theten sie in ihm irgend welche geheimnißvolle Kraft?Am vergangenen Tage hatten sie keine Gelegenheit ge-habt, jenen in Thätigkeit zu sehen, da sich auch die er-sten Reihen immer in einer gewissen Entfernung hinterunserem Zuge hielten.

Was würden sie aber beginnen, wenn sie ihn erstschnaufen hörten, wenn sie ihn seine großen, geglie-derten Füße heben, sich in Bewegung setzen und un-sere rollenden Wagen mitschleppen sahen?

Oberst Munro, Kapitän Hod, Kâlagani und ich hattenvorn auf dem Wagen Platz genommen. Der Sergeant

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Mac Neil und seine Genossen hielten sich auf dem hin-teren Theile auf.

Kâlouth stand vor seiner Feuerthür und beschickteden Rost noch immer mit Brennmaterial, obwohl derDampf schon eine Spannung von fünf Atmosphärenhatte.

Banks saß im Thürmchen neben Storr, die Hand amRegulator.

Die Zeit der Abfahrt war herangekommen. Auf einZeichen von Banks öffnete der Mechaniker den Hahnzur Dampfpfeife, die ihren schrillenden Laut ertönenließ.

Die Elephanten erhoben die Ohren, dann wichen sieein wenig zurück und räumten uns auf einige Schritteden Weg.

Jetzt strömte der Dampf in die Cylinder, eine Wolkedrang aus dem Rüssel hervor, die Räder begannen sichzu bewegen, wirkten auf die Füße des Stahlriesen undder ganze Zug rückte von der Stelle.

Meine Gefährten werden alle zustimmen, wenn ichsage, daß sich unter den Thieren der ersten Reihe zu-erst eine gewisse Bestürzung bemerkbar machte. Siewichen wenigstens auseinander und die Straße botjetzt genügend Raum, um das Steam-House mit derSchnelligkeit eines in kurzem Trabe dahintrottendenPferdes fortzutreiben.

Sofort aber setzte sich auch die ganze »proboscidi-sche Masse« – ein Ausdruck des Kapitän Hod – vor und

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hinter uns mit in Bewegung. Die ersten Gruppen der-selben nahmen die Spitze des Zuges ein, die letztenfolgten dem Train. Alle schienen entschlossen, nichtvon unserer Seite zu weichen. Dabei begleiteten uns,da der Weg hier gerade breiter war, andere Elephan-ten noch an beiden Seiten, sowie etwa Reiter nebeneinem Wagen. Jetzt drängte sich Alles durcheinander,Männchen und Weibchen, Thiere von jeder Größe undvon jedem Alter, Jünglinge von fünfundzwanzig Jah-ren und »gemachte Männer« von sechzig, alte Pachy-dermen, welche vielleicht über hundert Jahre zählten,und Babies neben ihren Müttern, die Lippen – nicht,wie man früher meinte, den Rüssel – an deren Brustund unterwegs saugend. Die ganze Gesellschaft hielteine gewisse Ordnung ein, drängte sich nicht mehr alsnöthig und regulirte ihren Schritt nach dem des Stahl-riesen.

»Wenn sie uns in dieser Weise bis zum See begleiten,bemerkte Oberst Munro, so habe ich nichts dagegen. . .

– Gewiß, antwortete Kâlagani, was wird aber ge-schehen, wenn die Straße sich wieder verengert?«

Hierin lag allerdings eine Gefahr.Während der drei Stunden, welche wir brauchten,

um zwölf Kilometer von den fünfzehn zurückzule-gen, welche zwischen dem letzten Halteplatz und demPuturia-See lagen, ereignete sich nichts Besonderes.

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Nur zwei- bis dreimal stellten sich einige Elephan-ten quer auf die Straße, als wollten sie dieselbe sper-ren. Der Stahlriese schritt jedoch mit horizontal vorge-streckten Stoßzähnen auf sie zu, und spie ihnen heißenDampf in’s Gesicht, wodurch sie leicht veranlaßt wur-den, den Durchgang freizugeben.

Um zehn Uhr Morgens hatten wir also noch etwadrei Kilometer bis zum See vor uns. Da – so hofften wirwenigstens – mußten wir in verhältnißmäßig sichererStellung sein.

Im Falle die ungeheuere Heerde uns aber wirk-lich unbelästigt lassen sollte, beabsichtigte Banks, denPuturia-See, ohne daselbst zu halten, im Westen lie-gen zu lassen, um am nächsten Tage schon aus denVindhyas herauszukommen. Dann hatten wir bis zurStation Jubbulpore nur noch eine Fahrt von wenigenStunden.

Ich bemerke hier, daß das Land um uns nicht nursehr wild, sondern auch völlig verlassen war. Nirgendssah man ein Dorf, nirgends eine Farm – der Mangelan Weideland erklärte das genügend – eine Karawaneoder einen einzelnen Reisenden. Seit unserem Eintrittin die Gebirgslandschaft von Bundelkund waren wirnoch keiner lebenden Seele begegnet.

Gegen elf Uhr begann das Thal, in dem das Steam-House hindampfte, sich allmählich zusammenzuzie-hen. Wie Kâlagani vorausgesagt, wurde die Straße biszur Stelle, wo sie am See ausmündete, sehr schmal.

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Unsere ohnehin beunruhigende Lage verschlimmer-te sich dadurch natürlich noch weiter.

Wären die Elephanten nur vor oder hinter unse-rem Zuge hergetrabt, so hätte das ja keine besonde-ren Schwierigkeiten geboten. Aber die, welche uns zurSeite marschirten, konnten unmöglich länger daselbstbleiben. Entweder drängten uns diese gegen die Fel-senwand neben der Straße, oder sie stürzten selbst ineine der Schluchten, die sich da und dort zwischen der-selben öffneten. Instinctmäßig suchten die Thiere sichtheils vor, theils hinter uns noch einen Platz zu erobern,wodurch wir so eingeengt wurden, daß unser Zug sichweder vor-, noch rückwärts bewegen konnte.

»Die Sache wird unangenehmer, sagte Oberst Mun-ro.

– Ja freilich, erwiderte Banks, es wird nichts anderesübrig bleiben, als in die Masse einzudringen.

– Nun dann, darauf zu, darauf zu! rief Kapitän Hod.Alle Teufel! Die stählernen Stoßzähne unseres Riesenwerden doch gegen die Elfenbeinzähne jener dummenThiere aufkommen!«

Für den launigen Kapitän waren die Proboscidienjetzt schon nichts mehr als »dumme Thiere«.

»O gewiß, fiel der Sergeant Mac Neil ein, wir sindaber Einer gegen Hundert!

– Das gilt jetzt gleich, rief Banks; schnell vorwärts,sonst marschirt die ganze Heerde da hinten über unse-re Köpfe weg!«

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Die Einlaßventile wurden weiter geöffnet und derstarke Dampfdruck brachte den Stahlriesen in schnel-lere Bewegung. Seine Stoßzähne erreichten einen derElephanten dicht vor ihm.

Das Thier schrie laut auf vor Schmerz und die ganzeTruppe stimmte bald mit ein. Ein Kampf, dessen Aus-gang nicht vorauszusehen war, schien nun unvermeid-lich.

Wir hatten die Waffen ergriffen, die Büchsen mitSpitzkugeln, die Flinten mit explodirenden Geschossengeladen und die Revolver in Bereitschaft gesetzt, umjeden Angriff nachdrücklich abweisen zu können.

Ein gewaltiges männliches Thier wandte sich, dieZähne zum Stoße bereit und die Hinterbeine fest aufdie Erde gestemmt, zuerst in voller Wuth gegen dasSteam-House.

»Ein Gunesch! rief Kâlagani.– Ah, der hat ja nur einen Zahn! meinte Kapitän Hod,

verächtlich die Achseln zuckend.– Dafür ist er um so gefährlicher!« erwiderte der Hin-

du.Kâlagani hatte jenen Elephanten mit dem Namen

bezeichnet, den die Jäger für die Männchen mit nureinem Stoßzahn gebrauchen. Die Indier zollen diesenThieren ganz besondere Verehrung, vorzüglich, wennjenen der rechte Zahn fehlt. Unser Feind gehörte zudieser Art und war, wie Kâlagani gesagt hatte, nur umso mehr zu fürchten.

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Das zeigte sich auch bald. Der Gunesch stieß einenlangen Ton, wie von einem Horn, aus, schlug den Rüs-sel zurück, dessen sich die Elephanten übrigens nie imKampfe bedienen, und drang auf unseren Stahlriesenein.

Der Stoßzahn traf geradlinig das Deckblech derBrust, brach aber, als er hinter diesem auf die feste Kes-selwand traf, glatt weg.

Wir fühlten den Stoß im ganzen Zuge. Dennoch be-wegte sich dieser nach vorwärts und drängte den Gu-nesch, der ihn noch immer aufzuhalten suchte, unwi-derstehlich zurück.

Der Ruf des letzteren war jedoch verstanden wor-den. Die ganze Heerde vor uns machte jetzt Halt undbildete ein unübersteigliches Hinderniß von lebendenMassen. Gleichzeitig stießen die hinteren Gruppen,welche ihren Weg fortsetzten, heftig gegen die letz-te Veranda. Konnten wir der drohenden Zermalmungentgehen?

Einige von ihnen, die uns sonst zur Seite marschir-ten, faßten die Trittbretter der Wagen und schütteltensie gewaltig.

Hielten wir an, so war es um den ganzen Train ge-schehen – jetzt galt es, sich nach Kräften zu verthei-digen. Büchsen und Flinten wurden auf die Angreifergerichtet.

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»Daß kein Schuß verloren geht! rief Kapitän Hod.Zielt nach dem Ursprung des Rüssels oder nach derStelle unter den Augen; nur so ist etwas auszurichten!«

Wir thaten wie Kapitän Hod gesagt. Mehrere Schüs-se krachten schnell hinter einander – ein wüthendesSchmerzgeheul antwortete darauf.

Drei oder vier gut getroffene Elephanten hinter undneben uns – ein glücklicher Umstand, da uns der Wegnicht versperrt wurde – stürzten zu Boden. Die erstenGruppen wichen ein Stück zurück und der Zug konnteetwas vorwärts dringen.

»Wiederladen und abwarten!« befahl Kapitän Hod.Wenn er unter dem Abwarten verstand, daß wir es

erst zu einem ernsten Angriff kommen lassen sollten,so dauerte das nicht eben lange. Die ganze Heerdedrängte sich jetzt gegen uns heran und wir schienenrettungslos verloren.

Ringsum ertönte ein wüthendes Geheul und Gebrüll.Man hätte glauben können, Kriegs-Elephanten vor sichzu haben, welche die Hindus durch besondere Mittelzur höchsten Wuth, die sie »Musth« nennen, anzusta-cheln verstehen. Man kann sich kaum etwas Entsetzli-cheres vorstellen. In Guicowar bildet man »Elephanta-dors«, um gegen diese furchtbaren Thiere zu kämpfen;aber auch der verwegenste derselben wäre wohl vorden schrecklichen Feinden, welche das Steam-Housebestürmten, zurückgewichen.

»Vorwärts! rief Banks.

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– Feuer!« commandirte Hod.Unter das beschleunigte Schnaufen der Maschine

mischte sich der Knall der Gewehre. Auf diese sich hinund her schiebende Masse konnte man freilich nicht sosorgsam zielen, wie der Kapitän das empfohlen hatte.Jede Kugel fand zwar ein Stück Fleisch, um hineinzu-dringen, sie traf damit aber keineswegs immer tödt-lich. Die verwundeten Elephanten wurden nur um sowüthender und antworteten auf unsere Flintenschüs-se durch die Stöße ihrer gewaltigen Zähne, welche dieWände des Steam-Houses durchlöcherten.

Mit den Detonationen der Feuerwaffen, die manauf allen Seiten hörte, und dem Krachen der explo-direnden Geschosse im Körper der getroffenen Thie-re verband sich auch ferner das Zischen des durchkünstlichen Zug noch mehr erhitzten Dampfes. DerDruck desselben nahm fortwährend zu. Der Stahlrie-se zwängte sich in den Haufen hinein, theilte ihn unddrängte ihn zurück. Dazu arbeitete er mit dem beweg-lichen Rüssel, der gleich einer furchtbaren Keule aufdie Fleischmassen niederfiel, die seine Stoßzähne zer-rissen.

So kamen wir auf der engen Straße doch langsamvorwärts. Manchmal glitten wohl die Räder auf demBoden, griffen aber doch wieder mit ihren gefurchtenKränzen ein und wir näherten uns dem See mehr undmehr.

— 499 —

»Hurrah! rief Kapitän Hod, wie ein Soldat, der sichin das dichte Kampfgewühl stürzt.

– Hurrah! Hurrah!« riefen wir Alle nach ihm.Da senkte sich eben ein Rüssel auf die vordere Ve-

randa nieder. Ich sah schon den Augenblick kommen,wo Oberst Munro von dem lebenden Lasso emporge-hoben und unter die Füße der Elephanten geschleu-dert werden würde. Das wäre sicherlich so weit ge-kommen, wenn nicht Kâlagani noch rechtzeitig zuge-sprungen wäre und den Rüssel durch einen kräftigenAxthieb getrennt hätte.

Der Hindu verlor also, obschon er sich an der allge-meinen Vertheidigung betheiligte, Sir Edward Munrodoch niemals aus den Augen. Diese Ergebenheit gegendie Person des Obersten, welche er niemals verleugne-te, lehrte uns wiederholt, wie er sich bewußt war, unteruns gerade diesen vorzüglich beschützen zu müssen.

O, welche unwiderstehliche Macht entwickelte dochunser Stahlriese! Mit welcher Sicherheit drang er in dieMasse der Feinde ein, gleich einem Keil, der ja zuletztjedes Hinderniß zu überwinden vermag. Da nun diehinter uns befindlichen Elephanten gleichzeitig nach-drängten, so kam unser Zug ohne Aufenthalt, wennauch nicht ohne Erschütterungen, fast schneller vor-wärts, als wir zu hoffen wagten.

Plötzlich entstand noch ein anderes Geräusch, dassich mitten unter dem allgemeinen Lärmen vernehm-bar machte.

— 500 —

Eine Anzahl Elephanten zermalmte eben den zwei-ten Wagen, den sie an die Felsenwand drängten.

»Hierher zu uns! Schnell! Schnell!« rief Banks denLeuten zu, welche die Rückseite des Steam-Housesvertheidigten.

Goûmi, der Sergeant und Fox hatten sich schon ausdem zweiten Wagen geflüchtet.

»Wo steckt aber Parazard? fragte Kapitän Hod.– Er will seine Küche nicht verlassen, antwortete Fox.– So holt ihn mit Gewalt!«Unser Koch hielt es offenbar für unvereinbar mit sei-

ner Ehre, den ihm anvertrauten Posten aufzugeben.Den starken Armen Goûmi’s, wenn diese einmal an-faßten, hätte Jemand aber ebensowenig widerstehenkönnen, wie den Backen einer Blechscheere. MonsieurParazard sah sich also plötzlich wider Willen in denSpeisesaal versetzt.

»Seid Ihr Alle da? rief Banks.– Alle, antwortete Goûmi.– So trennt die Verkuppelung!– Die Hälfte unseres Zuges opfern! . . . fuhr Kapitän

Hod auf.– Es muß sein!« erklärte Banks.Die Ketten wurden gelöst, die Laufbrücke durch

Axtschläge zertrümmert und unser zweiter Wagenblieb nun stehen.

— 501 —

Es war die höchste Zeit. Schon wurde der Wagen ge-packt, emporgehoben und umgeworfen, und die Ele-phanten stürzten über denselben hin, um ihn durch ihrGewicht vollends zu zerstören. Er bildete nur noch ei-ne unförmliche Ruine, welche jetzt die Straße hinteruns sperrte.

»Sehr schön! bemerkte Kapitän Hod, aber in einemTone, der uns Alle zum Lachen reizte, und da sagendie Leute noch, so ein Thier könne nicht einmal einGottesküchlein zertreten!«

Wenn die nun einmal wüthenden Elephanten mitdem ersten Wagen eben so verfuhren wie mit demzweiten, konnten wir uns keiner Täuschung über dasunser harrende Geschick mehr hingeben.

»Schüre das Feuer, Kâlouth!« rief der Ingenieur.Noch einen halben Kilometer, eine letzte Anstren-

gung und wir hatten den Puturia-See erreicht.Auch jetzt versagte der gewaltige Stahlriese unter

der Hand Storr’s, der die Ventile so weit als mög-lich öffnete, den verlangten Dienst nicht. Er erzwangsich den Durchgang durch diesen Wall von Elephan-ten, bohrte ihnen die Stoßzähne in den Rücken undsprühte ihnen kochenden Dampf entgegen, wie damalsden Pilgern am Phalgou, oder übergoß sie mit Strahlensiedenden Wassers! . . . O, er that mehr als seine Schul-digkeit!

Endlich wurde der See jenseits der letzten Krüm-mung des Weges sichtbar.

— 502 —

Wenn unser Zug noch zwei Minuten Widerstand lei-stete, so waren wir gerettet.

Die Elephanten ahnten das, wie es schien – ein Be-weis ihrer Intelligenz, welche Kapitän Hod vertheidigthatte. Sie versuchten zum letzten Male, unseren Zugumzustürzen. Wir eröffneten dagegen das Feuer vonNeuem. Wie ein Hagel schlugen die Kugeln in die näch-sten Reihen ein. Höchstens fünf oder sechs Elephantensperrten uns noch den Weg. Die Meisten fielen und dieRäder knarrten über einen von Blut getränkten Boden.

