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Jules Verne Von der Erde zum Mond 1. DER GUN-CLUB. 1 1 Während des Bundeskriegs der Vereinigten Staa- ten bildete sich zu Baltimore in Maryland ein neuer Club von großer Bedeutung. Es ist bekannt, wie ener- gisch sich bei diesem Volk von Rhedern, Kaufleuten und Mechanikern der militärische Instinct entwickelte. Einfache Kaufleute brauchten nur in ihrem Comptoir auf- und abzuschreiten, um unversehens Hauptleute, Obristen, Generale zu werden, ohne die Militärschule zu Westpoint durchzumachen; bald standen sie in der »Kriegskunst« ihren Collegen der Alten Welt nicht nach und verstanden gleich diesen durch Vergeuden von Ku- geln, Millionen und Menschen Siege zu gewinnen. Aber in der Ballistik übertrafen sie die Europäer ganz außerordentlich. Sie fertigten Geschütze nicht allein von höchster Vollkommenheit, sondern auch von un- gewöhnlicher Größe, die folglich eine noch unerhör- te Tragweite haben mußten. In Beziehung auf rasan- te und Breche-Schüsse, Schüsse in schiefer, in gerader Richtung oder vom Rücken her – kann man die Eng- länder, Franzosen, Preußen nichts mehr lehren; aber 1 Gun = Geschütz, Kanone.

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Jules Verne

Von der Erde zum Mond

1. DER GUN-CLUB.1

1Während des Bundeskriegs der Vereinigten Staa-ten bildete sich zu Baltimore in Maryland ein neuerClub von großer Bedeutung. Es ist bekannt, wie ener-gisch sich bei diesem Volk von Rhedern, Kaufleutenund Mechanikern der militärische Instinct entwickelte.Einfache Kaufleute brauchten nur in ihrem Comptoirauf- und abzuschreiten, um unversehens Hauptleute,Obristen, Generale zu werden, ohne die Militärschulezu Westpoint durchzumachen; bald standen sie in der»Kriegskunst« ihren Collegen der Alten Welt nicht nachund verstanden gleich diesen durch Vergeuden von Ku-geln, Millionen und Menschen Siege zu gewinnen.

Aber in der Ballistik übertrafen sie die Europäer ganzaußerordentlich. Sie fertigten Geschütze nicht alleinvon höchster Vollkommenheit, sondern auch von un-gewöhnlicher Größe, die folglich eine noch unerhör-te Tragweite haben mußten. In Beziehung auf rasan-te und Breche-Schüsse, Schüsse in schiefer, in geraderRichtung oder vom Rücken her – kann man die Eng-länder, Franzosen, Preußen nichts mehr lehren; aber

1Gun = Geschütz, Kanone.

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ihre Kanonen, Haubitzen und Mörser sind nur Sackpi-stolen gegen die fürchterlichen Maschinen der ameri-kanischen Artillerie.

Das ist aber nicht zum Verwundern. Die Yankees, dieersten Mechaniker auf der Welt, sind geborene Inge-nieure, wie die Italiener Musiker, die Deutschen Me-taphysiker. Ganz natürlich, daß sich ihre kühne Ge-nialität in ihrer Geschützkunde zu erkennen gab. Da-her jene Riesenkanonen, die zwar weit weniger nüt-zen, als die Nähmaschinen, doch ebenso viel Stau-nen, und noch mehr Bewunderung erregen. Bekanntsind von solchen Wunderwerken die Parott, Dahlgreen,Rodman. Die Armstrong, Palliser, Treuille de Beau-lieu mußten vor ihren überseeischen Rivalen die Segelstreichen.

Daher standen denn auch während des fürchterli-chen Kampfes der Nord- und Südstaaten die Artille-risten im allerhöchsten Ansehen; die Journale der Uni-on priesen ihre Erfindungen mit Enthusiasmus, und esgab keinen armseligen Krämer, keinen einfältigen Bu-ben, der sich nicht den Kopf zerbrach mit unsinnigenSchußberechnungen.

Wenn aber einem Amerikaner eine Idee im Kopfesteckt, so sucht er sich einen zweiten Amerikaner, umsie zu theilen. Sind ihrer drei, so wählen sie einenPräsidenten und zwei Secretäre; vier, so ernennen sieeinen Archivisten, und das Bureau tritt in Wirksamkeit.Bei fünfen berufen sie eine Generalversammlung, und

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der Club ist fertig. So ging’s auch zu Baltimore. Einererfand eine Kanone, associirte sich mit Einem, der siegoß, und einem Anderen, der sie bohrte. Aus einemsolchen Kern erwuchs auch der Gun-Club. Einen Mo-nat nach seiner Bildung zählte er 1833 wirkliche Mit-glieder und 30,575 correspondirende.

Unerläßliche Bedingung für jedes Mitglied des Clubswar, daß man eine Kanone, oder mindestens irgendeine Feuerwaffe, erfunden, oder doch verbessert hat-te. Aber, offen gesagt, die Erfinder von Revolvern zufünfzehn Schuß, von Pivot-Karabinern oder Säbelpisto-len genossen kein großes Ansehen. Die Artilleristen be-haupteten in jeder Hinsicht den ersten Rang.

»Die Achtung, welche sie genießen«, sagte einmal ei-ner der gescheitesten Redner des Gun-Clubs, »steht imVerhältniß zur Masse ihrer Kanonen, und zwar nachdirectem Maßstab des Quadrats der Distanzen, welcheihre Geschosse erreichen!«

Noch etwas mehr, das Newton’sche Gravitationsge-setz verpflanzte sich in die moralische Welt.

Man kann sich leicht vorstellen, was, nachdem derGun-Club einmal gegründet war, das erfinderische Ge-nie der Amerikaner in dieser Gattung zu Tage förderte.Die Kriegsmaschinen nahmen einen kolossalen Maß-stab an, und die Geschosse flogen weit über die ih-nen gesteckten Schranken hinaus, um harmlose Spa-ziergänger zu zerreißen. Alle diese Erfindungen ließen

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die schüchternen Werkzeuge der europäischen Artille-rie weit hinter sich. Man urtheile aus folgenden Zah-len.

Einst, »wenn’s gut ging« vermochte ein 36pfünder ineiner Entfernung von 300 Fuß 36 Pferde von der Seiteher zu durchbohren, und dazu 68 Mann. Die Kunst lagdamals noch in der Wiege. Seitdem hat sie Fortschrit-te gemacht. Die Rodmankanone, die eine Kugel voneiner halben Tonne1 sieben (engl.) Meilen weit schleu-derte, hätte leicht 150 Pferde und 300 Mann niederge-worfen. Es war im Gun-Club gar die Rede davon, eineförmliche Probe damit anzustellen. Aber, ließen sich’sauch die Pferde gefallen, das Experiment zu machen,an Menschen fehlte es leider.

Wie dem auch sei, diese Kanonen leisteten Mörderi-sches, und bei jedem Schuß fielen die Menschen, wiedie Aehren unter der Sense. Was wollte neben solchenGeschossen die berühmte Kugel zu Coutras bedeuten,welche im Jahre 1587 25 Mann kampfunfähig mach-te, und die andere, welche bei Zorndorf 1758 40 Manntödtete, und 1742 bei Kesselsdorf die österreichische,die bei jedem Schuß siebenzig Feinde niederwarf? Waswar dagegen das erstaunliche Geschützfeuer bei Je-na und Austerlitz, das die Schlachten entschied? Dagab’s während des Bundeskriegs ganz andere Dinge zuschauen!

1500 Kilogramm.

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Bei Gettysburg traf ein kegelförmiges Geschoß auseiner gezogenen Kanone 73 Feinde, und beim Ueber-gang über den Potomak beförderte eine Rodmankugel215 Südländer in eine ohne Zweifel bessere Welt. Soverdient auch ein fürchterlicher Mörser, den I. T. Ma-ston, ein hervorragendes Mitglied und beständiger Se-cretär des Gun-Clubs, erfand, erwähnt zu werden; sei-ne Wirkung war noch mörderischer, denn beim Probi-ren tödtete er 337 Personen – freilich, beim Zersprin-gen!

Diese Zahlen sprechen beredt ohne Commentar.Auch wird man ohne Widerrede die folgende, vom Sta-tistiker Pitkairn aufgestellte Berechnung gelten lassen:dividirt man die Anzahl der durch die Kugeln gefalle-nen Opfer mit der Zahl der Mitglieder des Gun-Clubs,so ergiebt sich, daß auf Rechnung jedes Einzelnen desletzteren durchschnittlich 2375 Mann kommen, nebsteinem Bruchtheil.

Nimmt man diese Ziffern in Erwägung, so ist’s au-genscheinlich, daß das Trachten dieser gelehrten Ge-sellschaft einzig auf Menschenvertilgung zu philan-thropischem Zweck, und auf Vervollkommnung derKriegswaffen als Civilisationsmittel gerichtet war. Eswar ein Verein von Würgengeln, sonst die besten Men-schenkinder auf der Welt.

Diese Yankees, muß man weiter anführen, von er-probter Tapferkeit, ließen’s nicht beim Reden bewen-den, und traten persönlich ein. Man zählte unter ihnen

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Officiere jedes Grades vom Lieutenant bis zum Gene-ral, Militärpersonen jedes Alters, Anfänger im Kriegs-dienst und bei der Lafette ergraute Männer. Manchefielen auf der Wahlstatt und ihre Namen wurden in’sEhrenbuch des Gun-Clubs eingetragen, und von denen,welche davonkamen, trugen die meisten Beweise ihrerunzweifelhaften Unerschrockenheit an sich. Krücken,hölzerne Beine, gegliederte Arme, Haken statt derHände, Kinnbacken von Kautschuk, Schädel von Silber,Nasen von Platina, nichts mangelte in der Sammlung,und der obgedachte Pitkairn berechnete ebenfalls, daßim Gun-Club nicht völlig ein Arm auf vier Personenkam, und nur zwei Beine auf sechs.

Aber diese wackeren Artilleristen machten sich nichtso viel daraus, und sie waren mit Recht stolz darauf,wenn das Bulletin einer Schlacht zehnmal mehr Opferanführte, als Geschosse waren abgefeuert worden.

Eines Tags jedoch – ein trauriger, bedauerlicher Tag– unterzeichneten die Ueberlebenden den Frieden, derGeschützesdonner hörte allmälig auf, die Mörser ver-stummten, die Haubitzen wurden für lange Zeit un-schädlich gemacht, und die Kanonen kehrten gesenk-ten Hauptes in die Arsenale zurück, die Kugeln wur-den in den Zeughäusern aufgeschichtet, die blutigenErinnerungen erblichen, die Baumwollstanden sproß-ten üppig auf den reich gedüngten Feldern, mit denTrauerkleidern wurde auch der Schmerz abgelegt, undder Gun-Club versank in vollständige Unthätigkeit.

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– Trostlos! sagte eines Abends der tapfere Tom Hun-ter, während seine hölzernen Beine am Kamin verkohl-ten: »Nichts mehr zu thun! nichts mehr zu hoffen!Welch langweiliges Leben! O goldene Zeit, da einst je-den Morgen lustiger Kanonendonner uns weckte!

– Die Zeit ist hin! erwiderte der muntere Bilsby. Daswar eine Lust! Man erfand seinen Mörser, und war ergegossen, so probirte man ihn vor’m Feind; dann be-gab man sich wieder in’s Lager mit einer BelobungSherman’s oder einem Handschlag Mac-Clellan’s! Abernun sind die Generale wieder auf ihren Comptoirs undversenden harmlose Baumwollenballen! Ja, wahrhaf-tig, die Artillerie hat in Amerika keine Zukunft mehr!

– Ja, Bilsby, rief der Obrist Blomsberry aus, das sindgrausame Täuschungen! Eines Tags verläßt man sei-ne friedlichen Gewohnheiten, übt sich in den Waffen,zieht aus Baltimore in’s Feld, tritt da als Held auf,und zwei, drei Jahre später muß man die Frucht sei-ner Strapazen wieder verlieren, in leidiger Unthätig-keit einschlafen.

– Und kein Krieg in Aussicht! sagte darauf der be-rühmte J. T. Maston, und kratzte dabei mit seinem ei-sernen Haken seinen Guttapercha-Schädel. Kein Wölk-chen am Himmel, und zu einer Zeit, da noch so vielin der Artilleriewissenschaft zu thun ist! Da hab’ ichdiesen Morgen einen Musterriß fertig gebracht, sammtPlan, Durchschnitt und Aufriß, für einen Mörser, derdie Kriegsgesetze umzuändern bestimmt ist!

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– Wirklich? erwiderte Tom Hunter, und dabei fielihm unwillkürlich der letzte Versuch des ehrenwerthenJ. T. Maston ein.

– Ja, wirklich, entgegnete dieser. Aber wozu nun soviele Studien, das Ueberwinden so vieler Schwierigkei-ten? Ist das nicht verlorene Mühe? Die Bevölkerungder Neuen Welt scheint entschlossen zu sein, nun inFrieden zu leben, und unsere kriegerische Tribüne hatbereits Katastrophen in Folge des Anwachsens der Be-völkerung geweissagt!

– Indessen, Maston, fuhr Obrist Blomsberry fort, inEuropa giebt’s immer noch Kriege für’s Princip der Na-tionalitäten!

– Nun denn?– Nun denn! Da könnte man vielleicht einen Versuch

machen, und wenn man unsere Dienste annähme? . . .– Was meinen Sie? Ballistik zu Gunsten von Auslän-

dern.– Besser, als gar nichts damit treiben, entgegnete der

Obrist.– Allerdings, sagte J. T. Maston, es wäre wohl bes-

ser, aber an so einen Ausweg darf man nicht einmaldenken.

– Und weshalb? fragte der Obrist.– Weil man in der Alten Welt über das Avancement

Ideen hat, die unseren amerikanischen Gewohnheitenschnurstracks zuwider laufen. Die Leute dort meinen,man könne nicht commandirender General werden,

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wenn man nicht zuvor Unterlieutenant gewesen, wasauf dasselbe hinausläuft, als man verstehe nicht eineKanone zu richten, wenn man sie nicht selbst gegossenhat! Nun ist aber selbstverständlich . . .

– Lächerlich! erwiderte Tom Hunter, indem er miteinem Bowie-Messer Schnitte in die Arme seines Lehn-sessels machte; und weil dem so ist, so bleibt uns nichtsübrig, als Tabak zu pflanzen oder Thran zu sieden!

– Wie? rief J. T. Maston mit laut hallender Stimme,wir sollen unsere letzten Lebensjahre nicht auf die Ver-vollkommnung der Feuerwaffen verwenden! Es solltesich keine Gelegenheit mehr ergeben, unsere Geschos-se zu probiren! Der Blitz von unseren Kanonen sollnicht mehr die Luft erhellen! Es sollte sich keine in-ternationale Streitfrage ergeben, die Anlaß gäbe, ei-ner überseeischen Macht den Krieg zu erklären! Solltennicht die Franzosen eins unserer Dampfboote in Grundbohren, und die Engländer sollten nicht mit Verach-tung des Völkerrechts etliche unserer Landsleute hän-gen!

– Nein, Maston, entgegnete der Obrist Blomsberry,dies Glück wird uns nicht werden! Nein! Kein einzigerdieser Fälle wird eintreten, und geschähe es, so wür-den wir ihn nicht benützen! Das amerikanische Selbst-gefühl schwindet von Tag zu Tag, und wir werden zuWeibern!

– Ja, wir sinken herab! erwiderte Bilsby.

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– Und man drückt uns herab! entgegnete Tom Hun-ter. – Dies Alles ist nur allzu wahr, erwiderte J. T. Ma-ston mit erneuter Heftigkeit. Tausend Gründe sich zuschlagen lassen sich aus der Luft greifen, und manschlägt sich nicht! Man will Arme und Beine schonen,und das zu Gunsten von Leuten, die nichts damit an-zufangen wissen! Und, denken Sie, man braucht einenGrund zum Krieg nicht so weit herzuholen: hat nichtNord-Amerika einst den Engländern gehört?

– Allerdings, erwiderte Tom Hunter, indem er mitseiner Krücke das Feuer schürte.

– Nun denn! fuhr J. T. Maston fort, warum solltenicht England einmal an die Reihe kommen, den Ame-rikanern zu gehören?

– Das wäre nur recht und billig, erwiderte lebhaftder Obrist Blomsberry.

– Machen Sie einmal dem Präsidenten der Vereinig-ten Staaten den Vorschlag, rief J. T. Maston, und Siewerden sehen, wie er Sie empfangen wird!

– Gewiß wohl schlecht, brummte Bilsby zwischenden Zähnen, die er noch hatte.

– Meiner Treu! rief J. T. Maston, auf meine Stimmehat er nicht mehr zu rechnen!

– Auch auf die unsrigen nicht, erwiderten einstim-mig die kriegerischen Invaliden.

– Unterdessen, erwiderte J. T. Maston zum Schluß,giebt man mir nicht Gelegenheit, meinen neuen Mör-ser auf einem wirklichen Schlachtfeld zu probiren, so

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trete ich aus dem Gun-Club und vergrabe mich in denSavannen von Arkansas!

– Da gehen wir mit, erwiderten die Genossen deskühnen J. T. Maston.«

So standen die Dinge, die Geister erhitzten sich, undder Club war mit naher Auflösung bedroht, als ein un-erwartetes Ereigniß dazwischen kam. Tags nach dieserUnterredung erhielt jedes Mitglied der Gesellschaft einfolgendermaßen abgefaßtes Circular:

Baltimore, 3. October.»Der Präsident des Gun-Clubs beehrt sich, seine Col-

legen zu benachrichtigen, daß er in der Sitzung am 5.d. eine Mittheilung zu machen hat, welche sie lebhaftinteressiren wird. Demnach bittet er sie, ungesäumtder im Gegenwärtigen enthaltenen Einladung zu fol-gen.

Mit herzlichem GrußImpey Barbicane, Präsident.«

2. MITTHEILUNG DES PRÄSIDENTEN BARBICANE.

Am 5. October um acht Uhr Abends drängte sich einedichte Menge in den Sälen des Gun-Clubs, 21. Union-square. Alle zu Baltimore einheimischen Mitglieder derGesellschaft hatten sich auf die Einladung ihres Präsi-denten dahin begeben. Die correspondirenden langtenmit Expreß zu Hunderten in der Stadt an, und so großauch die Sitzungshalle war, so konnte die Menge derGelehrten darin nicht mehr Platz finden; sie strömte

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über in die anstoßenden Säle, die Gänge bis mitten indie äußeren Höfe, wo sie mit dem gewöhnlichen Volkzusammentraf, das sich an den Eingängen drängte: in-dem jeder in die vordersten Reihen zu gelangen trach-tete, alle voll Begierde, die wichtige Mittheilung desPräsidenten Barbicane zu vernehmen, stieß und schobman sich herum, zerdrückte sich mit jener Freiheit desHandelns, welche den in den Ideen des self-governmenterzogenen Massen eigenthümlich ist.

An jenem Abend hätte ein zu Baltimore anwesenderFremder um keinen Preis in den großen Saal gelan-gen können; derselbe war ausschließlich den einhei-mischen Mitgliedern oder den Correspondenten vorbe-halten; kein Anderer konnte darin einen Platz bekom-men; und die Notablen der Stadt, die Mitglieder desRathes der »Auserkorenen« hatten sich unter die Men-ge ihrer Untergebenen mengen müssen, um flüchtig zuerhaschen, was drinnen vorging.

Die unermeßlich große Halle bot den Blicken einenmerkwürdigen Anblick dar. Das umfassende Local warzum Erstaunen für seine Bestimmung geeignet. HoheSäulen, aus übereinandergesetzten Kanonen gebildet,auf einer dicken Unterlage von Mörsern, trugen diefeinen Verzierungen des Gewölbes, gleich Spitzen ausGuß gefertigt. Vollständige Rüstungen von Stutzern,Donnerbüchsen, Büchsen, Karabinern, alle Feuerwaf-fen alter und neuer Zeit, waren an den Wänden mit

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malerischen Verschlingungen gruppirt. Das Gas ström-te in vollen Flammen aus tausend Revolvern, die inForm von Lustren zusammengeordnet waren, währendGirandolen von Pistolen und Candelaber aus Bündelnvon Flintenläufen gebildet, die glänzende Beleuchtungvollendeten. – Die Kanonenmodelle, die Probemustervon Bronze, die durchlöcherten Zielscheiben, die vonKugeln des Gun-Clubs zerschossenen Platten, die Aus-wahl von Setzern und Wischern, die Rosenkränze vonBomben, die Halsbänder von Geschossen, die Guirlan-den von Granaten, kurz alle Werkzeuge des Artilleri-sten überraschten das Auge durch ihre Staunen erre-gende Anordnung, und erweckten den Gedanken, daßsie in Wahrheit mehr zum Schmuck, als zum Mordenbestimmt seien.

Am Ehrenplatze sah man unter einer glänzendenGlasglocke ein zerbrochenes, vom Pulver zerdrehtesStück von einem Kanonenstoß, kostbares Reststückvon der Kanone J. T. Maston.

Am Ende des Saales saß auf einem breiten Sonder-platze der Präsident, umgeben von vier Secretären.Sein Sitz, der sich auf einer mit Schnitzwerk geziertenLafette befand, war im Ganzen gleich einem starkenMörser von 32 Zoll geformt, unter einem Winkel vonneunzig Grad aufgeprotzt und an Zapfen befestigt, sodaß der Präsident sich auf demselben, wie auf einemSchaukelstuhl (rocking-chair) in angenehmster Weiseschaukeln konnte. Auf dem Schreibtisch, einer breiten

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Platte von Eisenblech auf sechs Caronaden,1 sah manein besonders geschmackvolles Dintenfaß, das aus ei-ner kostbar gemeißelten Biskayer Büchse gebildet war,und eine Donnerglocke, die bei Gelegenheit wie einRevolver knallte. Bei heftigem Streit reichte diese neuerfundene Glocke manchmal kaum hin, die Stimmendieser Legion von erhitzten Artilleristen zu übertönen.