Etwa hundert Schritte vom See mußten wir nochdiese letzten Thiere zu verdrängen suchen.

»Noch einmal Dampf! Fest darauf!« rief Banks demMechaniker zu.

Der Stahlriese schnaubte, als würden noch ganzneue Maschinenkräfte in ihm geboren. Unter einemDrucke von acht Atmosphären zischte der Dampf ausden Sicherheitsventilen. Hätten wir diese nur im Ge-ringsten belastet, so mußte der Kessel, dessen Wändeerzitterten, unbedingt zerspringen. Es war unnöthig.Nichts vermochte der Gewalt des Stahlriesen mehr zuwiderstehen. Fast sprungweise stürmte das Ungethümvorwärts. Was von unserem Zuge noch übrig war, folg-te ihm polternd und schwankend und zermalmte, aufdie Gefahr hin, selbst umzustürzen, die Glieder der ge-fallenen Elephanten. Wenn unser Wagen umfiel, wärees freilich noch immer um alle Insassen desselben ge-schehen gewesen.

— 503 —

Dieses Unglück sollte uns erspart bleiben, wir er-reichten das Ufer des Sees und bald schwamm der Zugauf dem ruhigen Wasser.

»Gott sei gelobt!« rief Oberst Munro.Zwei oder drei in ihrer Wuth verblendete Elephan-

ten, eilten in den See nach und versuchten noch aufder Wasserfläche die zu verfolgen, welche sie auf demfesten Lande nicht zu besiegen vermochten.

Die Tatzen des Stahlriesen thaten jedoch ihre Schul-digkeit. Der Zug entfernte sich bald vom Ufer und ei-nige wohlgezielte letzte Schüsse befreiten uns von den»See-Ungeheuern« gerade in dem Augenblicke, als siedie hintere Veranda mit den Rüsseln packen wollten.

»Nun, mein Herr Kapitän, fragte Banks, was haltenSie jetzt von der Sanftmuth der indischen Elephanten?

– Pah, erwiderte Kapitän Hod, gegen die Raubthiereist das immer noch nichts! Setzen Sie nur dreißig Tigeran die Stelle der hundert Pachydermen, und ich wette,was Sie wollen, daß in diesem Augenblicke Niemandvon uns übrig wäre, das erlebte Abenteuer zu berich-ten!«

26. DER PUTURIA-SEE.

Der Puturia-See, auf dem das Steam-House vorläufigZuflucht gefunden hatte, liegt etwa vierzig Kilometer

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östlich von Dumoh. Diese Stadt, der Hauptort der eng-lischen Provinz, der sie den Namen gegeben, ist im er-freulichen Aufblühen und beherrscht mit ihren zwölf-tausend Einwohnern, welche noch eine kleine Garni-son verstärkt, gewissermaßen den gefährlichsten Theilvon Bundelkund. Jenseits ihrer Mauern, vorzüglich inden weiter östlich gelegenen Landschaften und in derverwahrlosten Gegend der Vindhya-Berge, deren Mit-telpunkt der See etwa einnimmt, macht sich dieser Ein-fluß freilich kaum fühlbar.

Was konnte uns überhaupt aber noch Schlimmereszustoßen, als dieses Zusammentreffen mit Elephanten,aus dem wir ja heil und gesund hervorgegangen wa-ren?

Immerhin hatte unsere Lage etwas Beunruhigendes,da ein großer Theil unseres Materials verschwundenwar. Der eine von den Wagen, welche unseren Zug bil-deten, war ja vernichtet worden, ohne Aussicht, ihnwieder »flott zu machen«, um einen seetechnischenAusdruck zu gebrauchen. Da die Elephanten denselbenumgeworfen und gegen den Felsen gedrängt hatten,konnten von seinem Rumpfe, über den jene schwerfäl-ligen Dickhäuter hinmarschirten, nichts anderes mehrals formlose Trümmer übrig geblieben sein.

Ohne zu erwähnen, daß jener Wagen dem Personalder Expedition als Wohnung diente, enthielt er ja nichtallein die Küche, sondern auch die Vorrathskammernund unser Munitionsmagazin. Wir besaßen jetzt kaum

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noch ein Dutzend Patronen, doch war nicht anzuneh-men, daß wir deren vor der Ankunft in Jubbulpore be-dürfen könnten.

Bezüglich der schwer zu ersetzenden Nahrungsmit-tel lag die Sache freilich anders. Die Vorräthe derSpeisekammer waren vollständig verloren gegangen.Selbst wenn wir am nächsten Abend bei der nochgegen siebzig Kilometer entfernten Station eintrafen,mußten wir doch etwa vierundzwanzig Stunden langfasten.

Nun, man lernt sich ja in Alles fügen!Natürlich erschien Monsieur Parazard unter diesen

Verhältnissen der Unglücklichste von Allen. Der Verlustseiner Speisekammer, die Zerstörung seines »Labora-toriums« und die Verstreuung seiner Vorräthe gingenihm gar sehr zu Herzen. Er machte auch kein Hehl ausseiner Verzweiflung, erwähnte der Gefahr, der wir Al-le wie durch ein Wunder entgangen, kaum mit einemWorte, sondern jammerte nur über das Mißgeschick,das ihn persönlich getroffen hatte. Eben als wir im Sa-lon zusammenkamen, um zu überlegen, was unter denjetzigen Umständen zu thun sei, betrat Monsieur Para-zard mit gewohnter Feierlichkeit die Schwelle dessel-ben und meldete sich, »um uns eine Mittheilung vonhöchster Bedeutung« zu machen.

»Sprechen Sie, Monsieur Parazard, sagte OberstMunro, indem er jenem einzutreten winkte.

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– Meine Herren, begann unser Koch sehr ernst, eswird Ihnen nicht unbekannt sein, daß der ganze Inhaltdes zweiten Wagens vom Steam-House bei jener Ka-tastrophe verloren gegangen ist. Aber selbst wenn wirnoch einige Vorräthe besäßen, wäre ich, in Ermang-lung einer Küche, in der größten Verlegenheit, Ihnenauch nur die bescheidenste Mahlzeit zu bereiten.

– Wir kennen das, Monsieur Parazard, erwiderteOberst Munro. Es ist bedauernswerth, doch wir müs-sen uns wohl in das Unvermeidliche fügen, und wennwir fasten müssen, so thun wir es eben.

– Ja, meine Herren, fuhr der Koch fort, es ist um sobedauernswerther, als ich gegenüber jener großen An-zahl Elephanten, von denen mehr als einer unter ihrenmörderischen Kugeln geendet hat . . .

– Ein herrlicher Satz, Monsieur Parazard, fiel KapitänHod ein. Bei einiger Uebung würden Sie bald dahingelangen, sich nicht weniger elegant auszudrücken wieunser Freund Mathias Van Guitt.«

Monsieur Parazard verneigte sich höflich und fuhrnach einem Seufzer also fort:

»Ja, ich wollte eben sagen, meine Herren, daß mirda eine Gelegenheit geboten wäre, Ihnen meine Ge-schicklichkeit im vollen Glanze zu zeigen. Das Fleischdes Elephanten ist, wie sich leicht denken läßt, nichtin allen Stücken brauchbar, denn es ist zum Theile ab-scheulich hart und zähe; es scheint jedoch, als habe derSchöpfer aller Dinge unter dieser Fleischmasse doch

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zwei Stücke besonders bevorzugt, zwei Stücke, welchewerth sind, auf der Tafel des Vicekönigs von Indienzu erscheinen. Ich habe hierbei im Sinne erstens dieZunge dieses Thieres, ein ungemein wohlschmecken-der Leckerbissen, wenn dieselbe nach einem mir alleinbekannten Recept zugerichtet wird, und zweitens dieFüße der Pachyderme . . .

– Pachyderme? . . . Sehr schön, obwohl der Probos-cidie eleganter klingt, sagte Kapitän Hod.

– . . . die Füße also, fuhr Monsieur Parazard fort, ausdenen man die besten Suppen bereitet, welche die Kü-chenkunst, deren Vertreter ich im Steam-House bin, je-mals gekannt hat.

– Sie machen mir den Mund wässrig, Monsieur Para-zard, antwortete Banks. Unglücklicher Weise einerseitsund glücklicher Weise andererseits sind uns die Ele-phanten auf den See nicht nachgefolgt, und ich fürch-te, wir werden wenigstens zur Zeit auf eine Klauensup-pe und ein schmackhaftes Ragout von der Zunge jenerThiere verzichten müssen.

– Wäre es nicht möglich, begann der Koch noch ein-mal, an’s Land zurückzukehren und sich damit zu ver-sorgen . . .

– Nein, das geht nicht, Monsieur Parazard. So vor-trefflich Ihre Zubereitungen auch sein möchten, so dür-fen wir uns deshalb einer augenscheinlichen Gefahrnicht auf’s Neue aussetzen.

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– Nun denn, meine Herren, sagte der Koch, so ge-nehmigen Sie den Ausdruck des aufrichtigen Bedau-erns, das ich über diesen beklagenswerthen Zwischen-fall empfinde.

– Wir nehmen das für geschehen an, Monsieur Pa-razard, sagte Oberst Munro. Was das Mittagessen unddas Frühstück betrifft, so machen Sie sich darüber, be-vor wir nach Jubbulpore kommen, keine weitere Sor-ge.

– So darf ich mich wohl wieder zurückziehen,« erwi-derte Monsieur Parazard mit einer Verbeugung, ohnedie ihm angeborne Würde zu verlieren.

Wir hätten über die komische Erscheinung unseresKochs fast laut aufgelacht, doch benahmen uns andere,sehr ernsthafte Fragen zunächst die Lust dazu.

Zu so vielen Verlegenheiten trat nämlich noch ei-ne andere. Banks eröffnete uns, daß unter den gegen-wärtigen mißlichen Umständen weder der Mangel anNahrungsmitteln, noch der an Munition der schlimm-ste sei, wohl aber der Mangel an – Brennmaterial. Beider Unmöglichkeit, während der letzten achtundvier-zig Stunden frische Holzvorräthe zum Betriebe der Ma-schine einzunehmen, erschien das nicht wunderbar.Bei der Ankunft am See besaßen wir davon fast garnichts mehr. Hätte sich der Weg hierher nur um eine

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Stunde verlängert, so konnten wir das Wasser über-haupt nicht erreichen, und der erste Wagen des Steam-Houses verfiel noch zuletzt demselben Schicksale wievorher der zweite.

»Jetzt, fügte Banks hinzu, haben wir nichts mehr zufeuern; die Dampfspannung nimmt ab, sie ist schon bisauf zwei Atmosphären gesunken, und uns fehlt jedeMöglichkeit, sie wieder zu steigern!

– Ist unsere Lage wirklich so schlimm, wie Du zuglauben scheinst, Banks? fragte Oberst Munro.

– Wenn es sich nur darum handelte, nach dem Ufer,von dem wir noch nicht weit entfernt sind, zurückzu-kehren, antwortete Banks, so ließe sich das wohl aus-führen. In einer Viertelstunde würden wir das errei-chen. Es wäre aber zu unklug, nach der Stelle zu ge-hen, wo die Elephanten ohne Zweifel noch zusammensind. Nein, wir werden über den Puturia-See fahrenund an dessen südlichem Ufer einen Landungsplatz su-chen müssen.

– Wie breit mag der See in dieser Richtung sein?fragte Oberst Munro weiter.

– Kâlagani schätzt die Entfernung auf etwa siebenbis acht Meilen. Unter den gegebenen Verhältnissenwürden wir dazu gewiß mehrere Stunden brauchen,und ich sage im voraus, daß die Maschine in vierzigMinuten nicht mehr im Stande sein wird, zu arbeiten.

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– Nun wohl, antwortete Sir Edward Munro, so brin-gen wir die Nacht ruhig auf dem See zu. Wir sind hierja in Sicherheit. Morgen findet sich schon Rath.«

Etwas anderes war offenbar nicht zu thun. Wir be-durften der Ruhe gar sehr. Auf dem letzten Halteplat-ze, wo uns die Elephanten umringten, hatte ja keinMensch schlafen können.

Jetzt nahte eine dunkle Nacht – ja, eine dunklere, alsuns lieb war.

Gegen sieben Uhr entstand auf dem See ein leich-ter Nebel. Man erinnert sich, daß sich schon währendder vergangenen Nacht dichte Dünste in der Höhe bil-deten. Hier gestaltete sich, bei der Verschiedenheit desOrtes, auch die Erscheinung anders. Wenn die Dunst-massen über dem Elephantenlager einige hundert Fußhoch dahinzogen, so wälzten sie sich hier, in Folge derAusdünstung des Wassers, auf dem Puturia selbst hin.Nach dem ziemlich warmen Tage vermischten sich hö-here und tiefere Luftschichten und der ganze See ver-schwand bald in einem zwar noch dünnen Nebel, deraber jede Minute an Dichtheit zunahm.

Hierdurch entstand, wie Banks schon vorher sagte,eine neue Schwierigkeit, der wir wohl Rechnung tra-gen mußten.

Mit seiner früheren Berechnung übereintreffend,ging dem Stahlriesen gegen siebeneinhalb Uhr derDampf allmählich aus, die Kolben arbeiteten langsa-mer, die beweglichen Füße schlugen nicht mehr das

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Wasser und die Dampfspannung sank endlich unter ei-ne Atmosphäre herab. Brennmaterial oder irgend einMittel, diese wieder zu steigern, war nicht vorhanden.

Der Stahlriese und der einzige Wagen, den er nochzog, schwammen nun freilich auf dem stillen See, ka-men aber nicht von der Stelle.

Bei dem herrschenden Nebel war es natürlich sehrschwer, unsere Lage einigermaßen sicher zu bestim-men. Während der kurzen Zeit, als unsere Maschinenoch arbeitete, hatte sich der Zug nach dem südöstli-chen Ufer des Sees zu bewegt, um da einen Landungs-platz aufzusuchen. Da der Puturia nun die Gestalt ei-nes ziemlich langen Ovals besitzt, so konnte es ja mög-lich sein, daß das Steam-House sich gar nicht weit vondem einen oder anderen Ufer befand.

Das Gebrüll der Elephanten, die uns auch hier ziem-lich eine Stunde lang verfolgt hatten, war der großenEntfernung wegen nicht mehr zu hören.

Wir besprachen also, was unter den jetzigen Verhält-nissen wohl am besten zu thun sei. Banks ließ auchKâlagani rufen, dessen Ansicht er kennen lernen woll-te. Der Hindu kam sofort und wurde aufgefordert, sei-ne Meinung auszusprechen.

Wir befanden uns in dem Speisesaale, der, da erseine Beleuchtung durch Oberlicht erhielt, gar keineSeitenfenster hatte. So konnte der Schein der Lampen

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nicht nach außen dringen. Das gewährte uns den Vort-heil, die Lage des Steam-Houses etwaigen Landstrei-chern an den Ufern des Sees nicht zu verrathen.

Auf die an ihn gerichteten Fragen schien Kâlagani –mir wenigstens kam es so vor – nicht ohne Zögern zuantworten. Es handelte sich darum, zu sagen, an wel-cher Stelle des Puturia-Sees sich das Steam-House be-fand, und ich gebe zu, daß eine Antwort darauf nichteben leicht war. Vielleicht hatte eine schwache Briseaus Nordwesten unseren Zug ein wenig weiter getrie-ben; vielleicht führte uns auch eine leichte Strömungnach dem unteren Ende des Sees.

»Nun, Kâlagani, sagte Banks, dem daran gelegenwar, über diesen Punkt in’s Klare zu kommen, Sie ken-nen die Ausdehnung des Puturia doch genau genug?

– Gewiß, antwortete der Hindu, doch ist bei diesemNebel so gut wie gar nichts zu sehen.

– Sind Sie im Stande, annähernd die Entfernung biszu dem uns zunächst gelegenen Ufer abzuschätzen?

– Ja, so ziemlich, antwortete der Hindu nach kurzerUeberlegung, sie kann über anderthalb Meilen kaumbetragen.

– Nach Osten zu? fragte Banks.– Ja, nach Osten.– Und wenn wir nach diesem Ufer kämen, wären wir

Jubbulpore näher als Dumoh?– Gewiß.

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– Eben in Jubbulpore, setzte Banks hinzu, müssenwir uns wieder mit allem Nöthigen versorgen. Werweiß aber, wann es uns gelingt, an jenes Ufer zu kom-men! Das kann einen oder gar zwei Tage dauern, unduns fehlt nicht weniger als Alles!

– Aber, fuhr Kâlagani fort, könnten wir nicht, oderkönnte wenigstens nicht Einer von uns versuchen,noch in dieser Nacht das Land zu erreichen?

– Ja, aber wie?– Ei nun schwimmend!– Einundeinehalbe Meile inmitten dieses Nebels!

antwortete Banks, das hieße das Leben auf’s Spiel set-zen . . .

– Aber es ist doch kein Grund, den Versuch nicht zuwagen!« erwiderte der Hindu.

Ich weiß zwar nicht warum, aber es schien mir im-mer, als habe Kâlagani’s Stimme heute gar nicht diegewohnte Offenheit.

»Würden Sie es unternehmen, den See soweit zudurchschwimmen? fragte da Oberst Munro, der denHindu scharf fixirte.

– Gewiß, Herr Oberst, und ich glaube das auch aus-führen zu können.

– Da würden Sie uns einen großen Dienst leisten,mein Freund! fiel Banks wieder ein. Zu Lande kann esIhnen nicht schwer fallen, die Station Jubbulpore zuerreichen und uns Hilfe zu bringen.

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– Ich bin sofort bereit!« antwortete einfach der Hin-du.