Vor dem Schreibtisch waren kleine Bänke im Zick-zack, gleich den Linien einer Verschanzung, aufgestelltund bildeten eine Reihenfolge von Basteien und Cour-tinen. Auf diesen saßen die Mitglieder des Gun-Clubs,und diesen Abend konnte man sagen, »es fehlte nichtan Mannschaft auf den Wällen«. Man kannte den Prä-sidenten gut genug, um zu wissen, daß er ohne dengewichtigsten Grund seine Collegen nicht in Bewegunggesetzt hätte.

Impey Barbicane war ein Mann von 40 Jahren, ru-hig, kaltblütig, streng, von außerordentlich ernstemund concentrirtem Geist, pünktlich wie ein Chronome-ter, von erprobtem Temperament, unerschütterlichemCharakter, wenig ritterlich, doch abenteuerlich, abervoll praktischer Ideen, selbst bei den verwegensten Un-ternehmungen; – er war in hervorragender Weise derMann Neu-Englands, der nordische Pflanzer, der Ab-kömmling jener Rund-Köpfe, die einst den Stuarts so

1Eine Art kleiner Kanonen von kurzem Lauf.

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gefährlich wurden, der unversöhnliche Feind der süd-lichen Gentlemen, jener vormaligen Junker des Mut-terlandes. Mit einem Wort, er war ein Yankee reinstenWassers durch und durch.

Barbicane hat sich im Holzhandel ein großes Vermö-gen erworben; während des Krieges zum Artilleriedi-rector ernannt, zeigte er sich fruchtbar an Erfindun-gen, kühn in Ideen, trug viel zu den Fortschritten die-ser Waffe bei, und gab den experimentalen Forschun-gen einen unvergleichlichen Schwung.

Ein Mann von mittlerer Statur hatte er – selteneAusnahme im Gun-Club – ganz wohlbehaltene Glieder.Seine scharf ausgeprägten Gesichtszüge waren wie mitdem Lineal nach dem Winkelmaße geschnitten, undwenn es wahr ist, daß man, um eines Menschen in-stinctiven Charakter zu erkennen, ihn im Profil anse-hen müsse, so konnte man bei ihm darin die deutlich-sten Anzeigen von Energie, Kühnheit und Kaltblütig-keit wahrnehmen.

In diesem Augenblick war er in seinem Lehnstuhlunbeweglich, stumm, in Gedanken versenkt, den Blicknach innen gerichtet, mit einem hochgeformten Hut, –schwarzem Seidencylinder –, welcher, scheint es, denamerikanischen Schädeln angeschraubt ist.

Das lärmende Geplauder seiner Collegen um ihn herstörte ihn nicht; sie fragten sich einander, schweiftenauf dem Feld der Vermuthungen, forschten in den Zü-gen ihres Präsidenten, und trachteten vergeblich das

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X seiner undurchdringlichen Physiognomie heraus zubekommen.

Als die Uhr des großen Saales mit Donnerschlägendie Stunde verkündete, erhob sich Barbicane plötzlich,als wie von einer Sprungfeder emporgeschnellt. Alleslauschte, und der Redner ließ sich mit etwas emphati-schem Ton folgendermaßen vernehmen:

»Tapfere Collegen, schon allzu lange hat ein un-fruchtbarer Friede die Mitglieder des Gun-Clubs in be-dauerliche Unthätigkeit versetzt. Nach vier so ereigniß-vollen Jahren mußten wir unsere Arbeiten einstellenund auf dem Wege des Fortschritts plötzlich Halt ma-chen. Ich nehme keinen Anstand, es laut auszuspre-chen, jeder Krieg, der uns wieder die Waffen in dieHand gäbe, würde willkommen sein . . . «

– Ja, der Krieg! rief stürmisch J. T. Maston.– Hört! Hört! vernahm man allerwärts.»Aber der Krieg«, sagte Barbicane, »ist unter gegen-

wärtigen Umständen unmöglich; und was sich auchder ehrenwerthe College, welcher mich unterbrach, fürHoffnungen machen mag, es wird eine Reihe von Jah-ren verfließen, ehe unsere Kanonen wieder auf einemSchlachtfeld donnern. Das muß man sich nun gefallenlassen, und in einem andern Ideenkreise Nachahmungfür unseren Thätigkeitstrieb suchen.«

Da die Versammlung merkte, daß ihr Präsident nunauf den Hauptpunkt kam, verdoppelte sie ihre Auf-merksamkeit.

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»Seit einigen Monaten, wackere Collegen«, fuhr Bar-bicane fort, »habe ich darüber nachgedacht, ob wirnicht – doch innerhalb unseres Specialfachs – im Stan-de wären, eine große, des neunzehnten Jahrhundertswürdige Forschung vorzunehmen, und ob nicht dieFortschritte in der Ballistik uns in den Stand setzten,sie glücklich auszuführen. Zu dem Ende habe ich ge-forscht, gearbeitet, Berechnungen angestellt, und dasErgebniß meiner Studien war die Ueberzeugung, daßwir bei einer Unternehmung, die in jedem anderenLande unausführbar sein würde, zu einem glücklichenZiele gelangen müssen. Ueber dieses reiflich durch-dachte Project will ich Ihnen nähere Mittheilung ma-chen; es ist Ihrer würdig, würdig der Vergangenheitdes Gun-Clubs, und wird unfehlbar großes Aufsehenin der Welt machen!«

– Viel Aufsehen? rief ein leidenschaftlicher Artille-rist.

»Sehr viel Aufsehen, im echten Sinne des Worts«, er-widerte Barbicane.

– Nicht unterbrechen! rief es von anderen Seiten.»Ich bitte Sie also, wackere Collegen«, fuhr der Prä-

sident fort, »mir Ihre volle Aufmerksamkeit zu schen-ken.«

Unwillkürliche Bewegung ergriff die Versammlung.Barbicane rückte rasch seinen Hut und drückte ihnfest, dann fuhr er mit ruhiger Stimme fort:

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»Es ist keiner unter Ihnen, wackere Collegen, dernicht den Mond gesehen, oder mindestens von ihmsprechen gehört hätte. Wundern Sie sich nicht, daß ichSie hier über das Gestirn der Nacht unterhalte. Viel-leicht ist’s uns vorbehalten, für diese unbekannte Weltdie Rolle des Columbus zu spielen. Begreifen Sie mich,unterstützen Sie mich mit allen Kräften, so will ich Sieführen, diese Eroberung zu machen, und der Name desMondes wird sich denen der 36 Staaten anreihen, wel-che den großen Bund dieses Landes bilden.«

– Hurrah dem Mond! rief der Gun-Club wie mit einerStimme.

»Man hat viel Studien über den Mond gemacht«,fuhr Barbicane fort. »Seine Masse, Dichtigkeit, sein Ge-wicht und Umfang, seine Beschaffenheit, Bewegungen,Entfernung, seine Rolle in der Sonnenwelt sind nun ge-nau bekannt; man hat Mondkarten gefertigt, welche anvollkommener Ausführung den Erdkarten wenigstensgleich kommen, wofern sie dieselben nicht übertreffen;die Photographie hat von unserem Trabanten Muster-bilder von unvergleichlicher Schönheit geliefert. Kurz,man weiß von dem Mond Alles, was die mathema-tischen Wissenschaften, Astronomie, Geologie, Optikuns lehren können; aber bis jetzt ist noch nie ein di-recter Verkehr mit demselben hergestellt worden.«

Bei diesem Satz des Redners gab sich eine heftigeBewegung des Interesses und der Ueberraschung zuerkennen.

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»Gestatten Sie mir«, fuhr derselbe fort, »mit einigenWorten daran zu erinnern, wie einige glühende Geisterin phantasievollen Reisebeschreibungen vorgaben, dieGeheimnisse unseres Trabanten ergründet zu haben.Im siebenzehnten Jahrhundert rühmte sich ein gewis-ser David Fabricius, die Bewohner des Mondes mit ei-genen Augen gesehen zu haben. Im Jahre 1649 veröf-fentlichte ein Franzose J. Beaudoin, eine Reise in denMond, von dem spanischen Abenteurer Dominico Gon-zalez unternommen. Zu derselben Zeit ließ Cyrano deBergerac die berühmte Expedition, welche in Frank-reich so viel Erfolg hatte, erscheinen. Später schriebein anderer Franzose, Fontenelle mit Namen, über dieMehrheit der Welten ein Hauptwerk; aber die Wissen-schaft überbietet in ihrem Fortschritt auch die Meister-werke! Um’s Jahr 1835 erzählte ein aus dem New-YorkAmericain übersetztes Werkchen, Sir J. Herschel, derzum Zweck der astronomischen Studien an’s Cap derguten Hoffnung gesendet worden war, habe vermittelsteines vervollkommneten Teleskops den Mond bis aufeine Entfernung von achtzig Yards1 nahe gebracht. Dahabe er ganz deutlich Höhlen beobachtet, worin Fluß-pferde hausten, grüne mit Goldsaum befranzte Berge,Schöpfe mit Hörnern von Elfenbein, weiße Rehe, Be-wohner mit pergamentgleichen Flügeln, wie bei denFledermäusen. Dieses von einem Amerikaner NamensLocke verfaßte Werkchen hatte großen Erfolg. Bald

1Der Yard ist etwas kleiner als ein Meter.

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aber erkannte man darin eine Mystification der Wis-senschaft, und die Franzosen lachten zuerst darüber.«

– Ueber einen Amerikaner lachen! rief J. T. Maston,da haben wir ja einen Casus belli . . .

»Beruhigen Sie sich, mein würdiger Freund. Bevordie Franzosen lachten, haben sie sich von unseremLandsmanne vollständig anführen lassen. Ich füge bei,daß ein gewisser Hans Pfaal aus Rotterdam in ei-nem Ballon, der mit Stickstoffgas gefüllt war, welches35mal leichter als Wasserstoffgas ist, in neunzehn Ta-gen bis zum Mond gelangte. Diese Reise war, gleich dervorausgehenden, nur eine Phantasie-Unternehmung,aber sie hatte einen populären amerikanischen Schrift-steller, der ein Genie von seltenem Tiefsinn war, Poé,zum Verfasser.«

– Hurrah dem Edgar Poé! rief die Versammlung vollBegeisterung.

»So viel«, fuhr Barbicane fort, »von den Versuchen,die als lediglich wissenschaftlich durchaus ungenü-gend sind, um ernstlich Verbindungen mit dem Gestirnder Nacht einzurichten. Doch muß ich hinzufügen, daßeinige praktische Geister den Versuch machten, sichwirklich mit ihm in Verbindung zu setzen. Vor eini-gen Jahren machte ein deutscher Geometer den Vor-schlag, eine Commission von Gelehrten in die SteppenSibiriens zu schicken. Dort solle man auf ungeheuerausgedehnten Ebenen unermeßliche geometrische Fi-guren mit Hilfe beleuchteter Metallspiegel entwerfen,

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unter anderen das Quadrat der Hypothenuse, das dieFranzosen gewöhnlich ›Eselsbrücke‹ nennen. ›Jedes in-telligente Wesen‹, sagt der Geometer, ›muß die wis-senschaftliche Bedeutung dieser Figur begreifen. Wennes nun Mondbewohner giebt, so werden sie mit einerähnlichen Figur antworten, und ist einmal die Verbin-dung eingerichtet, so ist’s keine schwere Sache, ein Al-phabet zu schaffen, welches in Stand setzt, sich mitden Bewohnern des Mondes zu unterhalten.‹ So lautetder Vorschlag des deutschen Geometers, aber er kamnicht zur Ausführung, und bis jetzt ist noch keine di-recte Verbindung zwischen der Erde und ihrem Tra-banten eingerichtet. Aber es ist dem praktischen Genieder Amerikaner vorbehalten, die Verbindung mit derSternenwelt in’s Leben zu rufen. Das Mittel dafür isteinfach, leicht, sicher, unfehlbar; mein Vorschlag wird’sIhnen auseinandersetzen.«

Lautes Beifallgeschrei, ein Sturm von Zurufen erfolg-te. Es war auch nicht ein Einziger unter den Anwesen-den, der nicht von den Worten des Redners bewältigt,hingerissen wurde.

– Hört! Hört! Stille doch! rief man auf allen Seiten.Als es wieder ruhig geworden, fuhr Barbicane mit

ernsterer Stimme fort:»Sie wissen, welche Fortschritte die Ballistik seit ei-

nigen Jahren gemacht hat, und zu welch hohem Gra-de der Vollkommenheit diese Waffen gelangt wären,

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wenn der Krieg fortgedauert hätte. Ebenso ist’s Ih-nen im Allgemeinen nicht unbekannt, daß die Wider-standskraft der Kanonen und die Treibkraft des Pulversohne Grenzen sind. Nun! von diesem Grundgedan-ken ausgehend, habe ich mir die Frage gestellt, ob esnicht, vermittelst hinreichender Vorrichtung innerhalbbestimmter Widerstandsbedingungen, möglich wäre,ein Geschoß bis zum Mond zu entsenden!«

Bei diesen Worten entfuhr ein staunendes »Oh!« ausbeklommener Brust von Tausenden; dann nach einerkleinen Pause, gleich der Stille, welche dem Donnervorausgeht, entlud sich ein gewitterartiger Beifalls-sturm von Schreien und Rufen, daß der Sitzungssaaldavon erbebte. Der Präsident versuchte zu sprechen;vergebens. Erst nach zehn Minuten konnte er zumWort kommen.

»Lassen Sie mich ausreden«, fuhr er kalt fort. »Ichhabe die Frage unter allen Gesichtspunkten betrach-tet, habe sie entschlossen angefaßt, und aus meinenunbestreitbaren Berechnungen ergiebt sich, daß jedesGeschoß, das mit einer anfänglichen Geschwindigkeitvon 12,000 Yards1 in der Secunde in der Richtung nachdem Mond hin abgeschleudert wird, nothwendig dortanlangen muß. Ich habe daher die Ehre, meine wacke-ren Collegen, Ihnen dieses kleine Experiment vorzu-schlagen!«

1Ohngefähr 11,000 Meter.

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3. WELCHEN EINDRUCK BARBICANE’S MITTHEILUNG

MACHTE.

Der Eindruck, welchen diese letzten Worte des eh-renwerthen Präsidenten machten, läßt sich nicht be-schreiben. Das war ein Schreien! ein Grunzen! ein Ru-fen mit Hurrah! Hip! Hip! Hip! und allen den Nat-urlauten, woran die amerikanische Sprache so reichist; es war ein Getümmel, ein Lärmen ohne Gleichen!Die Kehlen schrieen, die Hände klaschten, die Füßestampften den Boden. Kein Wunder das: es giebt Ka-noniere, die im Lärmen mit ihren Kanonen wetteifern.

Barbicane bewahrte mitten in diesem Enthusiasmusseine Kaltblütigkeit; seine Handbewegungen fordertenvergebens zur Stille auf, die donnernden Töne seinerGlocke wurden nicht gehört. Man riß ihn von seinemPräsidentenstuhl und trug ihn im Triumph umher.

Ein Amerikaner läßt sich nicht in Bestürzung ver-setzen. Für den Begriff »unmöglich« findet sich in sei-nem Wörterbuch kein Ausdruck. In Amerika ist Allesleicht, einfach, die mechanischen Schwierigkeiten sindwie todtgeboren. Ein wahrer Yankee war nicht im Stan-de, nur einen Schein von Schwierigkeit zwischen Bar-bicane’s Vorschlag und seiner Ausführung zu erkennen.Gesagt, gethan.

Der Triumphzug des Präsidenten dauerte den gan-zen Abend; es war ein echter Fackelzug. Irländer, Fran-zosen, Schotten, alle die gemischten Nationalitäten,woraus die Bevölkerung Marylands besteht, schrieen

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in ihrer Muttersprache, und es mischten sich die Vivat!Hurrah! und Bravo! in einem Schwung, der über alleBeschreibung geht.

Luna, als begriffe sie, daß es sich um sie handle,strahlte in heiterer Pracht, die irdischen Feuer ver-dunkelnd. Alle Yankees richteten die Blicke nach ih-rer glänzenden Scheibe; die Einen grüßten sie mit derHand, die Anderen mit zärtlichen Worten; diese maßensie mit den Augen, Andere drohten mit der Faust: einOptiker hatte bis Mitternacht nur Augengläser zu ver-kaufen. Frau Luna wurde wie eine Dame der hochvor-nehmen Welt lorgnettirt, und das mit einer Rücksichts-losigkeit, wie sie amerikanischen Gutsbesitzern eigenist. Gerade als gehöre die blonde Phöbe bereits ihrenkühnen Eroberern an als Gebietstheil der Union. Unddoch handelte sich’s erst darum, ein Geschoß zu ihrzu schleudern: eine ziemlich brutale Art Verbindungenanzuknüpfen, selbst gegenüber einem Trabanten; dochist sie unter den civilisirten Nationen sehr in Gebrauch.

Es war Mitternacht, und der Enthusiasmus war aufseinem Höhepunkt, verbreitete sich gleichmäßig un-ter allen Klassen der Bevölkerung: die Stadtbehörden,Gelehrten, Großhändler und Kaufleute, Lastträger, ver-ständige Leute und Gelbschnäbel, fühlten sich bis indie zartesten Fasern des Daseins aufgeregt; es handeltesich um eine National-Unternehmung; so waren dennauch die Ober- und Unterstadt, die Quais an den Uferndas Patapsco, die Fahrzeuge in ihren Bassins dicht voll

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gedrängt von einer Menge im Rausch der Freude, desGin und Whisky;1 jeder plauderte, schwatzte, dispu-tirte, discutirte, billigte, klatschte, von dem Gentle-man, der auf dem Kanapee der Schenkstube vor sei-nem Schoppen Sherry-Cobbler2 flegelhaft hingestrecktlag, bis zu dem Bootsmann, der in den dunklen Knei-pen von Fells-Point sich mit »Knock me down«3 betrank.

Gegen zwei Uhr legte sich die Aufregung. Nun ge-lang es dem Präsidenten heim zu kommen, wie ein ge-räderter Mann. Es gehörte eine Herkulesnatur dazu,solch einen Enthusiasmus zu bestehen. Die Menge aufden Straßen verlief sich allmälig. Die vier Eisenbahnen,welche in Baltimore zusammentreffen, nach dem Ohio,Susquehanna, Philadelphia und Washington, führtendas auswärtige Publicum nach den vier Weltgegendenzurück, und die Stadt kam wieder in einen verhältniß-mäßig ruhigeren Zustand.

Uebrigens wäre es ein Irrthum, wenn man glaub-te, nur zu Baltimore habe diesen Abend solche Auf-regung geherrscht. Die großen Städte der Union,New-York, Boston, Albany, Washington, Richmond,

1Wachholder- und Kornbranntwein.2Eine Mischung von Rum, Orangensaft, Zucker, Zimmt und

Muscade. Dieser gelbe Trank wird mit gläsernen Röhren aus denSchoppengläsern eingesogen.

3Ein starkes Bier.

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Crescent-City,1 Charleston, Mobile, von Texas bis Mas-sachussets, von Michigan bis Florida, nahmen al-le Theil an der Schwärmerei der Begeisterung. Die30,000 correspondirenden Mitglieder des Gun-Clubskannten ja den Brief ihres Präsidenten, und wartetenmit gleicher Ungeduld auf die merkwürdige Mitthei-lung des 5. October. Sowie daher die Worte des Red-ners seinen Lippen entströmten, wurden sie noch den-selben Abend von den Telegraphendrähten durch al-le Staaten der Union befördert, mit einer Schnelligkeitvon 248,447 (engl.) Meilen2 in der Secunde. Man kannalso ganz bestimmt sagen, daß die Vereinigten StaatenAmerikas, welche zehnmal so groß als Frankreich sind,in demselben Augenblick in einem einzigen Hurrah zu-sammen stimmten, und daß 25 Millionen Herzen, vonStolz geschwellt, denselben Pulsschlag fühlten.

Am folgenden Morgen nahmen 15,000 Journale,Tags- und Wochenblätter, monatliche und zweimo-natliche Zeitschriften, die Frage in Betrachtung; sieprüften dieselbe unter den verschiedenen Gesichts-punkten, dem physischen, meteorologischen, ökono-mischen oder moralischen, auf dem Standpunkt desUebergewichts in Politik oder Civilisation. Man frag-te, ob denn der Mond ein fertiger Weltkörper sei, odernoch Umbildungen unterworfen. Glich er der Erde zuder Epoche, da dieselbe noch keine Atmosphäre hatte?

1New-Orleans.2100,000 Lieues, die Schnelligkeit der Elektricität.

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Welchen Anblick würde seine unsichtbare Seite un-serer Erdkugel darbieten? Obwohl es sich nur erst dar-um handelte, eine Kugel dahin zu schleudern, so sa-hen doch Alle, daß eine Reihe von Untersuchungenvon diesem Punkt ausgehen würden; Alle gaben sichder Hoffnung hin, Amerika werde in die tiefverhüll-ten Geheimnisse der mysteriösen Scheibe dringen, undManche schienen sogar zu befürchten, seine Eroberungwerde auffallend das europäische Gleichgewicht stö-ren.

Nachdem das Project besprochen war, setzte keineinziges Blatt seine Ausführbarkeit in Zweifel; dievon den gelehrten, wissenschaftlichen oder religiösenGesellschaften herausgegebenen periodischen Blätter,Brochüren, Bulletins, Magazine strichen seine Vorthei-le heraus, und die »Gesellschaft für Naturgeschichte«zu Boston, die »Amerikanische Gesellschaft der Wis-senschaften und Künste« zu Albany, die »Geographi-sche und Statistische Gesellschaft« zu New-York, die»Amerikanische Philosophische Gesellschaft« zu Phil-adelphia, das »Smithson’sche Institut« zu Washington,sendeten in tausend Zuschriften dem Gun-Club Glück-wünsche, mit unverzüglichen Anerbietungen von Geldund Dienstleistung.

Darum, kann man kecklich versichern, gab’s auchnie einen Vorschlag, dem so viele Anhänger zufielen;von Zweifeln, Bedenken, Besorgnissen war keine Rede.In Europa, zumal in Frankreich, hätte wohl die Idee,

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ein Geschoß bis zum Mond zu schleudern, Scherzre-den, Caricaturen, Spottlieder hervorgerufen: so etwashätte sich Jemand nicht einfallen lassen dürfen; kein»Lifepreserver«1 auf der Welt hätte gegen die allgemei-ne Entrüstung geschützt. In der neuen Welt giebt’s Din-ge, die über’s Lachen hinaus sind.