Ich erwartete, auch Oberst Munro würde unseremFührer seinen Dank für dieses Anerbieten abstatten;nachdem er jenen aber noch einmal kurze Zeit auf-merksam betrachtet hatte, rief er nach Goûmi.

Goûmi erschien auf der Stelle.»Goûmi, redete Sir Edward Munro diesen an, Du bist

ein vortrefflicher Schwimmer?– Man sagt es, Herr Oberst.– Würdest Du davor zurückschrecken, noch in dieser

Nacht anderthalb Meilen weit durch das laue Wasserdes Sees zu schwimmen?

– O, auch zwei Meilen, wenn es sein muß.– Nun denn, fuhr Oberst Munro fort, Kâlagani hatte

sich erboten, nach dem Ufer zu schwimmen, das Jub-bulpore am nächsten liegt. Auf diesem See sowohl, wieüberhaupt in ganz Bundelkund werden immer zweikühne und intelligente Männer, die sich gegenseitigunterstützen können, sicherer zum Ziele gelangen, alsein Einzelner. – Willst Du Kâlagani begleiten?

– Wenn es Ihnen beliebt, Herr Oberst! antworteteGoûmi.

– O, ich brauche Niemand, erklärte da Kâlagani,doch wenn es der Herr Oberst wünscht, nehme ichGoûmi gern als Begleiter an.

– Nun, so geht in Gottes Namen, sagte Banks, undseid ebenso vorsichtig, wie Ihr muthig seid!«.

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Oberst Munro nahm hierauf Goûmi beiseite und ert-heilte ihm einige kurze Verhaltungsmaßregeln. FünfMinuten später schon glitten die beiden Hindus, einPacket mit Kleidungsstücken auf dem Kopfe, in dasWasser des Sees hinab. Der Nebel war immer dichtergeworden, so daß jene uns bereits in der Entfernungweniger Faden gänzlich aus dem Gesichte schwanden.

Ich fragte Oberst Munro, warum ihm allem Anschei-ne nach so viel daran gelegen habe, Kâlagani einen Be-gleiter mitzugeben.

»Die Antworten dieses Hindu, erklärte Sir EdwardMunro, dessen Ergebenheit ich bisher nie mißtraut hät-te, schienen mir nicht offen zu sein.

– Denselben Eindruck machten sie auch auf mich,sagte ich.

– Ich für meinen Theil habe nichts bemerkt . . . ,meinte Banks.

– Glaube mir, Banks, fuhr Oberst Munro fort, Kâla-gani hatte, als er sich erbot, an’s Land zu gehen, irgendeinen Hintergedanken.

– Aber welchen?– Das weiß ich nicht! Doch als er den Zug zu ver-

lassen wünschte, geschah dies nicht, um in Jubbulporefür uns Hilfe zu suchen.

– Oho!« ließ Kapitän Hod sich vernehmen.Banks blickte den Oberst, die Stirn runzelnd, an.

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»Lieber Munro, begann er, bisher hat sich dieser Hin-du stets treu und vorzüglich Dir gegenüber wirklich er-geben bewiesen! Heute vermuthest Du, daß Kâlaganiuns verrathen wolle? Was berechtigt Dich dazu?

– Nun, antwortete Oberst Munro, während Kâlaganisprach, sah ich, wie er dunkler wurde, und Leute mithellkupferfarbener Haut werden dunkler, wenn sie lü-gen. Wohl zwanzigmal habe ich auf diese Beobachtunghin Bengalen und Hindus verblüffen können und habemich damit niemals getäuscht. Was auch Alles zu Kâla-gani’s Gunsten sprechen könnte, ich bleibe doch dabei,daß er nicht die Wahrheit geredet hat!«

Ich habe mich inzwischen vielfach überzeugt, daßSir Edward Munro mit jener Behauptung vollkommenRecht hatte.

Die Hindus bräunen sich, wenn sie lügen, ebensowie die Weißen erröthen. Dieses Symptom hatte derScharfsichtigkeit des Obersten nicht entgehen können,wir mußten also seiner Beobachtung einen gewissenWerth beimessen.

»Was könnte Kâlagani aber beabsichtigen, fragteBanks, und warum sollte er uns verrathen?

– Das wird sich ja später zeigen, sagte Oberst Munro,vielleicht erst zu spät!

– Zu spät, Herr Oberst, fiel Kapitän Hod ein. Ei, wirsind doch noch nicht verloren, denke ich!

– Jedenfalls, Munro, fuhr der Ingenieur fort, hast Dugut daran gethan, ihm Goûmi mitzugeben – der ist uns

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bis in den Tod ergeben, dazu gewandt und einsichtiggenug, um, wenn er Unheil wittern sollte . . .

– Ja, ja, und darum erschien es mir gerathen, unter-brach ihn Oberst Munro, ihn aufmerksam zu machen,seinen Begleiter scharf im Auge zu behalten.

– Nun gut, sagte Banks; jetzt wollen wir ruhig denTag abwarten; mit Sonnenaufgang verschwindet vor-aussichtlich der Nebel und wir werden ja sehen, wasdann zu thun ist!«

Diese Nacht sollte und mußte in der That unthätighingebracht werden.

Der Nebel hatte sich mehr und mehr verdichtet, oh-ne daß jedoch Anzeichen von schlechter Witterung ein-traten. Es war das ein glücklicher Umstand, denn wennunser Zug auch schwimmen konnte, so war er dochkeineswegs gebaut, um »See zu halten«. Man durfte al-so hoffen, daß die Dampfbläschen in der Luft sich mitAnbruch des Tages condensiren würden, was uns fürden folgenden Tag schönes Wetter versprach.

Während das Personal im Speisezimmer Platz nahm,setzten wir uns auf die Divans des Salons und sprachennur wenig, lauschten aber desto aufmerksamer auf je-des etwaige Geräusch von draußen.

Plötzlich, es mochte gegen zwei Uhr nach Mitter-nacht sein, unterbrach ein Geheul von Raubthieren dasSchweigen der Nacht.

In der Richtung nach Südosten mußte also Landsein, wenn wir von demselben auch noch ziemlich weit

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entfernt waren. Das Heulen und Brüllen tönte nur soabgeschwächt bis zu uns herüber, daß Banks die Ent-fernung auf eine gute Meile schätzte. Wahrscheinlichhatte sich eine Heerde wilder Thiere zur Stillung ihresDurstes an jener Stelle des Sees eingefunden.

Bald überzeugten wir uns auch, daß der schwim-mende Train unter dem Drucke einer leichten Bri-se langsam und gleichmäßig nach dem Gestade zutrieb. Jene Töne drangen nicht nur deutlicher zu un-seren Ohren, sondern man unterschied auch schon dasdumpfere Brüllen des Tigers von dem heiseren Geheulder Panther.

»Aha, konnte Kapitän Hod sich nicht enthalten zusagen, welch’ hübsche Gelegenheit, seinen Fünfzigstenzu erlegen.

– Ein andermal, lieber Kapitän, entgegnete Banks.Ich hoffe, daß die Bestien, wenn wir bei Tageslicht an’sUfer stoßen, den Platz geräumt haben werden.

– Kann es von Nachtheil sein, fragte ich, die elektri-schen Leuchten in Thätigkeit zu setzen?

– Das glaube ich nicht, antwortete Banks. Am Uferdort befinden sich gewiß nur Thiere, welche des Trin-kens wegen dorthin gekommen sind. Es hält uns nichtsdavon ab, zu sehen, was wir da vor uns haben.«

Auf Bank’s Anordnung wurden zwei Lichtbündel insüdöstlicher Richtung hingeworfen. Leider vermochtendie elektrischen Lichtstrahlen den dicken Nebel nicht

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zu durchdringen und beleuchteten nur einen verhält-nißmäßig beschränkten Raum vor dem Steam-House,während das Ufer selbst den Blicken verborgen blieb.

Das immer lauter werdende Geheul verrieth inzwi-schen, daß der Zug noch immer über die Wasserflächeweiter trieb. Die Zahl der an jener Stelle versammel-ten Thiere war aller Wahrscheinlichkeit nach eine sehrgroße, was sich leicht daraus erklärte, daß der Puturia-See sozusagen die natürliche Tränke für die Raubthieredieses Theiles von Bundelkund bildete.

»Wenn nur Goûmi und Kâlagani nicht unter dieseHeerde gerathen sind! sagte Kapitän Hod.

– Die Tiger sind es gerade nicht, die ich für Goûmifürchte!« erwiderte Oberst Munro.

Der Verdacht, den der Oberst hegte, hatte entschie-den noch zugenommen. Ich für meinen Theil be-gann allmählich, ihn zu theilen. Immerhin sprachendie guten Dienste Kâlagani’s seit unserer Ankunft imHimalaya-Gebiete, seine Opferwilligkeit bei den be-kannten Vorgängen, wo er für Sir Edward Munro undKapitan Hod sogar sein Leben auf’s Spiel setzte, dochgewiß zu seinem Vortheil. Wenn der Zweifel aber ein-mal im Geiste platzgreift, so vermindert sich leicht dieBedeutung und wechselt der Eindruck früherer Thatsa-chen, man vergißt die Vergangenheit und fürchtet fürdie Zukunft.

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Welche Beweggründe konnten den Hindu aber trei-ben, uns jetzt zu verrathen? Hegte er einen persönli-chen Haß gegen die Bewohner des Steam-Houses? Dasgewiß nicht. Warum sollte er sie in einen Hinterhaltgelockt haben? Das erschien ganz unerklärlich. Jedermachte sich darüber seine eigenen Gedanken, ohneeben klar sehen zu lernen, und ungeduldig erwartetenwir die weitere Entwicklung dieser peinlichen Situati-on.

Gegen vier Uhr Morgens hörte das Gebrüll der Thie-re plötzlich auf. Was uns dabei auffiel war, daß sie sichoffenbar nicht einzeln nach einander entfernt und nachdem letzten Schluck noch einmal einen Ton von sichgegeben hatten. Nein, im Augenblicke war Alles vor-über, so daß man annehmen konnte, es habe sie irgendein zufälliger Umstand bei ihrem Geschäfte gestört undsie zur eiligen Flucht veranlaßt. Sie zogen sich in ih-re Höhlen und Schlupfwinkel nicht zurück wie Thiere,welche heimkehren, sondern wie solche, welche sichzu retten suchen.

Ohne vermittelnden Uebergang folgte die Stille aufden vorigen Lärm. Hier wirkte also eine Ursache mit,die uns noch vollständig entging, aber gerade deshalbunsere Unruhe eher noch vermehrte.

Aus Vorsicht gab Banks Befehl, die Leuchtfeuer zulöschen. Waren die Thiere etwa vor einer Rotte vonLandstreichern entflohen, welche sich in Bundelkund

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und den Vindhyas umhertrieben, so erschien es wich-tig, die Lage des Steam-Houses möglichst zu verber-gen.

Jetzt unterbrach das Schweigen ringsum nichts, alsdas Plätschern der Wellen. Der Wind legte sich mehrund mehr. Ob unser Zug noch durch eine schwacheStrömung weiter getrieben wurde, konnte man nichtunterscheiden. Bald mußte es jedoch Tag werden undder Nebel, der nur in den untersten Schichten der At-mosphäre lagerte, verschwinden.

Ich sah nach der Zeit, es war fünf Uhr Morgens. Oh-ne den Nebel würde das Morgenroth den Gesichtskreisum uns schon auf einige Meilen erweitert haben, sodaß das Ufer sichtbar gewesen wäre. Noch zerriß derDunstschleier aber nicht. Wir mußten uns in Geduldfassen.

Oberst Munro, Mac Neil und ich im Vordertheildes Salons, Fox, Kalouth und Monsieur Parazard imHintertheil des Speisezimmers, Banks und Storr imThürmchen und Kapitän Hod auf dem Rücken des gi-gantischen Thieres nahe dem Rüssel sitzend, wie einwachthabender Matrose am Bug seines Schiffes, wirwarteten Alle gespannt, daß Einer »Land!« rufen sollte.

Gegen sechs Uhr erhob sich eine schwache, zuerstkaum bemerkbare Brise, frischte aber bald ein we-nig auf. Die ersten Strahlen der Sonne durchbrachendie Nebelmassen und der Horizont zeigte sich unserenBlicken. Im Südosten lag das Ufer vor uns. Es bildete

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am Ende des Sees eine schmal verlaufende Bucht mitdichtem Wald dahinter. Die Dünste stiegen allmählichempor und legten weiter rückwärts eine Reihe Bergefrei, deren Gipfel schnell nach einander hervortraten.

»Land!« hatte Kapitän Hod gerufen.Der schwimmende Train befand sich kaum noch

zweihundert Meter von dem Ufer der Bucht des Pu-turia und trieb unter der nordwestlichen Brise weiterauf dieselbe zu.

Alles war hier still, weder ein Thier, noch einmenschliches Wesen sichtbar. Alles erwies sich alsgänzlich verlassen. Keine Wohnstätte, keine Farm unterdem Dache der ersten Bäume. Es schien also gefahrlos,hier zu landen.

Mit Hilfe des Windes gelangten wir denn auch baldan das flache, einen sandigen Strand darstellende Ufer.Freilich konnten wir wegen Mangels an Dampf wederauf dieses hinausfahren, noch eine unsern sichtbareStraße einschlagen, welche der Himmelsrichtung nachauf Jubbulpore zuführen mußte.

Ohne einen Augenblick zu verlieren, waren wir Alledem Kapitän Hod gefolgt, der zuerst an’s Land sprang.

»Nun Brennmaterial herbei! rief Banks. Binnen einerStunde haben wir Druck und dann vorwärts!«

Der Bedarf war leicht zu decken. Holz gab es rings-um in Menge und auch trocken genug, um sogleichverfeuert werden zu können. Wir brauchten also nurden Rost zu beschicken und den Tender zu füllen.

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Alle legten Hand an’s Werk. Kâlouth allein blieb vordem Kessel, während wir Anderen das nöthige Mate-rial für vierundzwanzig Stunden herbeischafften. Daswar mehr, als wir bis Jubbulpore brauchten, und dortkonnte es an Kohle nicht fehlen. Jetzt meldete sich all-mählich auch der Hunger, doch dem konnten ja die Jä-ger unterwegs abhelfen, Monsieur Parazard sollte dannam Kesselfeuer kochen, so gut es eben anging.

Drei Viertelstunden später zeigte der Dampf hinrei-chende Spannung; der Stahlriese setzte sich in Bewe-gung und klomm endlich den Strand in die Höhe, umnach der Landstraße zu gelangen.

»Nach Jubbulpore!« rief Banks.Storr hatte den Regulator aber kaum einmal halb

umgedreht, als sich aus dem Walde heraus ein entsetz-liches Geschrei vernehmen ließ. Eine Rotte von we-nigstens hundertfünfzig Hindus stürzte sich auf dasSteam-House. Das Thürmchen des Stahlriesen, der Wa-gen, dessen vordere und hintere Veranda wurden be-stürmt, bevor wir nur zur Ueberlegung kommen konn-ten.

Sofort schleppten uns die Hindus etwa fünfzigSchritt weit von dem Zuge fort und machten uns jedeFlucht unmöglich.

Unser Zorn, unsere Wuth über das Bild der Zerstö-rung und Plünderung, das sich nun vor unseren Au-gen entrollte, wird Jeder leicht begreifen. Mit Aexten

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in den Händen, warfen die Hindus sich auf das Steam-House. Alles wurde geplündert, verwüstet und vernich-tet. Von dem Mobiliar des Wagens blieb kein Stückchenganz. Zuletzt vollendete das Feuer die Zerstörung undin wenigen Minuten war Alles, was der letzte Wagenunseres Zuges noch enthielt, durch die Flammen auf-gezehrt.

»O, diese Spitzbuben, diese Schurken!« rief KapitänHod, den mehrere Hindus kaum zu fesseln vermoch-ten.

Er sah sich aber, wie wir Alle, auf unnütze Schimpfre-den beschränkt, welche die Hindus nicht einmal zuverstehen schienen. Denen zu entkommen, die uns be-wachten, daran war gar nicht zu denken.

Die letzten Flammen erloschen; von unserer fahr-baren Pagode, welche die eine Hälfte der Halbinseldurchmessen hatte, war nichts mehr übrig als das un-förmliche Gerippe.

Nun griffen die Hindus den Stahlriesen selbst an, of-fenbar in der Absicht, auch diesen zu zerstören. Hiervermochten sie freilich nichts auszurichten. Weder Axt,noch Feuer konnten dem dicken Stahlpanzer und derMaschine im Innern des künstlichen Elephanten etwasanhaben. Trotz aller Bemühungen blieb dieser unver-sehrt, während Kapitän Hod, halb vor Befriedigung,halb vor Wuth, ein Hurrah nach dem andern rief.

Da trat ein Mann hervor, wahrscheinlich der Anfüh-rer jener Hindus.

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Die ganze Räuberbande sammelte sich sofort umihn. Ein Anderer begleitete ihn. Jetzt wurde alles klar,dieser zweite war unser Führer – es war Kâlagani.

Von Goûmi keine Spur. Der Treue war verschwun-den, der Verräther geblieben. Ohne Zweifel hatte dieAnhänglichkeit des wackeren Dieners an uns diesemdas Leben gekostet und wir sollten ihn nicht wieder se-hen. Kâlagani schritt auf Oberst Munro zu, senkte einwenig die Augen und sagte frostig:

»Dieser ist’s!«Auf ein Zeichen wurde Sir Edward Munro ergriffen,

fortgeschleppt und verschwand in der Mitte der Ban-de, die nach Süden zu abzog, ohne daß es ihm mög-lich gewesen wäre, uns zum letzten Male die Hand zudrücken oder nur ein Lebewohl zu sagen.

Kapitän Hod, Banks, der Sergeant, Fox, kurz wir Alleversuchten zwar, frei zu kommen, um ihn den Händender Hindus zu entreißen.

Vergebens! Fünfzig Arme drückten uns nieder – nocheine Bewegung und wir wären erwürgt worden.

»Leistet keinen Widerstand!« sagte Banks.Der Ingenieur hatte wohl Recht; augenblicklich ver-

mochten wir doch nichts, um den Oberst Munro zu ret-ten; es erschien räthlich, uns zu sichern und die Ent-wickelung der Dinge abzuwarten.

Eine Viertelstunde später ließen die Hindus uns losund zogen den Vorangegangenen nach. Verfolgten wir

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sie, so konnte das eine Katastrophe herbeiführen, oh-ne dem Oberst Munro etwas zu nützen, und wir fühl-ten doch die Verpflichtung, Alles zu seiner Rettung zuversuchen . . .

»Keinen Schritt weiter!« rief Banks.Wir gehorchten ihm.Alles zeigte, daß der Ueberfall jener von Kâlagani

herbeigeführten Hindus nur dem Oberst Munro galt.Welche Absichten mochte der Verräther haben? Aus ei-genem Antrieb konnte er schwerlich handeln. In wes-sen Antrieb aber dann? . . . Mir kam unwillkürlich derName Nana Sahib in den Sinn! . . .

Hier schließt das von Maucler verfaßte Manuscript.Der junge Franzose wohnte den Ereignissen, welchedie Lösung dieses Dramas vorbereiteten, nicht mehrbei. Jene selbst sind aber später bekannt geworden,und wir fügen sie also, zur Vollendung des Berichtesüber diese Reise durch das nördliche Indien, in erzäh-lender Form an.

27. AUGE IN AUGE.

Die Thugs, blutigen Andenkens, von denen Hindo-stan befreit zu sein scheint, haben doch ihrer ganz wür-dige Nachfolger hinterlassen. Es sind das die Dacoits,eine Art verwandelte Thugs. Das gewöhnliche Verfah-ren dieser Uebelthäter hat gewechselt, der Zweck der

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Mordthaten ist ein anderer geworden, aber das endli-che Resultat ist dasselbe geblieben: die überlegte Töd-tung, der Mord. Jetzt handelt es sich nicht mehr dar-um, der wilden Kali, der Todesgöttin ein Opfer zu brin-gen. Wenn diese neueren Fanatiker nicht mehr stran-guliren, so vergiften sie, um zu rauben. Den Würgernsind weitaus praktischere, aber gleichmäßig zu fürch-tende Verbrecher gefolgt.

Die Dacoits, welche in gewissen Gebieten der Halb-insel besondere Banden bilden, nehmen Alles auf, wasdie anglo-indische Justiz an Mördern durch die Ma-schen ihres Netzes schlüpfen läßt. Sie streifen Tag undNacht auf den Landstraßen umher, vorzüglich in denwilden Gegenden, und bekanntlich bietet gerade Bun-delkund die geeignetsten, schwer zugänglichen Plät-ze. Zuweilen vereinigen sich diese Banden zu starkenHaufen, um ein vereinzelt liegendes Dorf zu überfal-len. Da bleibt dessen Bewohnern nichts übrig als dieschleunigste Flucht; wer von ihnen in die Hände derDacoits fällt, dem stehen die entsetzlichsten, ausge-suchtesten Qualen bevor. Hier erwachten die Sagenvon den Mordbrennern des äußersten Westens wiederzum Leben. Wenn man Louis Rousselet glauben darf, so»überbot die List dieser Scheusale, das erbarmungsloseVerfahren derselben Alles, was die phantasiereichstenErzähler jemals erdacht haben«.

In die Gewalt einer solchen, von Kâlagani angeleite-ten Bande Dacoits war der unglückliche Oberst Munro

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gefallen. Ehe er zur Besinnung kommen konnte, wasmit ihm vorging, sah er sich gewaltsam von seinen Ge-fährten getrennt und auf der Straße nach Jubbulporefortgeschleppt.

Kâlagani hatte seit dem Tage, wo er zu den Insas-sen des Steam-Houses in Beziehung trat, nur Verrathgebrütet. Nana Sahib war es, der ihn abgeschickt, dergerade ihn erwählt hatte, seinen Racheplan vorzube-reiten.

Man erinnert sich, daß der Nabab am verwichenen24. Mai in Bhopal, während der letzten Moharum-Feste, zu denen er sich mit Verachtung jeder Gefahrbegeben hatte, von der Abreise Sir Edward Munro’snach den nördlichen Provinzen Indiens Nachricht er-hielt. Auf seinen Befehl verließ damals Kâlagani, ei-ner der seiner Sache und Person am meisten ergebe-nen Hindus, die Stadt Bhopal. Dessen Auftrag lautetedahin, der Spur des Obersten nachzugehen, ihn aufzu-spüren, niemals aus den Augen zu lassen, wenn es nö-thig werden sollte, selbst das Leben zu wagen und sichin die nähere Umgebung des gehaßten Feindes NanaSahib’s einzuschleichen.

Kâlagani war in derselben Stunde aufgebrochen, umnach Norden zu gehen. Schon in Cawnpore gelang esihm, den Zug des Steam-Houses, einzuholen. Seit die-ser Zeit hatte er, ohne sich je sehen zu lassen, auf einegünstige Gelegenheit gewartet, die sich jedoch nichteinstellte. Deshalb entschloß er sich, als Oberst Munro

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nebst seinen Begleitern im Sanatorium des Himalayarastete, einstweilen bei Mathias Van Guitt Dienste zunehmen.

Kâlagani sagte sich, daß zwischen dem Kraal unddem Sanatorium bald ein täglicher Verkehr entstehenmüßte. Das geschah denn auch, und es glückte ihmnebenbei, vom ersten Tage ab nicht nur die besonde-re Aufmerksamkeit Oberst Munro’s zu erregen, son-dern sich auch einen gewissen Anspruch auf dessenErkenntlichkeit zu erwerben.

Damit war für ihn der schwierigste Punkt überwun-den. Das Uebrige ist bekannt. Der Hindu kam sehr häu-fig nach dem Steam-House, er wurde von den weiterenPlänen der Bewohner desselben unterrichtet und er-fuhr, welchen Weg Banks später einzuschlagen gedach-te. Nun beherrschte ihn blos noch der eine Gedanke,womöglich als Führer der Expedition angenommen zuwerden, wenn diese wieder nach dem Süden hinabzog.

Kâlagani versäumte nichts, um dieses Ziel zu errei-chen. Er schrak selbst nicht davor zurück, nicht alleindas Leben der Anderen, sondern auch das eigene auf’sSpiel zu setzen. Wie das zuging, ist schon aus dem Vor-hergehenden bekannt. So kam ihm der Gedanke, daßjeder Verdacht schwinden müsse, wenn er die Expediti-on vom Anfang der Rückreise an, aber immer im Dien-ste Mathias Van Guitt’s, begleitete, und daß ihm OberstMunro vielleicht das selbst anbieten würde, wonach ervor Allem verlangte.

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Um das aber zu erreichen, mußte der Händler erstseiner Zugthiere, der Büffelgespanne, beraubt und da-durch genöthigt werden, die Hilfe des Stahlriesen inAnspruch zu nehmen. So machte er sich den – aller-dings unerwarteten – Ueberfall der Raubthiere zunut-ze. Auf die Gefahr hin, ein entsetzliches Unglück an-zurichten, schob er unbemerkt die Holzriegel zurück,welche das Thor des Kraals verschlossen. Die Tiger undPanther stürzten in die Umzäunung. Die Büffel wur-den zerfleischt oder vertrieben, einige Hindus kamenbei der Affaire um’s Leben, aber – Kâlagani’s Absichtwar erreicht; Mathias Van Guitt sah sich gezwungen,Oberst Munro’s Unterstützung zu erbitten, um mit sei-ner fahrenden Menagerie nach Bombay zu gelangen.

Es wäre in der That schwierig gewesen, in der fastwüsten Gegend des Himalaya neue Gespanne zu be-schaffen; der Sicherheit halber unternahm es Kâlaga-ni aber selbst, sich scheinbar um die Besorgung neuerZugthiere zu bemühen. Natürlich waren seine Bemü-hungen fruchtlos, und so mußte Mathias Van Guitt mitseinem Personal und der Menagerie im Schlepptau desStahlriesen bis zur Station Etawah ziehen.

Von da aus sollte der Weitertransport der ganzenWaare des Händlers auf der Eisenbahn erfolgen. Diejetzt überflüssig gewordenen Chikaris wurden entlas-sen und Kâlagani sollte ebenfalls verabschiedet wer-den. Da gab er sich den Anschein, als sei er sehr in Ver-legenheit, was er nun beginnen sollte. Banks ließ sich

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dadurch täuschen. Er sagte sich, daß der intelligentediensteifrige Hindu ihnen mit seiner genauen Kenntnißgerade dieses Theiles von Indien werde von großemNutzen sein können, bot ihm daher an, bis Bombayden Dienst als Führer zu versehen, und von demselbenTage ab lag das Schicksal der Expedition in Kâlagani’sHand.

Noch ließ nichts in dem Hindu, der sich stets zu je-dem Opfer bereit zeigte, einen niedrigen Verrath ver-muthen.

Nur einmal war Kâlagani daran, sich eine Blöße zugeben, damals nämlich, als Banks gegen ihn von Na-na Sahib’s Tode sprach. Er machte unwillkürlich eineGeste und schüttelte den Kopf wie Einer, der an dasGehörte nicht glauben kann. Dasselbe hätte aber je-der Hindu gethan, dem der sagenhafte Nabab als einesjener übernatürlichen Wesen gilt, die der Tod nicht er-reichen kann. Ob Kâlagani diese Nachricht bei der –übrigens nicht zufälligen – Begegnung mit einem altenKameraden unter der Karawane von Banjaris bestätigtwurde, weiß man zwar nicht, gewiß erhielt er aber ver-läßliche Auskunft.

Jedenfalls gab der Verräther seine abscheulichen Ab-sichten niemals auf, als wolle er die Projecte des Nababnun selbst zur Ausführung bringen.

So setzte das Steam-House seinen Weg quer durchdie Schluchten der Vindhyas fort und gelangte untervielfachen, dem Leser bekannten Zwischenfällen nach

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dem Ufer des Puturia-Sees, auf dem es vorläufig Zu-flucht suchen mußte. Als Kâlagani hier unter dem Vor-wande, nach Jubbulpore zu gehen, den schwimmen-den Train verlassen wollte, ließ er sich zum erstenMale durchschauen. So sehr er sich sonst zu bemei-stern wußte, hatte eine einfache physiologische Er-scheinung, die der Aufmerksamkeit des Obersten nichtentgehen konnte, gegen ihn Verdacht erweckt, und wirwissen jetzt, daß dieser nur zu sehr begründet war.

Man ließ ihn aufbrechen, gab ihm aber Goûmi zurBegleitung. Beide sprangen in’s Wasser und erreichtennach einer Stunde das südöstliche Ufer des Puturia.

Darauf gingen sie nebeneinander durch die dunkleNacht dahin, der Eine den Anderen scharf beobach-tend, während der Zweite das nicht vermuthete. Bis-her war der Vortheil auf Seiten Goûmi’s, dieses zweitenMac Neil des Oberst Munro.

Drei volle Stunden marschirten die beiden Hindusauf der Landstraße hin, welche die südlichen Abhängeder Vindhyas durchschneidet und bei der Station Jub-bulpore mündet. Auf dem Lande war der Nebel beiwei-tem dünner als auf dem Wasser. Goûmi behielt seinenBegleiter scharf im Auge. Im Gürtel trug er ein tüchti-ges Messer. Bei der ersten verdächtigen Bewegung warer entschlossen, sich auf Kâlagani zu stürzen und die-sen mindestens unschädlich zu machen. Leider behieltder treue Hindu nicht Zeit genug, seinen Vorsatz aus-zuführen.

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Die mondlose Nacht war tiefdunkel. Auf die Entfer-nung von zwanzig Schritten hätte man einen dahinge-henden Menschen nicht erkennen können.

Da erscholl plötzlich an einer Mündung der Straßeeine Stimme, welche Kâlagani anrief.

»Hier, Nassim!« antwortete der Hindu.Gleichzeitig ertönte zur Linken der Straße ein schar-

fer, sonderbarer Schrei.Das war der »Kisri« (das Kriegsgeschrei) der wilden

Stämme von Goudwana, den Goûmi nur zu gut kannte.Die Ueberraschung hatte Goûmi’s Arm gelähmt. Was

hätte er auch, wenn er Kâlagani erdolchte, gegen einenganzen Haufen Hindus ausrichten können, den jenerKriegsruf herbeilocken mußte? Eine düstere Ahnungmahnte ihn zu fliehen, um wenigstens die drohendeGefahr zu melden.

Goûmi zauderte keinen Augenblick. Als Kâlagani mitjenem Nassim zusammentraf, der ihn angerufen hatte,sprang er zur Seite und verschwand in den Dschungelnneben der Straße.

Und als Kâlagani mit seinen Kameraden zurückkam,in der Absicht, sich des Begleiters, den Oberst Munroihm aufgedrungen, zu entledigen, da war Goûmi nichtmehr zur Stelle.

Nassim, der Anführer einer der Sache Nana Sahib’sergebenen Bande Dacoits, schickte sofort seine Leuteaus, um den Entschwundenen zu suchen. Er wollte umjeden Preis den muthigen Diener wieder erlangen, der

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ihm entflohen war. Alle Nachforschungen aber erwie-sen sich fruchtlos. Ob Goûmi nur durch die Finsternißgeschützt wurde, oder in irgend welchem Schlupfwin-kel Schutz gefunden hatte, jedenfalls mußten die Stra-ßenräuber darauf verzichten, ihn wiederzufinden.

Was hatten die Dacoits von Goûmi übrigens zu be-fürchten, der in dieser wilden Gegend auf sich ange-wiesen und jetzt drei volle Stunden vom Puturia ent-fernt war, den er doch vor ihnen auf keinen Fall errei-chen konnte?

Kâlagani traf danach seine Maßnahmen. Er verhan-delte einen Augenblick mit dem Führer der Dacoits,der seine Befehle zu erwarten schien. Dann machtenAlle Kehrt und wandten sich schnellen Schrittes demPuturia zu.

Wenn diese Horde jetzt die Schlupfwinkel in denVindhyas, wo sie seit einiger Zeit hauste, verlassen hat-te, so lag der Grund darin, daß ihnen Kâlagani diedemnächstige Ankunft des Oberst Munro in der Um-gebung des Puturia-Sees gemeldet hatte. Durch wenaber? Eben durch jenen Hindu, der kein Anderer alsNassim war und seinerzeit der Karawane der Banjarisfolgte. Und wem hatte er das gemeldet? Dem, dessenHand im Verborgenen alle diese Vorgänge leitete.

Was schon geschehen und was noch geschah, war inder That das Resultat eines wohldurchdachten Planes,dem Oberst Munro und seine Begleiter zum Opfer fal-len mußten. In Folge dessen konnten die Dacoits auch,

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als der Train an das Südufer des Sees stieß, denselbenunter Anführung Nassim’s und Kâlagani’s überfallen.

Der ganze Anschlag galt indeß nur dem Oberst Mun-ro allein. Seine Begleiter waren ja in diesem trostlo-sen Landstriche nach Zerstörung ihres letzten Wagensnicht weiter zu fürchten. Er wurde also fortgeschlepptund befand sich um sieben Uhr Morgens schon sechsMeilen vom Puturia-See.

Man durfte wohl kaum annehmen, daß Oberst Mun-ro von Kâlagani nach der Station Jubbulpore gebrachtwerden würde. Jener sagte sich auch selbst, daß eraus dem Gebiete der Vindhyas schwerlich herauskom-men und, einmal in der Macht seiner Todfeinde, diesenkaum jemals wieder entrinnen werde.

Sein kaltes Blut hatte der nie verzagende Mann abernie verloren. Er schritt, bereit auf Alles, was nur ge-schehen konnte, inmitten der wilden Hindus dahin undstellte sich, als ob er Kâlagani überhaupt nicht sehe.Der Verräther marschirte an der Spitze der Truppe, de-ren Anführer er in der That zu sein schien. An Fluchtwar nicht zu denken. Gefesselt wurde Oberst Munrozwar nicht, er sah aber auch weder vorn noch hinten,ebensowenig an den Seiten eine Lücke in der Escor-te, durch die er hätte entschlüpfen können. Uebrigensmußte er ja auch im ersten Augenblicke wieder ein-gefangen werden. Er vergegenwärtigte sich nun seineLage mit allen möglichen Folgen derselben. Daß Nana

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Sahib bei dem ganzen Vorgange seine Hand im Spie-le habe, konnte gerade er nicht glauben, da für ihnder Nabab als todt galt. Irgend ein Waffengefährte desalten Rebellenführers aber, z. B. Balao Rao, konnte jawohl vom Hasse getrieben werden, den Racheplan aus-zuführen, dem sein Bruder das ganze Leben geweihthatte. Sir Edward Munro fühlte, daß es sich hierbei umetwas dergleichen handle.

Dabei dachte er auch an den armen Goûmi, den ernicht als Gefangenen der Dacoits sah. Vielleicht wares ihm ja gelungen, zu entfliehen, wahrscheinlich aberhatte er den Tod gefunden. Doch selbst wenn er heilund gesund geblieben, war auf Hilfe von seiner Seiteschwerlich zu rechnen.