Impey Barbicane wurde daher von dem Tag an dengrößten Bürgern der Vereinigten Staaten angereiht, ergalt etwa für einen Washington der Wissenschaft. Eineinziger Zug kann unter anderen zeigen, bis zu wel-chem Grad die Hingebung eines Volkes an einen Mannplötzlich gestiegen war.

Einige Tage nach der famosen Sitzung des Gun-Clubs kündigte der Director einer englischen Theater-truppe zu Baltimore das Shakespeare’sche »Viel Lär-men um Nichts« an. Da das Stadtvolk darin eine ver-letzende Anspielung auf die Projecte Barbicane’s sah,drang es in den Theatersaal, zertrümmerte die Bänkeund nöthigte den unglücklichen Director, seinen Zettelabzuändern. Als gescheiter Mann beugte er sich demVolkswillen, setzte an die Stelle des leidigen Stücksdesselben Dichters »Wie es Euch beliebt«, und bekameinige Wochen beispiellos enorme Einnahmen.

1Eine Taschenwaffe, bestehend aus biegsamem Fischbein miteiner Metallkugel.

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4. GUTACHTEN DES OBSERVATORIUMS ZU CAMBRIDGE.

Inzwischen verlor Barbicane inmitten der Huldigun-gen, die ihm zu Theil wurden, keinen Augenblick. Vorallem ließ er die Bureaux des Gun-Clubs zu einer Bera-thung sich versammeln. Man beschloß, über die astro-nomische Seite des Unternehmens die Astronomen zubefragen; sodann auf Grund eines Gutachtens dersel-ben sich über die technischen Mittel zu bereden, umnichts zu versäumen, was den Erfolg des großen Ver-suchs sichern könne.

Es wurde daher ein klar und genau abgefaßtesSchreiben mit speciellen Fragen redigirt, und an dasObservatorium zu Cambridge in Massachussets gerich-tet. Dieser Sitz der ersten Universität in den Vereinig-ten Staaten ist durch sein astronomisches Bureau sehrberühmt. Da finden sich die verdienstvollsten Gelehr-ten und das weitreichende Teleskop, mit dessen Hil-fe Bond das Nebelgestirn Andromeda durchdrang undClarke den Trabanten des Sirius entdeckte. Das Ver-trauen des Gun-Clubs zu diesem Institut war also injeder Hinsicht gerechtfertigt.

Zwei Tage nachher traf die so ungeduldig erwarteteAntwort beim Präsidenten Barbicane ein. Folgendes ihrWortlaut:

Der Director des Observatoriums zu Cambridge anden Präsidenten des Gun-Clubs zu Baltimore.

Cambridge, 7. October.

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»Bei Empfang Ihres geehrten, unterm 6. d. im Na-men der Mitglieder des Gun-Clubs zu Baltimore an dasObservatorium zu Cambridge gerichteten Schreibenshat sich unser Bureau unverzüglich versammelt undfür angemessen erachtet, folgendermaßen zu antwor-ten:

Die ihm vorgelegten Fragen sind:1. Ist’s möglich, ein Wurfgeschoß auf den Mond zu

schleudern?2. Welches ist genau berechnet die Entfernung der

Erde von ihrem Trabanten?3. Binnen welcher Zeit hätte das Geschoß bei einer

hinreichenden Anfangsgeschwindigkeit diese Distanzzu durchfliegen; folglich in welchem Zeitpunkt wirdman es abschleudern müssen, damit es in einem be-stimmten Moment auf dem Mond eintreffe?

4. In welchem Zeitpunkt wird der Mond genau inder Stellung sich befinden, welche am günstigsten ist,daß er von demselben getroffen werde?

5. Nach welchem Punkt am Himmel wird das Ge-schütz zu richten sein, womit das Projectil abgeschos-sen werden soll?

6. An welcher Stelle wird sich der Mond am Himmelbefinden, wann das Geschoß abfliegen wird?

Die Antwort auf die erste Frage ist:Ja, es ist möglich, ein Projectil auf den Mond zu

schleudern, wenn es gelingt, demselben eine Anfangs-geschwindigkeit von 12,000 Yards in der Secunde zu

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geben. Richtiger Berechnung nach reicht diese Ge-schwindigkeit hin. Je weiter man sich von der Erdeentfernt, nimmt die Schwerkraft ab im umgekehrtenVerhältniß des Quadrats der Entfernung, also z.B. füreine dreimal größere Entfernung bedarf’s einer neun-mal geringeren Bewegkraft. Folglich wird die Schwe-re des Geschosses reißend abnehmen und endlich völ-lig aufhören im Moment, wo die Anziehungskraft derErde von der des Mondes aufgewogen wird, d.h. bei47 52theilen der Entfernungslinie. In diesem Momentwird das Projectil keine Schwerkraft mehr haben, undsowie es noch weiter fliegt, wirkt die Anziehungskraftdes Mondes auf dasselbe ein, und es fällt auf denMond. Theoretisch ist hiermit die Möglichkeit des Ex-periments bewiesen; ob es gelingt, hängt allein von derKraft der angewendeten Maschine ab.

Auf die zweite Frage lautet die Antwort:Der Mond beschreibt bei seinem Umlauf um die Er-

de nicht einen Kreis, sondern eine Ellipse, worin un-sere Erdkugel einen der Brennpunkte einnimmt; dem-nach befindet sich der Mond in einer bald näheren,bald weiteren Entfernung von der Erde, astronomischausgedrückt, bald in der Erdnähe, bald in der Erdfer-ne. Nun ist der Unterschied zwischen seinem weitestenund nächsten Abstand ziemlich bedeutend, so daß manim besonderen Fall denselben nicht unberücksichtigtlassen darf. Die größte Entfernung des Mondes beträgt

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nämlich 247,525 Meilen (= 99,640 Lieues zu vier Ki-lometer), die geringste nur 218,657 (= 88,010 Lieu-es), so daß der Unterschied 28,895 (= 11,636 Lieues)beträgt, also mehr als den neunten Theil der Umlaufs-linie. Der Abstand der Erdnähe muß nun den Berech-nungen zu Grunde gelegt werden.

Auf die dritte Frage:Wenn das Geschoß die Anfangsgeschwindigkeit von

12,000 Yards in der Secunde, welche man ihm beimAbschießen gäbe, unverändert beibehielte, so bedürf-te es nur etwa neun Stunden, um an dem Ort seinerBestimmung anzulangen; da aber diese Geschwindig-keit in zunehmendem Verhältniß sich beständig ver-mindert, so wird es aller Berechnung nach 300,000Secunden brauchen, d.h. 83 Stunden und 20 Minuten,um an den Punkt zu gelangen, wo die Anziehungskraftder Erde und des Mondes sich aufwiegen, und von die-sem Punkt an bedarf es noch 50,000 Secunden, oder13 Stunden, 53 Minuten und 20 Secunden, um auf denMond zu fallen. Man muß es also 97 Stunden, 13 Mi-nuten und 20 Secunden eher abschießen, als der Mondan dem Punkt, wohin man zielt, ankommen wird.

Auf die vierte Frage:Nach dem Gesagten muß man zuerst die Zeit der

Erdnähe des Mondes wählen, und zugleich den Mo-ment, wo er sich im Zenith1 befinden wird, wodurch

1Zenith nennt man den Punkt des Horizonts, welcher senkrechtüber dem Kopf eines Beobachters ist.

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die Linie, welche das Geschoß zurückzulegen hat, umdas Maaß eines Erdradius kürzer wird, nämlich um3919 Meilen; so daß die zu durchlaufende Linie defini-tiv 214,976 Meilen (= 86,410 Lieues) betragen wird.Aber wenn auch der Mond allmonatlich in seine Erdnä-he kommt, so steht er in dem Moment nicht immer imZenith: ein Zusammentreffen, welches nur in langenZwischenräumen stattfindet. Solch ein Zusammentref-fen der Erdnähe mit dem Zenithstand ist also abzu-warten. Glücklicherweise wird am vierten Decemberfolgenden Jahres sich bei dem Mond diese doppelteBedingung ergeben: um Mitternacht wird er in seineErdnähe treten, d.h. seinen kürzesten Abstand von derErde, und zu gleicher Zeit wird er im Zenith stehen.

Auf die fünfte Frage:Die vorausgehenden Bemerkungen zu Grunde ge-

legt, wird das Geschütz auf den Zenith des Ortes ge-richtet werden müssen; dergestalt wird der Schuß per-pendiculär auf die Fläche des Horizonts gehen, unddas Geschoß wird um so schneller der Anziehungs-kraft der Erde entzogen. Aber damit der Mond in denZenith eines Ortes zu stehen komme, darf dieser Ortnicht unter höherem Breitegrad liegen, als die Abwei-chung dieses Gestirns vom Aequator beträgt, mit an-deren Worten, er muß zwischen 0◦ und 28◦ nördlicheroder südlicher Breite sich befinden. An jedem anderenOrt würde der Schuß nothwendig in schiefer Richtung

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geschehen, was dem Gelingen des Experiments hinder-lich sein würde.

Auf die sechste Frage:Im Augenblick, wo das Projectil in den Weltraum ge-

schleudert wird, muß der Mond, der in seiner Bahntäglich 13 Grad, 10 Minuten und 35 Secunden läuft,sich viermal so weit vom Zenithpunkt entfernt befin-den, nämlich 52 Grad, 42 Minuten und 20 Secun-den, denn so lange wird er noch zu laufen haben.Aber da man auch die Abweichung in Anschlag brin-gen muß, welche die Bewegung der Erde um ihre Ach-se bei dem Geschoß hervorbringen wird, und da das-selbe erst nach einer Abweichung von sechzehn Halb-durchmesser der Erde auf dem Mond ankommen wird,welche auf der Mondscheibe gemessen ohngefähr elfGrad ausmachen, so muß man diese elf Grad noch zudenen hinzurechnen, welche die erwähnte Zögerungdes Mondes ausdrücken, nämlich rund 64 Grad. Sowird also im Moment des Schusses die nach dem Mondgerichtete Sehlinie mit der verticalen des Ortes einenWinkel von 64 Grad bilden.«

So lauteten die Antworten, welche auf die dem Ob-servatorium zu Cambridge von den Mitgliedern desGun-Clubs gestellten Fragen ertheilt wurden. Resumi-ren wir:

»1. Das Geschütz muß in einem Land zwischen 0◦

und 28◦ nördlicher oder südlicher Breite aufgestelltwerden.

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2. Es muß auf den Zenith des Ortes gerichtet wer-den.

3. Dem Geschoß muß eine anfängliche Geschwindig-keit von 12,000 Yards in der Secunde gegeben werden.

4. Es muß am ersten December des folgenden Jah-res um 11 Uhr, weniger 13 Minuten und 20 Secunden,abgeschossen werden.

5. Es wird vier Tage hernach, am vierten December,Punkt zwölf Uhr Nachts, in dem Moment, wo der Mondin den Zenith treten wird, dort anlangen.

Die Mitglieder des Gun-Clubs müssen also unver-züglich die für eine solche Unternehmung erforder-lichen Arbeiten vornehmen, um zu dem bestimmtenZeitpunkt zum Operiren bereit zu sein; denn, lassensie diesen vierten December vorübergehen, so werdensie erst achtzehn Jahre und elf Tage hernach den Mondwieder in demselben Verhältniß der Erdnähe und desZeniths finden.

Das Bureau des Observatoriums zu Cambridge stelltsich ihnen für die Fragen theoretischer Astronomie zuVerfügung, und vereinigt seine Glückwünsche mit de-nen ganz Amerikas.

Für das Bureau:J. M. Belfast,Director des Observatoriums zu Cambridge.«

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5. ROMAN DES MONDES.

Ein mit unendlich scharfem Blick begabter Beobach-ter in dem unbekannten Centrum, um welches die Weltgravitirt, würde zu der Zeit, als das Weltall im Chaoslag, gesehen haben, wie Myriaden Atome den Raum er-füllten. Aber allmälig, im Laufe der Jahrhunderte, gingeine Veränderung vor, indem ein Gesetz der Anziehungauf die bis dahin unsteten Atome wirkte. Diese Atometraten ihrer Verwandtschaft gemäß in chemische Ver-bindung, wurden zu Elementartheilchen und bildetenjene Nebelmassen, welche durch den Himmel in seinenTiefen zerstreut sind.

Diese Massen wurden sogleich von einer Bewegungum ihren Mittelpunkt beseelt. Solch ein Centrum unbe-stimmter Elementarbestandtheilchen begann in allmä-liger Verdichtung sich um sich selbst zu drehen; fer-ner nahm nach unveränderlichen mechanischen Ge-setzen, im Verhältniß wie sein Umfang durch Verdich-tung abnahm, seine Rundbewegung an Schnelligkeitzu; und indem diese beiden Wirkungen fortdauerten,ergab sich dadurch ein Hauptstern, der das Centrumder Nebelmasse bildete.

Bei aufmerksamer Betrachtung würde der Beobach-ter damals gewahrt haben, daß die anderen Element-artheilchen der Masse sich ebenso wie der Centralsternverhielten, sich in eigenthümlicher Weise durch eineRundbewegung von steigender Schnelligkeit verdich-teten, und in Gestalt unzähliger Sterne um denselben

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als ihren Schwerpunkt kreisten. So entstand ein Ne-belflecken, deren die Astronomie jetzt gegen 5000 auf-zählt.

Unter diesen 5000 Nebelflecken befindet sich dievon den Menschen sogenannte Milchstraße, welcheachtzehn Millionen Sterne zählt, deren jeder das Cen-trum einer Sonnenwelt geworden ist.

Hätte der Beobachter damals seine besondere Auf-merksamkeit einem von den achtzehn Millionen Ster-nen, welcher zu den bescheidensten1 und am minde-sten glänzenden gehört, gewidmet, einem Sterne vier-ten Ranges, der mit Stolz Sonne genannt wird, so wür-den sich alle Erscheinungen der Weltbildung der Reihenach vor seinen Augen vollzogen haben.

In der That würde er diese Sonne noch im gasförmi-gen Zustand und aus beweglichen Elementarbestandt-heilchen gebildet gesehen, und gewahrt haben, wie siesich um ihre Achse drehte, um ihr Concentrationswerkzu vollziehen. Er würde beobachtet haben, wie die-se Bewegung, nach den Gesetzen der Mechanik, mitder Abnahme des Umfangs an Schnelligkeit zunahm,und dann ein Zeitpunkt kam, wo die centrifugale Kraftüber die centripetale, welche die Elementarbestandt-heile dem Centrum zutreibt, das Uebergewicht bekam.

Dann wäre vor den Augen des Beobachters eineandere Erscheinung vorgegangen. Er hätte gewahrt,

1Der Durchmesser des Sirius muß nach Wollaston zwölfmal sogroß sein als der der Sonne.

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wie die Elementartheile in der Gegend des Aequators,gleich dem Stein einer Schleuder, deren Schnur plötz-lich zerreißt, sich losmachten und um die Sonne herummehrere concentrische Ringe gleich denen des Saturnbildeten; wie sodann diese aus dem Urstoff bestehen-den Ringe für sich in eine Rundbewegung um die Cen-tralmasse fortgerissen zerbrachen und in Nebelgestirneuntergeordneter Art, d.h. in Planeten auflösten.

Hätte der Beobachter hierauf alle seine Achtsamkeitauf die Planeten gerichtet, so hätte er gewahrt, daßdieselben sich gerade wie die Sonne verhielten und ei-nem oder mehreren kosmischen Ringen den Ursprunggaben, woraus jene Gestirne niederen Ranges entstan-den, welche man Trabanten nennt.

So bekommt man denn, aufsteigend vom Atom zumElementartheilchen, von diesem zum Nebelflecken undweiter zum Nebelgestirn und zum Hauptstern, von die-sem zur Sonne, zu dem Planeten und seinen Trabanten– einen Begriff von der ganzen Reihe der Umbildun-gen, welche die Himmelskörper seit dem Ursprung derWelt erfuhren.

Die Sonne scheint sich in der Unermeßlichkeit derSternenwelt zu verlieren, und dennoch gehört sie,der gegenwärtigen wissenschaftlichen Theorie nach,zu dem Nebelflecken der Milchstraße. So klein sie auchinmitten der ätherischen Räume erscheinen mag, so istsie doch Centrum einer Welt und von enormer Grö-ße, denn diese beträgt 14,000mal die der Erde. Um sie

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herum kreisen acht Planeten, welche zur ersten Schöp-fungszeit aus ihr selbst hervorgegangen sind. Diesesind, vom nächsten zum entferntesten weiter gehend:Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus undNeptun. Außerdem kreisen zwischen Mars und Jupiterregelmäßig noch andere weniger beträchtliche Him-melskörper, vielleicht unstete Trümmer eines in mehre-re tausend Stücke zerbrochenen Gestirns, von welchendas Teleskop bis jetzt 97 entdeckt hat.1

Von diesen abhängigen Körpern, welche die Sonnenach dem großen Gravitationsgesetz in ihrer ellipti-schen Bahn beherrscht, besitzen einige ihre eigenenTrabanten. Uranus hat deren acht, Saturn acht, Jupitervier, Neptun vielleicht drei, die Erde einen; dieser, dereiner der unbedeutendsten der Sonnenwelt ist, heißtMond: derselbe, den das kühne Genie der Amerikanerzu erobern trachtete.

Das Nachtgestirn hat durch seine verhältnißmäßigeNähe und die rasch erneuerte Anschauung seiner Pha-sen von allem Anfang an zugleich mit der Sonne dieAufmerksamkeit der Erdbewohner auf sich gezogen;aber die Sonne ermüdet beim Anblick, und der blen-dende Glanz ihres Lichtes nöthigt ihre Beschauer dieAugen abzuwenden.

Die blonde Phöbe dagegen ist menschenfreundli-cher, läßt sich gefällig in ihrer bescheidenen Anmuth

1Einige dieser Asteroiden sind so klein, daß man in einem Tageum sie herum gehen könnte.

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betrachten; sanft anzuschauen, wenig ehrgeizig, er-laubt sie sich doch zuweilen, ihren Bruder, den strah-lenden Apollo, in Schatten zu stellen, ohne je von ihmverdunkelt zu werden. Die Muhammedaner haben indankbarer Erkenntlichkeit gegen diese treue Freundinder Erde ihre Monate nach ihrem Umlauf geregelt.1

Die Urvölker widmeten dieser keuschen Göttin einenbesonderen Gottesdienst. Die Aegyptier nannten sieIsis, die Phönizier Astarte, die Griechen verehrten sieunter dem Namen Phöbe, Tochter der Latona und Jupi-ter’s, und erklärten ihre Verfinsterungen durch die ge-heimnißvollen Besuche der Diana beim schönen Endy-mion. Der mythologischen Legende nach durchstreifteder Nemeische Löwe, bevor er auf der Erde erschien,die Gefilde Luna’s, und der Dichter Agesianax verherr-lichte in Versen die süßen Augen, die reizende Naseund den freundlichen Mund, welche die bestrahltenTheile der anbetungswürdigen Selene erkennen las-sen.

Aber begriffen auch die Alten den Charakter, dasTemperament, kurz, die moralischen Eigenschaften Lu-na’s vom mythologischen Gesichtspunkt aus, so warendoch selbst die Gelehrtesten derselben in der Seleno-graphie sehr unwissend.

129 12 Tag ungefähr.

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Jedoch entdeckten einige Astronomen der frühestenZeiten einige besondere Eigenschaften, welche zu heu-tiger Zeit von der Wissenschaft bestätigt wurden. Be-haupteten die Arkadier, schon zu einer Zeit, da derMond noch nicht existirte, auf der Erde gewohnt zuhaben; hielt Simplicius ihn für unbeweglich am kry-stallenen Himmelsgewölbe befestigt; sah Tatius ihn alsein von der Sonnenscheibe abgetrenntes Fragment an;nahm des Aristoteles Schüler Klearch ihn als einen po-lirten Spiegel, auf welchem die Gebilde des Oceanssich abstrahlten; sahen Andere in demselben nur ei-ne Anhäufung von Ausdünstungen der Erde, oder eineKugel, die halb aus Feuer, halb aus Eis bestand und sichum sich selbst bewegte: so gab es doch einige Gelehr-te, die trotz dem Mangel an optischen Instrumentendurch scharfsinnige Beobachtung die meisten Gesetzeerriethen, welchen das Nachtgestirn unterworfen ist.

Thales aus Milet äußerte 460 Jahre vor Christus dieMeinung, der Mond sei von der Sonne erleuchtet; Ari-sturch zu Samos gab die richtige Erklärung seiner Pha-sen; Kleomenes lehrte, er strahle entliehenes Licht wie-der. Der Chaldäer Berosus machte die Entdeckung, daßdie Dauer seiner Rundbewegung der seines Umlaufsgleich sei, und erklärte daraus die Thatsache, daß derMond stets die nämliche Seite zeigt. Hipparch endlich,zwei Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung,erkannte einige Ungleichheiten in den anscheinendenBewegungen des Erdtrabanten.

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Diese Beobachtungen bestätigten sich in der Folge,und wurden den neuen Astronomen nützlich. Ptolemä-us im zweiten Jahrhundert, der Araber Abul-Wefa imzehnten, vervollständigten des Hipparch Bemerkungenüber die Ungleichheiten, welche der Mond im Verfol-gen der wellenförmigen Linie seiner Bahn unter Ein-wirkung der Sonne zu erleiden hat. Später haben Ko-pernicus im fünfzehnten Jahrhundert, und Tycho Bra-he im sechzehnten, das Weltsystem und die Rolle, wel-che der Mond unter den Himmelskörpern spielt, voll-ständig dargestellt.

Zu dieser Zeit wurden seine Bewegungen fast voll-ständig bestimmt; aber von seiner physischen Beschaf-fenheit wußte man wenig. Damals erklärte Galiläi diein gewissen Phasen eintretenden Lichterscheinungendurch die Existenz von Bergen, welchen er eine durch-schnittliche Höhe von 4500 Toisen1 beilegte.

Später setzte Helvetius, ein Astronom aus Danzig,die höchsten Angaben auf 2600 Toisen (15,600 par.Fuß) herab; aber sein Genosse Riccioli kam wiederauf 7000 Toisen. Am Ende des achtzehnten Jahrhun-derts beschränkte Herschel, der mit dem stärksten Te-leskop bewaffnet war, diese Maße bedeutend, indemer für die höchsten Berge 1900 Toisen annahm, undals durchschnittliche Höhe nur 400 Toisen (2400 par.Fuß). Aber auch Herschel irrte noch, und es bedurfte

127,000 par. Fuß.

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der Beobachtungen von Schröter, Louville, Halley, Nas-myth, Bianchini, Pastorf, Lohrmann, Gruithuysen, undbesonders der ausdauernden Studien von Beer undMädler, um die Frage entschieden zu lösen. Ihnen ver-dankt man es, daß man jetzt die Höhe der Mondbergegenau kennt. Die Letzteren beiden haben 1905 Berg-höhen gemessen, von denen sechs 2600 Toisen über-ragen, 22 über 2400; ihr höchster Gipfel reicht bis an3801 Toisen über der Mondfläche.

Zu gleicher Zeit wurde die Kenntniß von der Be-schaffenheit des Mondes vollständiger; er zeigte sichvoll Krater, und seine wesentlich vulkanische Naturward durch jede Beobachtung bestätigt. Aus dem Man-gel an Brechung der Lichtstrahlen bei den von ihm ver-deckten Planeten schloß man, daß ihm eine Atmosphä-re fast gänzlich fehle. Aus diesem Mangel an Luft warauf Mangel an Wasser zu schließen. Daraus ergab sichklar, daß die Seleniten, um zu leben, besonders organi-sirt und von den Bewohnern der Erde sehr verschiedensein müßten.

Endlich haben die in Folge der neuen Methodennoch mehr vervollkommneten Instrumente den Mondunablässig untersucht und ließen keinen Punkt sei-ner Oberfläche undurchforscht, und doch mißt seinDurchmesser 2500 Meilen, seine Oberfläche beträgtden dreizehnten Theil der Erdoberfläche, sein Umfangden 49sten Theil der Erdkugel; aber dem Auge derAstronomen blieb keins seiner Geheimnisse verborgen;

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und diese geschickten Gelehrten gelangten mit ihrenwundervollen Beobachtungen noch weiter.

So bemerkten sie, daß zur Zeit des Vollmonds dieScheibe an manchen Stellen von weißen Linien durch-furcht schien, zur Zeit der Phasen mit schwarzen.Durch genauere Studien gelang es ihnen, über die Na-tur dieser Linien sich nähere Auskunft zu verschaffen.Es waren lange, enge Furchen, tief zwischen paralle-len Rändern, welche meist in die Umkreise von Kraternausliefen, von 800 Toisen (4800 Fuß) Breite und zehnbis hundert Meilen Länge. Die Astronomen nanntensie Furchen (Streifen), das war aber auch Alles; dennob es ausgetrocknete Bette vormaliger Flüsse seien,konnten sie nicht bestimmt entscheiden. Daher hofftenauch die Amerikaner, diese geologische Thatsache frü-her oder später in’s Reine zu bringen. Auch behieltensie sich vor, jene Reihe von parallelen Wällen zu durch-forschen, welche der gelehrte Professor Gruithuysenzu München entdeckte, der sie für von seleniten Inge-nieuren errichtete Befestigungswerke hielt. Diese bei-den noch unklaren Punkte, und unstreitig noch vieleandere können wohl nicht eher als nach Herstellungeiner directen Verbindung mit dem Monde in’s Reinegebracht werden.

In Betreff der Stärke seines Lichtes war nichts wei-ter zu lernen; man wußte, daß dasselbe 300,000malschwächer als das Sonnenlicht ist, und daß seine Wär-me nicht berechenbar auf die Thermometer wirkt. Was

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die unter dem Namen »aschfarbiges Licht« bekannteErscheinung betrifft, so ist sie natürlich durch die Wir-kung der von der Erde auf den Mond zurückgewor-fenen Sonnenstrahlen zu erklären, welche die Mond-scheibe zu ergänzen scheinen, wann dieser in Form ei-nes Halbmonds beim ersten und letzten Viertel zu se-hen ist.

Diesen Stand der Kenntnisse, welche man über denTrabanten der Erde gewonnen hatte, in allen Gesichts-punkten, dem kosmographischen, geologischen, poli-tischen und moralischen, zu vervollständigen, machtesich der Gun-Club zur Aufgabe.

6. WAS IN DEN VEREINIGTEN STAATEN NUN NICHT

MEHR UNBEKANNT SEIN KANN, UND WAS MAN NICHT

MEHR GLAUBEN DARF.

Barbicane’s Vorschlag hatte zur unmittelbaren Fol-ge, daß alle astronomischen Thatsachen, welche sichauf das Gestirn der Nacht bezogen, auf die Tagesord-nung kamen. Jeder machte sich daran, dieselbe eifrigzu studiren. Es schien als sei der Mond zum ersten Ma-le am Horizont aufgetreten, und es habe ihn bishernoch Niemand am Himmel gesehen. Luna wurde zurMode: sie wurde Löwin des Tages, ohne deshalb we-niger bescheiden aufzutreten, sie nahm ihren gebüh-renden Rang unter den »Gestirnen« ein, ohne darum

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mehr Stolz erkennen zu lassen. Die Journale wärm-ten die alten Anekdoten wieder auf, worin diese »Son-ne der Wölfe« gepriesen wurde; sie erinnerten an denEinfluß, welchen die Unwissenheit früherer Zeiten ihrgeliehen, und sangen ihre Loblieder in allen Tonarten;fast hätten sie bon mots von ihr zum Besten gegeben;ganz Amerika wurde mondsüchtig.

Die wissenschaftlichen Zeitschriften behandelten ih-rerseits die mit der Unternehmung des Gun-Clubs zu-sammenhängenden Fragen specieller; das Schreibendes Observatoriums zu Cambridge wurde von ihnenveröffentlicht, erläutert und rückhaltlos gebilligt.

Kurz, selbst dem mindest wissenschaftlichen Yankeewar es nicht mehr gestattet, in Beziehung auf seinenTrabanten nur eine einzige Thatsache nicht zu kennen,sowenig wie der bornirtesten alten Mistreß, ferner diein Betreff desselben gehegten abergläubischen Irrthü-mer gelten zu lassen. Die Wissenschaft gelangte unterallen Formen zu ihnen, drang durch die Augen und Oh-ren in ihren Geist; es war nicht mehr möglich, fernerein Esel zu sein . . . in Sachen der Astronomie.

Bisher war es vielen Leuten unbekannt, wie man dieEntfernung des Mondes von der Erde zu berechnen imStande war. Man benützte diesen Umstand sie zu be-lehren, daß man diese Kenntniß durch Messung derParallaxe des Mondes gewinne. Waren sie über die-ses Wort betroffen, so sagte man ihnen, so heiße manden Winkel, welchen zwei gerade Linien bildeten, die

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man von den beiden Enden des Erddurchmessers zudem Monde hinzog. Zweifelten sie an der Zulänglich-keit dieser Methode, so bewies man ihnen unmittelbar,nicht allein, daß dieser mittlere Abstand wohl 234,347(engl.) Meilen (= 94,330 Lieues) betrug, sondern auchdaß die Astronomen sich nicht um siebenzig Meilen irr-ten.

Denen, welche mit den Bewegungen des Mondesnicht genau bekannt waren, erklärten die Journale täg-lich, daß er zwei verschiedene Bewegungen habe, er-stens die Umdrehung um seine Achse, und zweitensden Umlauf um die Erde, welche beide Bewegungen ingleicher Zeit vorgingen, nämlich binnen 27 und einemDrittel Tag.

Die Umdrehung um seine Achse bewirkt für dieMondoberfläche Tag und Nacht; nur daß es binnen ei-nes Monats auf dem Mond nur einen Tag giebt, undnur eine Nacht, von denen jedes 354 und ein DrittelStunden dauert. Aber zum Glück ist die der Erde zuge-kehrte Seite von dieser mit einem Licht bestrahlt, wel-ches vierzehnmal stärker als das Mondlicht ist. Die an-dere, stets unsichtbare Seite hat natürlich 354 Stundenabsolute Nacht, welche nur durch das schwache Licht,das von den Sternen her ihr zufällt, gemildert wird.Diese Erscheinung rührt einzig von der Eigenthümlich-keit her, daß die Bewegungen der Umdrehung und desUmlaufs in vollständig gleicher Zeit vor sich gehen; ei-ne Erscheinung, die nach Cassini und Herschel auch

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bei den Trabanten Jupiter’s, und sehr wahrscheinlichbei allen anderen Trabanten vorkommt.

Manche recht gescheite, aber etwas starre Köpfe be-griffen nicht sogleich, daß, wenn der Mond bei seinemUmlauf um die Erde derselben stets das nämliche Ant-litz zuwendet, er während derselben Zeit sich dabei umsich selber dreht. Zu diesen sagte man: »Treten Sie inIhren Speisesaal und gehen Sie um den Tisch herum,so daß Sie den Blick stets dem Centrum zuwenden;wenn Sie mit diesem Rundgang fertig sind, findet sich,daß Sie zugleich sich selbst umgedreht haben, dennIhr Auge hat nach und nach alle Punkte des Saals an-geblickt. Nun! Der Saal ist der Himmel, der Tisch istdie Erde, und der Mond sind Sie!« – Und sie warenhöchlich befriedigt durch die Vergleichung.

Also, der Mond zeigt der Erde unablässig dieselbeSeite; doch muß man, um exact zu sein, beifügen,daß er, in Folge einer gewissen schwankenden Bewe-gung von Norden nach Süden, und von Westen nachOsten, welche man »Libration« nennt, etwas mehr alsdie Hälfte seiner Scheibe, nämlich ungefähr 57 Hun-derttheile, sehen läßt.

Als die Unwissenden über die Rundbewegung desMondes ebenso viel wußten, als der Director des Ob-servatoriums zu Cambridge, beunruhigten sie sich überseine Umlaufbewegung um die Erde, und 20 wissen-schaftliche Zeitschriften waren rasch bei der Hand, siezu belehren. Sie lernten dabei, daß das Firmament mit

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seinen unzähligen Sternen wie ein großes Zifferblattangesehen werden kann, worauf der Mond herum spa-ziert und allen Erdbewohnern die richtige Stunde an-giebt; daß das Nachtgestirn bei dieser Bewegung seineverschiedenen Phasen zeigt; daß es Vollmond ist, wenner auf der der Sonne entgegengesetzten Seite (in Op-position) steht, d.h. die drei Gestirne in derselben Li-nie, in der Mitte die Erde; Neumond dagegen, wenner seinen Stand zwischen der Erde und der Sonne hat(mit ihr in Conjunction ist); endlich, daß der Mond inseinem ersten oder letzten Viertel sich befindet, wenner an der Spitze eines rechten Winkels steht, welchendie beiden Linien nach der Sonne und der Erde hin,bilden.

Einige scharfsinnige Yankees zogen daraus denSchluß, daß die Verfinsterungen nur zur Zeit der Con-junction oder Opposition stattfinden könnten, und sieurtheilten richtig. Im Stand der Conjunction vermagder Mond die Sonne zu verfinstern, während bei derOpposition die Erde ihn verfinstern kann, und daßnur deshalb die Finsternisse nicht zweimal bei jedemMondumlauf eintreten, weil die Ebene der Mondbe-wegung gegen die Ekliptik, d.h. die Bahn der Erdbe-wegung, geneigt ist.

Was die Höhe betrifft, welche das Nachtgestirn überdem Horizont einnehmen kann, so hatte das Schreibendes Observatoriums in der Hinsicht Alles gesagt. Jederwußte, daß diese Höhe sich nach dem Breitegrad des

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Beobachters ändert. Aber die einzige Zone, für welcheder Mond im Zenith, d.h. gerade über dem Scheitelseiner Bewohner, stehen kann, liegt nur zwischen demAequator und dem 28sten Grad südlicher wie nördli-cher Breite.

Deshalb wurde so dringend empfohlen, das Expe-riment nur auf einem Punkt innerhalb dieser Zonevorzunehmen, damit man das Geschoß senkrecht ab-schleudern und um so schneller der Wirkung derSchwere entziehen könne. Das Gelingen des Vorhabenswar an diese wesentliche Bedingung geknüpft, und dieöffentliche Meinung mußte sich daher lebhaft dafür in-teressiren.

In Betreff der Linie, welche der Mond bei seinerBahn um die Erde beschreibt, hatte das Observatoriumzu Cambridge hinlänglich, auch den Ignoranten allerLänder, gezeigt, daß dieselbe nicht ein Kreis ist, son-dern eine Ellipse, worin sich die Erde an einem derBrennpunkte befindet. Diese elliptischen Bahnen fin-den sich bei allen Planeten, wie bei allen Trabanten,und die rationelle Mechanik beweist mit aller Schärfe,daß es nicht anders möglich ist. Selbstverständlich be-griff man, daß die Erdferne des Mondes seinen Standan demjenigen Punkt seiner Bahn bedeute, welcher amweitesten von der Erde ab liegt, seine Erdnähe den andem nächsten bei derselben.

Dieses also mußte jeder Amerikaner, er mochte wol-len oder nicht, wissen, und anständiger Weise konnte

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Niemand darin unwissend sein. Aber verbreiteten sichauch dergestalt rasch die richtigen Ansichten, so war esnicht so leicht, eine Menge Irrthümer, manche falscheBesorgnisse, auszurotten.

So behaupteten z.B. manche wackeren Leute, derMond sei ein vormaliger Komet, der bei seiner ver-längerten Bahn um die Sonne in der Nähe der Erdevorbeigekommen und in seinem Anziehungskreis fest-gehalten worden sei. Diese Salon-Astronomen meintendamit das verbrannte Aussehen des Mondes zu erklä-ren. Man brauchte ihnen aber nur die Bemerkung zumachen, daß die Kometen eine Atmosphäre haben, derMond keine oder sehr wenig, und sie wußten nichtsdarauf zu erwidern.

Andere äußerten hinsichtlich des Mondes gewisseBesorgnisse. Sie hatten gehört, seit den zur Zeit der Ka-lifen gemachten Beobachtungen nehme seine Umlauf-bewegung an Schnelligkeit in gewissem Verhältniß zu.Daraus folgerten sie ganz logisch, daß einer beschleu-nigten Bewegung eine Verminderung des Abstandesbeider Gestirne entsprechen müsse, und daß, wenndiese doppelte Wirkung in’s Unendliche fortdauere, amEnde der Mond einmal auf die Erde fallen müsse. Dochsie mußten ihre Besorgnisse um die zukünftigen Gene-rationen aufgeben, als man sie lehrte, daß nach La-place’s Berechnungen diese Beschleunigung der Bewe-gung sich in sehr engen Schranken hält, und eine ver-hältnißmäßige Verminderung unfehlbar darauf folgen

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werde, demnach eine Störung des Gleichgewichts inder Sonnenwelt in Zukunft nicht stattfinden könne.

Nun blieben noch die abergläubischen Ignoranten,welche sich nicht darauf beschränken, nichts zu wis-sen, vielmehr wissen, was nicht ist; und hinsichtlichdes Mondes wußten sie ein Langes und Breites. DieEinen sahen seine Scheibe wie einen Polirspiegel an,vermittelst dessen man an verschiedenen Punkten derErde sich sehen und seine Gedanken mittheilen kön-ne. Andere behaupteten, bei tausend Neumonden, dieman beobachtete, seien auf 950 erhebliche Verände-rungen erfolgt, Ueberschwemmungen, Revolutionen,Erdbeben etc.; sie glaubten daher an einen mysteriösenEinfluß des Nachtgestirns auf die menschlichen Schick-sale; sie meinten, jeder Erdbewohner stehe durch einBand der Sympathie mit einem Mondbewohner in Ver-bindung; mit dem Doctor Mead behaupteten sie, dasLebenssystem sei ihm völlig unterworfen, Knaben wür-den nur zur Zeit des Neumonds geboren, Mädchen zurZeit des letzten Viertels etc. etc. Aber endlich muß-ten sie diese Irrthümer aufgeben; und wenn der Mond,seitdem er seines Einflusses beraubt ist, in den Augengewisser Leute, die allen Mächtigen den Hof machen,gesunken ist, wenn Manche ihm den Rücken kehrten,so erklärte sich die immense Majorität zu seinen Gun-sten. Die Yankees hatten keinen anderen Ehrgeiz mehr,als den, von diesem neuen Continent der Lüfte Besitzzu ergreifen, und das Sternenbanner der Vereinigten

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Staaten Amerikas auf seinem höchsten Gipfel aufzu-pflanzen.

7. LOBLIED DER KUGEL.

Das Observatorium zu Cambridge hatte in seinemmerkwürdigen Schreiben vom 7. October die Fragevom astronomischen Gesichtspunkte aus behandelt;nun handelte sich’s um die technische Lösung dersel-ben. In jedem anderen Lande hätte man die prakti-schen Schwierigkeiten für unüberwindlich gehalten. InAmerika war’s nur ein Spiel.

Ohne Zeit zu verlieren, hatte der Präsident Barbica-ne im Schooße des Gun-Clubs ein Ausführungscomitéernannt. Dieses sollte in drei Sitzungen die drei großenFragen, der Kanone, des Projectils und des Pulvers, be-leuchten. Es waren vier sehr sachverständige Mitglie-der: Barbicane, mit überwiegender Stimme bei Stim-mengleichheit, der General Morgan, der Major Elphi-ston, und der unvermeidliche J. T. Maston als bericht-erstattender Secretär.

Am 8. October versammelte sich das Comité bei demPräsidenten Barbicane, 3 Republican-street. Da bei ei-ner so ernsten Berathung der Magen keine Störungmachen durfte, so war der Tisch, woran die vier Mit-glieder des Gun-Clubs Platz nahmen, mit Sandwichs1

1Bemmen mit Fleisch etc.

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und ansehnlichen Theekannen besetzt. Sogleich befe-stigte Maston seine Feder an seinen eisernen Haken1

und die Sitzung begann.Barbicane ergriff das Wort:»Liebe Collegen«, sprach er, »wir haben eins der

wichtigsten Probleme der Ballistik zu lösen, der Wis-senschaft, welche sich mit der Bewegung der Projectilebeschäftigt, d.h. der Körper, welche durch irgend eineTreibkraft in den Raum hinausgeschleudert, dann sichselbst überlassen werden.«

– O! die Ballistik! die Ballistik! rief J.T. Maston mitgerührter Stimme.

»Vielleicht«, fuhr Barbicane fort, »wäre es richtigergewesen, diese erste Sitzung der Besprechung der Ma-schine zu widmen . . . «

– Ja wohl! erwiderte der General Morgan.»Doch schien mir«, fuhr Barbicane fort, »nach reifli-

cher Erwägung die Frage des Projectils voraus gehenzu müssen, da von dem letzteren die Dimensionen derersteren abhängen müssen.«

– Ich bitte um’s Wort, rief J.T. Maston.Es wurde ihm gerne vergönnt.»Meine tapferen Freunde«, sagte er mit gehobener

Stimme, »unser Präsident hat Recht, dem Projectil denVorrang zu geben. Diese Kugel, welche wir auf denMond schleudern wollen, ist unser Abgesandter, und

1Welcher dem Invaliden die rechte Hand ersetzte.

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ich möchte mir erlauben, denselben vom rein morali-schen Gesichtspunkt aus in Betrachtung zu nehmen.«

Diese ungewöhnliche Betrachtungsweise eines Pro-jectils reizte ausnehmend die Neugierde der Comité-mitglieder; sie schenkten daher den Worten Maston’sdie gespannteste Aufmerksamkeit.

»Liebe Collegen«, fuhr dieser fort, »ich will mich kurzfassen; ich lasse die physische Kugel, welche tödtet, beiSeite, um nur die mathematische, die moralische, zubetrachten. Ich erkenne in der Kugel die glänzendsteKundgebung der Macht des Menschen; bei ihrer Schöp-fung hat sich der Mensch am meisten dem Schöpfergenähert.«

– Sehr gut! sagte der Major Elphiston.»Wahrhaftig«, rief der Redner, »wie Gott die Sterne

und die Planeten geschaffen hat, so schuf der Menschdie Kugel, das Nachbild der im Weltenraum schwei-fenden Gestirne, die in Wahrheit nur Projectile sind!Gott schuf die Schnelligkeit der Elektricität, des Lich-tes, der Sterne, der Kometen, Planeten und Trabanten,die Schnelligkeit des Tons, des Windes! Wir aber dieSchnelligkeit der Kugel, welche die der Bahnzüge undder flüchtigsten Rennpferde hundertmal übertrifft!«

J. T. Maston war begeistert; er sang dieses Lobliedmit lyrischem Schwung.

»Zahlen sprechen mit Beredtsamkeit«, fuhr er fort.»Nehmen Sie nur den bescheidenen 24pfünder; fliegt

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er auch 800,000mal weniger rasch als die Elektrici-tät, 640 tausendmal minder als das Licht, 76mal min-der schnell, als die Erde sich um die Sonne bewegt,so übertrifft er doch, wenn er aus der Kanone heraus-kommt, bereits die Schnelligkeit des Tones, macht inder Secunde 200 Toisen (= 1200 par. Fuß), 2000 inzehn, vierzehn (engl.) Meilen (sechs Lieues) in der Mi-nute, 840 Meilen in der Stunde (460 Lieues), 20,100Meilen (8640 Lieues) im Tag, d.h. die Schnelligkeitder Punkte des Aequators bei seiner Umdrehung umseine Achse, 7,336,500 Meilen (3,155,760 Lieues) imJahr. Er würde also in elf Tagen zum Monde gelangen,in zwölf Jahren bis zur Sonne. Das könnte diese be-scheidene Kugel, unserer Hände Werk! Was wäre es,wenn wir ihm diese Schnelligkeit 20fach gäben! Ah!prachtvolle Kugel! ich denke wohl, man wird dich dortoben als Abgesandten der Erde mit gebührenden Ehrenempfangen!«

Die Rede wurde mit Hurrah aufgenommen, und Ma-ston von seinen Collegen mit Glückwünschen begrüßt.