Wenn Goûmi nämlich, um Unterstützung zu holen,bis zur Station Jubbulpore gelaufen war, so kam er da-mit zu spät.

Hatte er dagegen Banks und die Anderen am Süden-de des Sees wieder zu finden gesucht, so konnten dochauch diese wegen Mangels an Munition nichts ausrich-ten. Sie beeilten sich vielleicht selbst, schnell nach Jub-bulpore zu kommen, . . . bevor sie das aber erreich-ten, war der Gefangene längst nach irgend einem un-zugänglichen Schlupfwinkel in den Vindhyas gebrachtworden.

Nach dieser Seite hin mußte er also jede Hoffnungaufgeben.

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Oberst Munro betrachtete die Sachlage mit ruhigemBlicke. Er verzweifelte nicht, er war nicht der Mann da-zu, sich gänzlich niederbeugen zu lassen, aber er liebtees, die Sachen nüchtern zu betrachten, statt sich einerunbegründeten Illusion hinzugeben, was seiner nichtwürdig schien.

Die Horde Hindus marschirte mit größter Geschwin-digkeit. Nassim und Kâlagani strebten offenbar da-nach, vor Sonnenuntergang an einer vorherbestimm-ten Stelle anzulangen, wo sich das Los des Oberstenentscheiden sollte. Wenn der Verräther Eile hatte, sowünschte auch Sir Edward Munro ein Ende zu sehen,ganz gleichgiltig, welches das Schicksal ihm bestimmthätte.

Nur einmal gegen Mittag ließ Kâlagani eine halbeStunde Halt machen. Die Dacoits führten Lebensmittelmit sich und begannen am Ufer eines kleinen Bacheszu essen.

Auch dem Oberst wurde etwas Brot und ein weniggetrocknetes Fleisch vorgelegt, was dieser nicht ab-wies. Er hatte seit dem vorigen Tage nichts genossenund wollte seinen Feinden nicht die Freude gönnen,ihn vielleicht in der letzten Stunde körperlich schwachzu sehen.

Bis hierher waren schon sechzehn Meilen unter for-cirtem Marsche zurückgelegt worden. Auf Kâlagani’sBefehl setzte sich Alles wieder in Bewegung und zoggegen Jubbulpore weiter.

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Erst gegen fünf Uhr Nachmittags verließen dieDacoits die Landstraße und bogen von derselben nachlinks ab. Wenn Oberst Munro auf jenem Hauptwegenoch einen Schimmer von Hoffnung hegen konnte, sosah er nun wohl ein, daß sein Geschick nur in den Hän-den Gottes lag.

Eine Viertelstunde später durchschritten Kâlaganiund seine Begleiter einen Engpaß, der, nach dem wil-desten Theile von Bundelkund zu, den Ausgang desNerbudda-Thales bildete.

Diese Stelle lag etwa hundertfünfzig Kilometer vondem Pal von Tandit, im Osten jener Sautpourra-Berge,die man als die westliche Fortsetzung der Vindhyas an-sehen kann.

Da erhob sich auf einem der letzten Bergausläuferdie alte Veste Ripore, seit langer Zeit schon aufgege-ben, weil sie, wenn die westlichen Engpässe von ei-nem Feinde gesperrt wurden, auf keine Weise mehrmit Proviant und Schießbedarf versorgt werden konn-te. Das Fort thronte auf einem der letzten Vorsprün-ge der Bergkette, einer Art natürlichem Sägewerk (einzickzackförmig verlaufender Wall), von etwa fünfhun-dert Fuß Höhe und hing über eine größere Erweite-rung des Passes, in der Mitte der benachbarten Berg-züge heraus. Man konnte nach demselben nur auf ei-nem schmalen, in vielen Krümmungen am Felsen em-porsteigenden Wege gelangen, der kaum für Fußgän-ger zugänglich war.

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Auf der Kuppe des Berges lagen noch einige halbabgetragene Courtinen und einige Bastionen in Trüm-mern. Mitten auf einem freien Platz, den ein Steinge-länder gegen den Abgrund zu umschloß, erhob sichnoch ein verfallenes Gebäude, früher die Kaserne derkleinen Garnison von Ripore, das man jetzt kaum nochals Stall verwandt hätte.

Von allen Geschützen, welche sonst mit ihren dro-henden Mündungen durch die Schießscharten der Au-ßenmauer lugten, war nur noch ein einziges, jetzt nachinnen gerichtet, übrig, eine Kanone, die zu schwer war,um ohne große Mühe weggeschafft zu werden, undin zu schlechtem Zustande, um ihr einen besonderenWerth beizumessen. So stand sie verlassen noch aufder riesigen Lafette und der Rost nagte langsam andem eisernen Rohre. Sie bildete übrigens ihrer Grö-ße und Dicke nach ein würdiges Seitenstück der be-rühmten Bronzekanone von Bhilsa, jenes ungeheurenGeschützes von sechs Metern Rohrlänge und einem Ka-liber von vierundvierzig Centimetern, das zur Zeit Je-hanghir’s gegossen worden war. Auch hätte man siemit der nicht minder bekannten Kanone von Bidjapourvergleichen können, deren Donner, nach Aussage derEingebornen, alle Bauwerke der Stadt in ihren Grund-vesten erschütterte.

Diesen Anblick also bot die Veste von Ripore, wohinder Gefangene durch Kâlagani’s Spießgesellen geführtwurde. Es war um sechs Uhr Abends, als er daselbst,

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nach einem Marsche von fünfundzwanzig Meilen, an-langte.

Oberst Munro sollte nicht lange darüber im Zweifelbleiben, welchem seiner Feinde er hier entgegentretensollte.

Das verfallene Gebäude auf dem Platze diente nocheiner Abtheilung Hindus als Wohnstätte. Als die neuangekommenen Dacoits längs der äußeren Mauer sichkreisförmig aufgestellt, traten jene aus dem Hause her-vor.

Oberst Munro stand in der Mitte und wartete ruhigmit gekreuzten Armen.

Kâlagani trat aus der Menge hervor und ging denAnderen einige Schritte entgegen.

Ein einfach gekleideter Hindu erschien an der Spitzeder Abtheilung.

Kâlagani blieb vor diesem stehen und verneigte sich.Der Hindu reichte ihm die Hand, welche er voll Ehr-furcht küßte. Ein Zeichen mit dem Kopfe bedeuteteihm, daß man mit seinen Diensten zufrieden war.

Dann schritt der Hindu auf den Gefangenen zu, lang-sam zwar, aber mit flammenden Augen und allen Zei-chen einer kaum verhaltenen Wuth. Man hätte ge-glaubt, ein Raubthier schleiche sich nach seiner Beute.

Oberst Munro ließ jenen nahe kommen, ohne einenSchritt zurückzuweichen und fixirte denselben ebensoscharf, wie dieser den Gefangenen.

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Jetzt war der Hindu nur noch fünf Schritte von ihmentfernt.

»Es ist blos Balao Rao, der Bruder des Nabab! sagteder Oberst mit verächtlichem Tone.

– Sieh mich besser an! entgegnete der Hindu.– Nana Sahib! rief Oberst Munro, unwillkürlich zu-

rückschreckend. Nana Sahib am Leben! . . . «Ja wohl, der Nabab selbst, der alte Rebellenführer im

Aufstand der Sipahis, der unversöhnliche Feind Mun-ro’s.

Bei dem Gefechte in der Nähe des Pals von Tanditwar nur sein Bruder Balao Rao gefallen.

Die außergewöhnliche Aehnlichkeit der zwei Män-ner, die beide ein pockennarbiges Gesicht und den-selben Finger der nämlichen Hand amputirt hatten,täuschte damals die Soldaten von Luknow und Khan-pur. Sie erkannten den Nabab in der Leiche seines Bru-ders, eine Verwechslung, die wohl Jedem passirt wäre.Als den Behörden damals also der Tod des Nabab ge-meldet wurde, lebte Nana Sahib noch, nur Balao Raowar nicht mehr.

Diesen Umstand wußte sich Nana Sahib zunutze zumachen; er gewährte ihm ja eine fast absolute Sicher-heit. Seinem Bruder wurde von der englischen Polizeigar nicht mit größerem Eifer nachgespürt. Die Greu-elthaten von Khanpur legte man diesem ja nicht zurLast und er besaß auf die Hindus Central-Indiens auchnicht den verderblichen Einfluß, wie der Nabab.

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Als Nana Sahib aber sich so hitzig verfolgt sah, be-schloß, er so lange die Rolle eines Todten zu spielen,bis sich die passende Gelegenheit böte, wieder han-delnd aufzutreten: er verzichtete also vorläufig auf allerevolutionären Pläne und brütete allein darüber, wieer sich selbst rächen könne. Noch niemals lagen dieVerhältnisse dafür günstiger. Oberst Munro, den seineSendboten fortwährend überwachten, hatte sich vonCalcutta auf eine Reise begeben, die ihn nach Bombayführen sollte. War es da nicht möglich, ihn in das Ge-biet der Vindhyas durch die Provinzen von Bundelkundzu locken? Nana Sahib setzte das voraus und schick-te daher den getreuen Kâlagani zur Ausführung diesesPlanes ab.

Der Nabab verließ bald den Pal von Tandit, der ihmnicht mehr sicher genug schien, und drang weiter indas Nerbudda-Thal bis zu den letzten Schluchten derVindhyas ein. Da lag die Festung Ripore, die ihm aufden ersten Blick als geeigneter Zufluchtsort erschien,in dem die Behörden Den, welchen sie für todt hielten,schwerlich austreiben würden.

Nana Sahib zog sich also mit einigen, seiner Personergebenen Hindus hierher zurück, erhielt bald Verstär-kung durch eine Gesellschaft Dacoits, Gesellen, welchewürdig waren, unter einem solchen Führer zu dienen,und wartete nun den Lauf der Dinge ab.

Auf was wartete er seit vier Monaten? Einzig dar-auf, daß Kâlagani seinen Auftrag durchführen und ihm

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die baldige Ankunft des Oberst Munro in den Vindhyasanmelden sollte, wo jener unter seine Gewalt kam.

Nur einer Befürchtung konnte Nana Sahib sich nichtganz entschlagen. Wenn die über die ganze Halbinselverbreitete Kunde von seinem Tode auch zu Kâlagani’sOhren drang und dieser der Nachricht Glauben schenk-te, konnte es ihn ja leicht veranlassen, auf sein Ver-rätherwerk gegenüber Oberst Munro zu verzichten.

Aus diesem Grunde sendete er noch einen anderenHindu auf der Hauptstraße nach Bundelkund hin, ebenjenen Nassim, der dem Steam-House auf dem Wegedurch Scindia unter der Banjari-Karawane begegnete,sich in Verbindung mit Kâlagani zu setzen wußte unddiesen über den wahren Sachverhalt aufklärte.

Nassim kehrte unmittelbar darauf nach der Veste Ri-pore zurück und theilte Nana Sahib Alles mit, was sichseit Kâlagani’s Abreise aus Bhopal zugetragen hatte.Oberst Munro und seine Begleiter fuhren unter Kâla-gani’s Führung in kleineren Tagereisen durch die Vind-hyas, und am Puturia-See sollte man sie erwarten.

Alles war dem Nabab nach Wunsch gegangen. DerTag der Rache kam heran.

Heut’ Abend stand nun Oberst Munro allein, ohneWaffen, vor ihm.

Nach den ersten rasch gewechselten Worten sahensich die beiden Männer scharf in’s Gesicht, ohne nureine Silbe zu sprechen.

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Da, als dem Oberst plötzlich das Bild der Lady Mun-ro recht lebhaft vor Augen trat, stürmte ihm das Blutheftig aus dem Herzen zum Kopfe – er wollte sich aufden Mörder der Opfer von Khanpur stürzen . . .

Nana Sahib trat nur einige Schritte zurück.Drei Hindus fielen über den Oberst her und bändig-

ten ihn, wenn auch mit großer Mühe.Inzwischen hatte Sir Edward Munro die Herrschaft

wieder über sich selbst gewonnen. Der Nabab erkann-te das offenbar, denn er winkte den Hindus von ihmabzulassen.

Die beiden Feinde standen sich nun Auge in Augegegenüber.

»Deine Landsleute, Munro, begann Nana Sahib, ha-ben die hundertzwanzig Gefangenen von Peschawarvor die Mündungen ihrer Kanonen gebunden, und seitjenem Tage sind über zwölfhundert Sipahis desselbenentsetzlichen Todes gestorben! Deine Landsleute met-zelten ohne Schonung die Flüchtlinge von Lahore nie-der, erdrosselten nach der Einnahme von Delhi dreiFürsten und neunundzwanzig andere Mitglieder derköniglichen Familie; sie haben in Laknau sechstausendder Unsrigen und dreitausend nach dem Feldzuge imPendschab gemordet! Alles in Allem sind durch die Ka-none, die Flinte, den Galgen und das Schwert hun-dertzwanzigtausend Officiere und Soldaten der Natifs-Armee und zweihunderttausend Eingeborne von Euch

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wegen jener Erhebung für unsere nationale Unabhän-gigkeit grausam hingeopfert worden!

– Zum Tode mit ihm! Zum Tode!« riefen die Dacoitsund die Hindus, welche Nana Sahib umringten.

Der Nabab gebot ihnen Stillschweigen und wartete,daß Oberst Munro ihm antworten sollte.

Der Oberst erwiderte nichts.»Du selbst, Munro, fuhr der Nabab fort, hast mit ei-

gener Hand die Rani von Jansi, meine treue Gefährtin,getödtet . . . und sie ist noch nicht gerächt!«

Oberst Munro schwieg auch hierauf still.»Endlich ist vor vier Monaten, sagte Nana Sahib,

mein Bruder Balao Rao unter den mir bestimmten Ku-geln gefallen . . . und mein Bruder ist noch nicht ge-rächt!

– Zum Tode! Zum Tode mit ihm!«Die Rufe erklangen lauter als vorher und die ganze

Horde schien nicht übel Lust zu haben, über den Ge-fangenen herzufallen.

»Ruhe! rief Nana Sahib, erwartet die Stunde des Ge-richts!«

Alle schwiegen.»Es war, nahm der Nabab wieder das Wort, einer

Deiner Vorfahren, Munro, jener Hektor Munro, der zu-erst jene gräßliche Strafe ersann und vollstrecken ließ,von der Deine Landsleute im Kriege von 1857 einenso schamlos schrecklichen Gebrauch gemacht haben.Er ließ schon früher viele Hindus, unsere Väter, unsere

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Brüder, lebend vor die Mündungen der Kanonen bin-den . . . «

Wieder brach ein Sturm des Unwillens in der blutgie-rigen Menge los, den Nana Sahib kaum zu besänftigenvermochte.

»Auge um Auge! Zahn um Zahn! sagte er. Du wirstdenselben Tod erleiden, Munro, wie so viele der Unsri-gen!«

Darauf drehte er sich um.»Sieh hier diese Kanone!«Der Nabab wies dabei nach dem gewaltigen, fünf

Meter langen Geschütz, das mitten auf dem Platzestand.

»Man wird Dich, fuhr er fort, vor die Mündung dieserKanone binden! Sie ist geladen, und morgen mit Son-nenaufgang wird ihr Donner, wenn er in den tiefstenGründen der Vindhyas widerhallt, Allen verkünden,daß Nana Sahib’s Rachedurst endlich gelöscht ist!«

Oberst Munro sah den Nabab fest, aber mit einer Ru-he an, welche auch die Ankündigung seines nahen To-des nicht zu erschüttern vermochte.

»Gut, erwiderte er, Du thust nur, was ich gethan hät-te, wenn Du in meine Hände gefallen wärst!«

Darauf stellte sich Oberst Munro freiwillig vor dieMündung des Geschützes, wo er mit auf dem Rückengebundenen Händen mittelst starker Stricke angebun-den wurde.

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Noch lange Zeit nachher schmähten und schimpf-ten ihn die erbärmlichen Dacoits und Hindus – als obSioux-Indianer in Nordamerika einen zum Tode Verurt-heilten noch am Richtpfahl zu peinigen suchten.

Mit einbrechender Nacht verschwanden Nana Sahib,Kâlagani und Nassim in der alten Kaserne. Ermüdetverließ auch die übrige Bande allmählich den Platz undfolgte ihren Führern nach.

Den Tod und den allmächtigen Gott vor Augen, bliebSir Edward Munro allein zurück.

28. VOR DER MÜNDUNG DER KANONE.

Die eingetretene Ruhe dauerte nicht lange an. DieDacoits hatten sich zum Abendessen versammelt, unddabei hörte man sie unter der Wirkung des starkenAraks, dem sie unmäßig zusprachen, laut durcheinan-der schreien und rufen.

Nach und nach legte sich der Höllenlärm. Der Schlafübermannte die rohen Gesellen, welche schon der star-ke Tagesmarsch ermüdet hatte.

Sir Edward Munro fragte sich, ob man ihn bis zurStunde seiner Todes unbewacht lassen und ob Na-na Sahib nicht einen Getreuen zu seiner Beaufsichti-gung heraussenden werde, obwohl er, mit dreifachenStricken fest umwunden, gänzlich außer Stande war,sich nur im geringsten zu rühren.

Da trat gegen acht Uhr ein Hindu aus der Kaserneund schritt über den Platz hin.

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Ihm war der Auftrag ertheilt worden, die Nacht überin Oberst Munro’s Nähe zu bleiben.

Zuerst ging er schräg über den freien Platz auf dieKanone zu, um sich von der Anwesenheit des Gefan-genen zu überzeugen, und prüfte die Stricke, welchefest angezogen waren, mit kräftiger Hand. Ohne sichan den Oberst selbst zu wenden, begann er ein kurzesSelbstgespräch.