»Und nun«, sagte Barbicane, »nachdem wir der Poe-sie Raum gegeben, lassen Sie uns die Frage direct an-fassen.«

– Wir sind dazu bereit, erwiderten die Mitglieder desComité, und verschlangen jeder ein halbes DutzendSandwichs.

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»Sie kennen unsere Aufgabe«, fuhr der Präsidentfort; »es handelt sich darum, einem Projectil die Ge-schwindigkeit von 12,000 Yards1 in der Secunde zu ge-ben. Ich darf wohl glauben, daß wir dieses erreichenkönnen. Zunächst mustern wir die bis jetzt erzieltenGeschwindigkeiten; der General Morgan wird im Stan-de sein, uns darüber zu unterhalten.«

– Um so leichter, erwiderte der General, als ich wäh-rend des Krieges der Commission für die Experimenteangehörte. Ich bemerke daher, daß Dahlgreen’s Cent-Kanonen, welche 2500 Toisen (15,000 Fuß) weit tru-gen, ihrem Projectil eine anfängliche Geschwindigkeitvon 500 Yards in der Secunde gaben.

– Gut. Und die Columbiade2 Rodman? fragte der Prä-sident.

– Die beim Fort Hamilton, nächst New-York, verwen-dete Columbiade Rodman schleuderte eine Kugel voneiner halben Tonne3 Gewicht sechs Meilen weit mit ei-ner Schnelligkeit von 800 Yards in der Secunde, ein Re-sultat, das Armstrong und Palliser in England niemalserreichten.

– Ja! Die Engländer! sagte J. T. Maston mit einer dro-henden Bewegung nach Osten.

– Also, fuhr Barbicane fort, diese 800 Yards wärendie größte bis jetzt erzielte Geschwindigkeit.

1Engl. Elle = drei Fuß.2Diesen Namen gaben die Amerikaner ihren Riesenkanonen.3500 Kilogramm.

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– Ja, erwiderte Morgan.– Doch will ich bemerken, fiel J. T. Maston ein, wäre

mein Mörser nicht zersprungen . . .– Ja, aber er ist doch zersprungen, entgegnete Bar-

bicane mit wohlwollender Handbewegung. Wir habenalso diese Geschwindigkeit von 800 Yards als Aus-gangspunkt zu nehmen. Wir müssen sie 20fach erzie-len. Da wir nun die Berathung über die Mittel, solch ei-ne Geschwindigkeit zu bekommen, für eine andere Sit-zung bestimmt haben, so will ich, werthe Collegen, Ih-re Aufmerksamkeit auf die Dimensionen richten, wel-che wir der Kugel geben müßten. Sie sehen wohl, daßsich’s nicht mehr um Projectile von einer halben Tonnehandelt!

– Warum nicht? fragte der Major.– Weil diese Kugel, fiel Maston lebhaft ein, groß ge-

nug sein muß, um die Aufmerksamkeit der Mondbe-wohner, wenn’s deren giebt, auf sich zu ziehen.

– Ja, erwiderte Barbicane, und noch aus einem an-dern wichtigen Grund.

– Was meinen Sie damit, Barbicane, fragte der Major.– Ich meine, es genügt nicht, ein Projectil fortzu-

schleudern, und sich nicht weiter darum zu beküm-mern; wir müssen ihm folgen bis zu dem Moment, woes am Ziele anlangen wird.

– Hm! äußerten sich der General und der Major et-was überrascht.

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– Allerdings, fuhr Barbicane fort, oder unser Experi-ment wird kein Resultat haben.

– Aber dann, erwiderte der Major, wollen Sie demProjectil enorme Dimensionen geben?

– Nein. Hören Sie gefälligst. Sie wissen, daß die opti-schen Instrumente eine große Vollkommenheit erlangthaben; mit einigen Teleskopen hat man bereits 6000fa-che Vergrößerungen erlangt, so daß man damit denMond bis auf 40 englische Meilen nahe gebracht hat.In dieser Entfernung nun sind Gegenstände von 60 FußUmfang völlig sichtbar. Hat man die Schärfe der Tele-skope noch nicht weiter gebracht, so geschah es, weildies nur auf Kosten der Klarheit möglich ist. Da nunder Mond ein schwaches reflectirtes Licht hat, so kannman nicht auf eine weitere Vergrößerung denken.

– Nun! was wollen Sie also machen? fragte der Ge-neral. Werden Sie Ihrem Projectil einen Durchmesservon 60 Fuß geben?

– Nein!– Also wollen Sie dem Mond mehr Leuchtkraft ge-

ben?– Ja wohl.– Nun, das ist stark! rief J. T. Maston aus.– Ja, sehr einfach, erwiderte Barbicane. In der That,

wenn es mir gelingt, die Dichtheit der Atmosphäre,welche das Mondlicht zu durchdringen hat, zu vermin-dern, wird dadurch nicht dieses Licht stärker leuchten?

– Unstreitig!

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– Nun denn! Zu diesem Zweck wird es genügen, einTeleskop auf einem hohen Berg aufzustellen.

– Ich ergebe mich, erwiderte der Major. Was habenSie für eine Art, die Dinge zu vereinfachen! . . . Undwelche Verstärkung hoffen Sie dadurch zu erlangen?

– 48,000mal, wodurch der Mond auf fünf Meilen na-he gebracht wird; und um sichtbar zu sein, brauchendie Gegenstände nur neun Fuß Durchmesser zu haben.

– Vortrefflich! rief Maston, unser Projectil wird alsoneun Fuß Durchmesser bekommen?

– Ja wohl.– Erlauben Sie mir indessen zu bemerken, sprach der

Major Elphiston, daß es dann noch ein Gewicht hat . . .– O! Major, erwiderte Barbicane, ehe wir sein Ge-

wicht besprechen, lassen Sie mich anführen, daß un-sere Väter in der Hinsicht Wunderbares leisteten. Ichbin weit entfernt zu behaupten, die Ballistik habe kei-ne Fortschritte gemacht, aber es ist doch zu merken,daß man bereits im Mittelalter erstaunliche Resultateerzielte, ich darf sagen, erstaunlichere, als unsere sind.

– Zum Beispiel! entgegnete Morgan.– Beweisen Sie, was Sie sagen, rief lebhaft J. T. Ma-

ston.– Nichts leichter als dies, erwiderte Barbicane, ich

kann Beispiele anführen. Bei der Belagerung Constan-tinopels durch Mahomet II. im Jahre 1543 warf mansteinerne Kugeln, die wogen 1900 Pfund, und warenwohl hübsch groß.

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– O! O! sagte der Major, neunzehn Centner ist einestarke Ziffer!

– Zur Zeit der Malteserritter war auf dem Fort St.Elme eine Kanone, die warf Projectile von 2500 Pfund.

– Nicht möglich!– Endlich, nach einem französischen Geschicht-

schreiber unter Louis XI., gab’s einen Mörser, der warfeine Bombe, zwar nur von 500 Pfund; aber diese Bom-be flog von der Bastille, wo die Gescheiten von denNarren eingeschlossen wurden, bis nach Charenton,wo die Narren von den Gescheiten eingesperrt werden.

– Sehr gut! sagte J. T. Maston.– Was haben wir seitdem erlebt, kurz zu sagen? Die

Armstrong-Kanonen werfen 500pfünder, Rodman’s Co-lumbiade Projectile von einer halben Tonne! Es scheintdemnach, die Projectile haben an Tragweite gewon-nen, an Gewicht verloren. Wenn wir nun unsere Bemü-hungen nach dieser Seite hin richten, müssen wir, ver-möge des Fortschritts der Wissenschaft, es dahin brin-gen, das zehnfache Gewicht der Kugeln Mahomet’s II.und der Malteser zu erzielen.

– Offenbar, erwiderte der Major, aber welches Metalldenken Sie für das Projectil zu verwenden?

– Gußeisen, ganz einfach, sagte der General Morgan.– Pfui! Gußeisen! rief Maston verächtlich, das ist

doch zu gemein für eine Kugel, die den Mond besu-chen soll.

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– Lassen wir die Uebertreibungen, mein ehrenwer-ther Freund, erwiderte Morgan; Gußeisen genügt.

– Nun! fuhr der Major Elphiston fort, dann wird, weildas Gewicht der Kugel im Verhältniß zu ihrem Umfangsteht, eine Kugel von Gußeisen mit einem Durchmesservon neun Fuß, immer noch ein furchtbares Gewichthaben!

– Ja, wenn massiv; nicht aber, wenn sie hohl ist, sag-te Barbicane.

– Hohl? Also eine Haubitz-Granate?– In die man Depeschen stecken kann, und Pröbchen

von unseren Producten?– Ja, eine Hohlkugel, erwiderte Barbicane, muß es

durchaus sein; eine massive von 108 Zoll würde über200,000 Pfund wiegen, ein offenbar zu beträchtlichesGewicht; doch da man dem Geschoß eine gewisse Fe-stigkeit bewahren muß, so schlage ich vor, ihm ein Ge-wicht von 5000 Pfund zu geben.

– Wie dick sollen denn die Wände sein? fragte derMajor.

– Dem regelmäßigen Verhältniß nach, versetzte Mor-gan, verlangt ein Durchmesser von 108 Zoll minde-stens zwei Fuß dicke Wände.

– Das wäre viel zu viel, erwiderte Barbicane; bemer-ken Sie wohl, es handelt sich hier nicht um eine Ku-gel, die Platten durchbohren soll; die Wände brauchennur so stark zu sein, um dem Druck des Pulvergaseswiderstehen zu können. Also stellt sich die Frage: wie

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dick muß eine Hohlkugel von Gußeisen sein, die nur20,000 Pfund wiegen soll? Unser geschickter Berech-ner, der wackere Maston, wird’s uns unverzüglich sa-gen können.

– Nichts ist leichter, versetzte der ehrenwerthe Se-cretär des Comités. Bei diesen Worten schrieb er einigealgebraische Formeln nieder; aus seiner Feder kamenπ und x in zweiter Potenz. Es hatte sogar das Anse-hen, als ziehe er, ohne nur anzurühren, eine bestimmteKubik-Wurzel aus; darauf sprach er:

»Die Wände brauchen kaum zwei Zoll dick zu sein.«– Sollte das hinreichen? fragte der Major mit zwei-

felnder Miene.– Nein, erwiderte der Präsident, sicherlich nicht.– Nun, was ist dann zu thun? fuhr Elphiston etwas

verlegen fort.– Wir nehmen ein anderes Metall.– Kupfer? sagte Morgan.– Nein, das ist auch zu schwer; ich hab’ Ihnen was

besseres vorzuschlagen.– Was denn? sagte der Major.– Aluminium, erwiderte Barbicane.– Aluminium! riefen die drei Collegen des Präsiden-

ten.– Ganz gewiß! meine Freunde. Sie wissen, daß

es einem berühmten französischen Chemiker, Sainte-Claire-Deville, im Jahre 1854 gelungen ist, Aluminiumin fester Masse darzustellen. Dieses köstliche Metall ist

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weiß wie Silber, unveränderlich wie Gold, zäh wie Ei-sen, schmelzbar wie Kupfer und leicht wie Glas; leichtzu bearbeiten, in der ganzen Natur sehr verbreitet, –denn es bildet die Basis der meisten Gesteine – ist esdreimal leichter wie Eisen, und es scheint ganz dazugeschaffen zu sein, um für unser Projectil den geeigne-ten Stoff zu liefern!

– Hurrah dem Aluminium! rief der Secretär des Co-mités.

– Aber, lieber Präsident, sagte der Major, ist das Alu-minium nicht sehr theuer?

– Das war es im Anfang, erwiderte Barbicane; da ko-stete das Pfund 260 bis 280 Dollars;1 hernach sank esauf 27 Dollars und nun gilt es nur 9 Dollars.

– Aber neun Dollars das Pfund, erwiderte der Major,ist noch enorm theuer.

– Allerdings, lieber Major, ist der Preis hoch, aberdoch aufzubringen.

– Wie schwer wird dann das Projectil wiegen? fragteMorgan?

– Ich will Ihnen das Ergebniß meiner Berechnungensagen, erwiderte Barbicane. Eine Kugel von 108 Zoll2

Durchmesser und zwölf Zoll Dicke würde in Gußeisen67,440 Pfund wiegen; aus Aluminium gegossen, würdeihr Gewicht auf 19,250 Pfund herabsinken.

1= 1500 Frs.; ein Dollar = 1 Thlr. 11 Sgr. 3 Pf. = 2 Fl. 24 14 Kr.

2Ein amerikanischer Zoll = 25 Millimeter.

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– Vortrefflich! rief Maston, das paßt ja in unser Pro-gramm.

– Vortrefflich! vortrefflich! erwiderte der Major, aberwissen Sie nicht, was bei einem Preis von achtzehnDollars per Pfund das Projectil kosten wird . . .

– 173,250 Dollars,1 ich weiß es genau; aber habenSie keine Besorgnisse, meine Freunde, an Geld wird’sfür unser Unternehmen nicht fehlen, ich stehe dafür.

– Es wird in unsere Kassen regnen.– Nun, was halten Sie vom Aluminium? fragte der

Präsident.– Angenommen, riefen sie einstimmig.– Auf die Form des Projectils kommt wenig an, fuhr

Barbicane fort, weil dasselbe, wenn es einmal überder Atmosphäre ist, sich im leeren Raum befindet; ichschlage also eine runde Kugel vor, die nach Beliebensich um sich selbst drehen kann.

So endete die erste Sitzung des Comités; die Fragedes Projectils war entschieden, und J. T. Maston warhoch erfreut bei dem Gedanken, eine Kugel von Alumi-nium abzusenden, »was den Seleniten eine recht hüb-sche Idee von den Erdbewohnern geben würde!«

8. GESCHICHTE DER KANONE.

Die in der ersten Sitzung gefaßten Beschlüsse erreg-ten großes Aufsehen. Manche schüchterne Leute er-schraken ein wenig beim Gedanken, eine Kugel von

1928,437 Franks. 50 C.

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20,000 Pfund durch den Raum zu schleudern. Manfragte sich, welche Kanone jemals im Stande wä-re, einer solchen Masse eine hinreichende Anfangsge-schwindigkeit zu geben. Das Protokoll der zweiten Co-mitésitzung sollte diese Frage siegreich beantworten.

Den folgenden Abend nahmen die vier Mitgliederdes Gun-Clubs abermals vor Bergen von Sandwichsund einem Ocean von Thee Platz. Die Berathung be-gann sogleich, diesmal ohne einleitende Vorrede.

»Liebe Collegen«, sagte Barbicane, »wir haben unsnun mit der zu construirenden Maschine zu beschäfti-gen, ihrer Länge, Gestalt, Zusammensetzung und Ge-wicht. Möglich, daß wir derselben werden riesenmäßi-ge Dimensionen geben müssen; aber so groß auch dieSchwierigkeiten sein werden, unser industrielles Ge-nie wird sie leicht überwinden. Hören Sie mich alsogefälligst an und verschonen mich nicht mit treffendenEinwendungen. Ich fürchte sie nicht!«

Diese Erklärung wurde mit beifälligem Brummenaufgenommen.

»Behalten wir im Sinn«, fuhr Barbicane fort, »an wel-chem Punkt unsere gestrige Berathung angelangt ist;die Aufgabe stellt sich nun unter folgender Form: ei-ner Hohlkugel von 108 Zoll Durchmesser und 20,000Pfund Gewicht eine Anfangsgeschwindigkeit von 12,000Yards in der Secunde zu geben.«

– Das ist in der That jetzt die Aufgabe, erwiderte derMajor Elphiston.

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»Wenn also«, fuhr Barbicane fort, »ein Projectil inden Raum hinausgeschleudert worden ist, was gehtdann vor? Es ist der Einwirkung von drei unabhän-gigen Kräften ausgesetzt, dem Widerstand der Umge-bung, der Anziehung von der Erde, und der ihm ein-wohnenden Treibkraft. Betrachten wir diese drei Kräf-te näher. Der Widerstand der Umgebung, d.h. der Luft,wird unbedeutend sein. In der That erstreckt sich dieAtmosphäre der Erde nur auf 40 englische Meilen. Beieiner Geschwindigkeit von 12,000 Yards (48,000 Fuß)wird das Projectil sie in fünf Secunden durchlaufen.Nehmen wir sodann die Anziehungskraft der Erde, d.h.Schwere der Kugel. Wir wissen, daß diese Schwerkraftim umgekehrten Verhältniß des Quadrats der Entfer-nung abnimmt. Die Physik lehrt uns nun Folgendes:Wenn ein sich selbst überlassener Körper auf die Ober-fläche der Erde fällt, so ist das Maß dafür in der er-sten Secunde fünfzehn Fuß, und wenn derselbe Körperin eine Entfernung von 257,542 Meilen, mit anderenWorten in die Entfernung des Mondes versetzt ist, sobeträgt sein Fall in der ersten Secunde etwa eine hal-be Linie. Das ist beinahe Unbeweglichkeit. Es handeltsich also darum, diese Widerstandskraft nach und nachzu überwinden. Wie erreichen wir dies? Durch die trei-bende Kraft.«

– Darin liegt eben die Schwierigkeit, erwiderte derMajor.

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»Ja wohl, darin«, fuhr der Präsident fort, »aber wirwerden sie überwinden; denn diese treibende Kraft,welche wir bedürfen, ergiebt sich aus der Länge desGeschützes und aus der Menge des verwendeten Pul-vers, indem diese nur durch den Widerstand jener be-schränkt ist. Beschäftigen wir uns also heute mit denDimensionen, welche man der Kanone geben muß.Wohl verstanden, daß wir sie unter so zu sagen unbe-gränzten Widerstandsbedingungen aufstellen können,weil sie nicht zum Manoeuvriren bestimmt ist.«

– Das ist Alles sonnenklar, erwiderte der General.»Bisher«, sagte Barbicane, »sind unsere längsten Ka-

nonen, die enormen Columbiaden, nicht über 25 Fußlang gewesen; wir werden daher unserer ColumbiadeDimensionen geben müssen, welche Manche in Erstau-nen versetzen.«

– Ja, ganz gewiß! rief Maston. Ich meines Theils ver-lange eine Kanone, die mindestens eine halbe (engli-sche) Meile lang ist.

– Eine halbe Meile! riefen der Major und der Gene-ral.

– Ja! eine halbe Meile, und das wird noch um dieHälfte zu kurz sein.

– Aber, Maston, erwiderte Morgan, Sie übertreiben.– Nein! entgegnete der heißblütige Secretär, und ich

weiß wahrhaftig nicht, weshalb Sie mich der Ueber-treibung beschuldigen.

– Weil Sie zu weit gehen!

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– Wissen Sie, mein Herr, versetzte Maston mit stolzerMiene, daß ein Artillerist, wie eine Kugel, niemals zuweit gehen kann!

Da die Unterredung persönlich wurde, legte sich derPräsident in’s Mittel.

»Seien wir ruhig, Freunde, und überlegen wir; esmuß offenbar eine Kanone von langem Lauf sein, weildie Länge des Stücks die Spannkraft des unter demProjectil angesammelten Gases vermehren wird, aberman braucht nicht gewisse Grenzen zu überschreiten.«

– Ganz recht, sagte der Major.– Welche Regeln befolgt man gewöhnlich in solchem

Fall? In der Regel ist eine Kanone 20 bis 25 mal so lang,als der Durchmesser der Kugel, und sie wiegt 235 bis240 mal so viel, als diese.

– Das genügt nicht, rief Maston ungestüm.– Ich geb’s wohl zu, mein würdiger Freund, und in

der That würde diesem Verhältniß nach ein Projectilvon neun Fuß Durchmesser und 30,000 Pfund schwernur eine Maschine von 225 Fuß Länge und sieben Mil-lionen 200,000 Pfund Gewicht erfordern.

– Lächerlich, rief Maston. Ebensogut nähme man einPistol!

– Das denk’ ich auch, erwiderte Barbicane. Deshalbbeabsichtige ich diese Länge viermal zu nehmen, undeine 900 Fuß lange Kanone zu bauen.

Der General und der Major machten zwar einigeEinwendungen; aber dennoch wurde dieser Vorschlag,

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vom Secretär des Clubs lebhaft unterstützt, definitivangenommen.

– Jetzt, sagte Elphiston, wie dick sollen die Wändesein?

– Sechs Fuß, erwiderte Barbicane.– Sie denken wohl nicht daran, solch eine Masse auf

eine Lafette zu pflanzen? fragte der Major.– Das wäre doch prachtvoll, sagte Maston.– Aber unausführbar, erwiderte Barbicane. Nein, ich

denke, die Maschine in den Boden einzusenken, Rin-ge von Schmiedeeisen darum zu legen und endlich siemit einem festen Gemäuer von Stein und Kalk zu um-geben, damit sie an der ganzen Widerstandskraft desumgebenden Bodens Theil nehme. Ist das Geschützeinmal gegossen, so wird die Seele sorgfältig ausge-feilt und kalibrirt, damit die Kugel nicht Luft habe; sowird kein Gas verloren, und die ganze Ausdehnungs-kraft des Pulvers wird als treibende Kraft verwendet.

– Hurrah! Hurrah! rief Maston, da haben wir unsereKanone.

– Noch nicht, erwiderte Barbicane, indem er seinenungeduldigen Freund mit der Hand beschwichtigte.

– Und warum?– Weil wir noch nicht ihre Form berathen haben. Soll

es eine Kanone, eine Haubitze oder ein Mörser sein?– Eine Kanone, versetzte Morgan.– Eine Haubitze, entgegnete der Major.– Ein Mörser, rief Maston.

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Es wollte sich eben ein neuer lebhafter Streit ent-spinnen, da jeder seine Lieblingswaffe anpries, als derPräsident ihn kurz abschnitt.

»Meine Freunde«, sagte er, »ich will Sie alle zufrie-den stellen; unser Columbiade wird von diesen dreiFeuerschlünden etwas haben.

Eine Kanone wird’s sein, weil ihr Pulverbehälter den-selben Durchmesser wie ihr Lauf haben wird; eineHaubitze, weil sie eine Hohlkugel schleudern wird;und ein Mörser, weil sie unter einem Winkel von neun-zig Grad aufgeprotzt sein wird, und weil sie, ohne daßein Rückstoß möglich, unerschütterlich fest im Boden,dem Projectil alle in ihrem Innern gesammelte Treib-kraft mittheilen wird.«

– Angenommen, angenommen, erwiderten die Mit-glieder des Comités.