»Zehn Pfund gutes Pulver! murmelte er. Es ist langeher, daß die alte Kanone von Ripore den Mund auf-gethan hat, aber morgen wird sie ihre Stimme hörenlassen! . . . «

Diese Bemerkung lockte auf den stolzen ZügenOberst Munro’s nur ein verächtliches Lächeln hervor.Der Tod, auch in seiner entsetzlichsten Gestalt, konnteihn nicht erschrecken.

Nachdem der Hindu die Mündung der Kanone be-sichtigt, trat er ein wenig zurück, strich mit der Handüber das dicke Bodenstück derselben und sein Fingerlag einen Augenblick auf dem Zündloch, das mit Pulvervöllig ausgefüllt war.

Der Hindu lehnte sich gegen den Knopf der Schwanz-schraube. Er schien den Gefangenen ganz vergessen zuhaben, der geduldig dastand wie ein Verurtheilter amFuße des Galgens, unter dem die Fallthüre sich öffnensoll.

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Ob aus Gleichgiltigkeit oder in Folge des genossenenAraks mag dahingestellt bleiben, begann der Hindu ei-ne alte Volksweise aus Goundwana leise zu trällern. Ermachte dabei Pausen und fing von Neuem an, wie Ei-ner, der in halbtrunkenem Zustande seine Gedankennicht zu sammeln vermag.

Eine Viertelstunde später erhob er sich wieder undstrich mit der Hand über das Rohr der Kanone hin.Hierauf ging er um dieselbe herum, machte vor demOberst Munro Halt und murmelte, diesen ansehend,einige unverständliche Worte.

Wie instinctmäßig befühlte er noch einmal dieStricke, als wollte er sie noch fester anziehen; dannwarf er den Kopf zurück, als wolle er sagen, daß hierAlles in Ordnung sei, und lehnte sich, zehn Schritte zurLinken des Geschützes, nachlässig an die Brustwehr.

Zehn Minuten lang verharrte der Hindu in dersel-ben Stellung, wobei er manchmal den Platz überblick-te und manchmal sich hinausbog und in den Abgrundstarrte, der vor der Festung gähnte.

Offenbar bemühte sich derselbe nach Kräften, nichtin Schlaf zu sinken. Endlich erlag er aber doch der Er-schöpfung, glitt auf die Erde nieder und streckte sichneben der Brustwehr aus, wo er im tieferen Schattengar nicht zu sehen war.

Uebrigens lagerte rings schon tiefes Dunkel. AmHimmel standen unbeweglich dicke Wolken. Die Luft

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war so ruhig, als ob deren Moleküle miteinander ver-löthet wären. Vom Thale drang kein Geräusch bis indiese Höhe. Ringsum herrschte vollkommene Stille.

Wenn das eine Nacht voll Todesangst für den OberstMunro sein sollte, so muß man ihm zur Ehre sagen,daß er kaum einen Augenblick an die letzte Secundeseines Lebens dachte, wo die gewaltsam zerrissenenGewebe des Leibes und seine verstümmelten Gliederweithin zerstreut werden sollten. Es handelte sich janur um einen Blitzschlag, und diese Aussicht war nichtdazu angethan, eine Natur wie die seinige, welche vornichts zurückbebte, allzusehr zu erregen. Nur wenigeStunden hatte er noch zu leben – der Rest eines Er-dendaseins, das sich einst für ihn so glücklich gestaltethatte. Sein ganzes Leben spiegelte sich in scharfen Bil-dern noch einmal in ihm wieder, die ganze Vergangen-heit trat lebhaft vor seine Augen.

Das Bild der Lady Munro stand wieder vor ihm. Ersah, er hörte sie, die Unglückliche, die er nicht mit denAugen, aber mit den Herzen beweinte, wie in den er-sten Tagen. Er fand noch einmal das junge Mädchenin jener schrecklichen Stadt Khanpur, in der Wohnung,wo er sie zuerst gesehen, bewundert, geliebt hatte. Diewenigen glückseligen Jahre, denen die entsetzlichstealler Katastrophen ein jähes Ende machte, lebten inseinem Geiste wieder auf. Schon war die halbe Nachtverstrichen, ohne daß Sir Edward Munro es gewahrwurde. Er hatte ganz im Andenken an sein Weib da

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unten gelebt, ohne daß ihn etwas davon abzuwendenvermochte. In drei Stunden drängten sich drei Jahreder glücklichen Vereinigung mit ihr zusammen. Ja, diePhantasie hatte ihn unwiderstehlich von diesem Pla-teau von Ripore hinweggetragen, ihn von der Mün-dung der Kanone befreit, welche sozusagen der ersteSonnenstrahl abfeuern sollte! Da erschien ihm aberder entsetzliche Ausgang der Belagerung von Khanpur,die Einsperrung der Lady Munro und ihrer Mutter indem Bibi-Ghar, die Niedermetzelung ihrer unglückli-chen Gefährten und endlich der Brunnenschacht, dasGrab jener zweihundert Opfer, an dem er vier Monatevorher, zum letzten Male geweint hatte.

Und hier, wenige Schritte von ihm, hauste derscheußliche Nana Sahib, der Mörder Lady Munro’s undso vieler anderer bejammernswerther Opfer! In seineHand mußte er fallen, der danach gelechzt hatte, Ge-rechtigkeit zu üben an dem Scheusal, das dem Gesetzeunerreichbar geblieben war. In einer Aufwallung blin-den Zornes machte Oberst Munro eine Anstrengung,seine Fesseln zu brechen. Vergebens – die Stricke wi-derstanden und schnitten ihm nur in’s Fleisch ein. Erstieß einen kurzen Schrei aus, aber nicht vor Schmerz,sondern vor Wuth.

Auf diesen Schrei erhob der im Schatten der Brust-wehr liegende Hindu den Kopf und sammelte wiederseine Gedanken. Er erinnerte sich wohl, daß er denGefangenen bewachen sollte. So erhob er sich, schritt

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vorsichtig auf Oberst Munro zu, legte diesem, wie umsich zu vergewissern, daß er noch da sei, die Hand aufdie Schulter und sagte mit noch schlaftrunkener Stim-me:

»Morgen, mit Sonnenaufgang . . . Bum!«Dann kehrte er nach der Brustwehr zurück, um

einen bequemen Platz zu suchen, legte sich wieder aufdie Erde nieder und sank bald in tiefen Schlummer.

Nach jener vergeblichen Anstrengung wurde derOberst auffallend ruhig. Seine Gedanken nahmen wie-der eine andere Richtung an und er vergaß ganz dasLos, das seiner harrte. In Folge einer ganz natürlichenIdeenverbindung erinnerte er sich jetzt seiner Freun-de, seiner Gefährten. Er fragte sich, ob sie vielleichteiner anderen Dacoits-Bande, wie solche zahlreich dieVindhyas durchstreifen, in die Hände gefallen seien, obsie wohl dasselbe Geschick wie ihn ereilen sollte – unddieser Gedanke schnürte ihm das Herz zusammen.

Und doch sagte er sich gleichzeitig, daß dies nichtder Fall sein könne. Hätte der Nabab ihren Untergangbeschlossen gehabt, so würde er Alle gleichmäßig ver-urtheilt und hingerichtet haben. Es hätte ja ganz sei-nem Charakter entsprochen, ihm die Todesangst durchdie seiner Freunde zu vermehren. Nein, nein! Nur ihm– das bemühte er sich zu glauben, ihm allein galt derHaß und die Rache Nana Sahib’s.

Was mochten aber Banks, Kapitän Hod, Maucler unddie Uebrigen, wenn sie sich auf freiem Fuße befanden,

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wohl beginnen! Sollten sie die Straße nach Jubbulpo-re eingeschlagen haben, auf welcher sie der Stahlrie-se, den die Dacoits nicht zu zertrümmern vermoch-ten, schnell weiter befördern konnte! Dort mußten sieHilfe finden. Doch, was hätte das nützen sollen? Wiehätten sie wissen können, wo Oberst Munro sich jetztbefand? Niemand dachte gewiß an die Veste von Ri-pore, den Schlupfwinkel Nana Sahib’s. Ja, wie konnteihnen überhaupt dessen Name in den Sinn kommen?War Nana Sahib denn nicht todt für sie? War er nichtbei dem Gefechte neben dem Pal von Tandit gefallen?Nein, sie waren außer Stande, für den Gefangenen et-was zu thun.

Von Seiten Goûmi’s war ebenso wenig etwas zu er-warten. Kâlagani mußte ja Alles daran liegen, sich die-ses treuen Dieners zu entledigen, und wenn Goûminicht wieder erschienen war, so hatte er sicher schonvor seinem Herrn den Tod erlitten.

Es erschien ebenso unnütz, an irgend ein anderesMittel zur Rettung zu denken. Oberst Munro gab sichnicht gern Illusionen hin. Er sah die Sachen an, wiesie lagen, und wandte seine Gedanken wieder jenenglücklichen Tagen zu, die sein ganzes Herz erfüllten.

Er hätte nicht sagen können, wie viele Stunden langer so träumte. Noch war es dunkle Nacht. Auf den Gip-feln der Berge im Osten erschien noch kein Schimmer,der den kommenden Tag verkündet hätte.

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Es mochte indeß gegen vier Uhr Morgens sein, alsdem Oberst Munro eine eigenthümliche Erscheinungauffiel. Bis jetzt, während dieser Rückkehr in sein frü-heres Leben, hatte er mehr in sich als um sich geblickt.Die Außenwelt, wovon bei der Finsterniß so wie so nurwenig zu erkennen war, hatte ihn nicht ablenken kön-nen; jetzt richteten sich plötzlich seine Augen nach ei-nem bestimmten Punkte und alle in seiner Erinnerungaufgetauchten Bilder verblaßten vor einer eben so un-erwarteten als unerklärlichen Erscheinung.

Oberst Munro bemerkte, daß er sich auf dem Pla-teau von Ripore nicht allein befand. Am Ende des Fuß-steges, nahe dem Thore, blinkte ein noch ziemlich un-bestimmtes Licht. Es schwankte hin und her, flackerteeinmal auf, drohte dann zu verlöschen und blitzte wie-der heller; als ob es von schwacher, unsicherer Handgehalten würde.

In der gegenwärtigen Lage des Gefangenen konntedas Geringste von größter Bedeutung sein. Er folgtedem Lichtschein also mit den Augen, bemerkte, daßein rußiger Dampf von demselben emporstieg und daßer sich weiter bewegte. Er schloß daraus mit Recht,daß jenes Licht sich nicht in einer feststehenden La-terne befinden könne.

»Einer meiner Freunde, sagte sich Oberst Munro . . .Vielleicht Goûmi! . . . doch nein . . . Er würde kein Lichtbei sich führen, das ihn verrathen müßte . . . Aber wasist das?«

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Die Flamme kam langsam näher. Sie bewegte sichzuerst längs der Mauer der alten Kaserne hin, und SirEdward Munro fürchtete schon, es werde dadurch ei-ner der im Innern schlafenden Hindus geweckt wer-den.

Das geschah jedoch nicht. Die Flamme kam unbe-merkt vorüber. Dann und wann, wenn die Hand, diesie trug, sich fieberhaft bewegte, belebte sie sich undleuchtete in vollem Glanze.

Bald erreichte dieselbe die Mauer der Brustwehr undfolgte dieser nach, wie die irrende Flamme des St.Elmsfeuers in einer Gewitternacht.

Da erst wurde es Oberst Munro möglich, eine ArtGespenst von ganz unbestimmter Form wahrzuneh-men, einen »Schatten«, den jene Flamme geisterhaftbeleuchtete. Das in dieser Weise dahinwandelnde We-sen war mit einem langen, weiten Stück Stoff bedeckt,das den Kopf und die Arme gänzlich verhüllte.

Der Gefangene regte sich nicht. Er hielt den Atheman. Er fürchtete, die Erscheinung zu erschrecken unddie Flamme, deren Schein jene in der Dunkelheit lei-tete, verlöschen zu sehen. Er war ebenso unbeweglichwie das schwere metallene Geschütz, das ihn in seinengewaltigen Rachen zu halten schien.

Das Gespenst glitt inzwischen längs der Brustwehrfort. Konnte es dabei nicht an den Körper des einge-schlafenen Hindu stoßen? Nein, der Hindu lag zur Lin-ken der Kanone, die Erscheinung nahte sich dagegen

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von der rechten Seite, blieb zuweilen stehen und gingdann mit kleinen Schritten weiter.

Endlich kam die Erscheinung so nahe, daß OberstMunro sie deutlicher erkennen konnte.

Es war ein Wesen von mittlerer Größe, deren ganzenKörper ein einziges Stück Stoff vollständig verhüllte.Nur eine Hand sah aus demselben hervor, welche einenbrennenden harzigen Zweig hielt.

»Ein Irrsinniger, der das Lager der Dacoits wahr-scheinlich öfter zu besuchen pflegt, sagte sich OberstMunro, und auf den Niemand besonders Achtunggiebt! O, warum hat er statt des Feuers nicht einenDolch in der Hand! . . . Vielleicht könnte ich? . . . «

Ein Irrsinniger war es zwar nicht, Oberst Munro hat-te aber doch beinahe das Richtige getroffen.

Es war die Wahnsinnige aus dem Nerbudda-Thale,das Geschöpf ohne Bewußtsein, welches seit vier Mo-naten durch die Vindhyas irrte und von den aber-gläubischen Gounds stets ehrfurchtsvoll betrachtet undgastfreundlich aufgenommen wurde. Weder Nana Sa-hib, noch einer seiner Leute wußte, welchen Antheildie »wandelnde Flamme« an dem Ueberfall beim Palvon Tandit gehabt hatte. Sie begegneten ihr so häu-fig in den Berg-Districten von Bundelkund, daß ihreAnwesenheit Niemand auffiel. Schon wiederholt hat-te sie bei ihrer unausgesetzten Wanderung die Schrittenach der Veste von Ripore gelenkt, und Keiner daran

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gedacht, sie von hier zu vertreiben. Der Zufall leite-te sie stets bei den nächtlichen Wanderungen und derZufall führte sie auch in dieser Nacht hierher.

Oberst Munro wußte von der Irrsinnigen bishernichts. Von der »wandelnden Flamme« hatte er nie-mals reden gehört, und doch machte das unbekann-te Wesen, als es näher und näher kam, ihn vielleichtberühren, vielleicht ansprechen konnte, sein Herz hef-tiger schlagen.

Allmählich näherte sich die Wahnsinnige der Kano-ne. Ihr Harzzweig verbreitete nur einen schwachenSchimmer und sie schien den Gefangenen gar nicht zusehen, obwohl sie jetzt gerade vor ihm stand und ihreAugen hinter der Hülle, welche Oeffnungen hatte wiedie Kutte eines bußfertigen Sünders, fast sichtbar wa-ren.

Sir Edward Munro sprach kein Wort. Weder durcheine Bewegung des Kopfes, noch durch einen Laut ver-suchte er die Aufmerksamkeit der fremdartigen Er-scheinung auf sich zu lenken.

Sie kehrte auch bald zurück und umschritt die ge-waltige Kanone, auf deren Oberfläche ihr Harzbrandkleine Lichterchen hintanzen ließ.

Begriff die Wahnsinnige wohl, wozu diese einem Un-geheuer ähnliche Kanone dienen sollte, warum jenerMann an deren Mündung gefesselt war, welche mitdem ersten Sonnenstrahl Blitz und Donner speien soll-te?

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Gewiß nicht. Die »wandelnde Flamme« war auchjetzt wie gewöhnlich ohne Bewußtsein. Sie irrte die-se Nacht, wie schon früher öfter, auf der Höhe von Ri-pore umher, die sie dann verlassen würde; sie schlichdann den gewundenen Pfad hinab, betrat wieder dasThal und begab sich dahin, wohin die augenblickliche,unüberlegte Laune sie eben führte.

Oberst Munro, der den Kopf frei bewegen konnte,folgte allen ihren Bewegungen. Er sah sie hinter demGeschütz vorbeigehen. Von da wandte sie sich nach dersteinernen Brustwehr, um ihr voraussichtlich bis zu derStelle zu folgen, wo diese sich an das Eingangsthor an-schloß.

So geschah es auch anfänglich; plötzlich aber hieltsie vor dem schlafenden Hindu inne und kehrte wie-der um. Welches unsichtbare Band hinderte sie, weiterzu gehen? Wie dem auch sei, jedenfalls führte sie einunerklärlicher Trieb zu dem Oberst Munro zurück, vordem sie regungslos stehen blieb.

Diesmal schlug Sir Edward Munro’s Herz so heftig,daß er unwillkürlich den Versuch machte, eine Handzu bewegen, um sie darauf zu pressen.

Die »wandelnde Flamme« trat ganz nahe an ihn her-an. Sie hatte den brennenden Zweig bis in Gesichtshö-he des Gefangenen erhoben, wie um ihn besser sehenzu können. Durch die Oeffnungen der Kutte leuchtetenihre Augen in unheimlicher Gluth.

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Oberst Munro fühlte sich davon wunderbar ergriffenund verzehrte die Erscheinung fast mit dem Blicke.

Da schob die linke Hand der Wahnsinnigen langsamdie Falten ihrer Hülle auseinander, bald zeigte sich ihrGesicht, und gerade da bewegte sie mit der rechtenHand den Zweig heftiger, der in Folge dessen einenhelleren Schein verbreitete. Ein Schrei – ein halb un-terdrückter Schrei – entrang sich der Brust des Gefan-genen.