– Eine einfache Bemerkung, sagte Elphiston; wirddie Haubitzen-Mörser-Kanone gezogen sein?

– Nein, erwiderte Barbicane, nein, wir bedürfen ei-ner enormen Anfangsgeschwindigkeit, und Sie wissenwohl, daß die Kugel aus den gezogenen Kanonen min-der rasch herausfährt, als aus denen mit glattem Lauf.

– Richtig!– Endlich haben wir sie diesmal, wiederholte Ma-

ston.– Noch nicht ganz, erwiderte der Präsident.– Und warum?

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– Weil wir noch nicht wissen, aus welchem Metall siebestehen soll.

– Bestimmen wir’s unverzüglich.– Soeben wollte ich einen Vorschlag machen.Die vier Comitémitglieder verschlangen jeder ein

Dutzend Sandwichs nebst einer Bulle Thee, dann be-gann die Berathung von Neuem.

»Meine wackeren Collegen«, sagte Barbicane, »un-sere Kanone muß in hohem Grade zähe, äußerst hartsein, darf bei der Hitze nicht schmelzen, sich auflösen,noch bei der Einwirkung von Säuren verkalken.«

– Kein Zweifel in dieser Hinsicht, erwiderte der Ma-jor, und da wir eine sehr beträchtliche Quantität Metallhaben müssen, so wird uns die Wahl nicht schwer.

– Nun dann schlage ich, sagte Morgan, für unse-re Columbiade die beste bis jetzt bekannte Metallmi-schung vor, nämlich zu hundert Theilen Kupfer, zwölfZinn und sechs Messing.

– Meine Freunde, erwiderte der Präsident, ich gebezu, daß diese Composition vortreffliche Resultate ge-liefert hat; aber im gegebenen Fall würde sie zu kost-spielig und sehr schwierig anzuwenden sein. Ich denkedaher, man muß einen trefflichen, aber billigen Stoffwählen, wie Gußeisen. Meinen Sie nicht, Major?

– Sie haben vollkommen Recht, erwiderte Elphiston.– In der That, fuhr Barbicane fort, Gußeisen kostet

zehnmal weniger, als Bronce, ist leicht zu gießen, fließt

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einfach in die Sandformen und läßt sich rasch behan-deln; man spart also dabei Zeit und Geld zugleich. Zu-dem ist’s ein vortrefflicher Stoff; ich erinnere mich, daßwährend des Kriegs, bei der Belagerung von Atlanta,gußeiserne Geschütze von fünf zu fünf Minuten je tau-send Schüsse gethan haben, ohne dabei Schaden zuleiden.

– Doch das Gußeisen zerspringt leicht, erwiderteMorgan.

– Ja; aber es hat auch große Widerstandskraft; übri-gens will ich dafür stehen, daß es uns nicht zerspringenwird.

– Es kann auch einem wackern Mann etwas zersprin-gen, entgegnete Maston bedeutsam.

– Unstreitig, erwiderte Barbicane. Ich möchte nununseren würdigen Secretär bitten, das Gewicht einerKanone von Gußeisen auszurechnen, die 900 Fuß langist, einen inneren Durchmesser von neun Fuß, undsechs Fuß dicke Wände hat.

– Sogleich, erwiderte J. T. Maston.Und er brachte, wie am Abend zuvor, mit erstaun-

licher Leichtigkeit seine Formeln zu Papier, und sagtenach Verlauf einer Minute:

»Diese Kanone wird 68,041 Tonnen1 wiegen (=68,040,000 Kilo).«

– Und was wird sie kosten, das Pfund zu zwei Cent(= zehn Centimes)?

1à 20 Centner.

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»2,510,701 Dollars (= 13,608,000 Francs!)«Maston, der Major und der General blickten mit be-

sorgter Miene auf Barbicane.»Nun, meine Herren!« sagte der Präsident, »ich wie-

derhole Ihnen, was ich gestern sagte, seien Sie unbe-sorgt, an Millionen wird’s nicht mangeln!«

Auf diese Versicherung seines Präsidenten ging dasComité auseinander, nachdem es den folgenden Abendfür die dritte Sitzung bestimmt hatte.

9. DIE PULVERFRAGE.

Es war noch die Frage des Pulvers vorzunehmen.Das Publicum sah mit Spannung dieser Entscheidungentgegen. Da die Dicke des Projectils und die Längeder Kanone gegeben waren, welche Quantität Pulverwürde nun erforderlich sein, um die treibende Kraft zuproduciren? Diese fürchterliche Kraft, deren Wirkun-gen jedoch der Mensch zu bemeistern versteht, soll-te nun berufen sein, in unerhörten Verhältnissen seineRolle zu spielen.

Man hat allgemein angenommen und wiederholtgerne, das Pulver sei im vierzehnten Jahrhundert voneinem Mönch Namens Schwarz erfunden worden, derseine Entdeckung mit dem Leben zu bezahlen hatte.Aber es ist nun der Beweis fast völlig hergestellt, daßdiese Geschichte unter die Märchen des Mittelalterszu rechnen ist. Kein Mensch hat das Pulver erfunden;

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es ist direct vom griechischen Feuer herzuleiten, wel-ches ebenfalls eine Mischung von Schwefel und Salpe-ter war. Nur haben sich seitdem diese Mischungen auszerfließenden in explodirende verwandelt.

Aber sind auch die Gelehrten über diesen Irrthum imReinen, so verstehen doch wenige Menschen die me-chanische Kraft des Pulvers zu beurtheilen. Das mußman jedoch können, um die Wichtigkeit der dem Co-mité unterbreiteten Frage zu begreifen.

Also ein Liter Pulver wiegt ungefähr zwei Pfund1 (=99 Gramm); es erzeugt beim Entzünden 400 Liter Gas;ist dies Gas frei und unter Einwirkung einer Tempe-ratur bis zu 2400 Grad, so nimmt es den Raum vonviertausend Liter an. Also verhält sich der Umfang desPulvers zu dem des durch seine Verbrennung erzeug-ten Gases wie eins zu viertausend. Darnach ermesseman die entsetzlich treibende Kraft dieses Gases, wannes in einen viertausendmal zu engen Raum eingepreßtist.

Dies war den Mitgliedern des Comités, als sie am fol-genden Tage zur Sitzung zusammen kamen, geläufig.Barbicane gab dem Major Elphiston das Wort, welcherwährend des Kriegs Pulverdirector gewesen war.

»Liebe Kameraden«, sagte dieser ausgezeichneteChemiker, »ich will mit unverwerflichen Zahlen begin-nen, die uns als Basis dienen sollen. Der 24pfünder,von welchem vorgestern der ehrenwerthe Herr Maston

1Das amerikanische Pfund beträgt 453 Gramm.

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mit so poetischem Schwung gesprochen hat, ist nurdurch sechzehn Pfund Pulver aus dem Feuerschlundgetrieben worden.«

– Ist diese Ziffer zuverlässig? fragte Barbicane.»Ganz zuverlässig«, erwiderte der Major. »Die Armstrong-

Kanone braucht nur 75 Pfund Pulver für ein Projec-til von 800 Pfund, und die Columbiade Rodman nur160 Pfund, um ihre halbtönnige Kugel sechs Meilenweit zu werfen. Diese Thatsachen sind nicht in Zweifelzu ziehen; ich habe sie selbst aus den Protokollen desArtillerie-Ausschusses entnommen.«

– Ganz richtig, erwiderte der General.»Nun denn!« fuhr der Major fort, »lassen Sie uns aus

diesen Ziffern die Folgerung ziehen, daß die Quanti-tät Pulver im Verhältniß zum Gewicht der Kugel nichtgleichmäßig zunimmt; in der That, wenn sechzehnPfund Pulver für einen 24pfünder erforderlich waren;mit anderen Worten, wenn bei gewöhnlichen Kanonendas Gewicht des verwendeten Pulvers im Verhältnißvon zwei Drittel zum Gewicht des Projectils steht, sobleibt sich dies Verhältniß nicht gleich. Rechnen Sie,und Sie werden sehen, daß für eine halbtönnige Kugelanstatt 333 nur 160 Pfund Pulver erforderlich waren.«

– Wo hinaus wollen Sie damit? fragte der Präsident.– Wenn Sie Ihre Theorie auf’s Aeußerste treiben, lie-

ber Major, sagte Maston, so kommen Sie zu dem Er-gebniß, daß, wenn Ihre Kugel hinreichend schwer ist,Sie gar kein Pulver mehr brauchen.

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»Mein Freund Maston beliebt auch bei den ernste-sten Dingen zu scherzen«, erwiderte der Major, »aberer möge sich beruhigen; ich werde bald Quantitätenvon Pulver in Vorschlag bringen, welche sein Artillerie-Selbstgefühl befriedigen werden. Ich wollte hier nurfeststellen, daß während des Kriegs für die größtenKanonen das Gewicht des erforderlichen Pulvers, dergemachten Erfahrung nach, sich auf ein Zehntheil desGewichts der Kugel ermäßigt hat.«

– Das ist höchst exact, sagte Morgan. Aber bevor wirüber die erforderliche Quantität Pulver eine Bestim-mung treffen, halte ich für gut, sich über seine Beschaf-fenheit zu verständigen.

»Wir werden grobkörniges verwenden«, erwiderteder Major; »es brennt rascher ab, als das feine.«

– Allerdings, entgegnete Morgan, aber es ist sehr bri-sant und verdirbt am Ende die Seele der Stücke.

»Gut! Aber was für eine zu dauernder Benutzung be-stimmte Kanone unzuträglich ist, gilt nicht ebenso fürunsere Columbiade. Wir haben gar keine Explosion zubesorgen, und das Pulver muß sich augenblicklich ent-zünden, um seine mechanische Wirkung vollständig zuäußern.«

– Man könnte, sagte Maston, mehrere Zündlöcherbohren, um an verschiedenen Stellen zugleich zu ent-zünden.

– Allerdings, erwiderte Elphiston, aber die Ausfüh-rung würde dadurch schwieriger. Ich komme daher auf

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mein grobkörniges Pulver zurück, wobei diese Schwie-rigkeiten vermieden werden.

– Meinetwegen, erwiderte der General.»Zur Ladung seiner Columbiade«, fuhr der Major

fort, »verwendete Rodman ein Pulver von so grobemKorn, wie Kastanien, aus Weidenkohlen, die nur ingußeisernen Kesseln geröstet waren. Dieses Pulver warhart und glänzend, ließ keine Spur auf der Hand, ent-hielt in starkem Verhältniß Wasserstoff und Sauerstoff,entzündete sich augenblicklich und verdarb, obwohlsehr brisant, nicht merklich die Feuerschlünde.«

– Ah! Mir dünkt, sagte Maston, daß wir uns nicht zubesinnen haben und unsere Wahl getroffen ist.

»Sofern Sie nicht Goldpulver vorziehen«, erwider-te der Major mit Lachen, worüber ihm sein reizbarerFreund mit seinem eisernen Häkchen drohte.

Bisher hatte Barbicane an der Discussion keinen An-theil genommen. Er ließ reden, hörte zu. Offenbar hat-te er eine Idee. Auch beschränkte er sich nur darauf zusagen:

»Jetzt, meine Freunde, welche Quantität Pulverschlagen Sie vor?«

Die drei Mitglieder des Gun-Clubs sahen sich eineWeile gegenseitig an.

– 200,000 Pfund, sagte endlich Morgan.– 500,000, erwiderte der Major.– 800,000, rief Maston.

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Diesmal wagte Elphiston nicht, seinen Collegen derUebertreibung zu beschuldigen. In der That, es han-delte sich darum, ein 20,000 Pfund schweres Projectilbis zum Mond zu entsenden und ihm eine Anfangs-geschwindigkeit von 12,000 Yards in der Secunde zugeben. Eine kleine Pause folgte auf den dreifachen Vor-schlag.

Endlich brach der Präsident Barbicane das Schwei-gen.

»Meine wackeren Kameraden«, sagte er mit ruhigerStimme, »ich gehe von dem Grundgedanken aus, daßder Widerstand unserer unter den gegebenen Bedin-gungen verfertigten Kanone unbegrenzt ist. Ich willdaher den ehrenwerthen Herrn Maston mit der Aeu-ßerung überraschen, daß er in seinen Berechnungenzu schüchtern war, und ich schlage vor, die 800,000Pfund Pulver zu verdoppeln.«

– 1,600,000 Pfund? rief Maston und sprang vomStuhl auf.

»Gerade soviel.«– Aber dann muß man auf meine halbmeilenlange

Kanone zurückkommen.– Offenbar, sagte der Major.– 1,600,000 Pfund Pulver, fuhr der Secretär des Co-

mités fort, werden einen Raum von etwa 22,000 Kubik-fuß einnehmen. Da nun Ihre Kanone nur 54,000 Kubik-fuß Inhalt hat, wird sie zur Hälfte damit angefüllt, undder Lauf ist nicht mehr lang genug, daß die Spannkraft

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des Gases auf das Projectil eine hinreichend treibendeWirkung äußere.

Darauf war nichts zu antworten. Maston hatte Recht.Man sah Barbicane an.

»Doch«, fuhr der Präsident fort, »bestehe ich auf die-ser Quantität Pulver. Denken Sie, 1,600,000 Pfund Pul-ver werden sechs Milliarden Liter Gas erzeugen. SechsMilliarden! Sie verstehen wohl?«

– Aber was fangen wir dann an? fragte der General.»Sehr einfach: Wir beschränken den äußeren Um-

fang des Pulvers, ohne damit seine mechanische Kraftzu verringern.«

– Gut! Aber durch welches Mittel?»Das will ich Ihnen sagen«, erwiderte Barbicane.Seine Zuhörer verschlangen ihn mit den Augen.»Nichts ist in der That leichter«, fuhr er fort, »als

diese Pulvermasse auf den vierten Theil ihres Umfangszu beschränken. Sie kennen den merkwürdigen Stoff,welcher das elementare Gewebe der Vegetabilien aus-macht, und den man Cellulose nennt.«

– Ah, ich verstehe Sie, lieber Barbicane, sagte derMajor.

»Diesen Stoff«, sagte der Präsident, »findet man voll-kommen rein in verschiedenen Körpern, besonders inder Baumwolle, welche nichts anderes ist, als das Haar

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der Saamenkörner der Baumwollenstaude. Die Baum-wolle nun in Verbindung mit Stickstoffsäure im kal-ten Zustand verwandelt sich in eine äußerst unlösli-che, höchst entzündliche und höchst explodirbare Sub-stanz.

Im Jahre 1832 entdeckte ein französischer Che-miker, Braconnot, diese Substanz, welche er Xyloidi-ne nannte. Ein anderer Franzose, Pelouze, studierteim Jahre 1838 ihre verschiedenen Eigenschaften, undendlich machte im Jahre 1846 Schönbein, Professorder Chemie zu Basel, den Vorschlag, sie anstatt Schieß-pulver zu gebrauchen. Dieses Pulver nun ist die stick-stoffhaltige Baumwolle.«

– Oder Pyroxylin, erwiderte Elphiston.– Oder Schießbaumwolle, versetzte Morgan.– Giebt’s denn nicht ein amerikanisches Wort, um

diese Entdeckung damit zu bezeichnen? rief J. T. Ma-ston in lebhaftem Nationalselbstgefühl.

– Leider keins, erwiderte der Major.»Doch will ich«, fuhr der Präsident fort, »zur Befrie-

digung Maston’s ihm sagen, daß die Arbeiten eines un-serer Mitbürger mit dem Studium der Cellulose in Ver-bindung gebracht werden können; denn das Collodi-um, eines der hauptsächlichen, wichtigsten Hilfsmit-tel der Photographie, ist ganz einfach in alkoholsattemAether aufgelöstes Pyroxylin, und dies wurde von May-nard, als er zu Boston Medicin studierte, entdeckt.«

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– Nun denn! Hurrah für Maynard und die Schieß-baumwolle! rief stürmisch der Secretär des Gun-Clubs.

»Ich komme auf das Pyroxylin zurück«, fuhr Barbi-cane fort. »Sie kennen seine Eigenschaften, welche esfür uns so werthvoll machen; es ist sehr leicht anzu-fertigen; Baumwolle wird fünfzehn Minuten lang inrauchende Stickstoffsäure getaucht, dann in frischemWasser ausgewaschen, hernach getrocknet, damit ist’sfertig.«

– Das ist höchst einfach, wahrhaftig, sagte Morgan.»Weiter, das Pyroxylin wird von der Feuchtigkeit

nicht angegriffen, eine für uns sehr werthvolle Eigen-schaft, weil zum Laden der Kanone einige Tage erfor-derlich sind; entzündlich ist es bei 170 Grad anstatt240, und es verbrennt so rasch, daß man es auf ge-wöhnlichem Pulver anzünden kann, ohne daß diesesZeit hätte Feuer zu fangen.«

– Vortrefflich, erwiderte der Major.– Nur ist es kostspieliger.– Das macht nichts aus, sagte Maston.»Endlich, es theilt den Projectilen eine viermal grö-

ßere Geschwindigkeit mit, als Pulver. Dazu kommt wei-ter, daß, wenn man acht Zehntheile seines Gewichtssalpetersaure Pottasche beimischt, seine Ausdehnungs-kraft bedeutend verstärkt wird.«

– Wird das nöthig sein? fragte der Major.»Ich denke nicht«, erwiderte Barbicane. »Also, an-

statt 1,600,000 Pfund Pulver werden wir nur 400,000

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Pfund Schießbaumwolle haben, und da man ohne Ge-fahr 500 Pfund Baumwolle bis zu 27 Kubikfuß zusam-menpressen kann, so wird dieser Stoff in der Colum-biade nur eine Höhe von hundertachtzig Fuß betragen.Auf diese Weise wird die Kugel über siebenhundert Fußder Seele der Kanone unter der Treibkraft von sechsMilliarden Liter Gas zu durchlaufen haben, bevor siedem Nachtgestirn entgegen fliegt!«

Nun konnte Maston seine Gemüthsbewegung nichtmehr unterdrücken; er warf sich seinem Freunde mitder Gewalt eines Projectils in die Arme, und würde ihnniedergeschmettert haben, wäre Barbicane nicht bom-benfest gewesen.

Hiermit schloß die dritte Comitésitzung. Barbicaneund seine kühnen Collegen, denen nichts unmöglichschien, hatten die so verwickelte Frage des Projectils,der Kanone und des Pulvers gelöst. Ihr Plan war fertig,man brauchte ihn nur auszuführen.

»Das ist nur Detail, eine Bagatelle«, sagte J. T. Ma-ston.

Anmerkung. Daß bei dieser Berathung der PräsidentBarbicane die Erfindung des Collodiums einem seinerLandsleute zuschreibt, beruht auf einem Irrthum, wor-über Herr Maston nicht grollen möge; derselbe rührtvon der Aehnlichkeit zweier Namen her.

Ein Studierender zu Boston Namens Maynard hat-te zwar im Jahre 1847 die Idee, das Collodium beiBehandlung von Wunden anzuwenden; aber entdeckt

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wurde das Collodium bereits 1846 von einem Franzo-sen Louis Menard, einem geistvollen Gelehrten, der zu-gleich Maler, Dichter, Philosoph, Hellenist und Chemi-ker war.

J. V.

10. EIN FEIND GEGEN 25 MILLIONEN FREUNDE.

Das amerikanische Publicum verfolgte das Vorhabendes Gun-Clubs mit lebhaftem Interesse bis in die ge-ringsten Details. Es begleitete Tag für Tag die Bera-thungen des Comités, und unterhielt sich mit größterLeidenschaft über die einfachsten Vorbereitungen zuder großen Unternehmung, die Zifferfragen, die me-chanischen Schwierigkeiten, welche zu lösen waren,um sie in Gang zu bringen.

Zwar sollte ein ganzes Jahr vom Beginnen der Ar-beiten bis zu ihrer Vollendung verfließen, aber es fehl-te diese Zeit über nicht an stets erneuten Anregungender Theilnahme: die Wahl des Ortes für das Bohrender Kanone, die Verfertigung der Gießform, der Gußder Columbiade, ihr höchst gefährliches Laden – diesAlles enthielt Stoff genug für die Neugierde des Volks.War das Projectil einmal abgeschossen, so sollte es vorAblauf einer halben Minute den Blicken entschwinden;was daraus werden, wie es ihm im Weltenraum erge-hen, wie es bis zu dem Monde gelangen würde, miteigenen Augen zu beobachten, sollte nur Wenigen vor-behalten bleiben. Daher nahmen die Vorbereitungen,

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die genauen Details der Ausführung damals das wirk-liche Interesse in Anspruch.

Indessen wurde der rein wissenschaftliche Reiz derUnternehmung auf einmal durch einen Zwischenfall inhohem Grade gesteigert.

Barbicane’s Project hatte ihm Legionen von Bewun-derern und Freunden verschafft; aber so ehrenhaft, soaußerordentlich dieser allgemeine Beifall war, einstim-mig sollte er nicht werden. Ein einziger Mann, ein ein-ziger im ganzen Staatenverband, erhob Widerspruchgegen den Versuch des Gun-Clubs und griff ihn beijeder Gelegenheit heftig an. Barbicane, – so ist diemenschliche Natur – war mehr empfindlich gegen die-se einzige Opposition, als empfänglich für den Beifallaller Uebrigen.

Doch war ihm das Motiv dieses unvertilgbaren Wi-derwillens, der Ursprung dieser vereinzelten Feind-schaft wohl bekannt: er wußte, aus welcher Quelle per-sönlicher Eifersucht des Ehrgeizes sie längst entsprun-gen war.

Diesen hartnäckigen Feind hatte der Präsident desGun-Clubs niemals gesehen; zum Glück, denn ein per-sönliches Begegnen dieser beiden Männer hätte gewißtraurige Folgen gehabt. Der Nebenbuhler war ein Ge-lehrter, wie Barbicane, eine stolze, kühne, entschiede-ne, ungestüme Natur, ein echter Yankee. Er hieß Kapi-tän Nicholl und wohnte zu Philadelphia.

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Jedermann ist bekannt, wie während des Bundes-kriegs sich ein merkwürdiger Kampf zwischen demProjectil und dem Panzer der Schiffe entspann, indemjenes bestimmt war diesen zu durchbohren, letzterersich nicht durchbohren lassen wollte. Es entsprang dar-aus eine nationale Umbildung der Marine in den Staa-ten der beiden Welttheile. Die Kugel und die Eisenplat-te rangen mit beispielloser Erbitterung, indem jene anGröße, diese an Dicke in stetem Verhältniß zunahmen.Die mit fürchterlichen Geschützen versehenen Schif-fe boten unterm Schutz ihrer undurchdringlichen Be-panzerung dem feindlichen Feuer Trotz. Die Merrimac,Monitor, Ram-Tenesse, Weckausen1 warfen, gegen dieProjectile der anderen gedeckt, enorme Geschosse. Siethaten Anderen, was sie nicht wollten, daß man ih-nen thue, nach dem unmoralischen Princip der ganzenKriegskunst.

War nun Barbicane berühmt im Gießen der Geschos-se, so war es Nicholl nicht minder im Schmieden derEisenplatten. Tag und Nacht goß der Eine zu Baltimo-re, schmiedete der Andere zu Philadelphia: eine ent-gegengesetzte Strömung der Ideen trieb und belebtebeide. Sowie Barbicane eine neue Kugel erfand, setzteNicholl eine neue Platte dagegen. Der Präsident des

1Schiffe der amerikanischen Marine.

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Gun-Clubs war sein Leben lang darauf bedacht, Lö-cher zu bohren, der Kapitän, ihn daran zu hindern. Da-her eine fortwährende Eifersucht, welche eine persön-liche ward. Nicholl erschien in Barbicane’s Phantasiegleich einem undurchdrunglichen Panzer, an welchemsolche Bemühungen scheiterten, und Barbicane war inNicholl’s Gedanken wie ein Projectil, das ihn durch unddurch bohrte.

Obwohl nun diese beiden Gelehrten zwei divergiren-de Linien einschlugen, so wären sie doch, entgegen al-len Lehrsätzen der Geometrie, am Ende auf einandergestoßen; doch auf dem Boden des Duells. Zum Glückfür diese ihrem Vaterland so nützlichen Bürger warensie durch einen Zwischenraum von 50 bis 60 Meilenvon einander getrennt, und ihre Freunde wußten ih-nen so viele Hindernisse entgegen zu schieben, daß siesich niemals begegneten.

Zur Zeit wußte man noch nicht recht, welcher derbeiden Erfinder den Sieg davon tragen würde; es schi-en jedoch, es werde schließlich der Panzer der Kugeldas Feld räumen. Jedoch waren competente Beurthei-ler noch im Zweifel. Bei den letzten Proben warenBarbicane’s kegel-cylindrische Spitzkugeln in Nicholl’sPlatten stecken geblieben; jetzt glaubte der Schmied zuPhiladelphia schon den Sieg in Händen zu haben undseinen Rivalen gering schätzen zu dürfen; als aber spä-ter dieser anstatt der Spitzkugeln einfache 600pfün-dige Haubitzgranaten verwendete, mußte der Kapitän

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schon sich herab stimmen. In der That, diesen Geschos-sen gelang es, obschon bei mäßiger Schnelligkeit,1 diePlatten aus bestem Metall zu zerschmettern, zu durch-löchern, in Stücke zu zertrümmern.

Als nun der Sieg auf Seiten der Kugel gesichert schi-en, und Nicholl eben einen neuen Panzer von Schmie-deeisen fertig hatte, nahm der Krieg ein Ende. Es warein Meisterstück, das allen Geschossen der Welt Trotzbot. Der Kapitän ließ es auf das Polygon2 zu Washing-ton bringen, und forderte den Präsidenten des Gun-Clubs auf, es zu zertrümmern. Nach dem Friedens-schluß wollte Barbicane gar nicht mehr die Probe ma-chen.

Darauf erbot sich Nicholl, seine Platte den unwahr-scheinlichsten Schüssen auszusetzen, Vollkugeln oderhohlen, Spitzkugeln oder runden, aber der Präsidentließ sich nicht darauf ein, er wollte durchaus nichtmehr seinen letzten Erfolg einer Gefahr aussetzen.

Nicholl, durch diesen unbeschreiblichen Eigensinngereizt, wollte Barbicane durch alle Vortheile, die erihm anbot, in Versuchung bringen. Er schlug vor, seinePlatte in einer Entfernung von 200 Yards von der Ka-none aufzustellen. Barbicane beharrte auf seiner Wei-gerung. Auf hundert Yards? Nicht einmal auf 75.

1Das verwendete Pulver betrug nur ein Zwölftel des Gewichtsder Kugel.

2Uebungsplatz für Geschütze.

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»Auf fünfzig dann«, rief der Kapitän in seinen Jour-nalen, »auf 25 Yards meine Platte, und ich will michdahinter stellen!«

Barbicane ließ antworten, selbst wenn Nicholl sichdavor stellte, würde er doch nicht mehr schießen.

Nun gerieth Nicholl außer sich, wurde beleidigend.Er erklärte, Feigheit sei eine untrennbare Eigenschaft;ein Mann, der sich weigere, einen Kanonenschuß zuthun, sei nahe daran sich zu fürchten; überhaupt, dieArtilleristen, welche sich jetzt auf sechs Meilen Distanzschlagen, seien so klug, persönlichen Muth durch ma-thematische Formeln zu ersetzen; und übrigens verrat-he es ebenso viel Muth, hinter einer Platte eine Kugelruhig abzuwarten, als sie nach allen Regeln der Kunstabzuschießen.

Barbicane ließ sich nicht herbei, auf solche gehässi-ge Aeußerungen zu antworten; vielleicht auch kamensie ihm nicht zu Ohren, denn die Beschäftigung mitseinem großen Vorhaben nahm ihn völlig in Beschlag.

Als er seine berühmte Mittheilung an den Gun-Clubmachte, stieg Nicholl’s Zorn auf’s Höchste. Es mischtesich ein hoher Grad von Eifersucht bei, und das Be-wußtsein, gar nichts dagegen zu vermögen! Wie konn-te er etwas erfinden, was diese Columbiade von 900Fuß Länge überbot! Konnte jemals ein Panzer einem30,000pfünder Widerstand leisten? Nicholl war An-fangs zu Boden geworfen, vernichtet, zerschmettertvon diesem »Kanonenschuß«; hernach richtete er sich

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wieder auf, und beschloß, den Vorschlag durch das Ge-wicht seiner Beweisgründe zu vernichten.

Er griff also die Arbeiten des Gun-Clubs auf’s Heftig-ste an; schrieb eine Menge Briefe, welche die Journa-le gerne abdruckten. Er versuchte auf wissenschaftli-chem Wege Barbicane’s Werk zu zerstören. Als einmalder Krieg in Gang war, rief er Gründe aller Art, und of-fen gesagt, häufig auch nur scheinbare ohne Gehalt, zuseinem Beistand.

Zuerst griff er Barbicane sehr heftig in seinen Be-rechnungen an; suchte durch A + B die Unrichtigkeitseiner Formeln zu beweisen, und beschuldigte ihn, dasA.B.C. der Ballistik nicht zu verstehen. Unter anderenIrrthümern wies er ihm nach, daß richtiger Berech-nung zufolge es durchaus nicht möglich sei, irgend ei-nem Körper eine Geschwindigkeit von 12,000 Yards inder Secunde zu geben; er behauptete, die Algebra ander Hand, daß selbst bei dieser Geschwindigkeit nie-mals ein Geschoß über die Grenze der Erdatmosphäregelangen könne! Es würde selbst keine acht Lieues (20engl. Meilen) weit fliegen können. Mehr noch. Näh-me man die Schnelligkeit als zu erzielen und für hin-reichend an, so würde doch die Hohlkugel nicht demDruck des durch Entzündung von 1,600,000 PfundPulver entwickelten Gas widerstehen; und vermöchtesie auch dieses, so würde sie wenigstens eine solcheTemperatur nicht aushalten, sondern beim Herausfah-ren aus der Columbiade schmelzen, und als siedender

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Regen auf die Köpfe der unbedachtsamen Zuschauerniederfallen.

Barbicane verzog bei diesen Angriffen keine Miene,und fuhr ungestört fort an seinem Werk.

Darauf faßte Nicholl die Frage von anderen Seitenan. Ohne von der Nutzlosigkeit des Experiments injeder Hinsicht zu reden, sah er dasselbe als höchstgefährlich an, sowohl für die Bürger, welche ein soverwerfliches Schauspiel mit ihrer Gegenwart beehrenwürden, als auch für die Nachbarstädte; denn er be-merkte ebenso, daß, wenn das Projectil sein Ziel nichterreichte – was durchaus unmöglich sei –, es augen-scheinlich auf die Erde zurückfallen würde, da denndas Herabfallen einer solchen Masse, deren Wucht umdas Quadrat ihrer Schnelligkeit vervielfacht würde, ir-gend einen Punkt der Erde ausnehmend beschädigenmüsse. Unter solchen Umständen also, und ohne dieRechte freier Bürger zu beeinträchtigen, gehöre derFall zu denjenigen, wo die Regierung einschreiten müs-se, denn man dürfe nicht nach dem Belieben eines Ein-zelnen die Sicherheit Aller gefährden.

Man sieht, zu welchen Uebertreibungen der Kapi-tän Nicholl sich fortreißen ließ. Er blieb mit seinerMeinung allein. Auch beachtete Niemand seine schlim-men Voraussagungen. Man ließ ihn daher nach Belie-ben schreien, wenn’s ihn auch seine Lunge kostete. Ermachte sich zum Vertheidiger einer zum Voraus verlo-renen Sache; man hörte ihn wohl, merkte aber nicht

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darauf, und er entzog dem Präsidenten des Gun-Clubsnicht einen einzigen Verehrer. Dieser hielt es übrigensnicht einmal für der Mühe werth, die Beweisführungseines Rivalen zu widerlegen.

Da Nicholl, in seine letzten Verschanzungen zurück-gedrängt, nicht einmal persönlich seine Sache verfech-ten konnte, beschloß er sein Geld daran zu wenden.Er schlug daher öffentlich, in dem Enquirer von Rich-mond, eine Reihe von Wetten vor, die in einem steigen-den Verhältniß folgendermaßen ausgedrückt waren.

Er wettete:1. Daß die zur Unternehmung des Gun-Clubs erfor-

derlichen Geldmittel nicht würden aufgebracht wer-den, um

1000 Dollars2. Daß das Gießen einer Kanone von 900 Fuß Länge

unausführbar sei, und nicht gelingen werde, um2000 Dollars.3. Daß es unmöglich sein würde, die Columbiade zu

laden, und daß die Schießbaumwolle unter dem Druckdes Projectils von selbst sich entzünden würde, um

3000 Dollars.4. Daß die Columbiade beim ersten Schuß zersprin-

gen würde, um4000 Dollars.5. Daß die Kugel nicht sechs Meilen weit fliegen,

und einige Secunden nach dem Abschießen niederfal-len werde, um

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5000 Dollars.Man sieht, der Kapitän setzte in seinem unüberwind-

lichen Starrsinn eine bedeutende Summe daran, imGanzen 15,000 Dollars.

Trotz der so bedeutenden Wette erhielt er, am 19.Mai, ein versiegeltes, mit köstlichem Lakonismus fol-gendermaßen abgefaßtes Schreiben:

»Baltimore, 18. October.Angenommen.Barbicane.«

11. FLORIDA UND TEXAS.

Indessen blieb eine Frage noch zu entscheiden: manmußte einen für das Experiment geeigneten Platz wäh-len. Der Empfehlung des Observatoriums nach mußteder Schuß senkrecht auf den Horizont, d.h. gegen denZenith gerichtet werden, aber der Mond steigt nur inden Gegenden zwischen 0◦ und 28◦ Breite bis zum Ze-nith, mit anderen Worten: seine Abweichung beträgtnur 28◦. Es handelte sich also darum, genau die Stellezu bestimmen, wo die ungeheure Columbiade gegos-sen werden sollte.

Als der Gun-Club am 20. October eine General-Versammlung hielt, brachte Barbicane eine prächtigeKarte der Vereinigten Staaten von Z. Belltropp dahinmit. Aber ohne ihm Zeit zum Auseinanderlegen der-selben zu lassen, hatte J. T. Maston mit gewohntemUngestüm das Wort begehrt, und sprach also:

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»Ehrenwerthe Collegen, die Frage, welche heute be-handelt werden soll, hat eine wahrhaft nationale Be-deutung, und sie wird uns Gelegenheit geben, einengroßen Act des Patriotismus auszuführen.«

Die Mitglieder des Gun-Clubs sahen sich einanderan, da sie nicht begriffen, wo der Redner damit hinauswollte.

»Keiner von Ihnen«, fuhr er fort, »denkt sich mit demRuhm abzufinden, und die Union darf gewiß das Rechtin Anspruch nehmen, die furchtbare Kanone des Gun-Clubs in ihrem Schooße zu bergen. Unter den gegen-wärtigen Umständen nun . . .

– Wackerer Maston . . . sagte der Präsident.– Gestatten Sie mir, meinen Gedanken zu ent-

wickeln, fuhr der Redner fort. Unter den gegenwär-tigen Umständen müssen wir einen Ort wählen, derdem Aequator nahe genug liegt, damit das Experimentunter den erforderlichen Bedingungen gemacht werde. . .

– Wenn Sie die Güte haben wollen . . . sagte Barbi-cane.

– Ich begehre freie Aeußerung der Ideen, versetz-te der aufbrausende Maston, und ich behaupte, daßder Landstrich, von welchem unser glorreiches Projec-til sich emporschwingen wird, der Union angehörenmuß.

– Kein Zweifel! erwiderten einige Mitglieder.

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– Nun! Weil die Ausdehnung unseres Gebiets nichtso weit reicht, weil uns im Süden der Ocean eineSchranke setzt, über welche wir nicht hinaus können,weil wir den 28sten Grad außerhalb der VereinigtenStaaten in einem Nachbarlande suchen müssen, sogiebt das einen berechtigten casus belli, und ich ver-lange, daß man Mexiko den Krieg erkläre!

– Nein! Nein! rief man von allen Seiten.– Nein! entgegnete Maston. Im Schooße dieser Ver-

sammlung muß man doch über dieses Wort staunen!– Aber hören Sie doch! . . .– Niemals! niemals! rief der feurige Redner. Früher

oder später muß dieser Krieg geführt werden, und ichverlange, daß man ihn heute noch erkläre.

– Maston, sagte Barbicane, und ließ laut seineGlocke erschallen, ich entziehe Ihnen das Wort!«

Maston wollte erwidern, aber es gelang einigen sei-ner Collegen, ihn zu beschwichtigen.

»Ich stimme bei«, sagte Barbicane, »daß das Expe-riment nur auf dem Boden der Union vorgenommenwerden darf, aber wenn mein ungeduldiger Freundmich hätte reden lassen, wenn er einen Blick auf ei-ne Karte geworfen hätte, so wüßte er, daß es durchausunnöthig ist, unsern Nachbarn den Krieg zu erklären,denn einige Grenzlandschaften der Vereinigten Staa-ten reichen bis über die Linie des 28sten Grades hin-aus. Sehen Sie, wir haben den ganzen südlichen Theilvon Texas und Florida zur Verfügung.«

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Der Zwischenfall hatte keine Folgen; doch ließ sichMaston nur ungern überzeugen. Es wurde also be-schlossen, die Columbiade solle auf dem Gebiete vonTexas oder Florida gegossen werden. Aber dieser Be-schluß sollte eine beispiellose Rivalität zwischen denStädten dieser beiden Staaten hervorrufen.

Der 28ste Breitegrad durchschneidet da, wo er andie amerikanische Küste stößt, die Halbinsel Florida,welche er in zwei fast gleiche Theile zerlegt. Dann bil-det er vom Mexicanischen Golf die Sehne eines Bo-gens, welchen die Küsten Alabama’s, Mississippi’s undLouisiana’s beschreiben, schneidet hierauf ein Stückvon Texas ab, und zieht weiter durch Mexico über So-nora und Alt-Californien zum Stillen Ocean. Es warenalso nur die südlich vom 28sten Grad gelegenen Theilevon Texas und Florida in der Lage, den vom Obser-vatorium zu Cambridge anempfohlenen Bedingungender Breite zu entsprechen.

Florida hat in seinem südlichen Theile keine bedeu-tenden Städte, ist nur mit Forts zum Schutz gegen dieunstäten Indianer gespickt. Eine einzige Stadt, Tampa-Town, konnte ihrer günstigen Lage wegen sich mit An-sprüchen melden.

In Texas dagegen sind zahlreichere und bedeuten-dere Städte. Corpus-Christi in der Landschaft Nueces,und alle Städte am Rio-Bravo, Laredo, Comalites, San-Ignacio im Web, Roma, Rio-Grande-City im Starr, Edin-burg im Hidalgo, Santa-Rita, El Panda, Brownsville im

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Cameron, bildeten gegen die Ansprüche Floridas einenimponirenden Bund.

Daher kamen denn auch, als der Beschluß kaum be-kannt war, Deputationen aus Texas und Florida eiligstnach Baltimore, und der Präsident Barbicane, sowiedie einflußreichen Mitglieder des Gun-Clubs wurdenTag und Nacht mit fürchterlichen Reclamationen be-stürmt. Stritten einst sieben Städte Griechenlands umdie Ehre, die Geburtsstätte Homer’s zu sein, so droh-ten jetzt zwei ganze Staaten um einer Kanone willenin Streit zu gerathen.

Man sah damals diese »wilden Brüder« gewaffnet inden Straßen der Stadt umherwandeln. Bei jedem Be-gegnen war ein Conflict zu befürchten, der schlimmeFolgen haben konnte. Zum Glück verstand der Präsi-dent mit Klugheit und Geschicklichkeit die Gefahr zubeschwören. Die Journale der verschiedenen Staatenwetteiferten mit persönlichen Demonstrationen; New-York Herald und die Tribune unterstützten Texas, wäh-rend die Times und American Review für Florida plaidir-ten. Die Mitglieder des Gun-Clubs wußten nicht mehr,wem sie Gehör geben sollten.

Texas zog stolz heran mit seinen 26 Provinzen, wel-che es wie eine Batterie aufstellte; aber Florida erwi-derte, daß in einem sechsfach kleineren Lande zwölfProvinzen doch mehr vermöchten, als 26.

Texas prahlte stark mit seinen 330,000 Eingebore-nen, aber Florida rühmte sich bescheidener, bei seinen

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56,000 Bewohnern doch besser bevölkert zu sein. Au-ßerdem warf es Texas vor, es habe eine besondere Artvon Sumpffieber, welchem Jahr aus Jahr ein, in gu-ter wie schlechter Zeit, einige tausend als Opfer fielen.Und es hatte nicht Unrecht.

Texas entgegnete, hinsichtlich des Fiebers habe Flo-rida ihm nichts vorzuwerfen, und es sei mindestensunklug, andere Länder als ungesund zu bezeichnen,wenn man die Ehre habe, das »schwarze Erbrechen«(Vomito negro) chronisch bei sich zu haben. Und es hat-te Recht.

»Uebrigens«, fügte Texas durch den New-York Heraldbei, »ist man einem Staate Rücksicht schuldig, wo diebeste Baumwolle in Amerika wächst, einem Staat, derdas beste Schiffbauholz liefert, so prachtvolle Kohlenenthält, und Eisenerz, das fünfzig Procent reines Metallausgiebt.«

Hierauf erwiderte der American Review, der BodenFlorida’s sei zwar nicht so ergiebig, liefere aber die be-sten Erfordernisse für die Formen und den Guß der Co-lumbiade, denn es sei reich an Sand und Thonboden.

»Aber«, entgegneten die Texaner, »ehe man in ei-nem Land etwas gießen will, muß man in dasselbe hin-einkommen; allein die Verkehrswege mit Florida sindschwierig, während die Küste von Texas die Bai vonGalveston darbietet, welche vierzehn Meilen Umfanghat und alle Flotten der Welt aufnehmen kann.«

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– Gut! erwiderten die Florida ergebenen Journale,Ihr möget hübsch prahlen mit der Bai Galveston, dieüber dem 29sten Breitegrad liegt. Haben wir nicht dieBai Espiritu Santo gerade unter dem 28sten, unmittel-bar vor Tampa-Town?

– Hübsche Bai! versetzte Texas, die halb versandetist!

– Selbst versandet! rief Florida. Sollte man nichtmeinen, Ihr wäret ein Land von Wilden?

– Wahrhaftig, die Seminolen durchstreifen auch Eu-re Wiesengründe!

– Ei! und Eure Apachen und Comanchen, sind diecivilisirt?

So dauerte der Krieg seit einigen Tagen, als Floridaseinen Gegner auf einen anderen Boden zu ziehen ver-suchte, und eines Morgens gab die Times zu verstehen,da die Unternehmung eine »wesentlich amerikanische«sei, so könne sie auch nur auf »wesentlich amerikani-schem« Boden vorgenommen werden!

Bei diesen Worten rief Texas empört: »Amerikaner!Sind wir’s nicht ebenso gut? Sind nicht Texas und Flo-rida mit einander im Jahre 1845 der Union einverleibtworden?«

– Allerdings, versetzte die Times, aber wir gehörenseit 1820 zum Staat.

– Ich glaub’s wohl, entgegnete die Tribune; nach-dem Ihr 200 Jahre Spanier oder Engländer waret, hat

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man Euch um fünf Millionen Dollars an die VereinigtenStaaten verkauft.

– Was liegt daran? erwiderten die Floridaner, habenwir uns dessen zu schämen? Hat man nicht 1803 Loui-siana für sechzehn Millionen Dollars von Napoleon ge-kauft?

– Eine Schande! riefen dann die Deputirten von Te-xas. Ein armseliger Fetzen Landes, wie Florida, wagtsich mit Texas zu vergleichen, das nicht verkauft wur-de, sondern sich selbst unabhängig gemacht hat, dasam 2. März 1836 die Mexicaner hinausjagte, und nachdem Sieg S. Huston’s über Santa-Anna’s Truppen amSan-Jacinto sich zu einer Föderativrepublik erklärt hat!Ein Land endlich, das sich freiwillig den VereinigtenStaaten Amerika’s angeschlossen hat!