»Lawrence! Lawrence!«Jetzt fürchtete er selbst, den Verstand verloren zu

haben! . . . Einen Augenblick schloß er die Augen.Es war Lady Munro, ja, Lady Munro selbst, die hier

vor ihm stand.»Lawrence . . . Du . . . Du!« wiederholte er.Lady Munro antwortete nichts. Sie erkannte ihn of-

fenbar nicht wieder. Sie schien ihn gar nicht zu verste-hen.

»Lawrence, o Gott, wahnsinnig! Wahnsinnig, aberdoch noch am Leben!«

Eine noch so vollkommene Aehnlichkeit konnte SirEdward Munro unmöglich täuschen. Das Bild seinesjungen Weibes war zu tief in sein Gedächtniß eingegra-ben. Nein, auch nach einer neunjährigen Trennung, dieer für eine Trennung auf Ewigkeit halten mußte, fühl-te er es, das war Lady Munro, wenn auch etwas ver-ändert, doch immer noch schön; das war Lady Munro,

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durch ein Wunder den Henkern Nana Sahib’s entgan-gen, die hier vor ihm stand.

Die Unglückliche fiel, nachdem sie Alles versucht,ihre Mutter, die vor ihren Augen ermordet wurde,zu vertheidigen, von einer Kugel getroffen zur Erde.Schwer, doch nicht tödtlich verletzt, wurde sie in be-wußtlosem Zustande, aber als eine der Letzten in denBrunnenschacht zu Khanpur auf die armen Opfer ge-worfen, die jenen schon fast ausfüllten. Mit Einbruchder Nacht drängte sie vielleicht der Erhaltungstrieb,den Rand des Brunnens zu erklimmen – aber nur einInstinct, denn den Verstand hatte sie in Folge des An-blicks der gräßlichen durchlebten Scenen schon verlo-ren.

Nach Allem, was sie seit Beginn jener Belagerung,in dem Gefängnisse des Bibi-Ghar, auf dem Platze, wodas Gemetzel stattfand, erlebt, wo sie es sehen mußte,wie ihre Mutter schonungslos erwürgt wurde, ausge-standen – war sie wahnsinnig geworden, aber sie lebtenoch, und ebenso fand Oberst Munro sie jetzt wieder.Als Irrsinnige war sie dem Brunnenschacht entstiegen,in der Umgebung umhergestreift und hatte die Stadtverlassen, als Nana Sahib und die Seinigen nach derblutigen Execution daraus entflohen. So stürmte sieziellos in der Finsterniß quer durch das Land hin. Die

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Stadt umgehend und die bevölkerten Landstriche mei-dend, dann und wann von einem Raiot mitleidig auf-genommen und als ein des Verstandes beraubtes We-sen fast verehrt, war die Wahnsinnige bis nach denSautpourra-Bergen, bis nach den Vindhyas gewandert.So irrte sie noch heute, seit neun Jahren todt für Alle,aber in der Erinnerung von der Feuersbrunst bei derBelagerung getrieben, rastlos umher.

Ja, sie war es wirklich!Oberst Munro rief ihren Namen noch einmal . . . sie

antwortete nicht. O, was hätte er nicht darum gegeben,sie jetzt in seine Arme pressen, sie aufheben, davontragen, mit ihr ein neues Leben anfangen, ihr durchseine liebende Sorgfalt den Verstand wieder geben zukönnen! . . . Und er stand hier an diese Masse todtenMetalls gebunden; an den Armen lief ihm das Blut vonden Einschnitten der Stricke herab, und keine Machtder Erde konnte ihn aus dieser furchtbaren Lage ret-ten!

Welche unnennbaren Qualen zermarterten ihn jetzt,die selbst der grausame Nana Sahib kaum hätte ersin-nen können! O, und wie würde das Scheusal gejubelthaben, wenn der Nabab wußte, daß auch Lady Munroin seiner Gewalt war! Was hätte er wohl nicht erdacht,um die Folter des Gefangenen zu erschweren!

»Lawrence! Lawrence!« rief Oberst Munro noch ein-mal.

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Er wagte sogar ziemlich laut zu rufen, auf die Gefahrhin, den wenige Schritte von ihnen schlafenden Hin-du zu erwecken, die in der Kaserne liegenden Dacoits,vielleicht gar Nana Sahib selbst herbeizulocken.

Ohne die Worte zu verstehen, starrte ihn Lady Mun-ro jedoch wie vorher mit unstetem, stechendem Blickean. Sie sah die gräßlichen Leiden nicht, die der Un-glückselige erduldete, der sie in dem Augenblicke wie-derfand, wo die nächste Stunde ihm den Tod bringensollte. Sie wiegte nur mit dem Kopfe hin und her, alswolle sie keine Antwort geben.

So verflossen einige Minuten; dann ließ sie die Handsinken, die Hülle schloß sich wieder vor dem Gesicht,und sie trat einen Schritt zurück.

Oberst Munro glaubte schon, daß sie wieder davongehen wollte.

»Lawrence!« rief er noch einmal, als sollte es derletzte Abschiedsgruß sein.

Doch nein, Lady Munro dachte noch gar nicht daran,das Plateau von Ripore zu verlassen, und so entsetz-lich schon des Gefangenen Lage war – es sollte nochschlimmer kommen.

Lady Munro blieb stehen. Offenbar erregte diese Ka-none ihre Aufmerksamkeit. Vielleicht erweckte diesel-be in ihr eine unerklärliche Erinnerung an die Bela-gerung von Khanpur. Sie kam also langsamen Schrit-tes zurück. Ihre Hand, welche den brennenden Zweig

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hielt, strich auf dem metallenen Rohre hin, und es ge-nügte ja ein Funke, der auf das Zündloch fiel, denSchuß abzufeuern.

Sollte Oberst Munro gar von ihrer Hand sterben?Er konnte, er mochte den Gedanken nicht ertragen.

Nein, nun wollte er vor den Augen Nana Sahib’s undseiner Helfershelfer in den Tod gehen.

Munro wollte rufen, wollte selbst seine Henkerwecken! . . .

Da fühlte er von dem Innern des Geschützes her ei-ne Hand die seinen drücken, die ja auf dem Rückenfestgebunden waren. Das war offenbar eine Freundes-hand, die seine Fesseln zu lösen versuchte. Bald ver-rieth ihm die Kälte einer Stahlklinge, welche vorsichtigzwischen den Stricken und seinen Händen eindrang,daß in der Seele dieses ungeheueren Geschützes sich– Gott weiß, durch welches Wunder! – ein Befreier be-finden mußte.

Er konnte sich nicht täuschen! Die Stricke, die ihnhielten, wurden zerschnitten! . . .

In einer Secunde war das geschehen! Er konnteeinen Schritt vorwärts thun . . . Er war frei! So sehrer sich zu beherrschen wußte, er mußte jetzt sehr ansich halten, denn ein Ausruf hätte ihn wieder in’s Ver-derben gestürzt.

Aus dem Geschütze ragte eine Hand hervor . . . Mun-ro ergriff diese, zog, was er konnte, und ein Mann,

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der mühsam aus der Rohrmündung herauskroch, fielzu seinen Füßen nieder.

Es war Goûmi.Der treue Diener hatte, nachdem es ihm gelungen,

zu entfliehen, die Straße nach Jubbulpore eingeschla-gen, auf der auch Nassim mit seinen Leuten dahinzog.Da, wo der Weg nach Ripore abzweigt, mußte er sichnoch einmal verbergen. Er hörte von einer daselbst la-gernden Gruppe Hindus von Oberst Munro sprechen,den die Dacoits unter Kâlagani’s Führung nach der ge-nannten Veste schleppen würden, wo Nana Sahib ihnmit der großen Kanone erschießen lassen wolle. OhneZögern war Goûmi auf einem schmalen, sich vielfachwindenden Fußpfade davongeschlichen und hatte denPlatz an dem Fort erreicht, als sich Niemand daselbstbefand. Da kam ihm der heroische Gedanke, in das un-geheuere Geschütz zu kriechen, seinen Herrn, wenn esanging, auf diese Weise zu befreien oder mit ihm zu-sammen denselben Tod zu erleiden.

»Es wird bald Tag werden, sagte Goûmi mit verhal-tener Stimme. Wir müssen fliehen!

– Und Lady Munro?«Der Oberst zeigte auf die Wahnsinnige, welche wie

versteinert dastand. Ihre Hand ruhte auf dem Boden-stück der Kanone.

»Wir tragen sie fort . . . Herr . . . « antwortete Goûmi,ohne eine weitere Erklärung zu verlangen.

Es war zu spät.

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In dem Augenblick, als der Oberst und Goûmi sichihr näherten, um sie mitzunehmen, klammerte sie sichmit der Hand, so gut es ging, an das Geschütz, derbrennende Zweig fiel dabei auf dieses nieder und einefurchtbare Detonation, welche das Echo der Vindhyasnoch verdoppelte, erfüllte mit Donnerrollen das ganzeThal der Nerbudda.

29. STAHLRIESE!

Bei dem Krachen des Schusses fiel Lady Munro ohn-mächtig in die Arme ihres Gatten.

Ohne einen Augenblick zu verlieren, eilte der Oberstmit ihr und gefolgt von Goûmi quer über den Vorplatz.Dem Wächter, der, durch den Krach erweckt, empor-sprang, bohrte Goûmi sein langes Messer in die Brust.Dann stürzten Beide nach dem kleinen Fußwege, dernach der Straße von Ripore führte.

Sir Edward Munro und Goûmi hatten kaum das Thorhinter sich, als die plötzlich erwachte Truppe Nana Sa-hib’s schon den Platz vor ihrer Kaserne erfüllte.

Die Hindus wußten zuerst nicht, was sie thun soll-ten, wodurch die Flüchtlinge einen kleinen Vorsprungbekamen.

Nana Sahib selbst verweilte nämlich nur selten dieNacht hindurch auf der Veste. Auch am letzten Abendhatte er, nachdem Oberst Munro vor die Kanonen-mündung gebunden worden war, einige Führer der

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Goudwana-Stämme aufgesucht, was er am hellen Ta-ge gern vermied. Jetzt war aber schon die Stunde her-angekommen, wo er gewöhnlich zurückkehrte, und erkonnte jeden Augenblick erscheinen.

Kâlagani, Nassim, die Hindus, die Dacoits, zusam-men wohl über hundert Mann, waren bereit, den Spu-ren des Flüchtlings zu folgen. Nur ein Gedanke hieltsie davon ab. Sie wußten ja gar nicht, was überhauptvorgefallen war. Die Leiche des Hindus, der bei demOberst gewacht hatte, konnte ihnen natürlich keinenAufschluß geben. Sie vermochten also nichts Anderesanzunehmen, als daß durch einen unerklärten Zufallvor der Hinrichtungsstunde Feuer an das Geschütz ge-kommen und von dem Gefangenen nichts weiter mehrübrig sei, als unförmliche, zerrissene Reste.

Kâlagani’s und der Anderen Wuth machte sich in lau-ten Verwünschungen Luft. Weder Nana Sahib, noch ei-ner von ihnen hatte sich also am Anblick des OberstMunro in dessen letzten Minuten weiden können.

Der Nabab war indeß nicht fern. Er mußte die Deto-nation gehört haben und kehrte darauf hin jedenfallssofort nach der Veste zurück.

Was sollte man ihm zur Antwort geben, wenn er we-gen des der Obhut seiner Leute anvertrauten Gefange-nen Rechenschaft forderte?

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Solche Gedanken beschäftigten Alle und verursach-ten einige Zögerung, wodurch die Flüchtlinge Zeit ge-wannen, unbemerkt ein gutes Stück von der Veste weg-zukommen.

Nach dieser wunderbaren Rettung von bester Hoff-nung beseelt, eilten Sir Edward Munro und Goûmi denvielfach gewundenen Steg hinab, so schnell sie konn-ten. Die kräftigen Arme des Obersten fühlten die nochimmer ohnmächtige Lady Munro kaum. Uebrigens warauch sein Diener zur Hand, ihm zu Hilfe zu kommen.

Fünf Minuten nach Durchschreitung des Thores hat-ten Beide schon die Hälfte des Weges bis zum Thalehinab hinter sich. Inzwischen wurde es heller und hel-ler und das Tageslicht drang auch schon in die Tiefehinab.

Da vernahmen sie über sich ein lautes Geschrei.Ueber die Brustwehr gebeugt, hatte Kâlagani, wenn

auch undeutlich, doch zwei entfliehende Männer be-merkt. Einer derselben konnte niemand Anderes sein,als der Gefangene Nana Sahib’s.

»Munro! Das ist Munro!« rief Kâlagani, schäumendvor Wuth.

Die ganze Rotte brach nun eiligst zur Verfolgung auf.»Wir sind gesehen worden! sagte der Oberst, ohne

seine Schritte zu hemmen.– Die Ersten halte ich auf! rief Goûmi. Sie werden

mich umbringen. Sie gewinnen aber Zeit genug, umdie Straße zu erreichen.

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– Wir werden entweder Beide fallen oder Beide da-von kommen!« entgegnete Oberst Munro.

Der Oberst und Goûmi hatten ihre Schritte beschleu-nigt. Auf dem unteren, minder steilen Ende des Stegesangelangt, konnten sie sogar laufen. Jetzt brauchtensie nur noch hundert Schritt bis zur Straße von Ripo-re, welche nach der großen Landstraße hinführte, aufwelcher sie leichter entfliehen konnten.

Freilich wurde da auch die Verfolgung leichter. EinVersteck zu suchen, wäre unnütz gewesen, denn siewären nur zu bald aufgefunden worden. Es blieb ih-nen also nichts übrig, als den Hindus möglichst weitzuvorzukommen und eher, als sie, den letzten Paß derVindhyas hinter sich zu lassen.

Oberst Munro’s Entschluß stand für jeden Fall fest.Lebend wollte er unbedingt nicht wieder in Nana Sa-hib’s Hände fallen. Auch Die, welche das Schicksal ihmeben erst wiedergegeben, sollte durch seine Hand vonGoûmi’s Dolche den Tod finden, und dann wollte erdiesen sich selbst in’s Herz stoßen.

Beide hatten einen Vorsprung von etwa fünf Minu-ten. Als die ersten Hindus durch das Thor stürmten, ge-wahrten Oberst Munro und Goûmi schon den breiterenWeg, der sich an den Fußsteg anschloß und der schonin der Entfernung einer Viertelmeile auf die Landstra-ße auslief.

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»Hurtig, Herr! rief Goûmi, bereit den Oberst mit sei-nem eigenen Leib zu decken. Vor Ablauf von fünf Mi-nuten befinden wir uns auf der Straße von Jubbulpore!

– Gott gebe, daß wir da Hilfe finden!« murmelteOberst Munro.

Das Rufen und Schreien der Hindus wurde immerdeutlicher hörbar.

Gerade als die Flüchtlinge den Weg im Thale betra-ten, lenkten raschen Schrittes zwei Männer am Anfangdes Bergpfades ein.

Es war hell genug, um sich erkennen zu können, undBeide riefen fast gleichzeitig mit haßerfüllter Stimme:

»Munro!– Nana Sahib!«Auf den Donner der Kanone hin war der Nabab her-

beigeeilt, um zu sehen, was auf der Veste vorging. Erkonnte nicht begreifen, warum sein Befehl vorzeitigausgeführt worden sei.

Ein Hindu begleitete ihn; bevor dieser aber einenSchritt oder eine Bewegung machen konnte, lag erschon zu Füßen Goûmi’s von demselben Messer zu To-de getroffen, das die Fesseln des Oberst zerschnittenhatte.

»Hierher! rief Nana Sahib seinen Leuten zu, welcheden Fußpfad herabkamen.

– Ja, zu Dir!« antwortete Goûmi.Und schneller als der Blitz stürzte er auf den Nabab.

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Er beabsichtigte, wenn es ihm nicht gelang, jenenmit dem ersten Dolchstoß zu tödten, wenigstens mitihm zu kämpfen, um Oberst Munro Zeit zu gewähren,die Straße zu erreichen; die Eisenhand des Nabab hatteaber die seinige gepackt und das Messer war ihm dabeientfallen.

Wüthend, sich entwaffnet zu sehen, faßte Goûmidarauf seinen Gegner um den Leib, drückte ihn fest ansich und trug ihn fort, um sich mit demselben in denersten Abgrund zu stürzen. Inzwischen kamen Kâlaga-ni und die Uebrigen immer näher – jetzt erreichten sieschon das Ende des Bergpfades, und nun war kaumnoch Hoffnung, ihnen zu entrinnen.

»Aushalten! Aushalten! rief Goûmi. Einige Minutennehme ich’s mit den Kerlen auf und gebrauchte ihrenNabab als Schild! Fliehen Sie, Fliehen Sie ohne mich!«

Eine höchstens drei Minuten lange Wegstrecke trenn-te jetzt die Flüchtlinge noch von ihren Verfolgern, undder Nabab rief mit halberstickter Stimme nach Kâlaga-ni.

Da hörten jene plötzlich zwanzig Schritte vor sichlaute Rufe.

»Munro! Munro!« klang es von dort her.Auf der Straße von Ripore erschien Banks mit Ka-

pitän Hod, Maucler, dem Sergeanten Mac Neil, Foxund Parazard, und hundert Schritte von ihnen auf derbreiten Landstraße stand der Stahlriese, von dem ein

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lustiger Rauch emporwirbelte, und der mit Storr undKâlouth die Uebrigen erwartete.

Nach Zerstörung des letzten Wagens vom Steam-House war dem Ingenieur und seinen Gefährten nurnoch Eines übrig geblieben; sie mußten den Elephan-ten, dem die Dacoits nichts hatten anhaben können,als Gefährt zu benutzen suchen. Auf demselben zu-sammengedrängt, waren sie auch sobald als möglichvom Puturia-See weg und die Landstraße nach Jubbul-pore hingefahren. Als sie eben an dem nach der Vesteführenden Seitenwege vorüberdampfen wollten, hat-ten, sie jedoch den furchtbaren Knall hoch über sichgehört und in Folge dessen angehalten.

Eine Ahnung, ein Instinct, wenn man so sagen will,drängte sie, jenen Seitenweg zu verfolgen, ohne daßsie hätten sagen können, was sie dabei hofften.

Wie dem auch sei, jedenfalls sahen sie sich plötzlichdem Oberst Munro gegenüber, der sie anrief!

»Rettet, rettet nur Lady Munro!– Und haltet Nana Sahib fest, den echten Nana Sa-

hib!« rief Goûmi.Er hatte mit den letzten Kräften den Nabab zur Erde

geworfen, den Kapitän Hod, Mac Neil und Fox jetztpackten.

Ohne eine weitere Erklärung zu verlangen, eiltenBanks und die Uebrigen zu dem Stahlriesen auf derLandstraße.

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Auf Anordnung des Obersten, der ihn den englischenBehörden ausliefern wollte, wurde Nana Sahib am Hal-se des Elephanten festgebunden. Lady Munro brach-te man in dem Thürmchen unter, wo ihr Gatte nebenihr Platz nahm. Einzig mit seinem Weibe beschäftigt,die allmählich wieder erwachte, glaubte er auch schoneinen Schimmer von Vernunft in ihr aufdämmern zusehen.

Der Ingenieur und seine Gefährten hatten sich raschauf den Rücken des Stahlriesen geschwungen.

Es war jetzt heller Tag geworden. Schon zeig-ten sich die ersten Hindus höchstens etwa dreihun-dert Schritte weiter rückwärts. Auf jeden Fall mußteman suchen, den vorgeschobenen Posten des Militär-Cantonnements von Jubbulpore, welcher vor die äu-ßersten Ausläufer der Vindhyas gelegt ist, vor ihnen zuerreichen.

Der Stahlriese hatte Ueberfluß an Wasser und Brenn-material, um ihn unter starkem Drucke zu halten undmit größter Geschwindigkeit hindampfen zu lassen.Auf der vielfach gewundenen Straße konnte man frei-lich nicht blind darauf zufahren.

Immer lauter erscholl das Geschrei der Hindus, dieihm offenbar näher kamen.

»Wir werden uns vertheidigen müssen, sagte derSergeant Mac Neil.

– Daran soll’s nicht fehlen!« versicherte Kapitän Hod.

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Noch hatte man etwa ein Dutzend Schüsse vor-räthig. Es erschien also dringend gerathen, keine ein-zige Kugel zu vergeuden, denn die Hindus waren be-waffnet, und es kam darauf an, sie in gebührender Ent-fernung zu halten.

Da knatterten ein Dutzend Schüsse. Die Kugeln pfif-fen über den Stahlriesen hinweg, bis auf eine, die dasRüsselende traf.

»Schießt nicht, wir dürfen nur sicher gezielt Feuergeben! rief Kapitän Hod. Schont die Kugeln! Sie sindnoch zu weit!«

Der Stahlriese hatte aber bald genug einen steileren,engen Paß erreicht, der sich zwischen zwei hohen Fel-sabhängen dahinwand.

Jetzt mußte die Geschwindigkeit vermindert undnur mit größter Vorsicht weiter gefahren werden. InFolge dieser Verzögerung gewannen die Hindus auchdas verlorene Terrain allmählich wieder. Wenn sie auchkeine Hoffnung hatten, Nana Sahib, den jeden Augen-blick ein Dolchstoß bedrohte, zu retten, so wollten siewenigstens seinen Tod rächen.

Bald krachten von neuem einige Schüsse, ohne einenvon Denen, die der Stahlriese dahinführte, zu treffen.

»Die Sache wird ernsthaft! sagte Kapitän Hod, indemer die Büchse anlegte. Achtung!«

Goûmi und er feuerten gleichzeitig. Zwei der näch-sten Hindus wälzten sich, in die Brust getroffen, amBoden.

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»Zwei weniger, sagte Goûmi, der seine Waffe wiederlud.

– Ja, zwei Procent! rief Kapitän Hod. Das ist nichtgenug. Wir müssen mehr erhandeln!« Und sie strecktendrei andere Hindus nieder.

Durch den gewundenen Paß ging die Fahrt abernicht schnell vorwärts. Denn während die Straße en-ger wurde, stieg sie, wie erwähnt, auch ziemlich steilan. Noch eine halbe Meile, dann war die letzte Rampeder Vindhyas überwunden und der Stahlriese konntesich nur noch hundert Schritte vor dem Wachtpostenbefinden, von wo aus die Station Jubbulpore sichtbarsein mußte.

Kâlagani wußte übrigens nicht, daß Kapitän Hodund den Anderen bald die Patronen ausgehen undBüchsen und Flinten in ihren Händen zu nutzlosenWaffen werden mußten.

In der That hatten die Fliehenden schon die Hälf-te ihrer Munition aufgebraucht und kamen nun baldin die Lage, sich nicht mehr vertheidigen zu können.Doch krachten jetzt wiederum vier Schüsse und vierHindus stürzten zur Erde. Kapitän Hod und Fox besa-ßen nur noch zwei Kugeln.

Da stürmte Kâlagani, der sich bisher immer etwasgedeckt gehalten hatte, wuthverblendet weiter vor.

»Aha! Du! die letzte gilt Dir!« sagte Kapitän Hod undzielte in größter Ruhe.

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Die Kugel flog aus der Büchse und traf den Verräthermitten in die Stirn. Zwecklos bewegten sich seine Hän-de noch einmal in der Luft, dann taumelte er und brachleblos zusammen.

Die Uebrigen nahmen jedoch sehr bald wahr, daßdas Feuern aufhörte, und setzten jetzt Alles daran, denElephanten selbst, von dem sie eine Strecke von höch-stens fünfzig Schritt noch trennte, einzuholen und an-zugreifen.

»Herunter! Herunter! rief Banks.Wie die Dinge lagen, schien es allerdings rathsamer,

bis zu dem nicht mehr entfernten Wachtposten zu lau-fen.

Oberst Munro sprang, sein Weib in den Armen hal-tend, auf die Straße.

Kapitän Hod, Maucler, der Sergeant und die Ueb-rigen kletterten sofort herab. Nur Banks war in demThürmchen geblieben.

»Und dieser Schurke? rief Kapitän Hod, auf Nana Sa-hib zeigend, der an dem Halse des Elephanten festge-bunden lag.

– Ueberlasse das mir, lieber Kapitän!« antworteteBanks mit eigenthümlichem Tone.

Darauf drehte er noch einmal an dem Regulator undstieg nun selbst herab. Alle entflohen, den Dolch in derHand und entschlossen, ihr Leben so theuer als mög-lich zu verkaufen.

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Der Stahlriese rollte, obwohl sich selbst überlassen,unter dem Drucke des Dampfes die Straße weiter hin-auf; da ihn aber keine verständige Hand mehr leite-te, stieß er bald gegen die Felswand zur Linken desWeges, wie ein Widder, der den Gegner mit dem Kopfeanrennt, und sperrte, plötzlich angehalten, die Straßefast vollständig.

Banks und die Anderen waren schon weitere dreißigSchritt vorausgeeilt, als sich die Hindus in Menge aufden Stahlriesen stürzten, um Nana Sahib zu befreien.

Plötzlich erschütterte ein furchtbares Krachen, wieein heftiger Donnerschlag, die Luft und hallte in denbenachbarten Bergen wider.

Banks hatte beim Verlassen des Thürmchens die Si-cherheitsventile des Kessels belastet, so stark er konn-te. Der Dampfdruck stieg dadurch ungeheuer an, undals der Stahlriese gegen die Felswand rannte, spreng-te derselbe, da er durch die Cylinder keinen Ausgangmehr fand, den Kessel, dessen Trümmer nach allenRichtungen hin verstreut wurden.

»Armer Riese! klagte Kapitän Hod, Du erlittest denTod, um uns zu retten!«

30. KAPITÄN HOD’S FÜNFZIGSTER TIGER.

Oberst Munro und seine Freunde und Reisebegleiterhatten jetzt nichts mehr zu fürchten, weder von Sei-ten des Nababs und der Hindus, die seinem Befehle

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unterstanden, noch von der der Dacoits, die unter Je-nes Führung eine gefürchtete Bande in diesem TheileBundelkunds gebildet hatten.

Bei dem Donner der Explosion waren die Solda-ten des Wachpostens vor Jubbulpore in großer Zahlherausgeeilt. Was von Nana Sahib’s jetzt führerlosenSpießgesellen noch übrig war, hatte eiligst die Fluchtergriffen.

Oberst Munro gab sich zu erkennen. Eine halbeStunde später gelangten Alle nach der Station, wo siein Ueberfluß fanden, was sie bedurften, und vorzüglichSpeise und Trank, wonach Jeder lechzte.

Lady Munro wurde bis zu der Zeit, wo sie nach Bom-bay gebracht werden konnte, in einem comfortablenHôtel verpflegt. Dort hoffte Sir Edward Munro auchdie Seele Derjenigen wieder zum Leben zu erwecken,die jetzt nur leiblich lebte und für ihn so gut wie todtblieb, so lange sie nicht die Vernunft wieder erlangte.

Im Grunde zweifelte keiner seiner Freunde an einerbaldigen Heilung. Alle sahen mit Vertrauen einem Er-eignisse entgegen, das offenbar allein das sonst freu-delose Leben des Obersten umzugestalten vermochte.

Man kam überein, schon am folgenden Tage nachBombay weiter zu reisen. Der erste Eisenbahnzug soll-te die Insassen des Steam-Houses nach der Hauptstadtdes westlichen Indiens führen. Diesmal freilich sollte

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sie die gewöhnliche schnellfüßige Locomotive beför-dern, und nicht mehr der unermüdliche Stahlriese, vondem nur noch unförmliche Trümmer übrig waren.

Doch weder Kapitän Hod, sein enthusiastischer Ver-ehrer, oder Banks, sein geistvoller Schöpfer, noch ir-gend ein anderer Theilnehmer der Expedition konntejemals das »treue Thier« vergessen, daß sie sich all-mählich als lebend anzusehen gewöhnt hatten. Nochlange hallte das Krachen der Explosion, die es endlichvernichtete, in ihrer Erinnerung wieder.

Es kann demnach kaum Wunder nehmen, daßBanks, Kapitän Hod, Maucler, Fox und Goûmi Jubbul-pore nicht verlassen wollten, ohne den Schauplatz derKatastrophe noch einmal zu besichtigen.

Von der Dacoitsbande war ja bestimmt nichts mehrzu fürchten. Um jedoch keine Vorsicht aus den Augenzu setzen, nahmen der Ingenieur und seine Gefährtenvon dem Wachposten vor den Vindhyas eine Abthei-lung Soldaten zur Deckung mit und erreichten gegenelf Uhr den Eingang des Passes.

Hier lagen zunächst fünf bis sechs schrecklich ver-stümmelte Leichen. Es waren das die der ersten Hin-dus, welche den Stahlriesen erklettert hatten, um NanaSahib’s Fesseln zu lösen. Von der übrigen Bande fandsich keine Spur.

Den Stahlriesen selbst hatte die Explosion seinesKessels vollkommen zerstört. Eine seiner riesigen Tat-zen fand sich weit weggeschleudert wieder. Ein Theil

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des gegen die Bergwand gestoßenen Rüssels hatte sichin eine Gesteinsspalte eingebohrt und ragte gleich ei-nem Riesenarme daraus hervor. Ueberall lagen Blech-stücke, Schrauben, Bolzen, Roststäbe, Cylinderbruch-stücke und Reste der Treibstangen-Verbindungen um-her. Im Moment der Explosion, als die überlastetenVentile jeden Abfluß desselben verhinderten, mußteder Dampf eine ungeheuere Spannung, mindestensvon zwanzig Atmosphären, erreicht haben.

Und jetzt war von dem künstlichen Elephanten, demStolze der Bewohner des Steam-Houses, von dem Ko-losse, der die abergläubische Bewunderung der Hinduserregte, von dem mechanischen Meisterwerke des In-genieurs Banks, dem verwirklichten Traume des phan-tastischen Rajahs von Bouthan, nichts mehr übrig, alsein unkenntliches, werthloses Gerippe!

»Armes, armes Geschöpf! – Diesen Ausruf des Be-dauerns konnte Kapitän Hod angesichts des Cadaversseines geliebten Stahlriesen nicht unterdrücken.

– O, da bauen wir einen anderen . . . mächtigerenNachfolger! sagte Banks.

– Das glaube ich wohl, erwiderte Kapitän Hod miteinem tiefen Seufzer, er ist es aber doch nicht mehr!«

Bei diesen Nachsuchungen kam dem Ingenieur undseinen Gefährten natürlich der Gedanke, ob sie nichteinige Ueberbleibsel Nana Sahib’s nachweisen könn-ten. Fand sich dabei auch der leicht wieder zu erken-nende Kopf nicht vor, so genügte ja schon die eine

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Hand von ihm, welcher der amputirte Finger fehlte,die Identität seiner Person festzustellen. Sie hätten sogern den unbestreitbaren Beweis des Todes Desjenigenerlangt, der jetzt nicht mehr verwechselt werden konn-te.

Keiner der blutigen Reste, die den Boden bedeckten,schien jedoch Nana Sahib angehört zu haben. Wahr-scheinlich hatten die getreuen Anhänger des Nababwenigstens die Ueberbleibsel seiner Leiche noch mit-genommen.

Die unausbleibliche Folge davon war aber die, daßdie Fabel von Nana Sahib, wegen Mangels vollgiltigerBeweise, wieder in ihr Recht trat; daß der unerreichba-re Nabab in der Vorstellung der Volksstämme Central-Indiens noch immer als lebend galt, bis die Sage denalten Anführer der Sipahis vielleicht zu einem unsterb-lichen Gotte umwandelte.

Banks und die Seinigen freilich zweifelten keinenAugenblick mehr daran, daß jener die Explosion nichthabe überleben können.

Sie kehrten nach der Station zurück, wohin KapitänHod ein Stückchen von den Stoßzähnen des Stahlrie-sen mitnahm – eine kostbare Reliquie, die er als theu-res Andenken bewahrte.

Am folgenden Tage, den 4. October, verließen Al-le Jubbulpore in einem Salonwagen, der dem OberstMunro und seinen Begleitern zur Verfügung gestellt

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worden war. Vierundzwanzig Stunden später über-schritten sie die westlichen Ghâts, jene indischen An-den, die sich in einer Ausdehnung von dreihundert-sechzig Meilen Länge hin erstrecken und mit dichtenWaldmassen von Banianen, Sykomoren, Tek-Eichen,neben Palmen, Cocos- und Arecapalmen, Pfeffer- undSantelholzbäumen und Bambusdickichten bedeckt sind.Einige Stunden später schon brachte sie der Bahnzugnach der Insel Bombay, die in Verbindung mit denInseln Salcette, Elephanta und anderen eine prächti-ge Rhede bildet und auf ihrer südöstlichen Spitze dieHauptstadt der Präsidentschaft trägt.

Die dort wegen Lady Munro’s Zustand consultirtenAerzte empfahlen einstimmig, die Leidende nach ei-nem freundlichen Landsitze in der Umgebung zu brin-gen, wo die friedliche Stille im Verein mit der zärtli-chen unausgesetzten Sorgfalt des Gatten einen glück-lichen Erfolg am sichersten erhoffen ließ.

Endlich ward Allen diese Freude zu theil. Allmäh-lich lüftete sich der Schleier um Lady Munro’s Geist,sie fing wieder an, Gedanken zu fassen. Von der frü-heren »wandelnden Flamme« blieb nichts mehr übrig,nicht einmal eine Erinnerung.

»Lawrence! Lawrence!« rief da der entzückte OberstMunro, und, endlich ihn wiedererkennend, sank ihmdie wiedergefundene Gattin in die Arme.

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Eine Woche später waren die Insassen des Steam-Houses in dem Bungalow von Calcutta wieder verei-nigt. Hier begann nun ein anderes Leben, als das, wel-ches bisher in dem prächtigen Wohnsitze geherrschthatte. Banks verbrachte hier die Zeit, die seine Arbei-ten nicht in Anspruch nahm, Kapitän Hod seinen Ur-laub, sobald er solchen erhielt. Mac Neil und Goûmigehörten ganz zum Hause und trennten sich von demOberst niemals wieder.

Später verließ Maucler, der nach Europa zurückkeh-ren mußte, Calcutta. Es traf sich zufällig, daß auch Ka-pitän Hod’s Urlaub zu Ende ging, weshalb dieser undder getreue Fox das gastliche Haus verließen, um sichnach den Cantonnements von Madras zu begeben.

»Adieu, lieber Kapitän, sagte da Oberst Munro. Ichschätze mich glücklich in dem Gedanken, daß Sie be-züglich unserer Fahrt durch das nördliche Indien docheigentlich nichts zu beklagen haben, als daß es Ihnennicht vergönnt war, den fünfzigsten Tiger zu erlegen.

– O, ich habe ihn doch erlegt, Herr Oberst!– Was höre ich! Sie haben? . . .– Ja, ganz gewiß! fiel ihm Kapitän Hod mit einem

gewissen Stolze in’s Wort. Neunundvierzig Tiger und. . . Kâlagani . . . sollte dieser nicht für den fünfzigstengelten können?«