– Aus Angst vor den Mexicanern! entgegnete Flori-da.

Angst! Sowie dies allzu lebhafte Wort gesprochenwar, wurde die Lage unerträglich. Man versah sich ei-ner Mordscene auf den Straßen Baltimore’s. Es wurdenöthig die Abgeordneten zu überwachen.

Der Präsident Barbicane wußte nicht, wohin er denKopf wenden sollte. Es regneten Noten, Urkunden, gro-be Drohbriefe in sein Haus. Für wen sollte er sich ent-scheiden? Vom Gesichtspunkt der Zugehörigkeit, derZugänglichkeit, der Leichtigkeit des Transports warendie Ansprüche beider Staaten völlig gleich. Politische

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Anzüglichkeiten hatten nichts mit der Frage zu schaf-fen.

Dieses Schwanken, diese Verlegenheit dauerte schongeraume Zeit, als Barbicane sich entschloß herauszu-kommen; er versammelte seine Collegen und legte ih-nen einen Bescheid vor, der, wie man sehen wird, rechtweise war.

»Bei reiflicher Erwägung dessen, was so eben zwi-schen Florida und Texas vorfiel, ist es offenbar, daßsich die nämlichen Schwierigkeiten zwischen den Städ-ten des bevorzugten Staates ergeben werden. Die Ri-valität wird von der Gattung zur Art, vom Staat zurStadt fortschreiten. Nun hat Texas elf Städte von denerforderlichen Bedingungen, die sich um die Ehre derUnternehmung streiten werden, und wir werden neueFeinde dadurch bekommen; Florida dagegen hat nureine. Also entscheiden wir für Florida und Tampa-Town!«

Als dieser Bescheid bekannt wurde, machte er dieAbgeordneten von Texas ganz zerschlagen. Sie gerie-then in unbeschreiblichen Zorn und bedrohten mehre-re Mitglieder des Gun-Clubs namentlich. Den Behör-den von Baltimore blieb nur ein Mittel übrig, und sieergriffen es. Man ließ einen Extrazug heizen, brachtedie Texaner mit oder wider Willen darauf und schaff-te sie mit einer Schnelligkeit von dreißig Meilen dieStunde fort.

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Aber so rasch sie dahin fuhren, hatten sie doch Zeitgenug ihren Gegnern ein letztes drohendes Spottwortzuzurufen.

Anspielend auf den schmalen Landstrich, wie Floridazwischen beiden Meeren sich hinstreckt, behauptetensie, es werde den Stoß des Schusses nicht aushalten,und beim ersten Kanonenschuß auseinander springen.

»Nun denn! so mag es springen!« erwiderten dieFloridaner mit einem Lakonismus, der des Alterthumswürdig war.

12. DEM GANZEN ERDKREIS.

Als die astronomischen, mechanischen, topographi-schen Schwierigkeiten gelöst waren, kam die Geldfra-ge. Es handelte sich um die Beschaffung einer enormenSumme für die Ausführung des Projects. Kein Privat-mann, kein Staat selbst hätte die erforderlichen Millio-nen zur Verfügung gehabt.

Der Präsident Barbicane entschloß sich daher, ob-wohl die Unternehmung eine amerikanische war, siezu einer Sache des allgemeinen Interesses zu machen,und jedes Volk um seine finanzielle Betheiligung anzu-gehen. Die ganze Erde hatte zugleich das Recht und diePflicht, in den Angelegenheiten ihres Trabanten mitzu-wirken. Die zu dem Ende eröffnete Subscription rich-tete sich von Baltimore an die gesammte Welt, Urbi etOrbi.

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Diese Subscription sollte über alle Erwartung Erfolghaben. Es handelte sich jedoch nicht um eine Anlei-he, sondern um ein Geldgeschenk. Die Operation warbuchstäblich ohne Interessen und bot keine Aussichtauf einen Vortheil.

Aber die Mittheilung Barbicane’s hatte ihre Wirkungüber die Gränzen der Vereinigten Staaten hinaus ge-äußert, war über den Atlantischen und Stillen Oceangedrungen, hatte sich zugleich über Asien und Europa,Afrika und Oceanien verbreitet.

Die Observatorien der Union setzten sich unmittel-bar mit den ausländischen in Verbindung; die einen,zu Paris, Petersburg, Berlin, Altona, Stockholm, War-schau, Hamburg, Ofen, Bologna, Malta, Lissabon, aufdem Cap, zu Benares, Madras, Peking, ließen demGun-Club ihre Begrüßung zugehen; die anderen beob-achteten eine vorsichtig zuwartende Haltung.

Das Observatorium zu Greenwich, dem die 22 übri-gen astronomischen Beobachtungsstätten Großbritan-niens beifällig wurden, sprach sich klar aus; es leugne-te dreist die Möglichkeit des Erfolges, und stellte sichauf die Seite der Theorieen des Kapitäns Nicholl. Eben-so, während die verschiedenen gelehrten Gesellschaf-ten Abgeordnete nach Tampa-Town zu schicken ver-sprachen, ging das Bureau zu Greenwich in einer Sit-zung brutal über Barbicane’s Vorschlag zur Tagesord-nung über. Es war das die pure englische Eifersucht,nichts sonst.

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Im Ganzen war der Eindruck auf die wissenschaft-liche Welt ausgezeichnet, und äußerte seinen Einflußauf die Massen, welche im Allgemeinen sich lebhaftfür die Frage interessirten; ein sehr wichtiger Umstand,weil man an diese sich wendete, um ein beträchtlichesCapital zu unterzeichnen.

Der Präsident Barbicane hatte am 8. October ein Ma-nifest voll Enthusiasmus erlassen, worin er sich an alleMenschen von gutem Willen auf dem Erdball wendete.Dieses Schriftstück wurde in alle Sprachen übersetztund hatte guten Erfolg.

In den Hauptstädten der Union wurden Subscriptio-nen aufgelegt, um sich zu Baltimore bei der Bank, 9Baltimore-Street, zu centralisiren; hierauf unterzeich-nete man in den verschiedenen Staaten der beidenWelttheile:

Zu Wien bei S. M. von Rothschild;– Petersburg bei Stieglitz & Cie.;– Paris beim Credit Mobilier;– Stockholm bei Tottie & Arfuredson;– London bei N. M. von Rothschild & Söhne;– Turin bei Ardouin & Cie.;– Berlin bei Mendelsohn;– Genf bei Lombard, Odier & Cie.;– Constantinopel bei der Ottomanischen Bank;– Brüssel bei S. Lambert;– Madrid bei Daniel Weisweller;– Amsterdam beim Credit Néerlandais;

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– Rom bei Torlonia & Cie.;– Lissabon bei Lecesne;– Kopenhagen bei der Privatbank;– Buenos Ayres bei der Bank Maua;– Rio-de-Janeiro bei demselben Hause;– Montevideo ebendaselbst;– Valparaiso bei Thomas La Chambre & Cie.; Zu Me-

xico bei Martin Daran & Cie.;– Lima bei Th. Lachambre & Cie.Drei Tage nach dem Manifest des Präsidenten Bar-

bicane waren in den verschiedenen Städten der Unionvier Millionen Dollars hergeschossen. Mit einer solchenBaarschaft konnte der Gun-Club schon sich in Bewe-gung setzen.

Doch einige Tage später ward durch DepeschenAmerika kund, daß die auswärtigen Listen sich wett-eifernd mit Unterzeichnungen bedeckten. Einige Län-der zeichneten sich durch edle Freigebigkeit aus, ande-re öffneten minder leicht die spendende Hand. Das istSache des Temperaments.

Uebrigens sprechen Zahlen beredter, als Worte; esfolge daher hier die officielle Aufstellung der Summen,welche nach dem Schluß der Unterzeichnungen demGun-Club zur Verfügung waren.

Rußland zeichnete als seinen Antheil den enormenBetrag von 368,733 Rubeln.1 Wollte man sich darüberwundern, so müßte man den wissenschaftlichen Sinn

11 Rubel = 1 Thlr. 2 Sgr. 4 Pf.

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der Russen verkennen, und den Fortschritt, welcherdie astronomischen Studien bei ihnen begleitet, Dankihren zahlreichen Observatorien, deren bedeutendsteszwei Millionen Rubel gekostet hat.

Frankreich lachte Anfangs über die Anmaßung derAmerikaner. Der Mond wurde Zielscheibe unzähligerabgenützter Witze und Gegenstand einer Menge vonVaudevilles, worin schlechter Geschmack mit Unwis-senheit wetteiferte. Aber wie die Franzosen vormalszahlten, nachdem sie gesungen, so zahlten sie diesmal,nachdem sie gelacht hatten, und unterzeichneten füreine Summe von 1,235,930 Francs. Dafür durften sieschon sich ein wenig lustig machen.

Oesterreich zeigte sich inmitten seiner Finanznothrecht edelmüthig. Sein Beitrag belief sich in öffentli-cher Steuer auf 216,000,1 die sehr willkommen waren.

52,000 Reichsthaler2 war der Beitrag von Schwedenund Norwegen, eine im Verhältniß zum Land ansehn-liche Ziffer; aber sie wäre gewiß höher ausgefallen,wenn man die Subscription zu Christiania und Stock-holm zu gleicher Zeit aufgelegt hätte. Die Norwegerschicken nicht gerne ihr Geld nach Schweden, für wel-chen Zweck es auch sei.

Preußen bezeugte durch eine Sendung von 250,000Thalern, wie sehr es die Unternehmung billigte. Sei-ne verschiedenen Observatorien betheiligten sich eifrig

1à 20 Sgr.21 Rixdaler = 11 Sgr. 6 Pf.

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mit einer bedeutenden Summe, und trugen am mei-sten dazu bei, den Präsidenten Barbicane zu ermuthi-gen.

Die Türkei benahm sich edelmüthig dabei; sie waraber auch besonders dabei interessirt; nach dem Mondist in der That ihr Jahresverlauf geregelt und ihre Fa-stenzeit Ramadan. Sie konnte nicht weniger geben, als1,372,640 Piaster,1 und sie zahlte dieselben mit einemEifer, welcher jedoch einen gewissen Druck von Seitender Pforte erkennen ließ.

Belgien zeichnete sich unter allen Staaten zweitenRanges aus durch eine Gabe von 513,000 Francs, un-gefähr zwölf Centimes auf den Kopf seiner Bewohner.

Holland und seine Colonieen betheiligten sich beider Unternehmung mit 110,000 Gulden, bat nur umBewilligung von fünf Procent Sconto, weil man baarzahlte.

Dänemark gab trotz der Beschränkung seines Gebie-tes doch neuntausend feine Dukaten, ein Beweis, wiegerne die Dänen wissenschaftliche Unternehmungenbefördern.

Der Deutsche Bund unterzeichnete 34,285 Gulden;man konnte nicht mehr von ihm begehren; auch hätteer übrigens nicht mehr gegeben.

Italien, obwohl in großer Verlegenheit, fand doch inden Taschen seiner Kinder 200,00 Lire,2 aber es mußte

11 türk. Piaster = 2 Sgr. 4 Pf.2à 8 Sgr.

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dieselben tüchtig umkehren. Hätte es Venedig gehabt,so hätte es mehr gespendet; aber es war noch nicht imBesitz desselben.

Der Kirchenstaat glaubte nicht unter 7040 römischeThaler1 senden zu dürfen, und Portugal bezeugte seineHingebung an die Wissenschaft mit 30,000 Cruzados.

Mexico spendete den Pfennig der Witwe mit 86 Pia-stern;2 aber Reiche, die in der Gründung begriffen, sindimmer etwas beengt.

257 Francs war der bescheidene Beitrag der Schweizzum Werke Amerika’s. Offen gesagt, die Schweiz er-kannte nicht die praktische Seite der Unternehmung;sie konnte sich nicht vorstellen, daß das Hinaufsendeneiner Kugel in den Mond geeignet wäre, Geschäftsver-bindungen mit dem Gestirn der Nacht zu gründen, undes kam ihr unklug vor, in eine so gewagte Unterneh-mung Geld zu stecken. Nach Allem hatte die Schweizvielleicht Recht.

Für Spanien war’s unmöglich, mehr wie 110 Realen3

aufzubringen. Sein Vorwand war, daß es seine Eisen-bahnen noch fertig zu bauen habe. Der wahre Grundaber liegt darin, daß in diesem Lande die Wissenschaftnicht gerne gesehen wird. Es ist noch ein wenig zurück.Und dann waren manche Spanier, die nicht zu den Un-gelehrten gehörten, aber keine genaue Vorstellung von

16 Scudo = 1 Thlr. 13 Sgr. 11 Pf21 mex. Piaster = 1 Thlr. 13 Sgr. 6 Pf.3à 2 Sgr.

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der Masse des Projectils im Verhältniß zu der des Mon-des sich machen konnten; sie fürchteten, es möge seineBahn stören, dieselbe in seiner Trabantenbestimmungaus der Ordnung bringen, so daß er auf die Erde fallenmüsse. In diesem Falle sei es besser, sich davon fern zuhalten. Und das thaten sie auch, etliche Realen abge-rechnet.

Blieb noch England. Wir kennen bereits den ver-ächtlichen Widerwillen, womit es Barbicane’s Vor-schlag aufnahm. Die Engländer haben nur eine unddieselbe Seele für die 25 Millionen der BewohnerGroßbritanniens. Sie gaben zu verstehen, die Un-ternehmung des Gun-Clubs streite mit dem »Nicht-Interventionsprincip«, und sie unterzeichneten nichtfür einen Pfennig.

Auf diese Mittheilung hatte der Gun-Club nur einAchselzucken, und fuhr fort in seinem großen Werke.Als Südamerika, d.h. Peru, Chili, Brasilien, die La Pla-tastaaten, Columbia, ihnen als Beitrag die Summe von300,000 Dollars zugestellt hatte, waren sie im Besitzeines ansehnlichen Capitals, dessen Gesammtbetrag

Unterzeichnung derVereinigten Staaten 4,000,000 Dollars,Ausländische Subscriptionen 1,446,675 DollarsSumma 5,446,675 Dollars.Also 5,446,675 Dollars, oder 29,520,983 Francs 40

Centimes ließ das Publicum in die Casse des Gun-Clubsfließen.

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Staune man nicht über die bedeutende Summe. DieGuß-, Bohr- und Maurer-Arbeiten, die Kosten für Reiseund Unterhalt der Arbeiter in einem fast unbewohn-ten Lande, die Einrichtung der Oefen und Gebäude,das Geräthe der Werkstätten, das Pulver und Projec-til, die Nebenkosten, mußten dem Ueberschlag nachfast die ganze Summe verschlingen. Im Bundeskriegsind gewisse Kanonenschüsse auf tausend Dollars zustehen gekommen; der Schuß des Präsidenten Barbi-cane, der in den Annalen der Artillerie einzig dasteht,konnte wohl 5000mal mehr kosten.

Am 5. October wurde mit der Hütte Goldspring beiNew-York, die während des Kriegs für Parrott seine be-sten Kanonen gegossen hatte, ein Vertrag abgeschlos-sen.

Es wurde zwischen den Contrahenten ausgemacht,daß die Hütte Goldspring sich verbindlich mache, daszum Guß der Columbiade erforderliche Material nachTampa-Town, in Südflorida, hinzuschaffen. Diese Ope-ration sollte bis zum kommenden 15. October fertig,und die Kanone in gutem Zustand geliefert sein beiStrafe von hundert Dollars täglich bis zu dem Moment,da der Mond sich unter den nämlichen Bedingungenwieder darstellen werde, d.h. in achtzehn Jahren undelf Tagen.

Das Anwerben der Arbeiter, ihre Bezahlung, die nö-thige wirthschaftliche Einrichtung liege der Compa-gnie Goldspring ob.

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Dieser Vertrag, doppelt und redlich ausgefertigt,wurde unterzeichnet von J. Barbicane, Präsidenten desGun-Clubs, und J. Murchison, Director des Hütten-werks Goldspring.

13. STONE’S-HILL.

Seitdem der Gun-Club zu Ungunsten von Texas dieWahl getroffen hatte, ward es in Amerika, wo Jeder-mann zu lesen versteht, für Jeden eine Obliegenheit,die Geographie von Florida zu studiren. Die Hauptwer-ke darüber wurden ausverkauft, und es mußten neueAuflagen gemacht werden.

Für Barbicane genügte das Lesen nicht; er mußte miteigenen Augen sehen, und den Ort für die Columbiadebestimmen. Auch stellte er unverzüglich dem Obser-vatorium zu Cambridge die zur Errichtung eines Te-leskops erforderlichen Mittel zur Verfügung, und ver-handelte mit dem Hause Breadwill und Comp. zu Al-bany über die Anfertigung des Projectils in Aluminium.Darauf verließ er Baltimore in Begleitung von J. T. Ma-ston, dem Major Elphiston und dem Director der HütteGoldspring.

Die vier Reisegenossen gelangten am folgenden Tagnach Neu-Orleans, schifften sich da unverzüglich aufdem Tampico ein, einem Avisofahrzeug der Bundesma-rine, welches die Regierung ihnen zur Verfügung stell-te; und als der Dampf im Zug war, entschwanden balddie Gestade Louisiana’s ihren Augen.

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Die Ueberfahrt dauerte nicht lange; zwei Tage nachder Abfahrt, als sie 480 Meilen zurückgelegt hatten,wurden sie der Küste von Florida ansichtig. Als Barbi-cane näher kam, gewahrte er vor sich ein niedriges,flaches Land von ziemlich unfruchtbarem Aussehen.Nachdem der Tampico eine Reihe Töpfe mit Austernund Hummern gefüllt, fuhr er in die Bai Espiritu Santoein.

Diese Bai besteht aus zwei langen Rheden, der vonTampa und der von Hillisboro, in deren enge Mündungder Dampfer alsbald einfuhr. Kurz darauf spiegelte dasFort Brooke seine Streichbatterieen auf den Fluthen ab,und es zeigte sich die Stadt Tampa im Hintergrundedes kleinen natürlichen Hafens, welchen die Mündungdes Flusses Hillisboro bildet, nachlässig gelagert.

Hier ging der Tampico am 22sten October um siebenUhr Abends vor Anker; die vier Passagiere begaben sichunverzüglich an’s Land.

Als Barbicane den Boden Florida’s betrat, klopfteihm das Herz mit heftigen Schlägen; es war, als betastesein Fuß den Boden, wie ein Architekt, der ein Gebäu-de prüft. J. T. Maston kratzte den Boden mit seinemeisernen Haken.

»Meine Herren«, sagte Barbicane, »wir haben keineZeit zu verlieren; gleich morgen steigen wir zu Pferd,das Land zu recognosciren.«

Sowie Barbicane an’s Land gestiegen war, strömtendie 3000 Bewohner von Tampa-Town ihm entgegen,

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eine Ehre, die dem Präsidenten des Gun-Clubs wohlgebührte, welcher ihnen bei der Wahl seine Gunst ge-schenkt hatte. Sie empfingen ihn mit fürchterlichemBeifallsgeschrei; aber Barbicane entzog sich jeder Hul-digungsbezeugung, begab sich in ein Zimmer im HôtelFranklin und nahm keine Besuche an. Der Stand ei-nes berühmten Mannes war ihm entschieden nicht ge-nehm.

Am folgenden Morgen, 23sten October, sah mankleine Pferde spanischer Race voll Feuer und Leben un-ter den Fenstern paradiren; aber es waren nicht vier,sondern fünfzig, und zwar beritten. Barbicane kamherab in Begleitung seiner drei Gefährten, und staunteanfangs über den Reiteraufzug um ihn her. Er bemerkteweiter, daß jeder Reiter seinen Karabiner am Bandelier,und Pistolen im Halfter trug. Ein junger Floridaner gabihm sogleich Auskunft über eine solche Entwickelungvon Streitkräften mit den Worten:

»Mein Herr, es giebt da Seminolen.«– Was? Seminolen?– Wilde, die auf den Wiesengründen streifen; dar-

um hielten wir für rathsam, Ihnen als Schutzwache zudienen.

– Pöh! machte Maston, indem er sein Thier bestieg.– Am Ende, fuhr der Floridaner fort, ist’s so sicherer.»Meine Herren«, sagte Barbicane, »ich danke für die

Aufmerksamkeit; und jetzt vorwärts!«

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Die kleine Truppe sprengte sogleich davon und ver-schwand in einem Staubgewölke. Es war fünf Uhr Mor-gens; die Sonne glänzte bereits, und der Thermometerzeigte 84◦;1 aber frische Seewinde mäßigten die Hitze.

Barbicane wendete sich von Tampa-Town südlich derKüste entlang, um an das Flüßchen Alisia zu gelangen,das zwölf Meilen unterhalb Tampa-Town in die Bai Hil-lisboro mündet. Die Truppe ritt längs seinem rechtenUfer östlich aufwärts. Bald verschwanden die Gewäs-ser der Bai hinter einer Biegung des Landes, und nurFlachland lag vor ihren Blicken.

Florida besteht aus zwei Theilen: der nördliche, be-völkerter, minder öde, mit der Hauptstadt Talahasseeund Pensacola, einem der bedeutendsten Seearsenaleder Vereinigten Staaten; der südliche, eingeengt zwi-schen den Gewässern des Amerikanischen Meeres unddem Busen von Mexico, ist nur eine schmale Halbinsellängs dem Golfstrom, eine Landspitze inmitten eineskleinen Archipels, beständig von zahlreichen Fahrzeu-gen des Bahama-Canals umfahren. Es ist bei großenStürmen der vorgeschobene Schutzposten des Golfs.Die Oberfläche dieses Staats beträgt 38,033,267 Mor-gen (Acres) Landes, auf welchen die für die Unterneh-mung geeignete Stelle innerhalb des 28sten Breitegra-des zu wählen war; daher prüfte auch Barbicane wäh-rend des Reitens achtsam die Gestaltung des Bodensund seine besondere Vertheilung.

1Fahrenheit = 28◦ des hunderttheiligen.

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Florida, von Juan Ponce de Leon im Jahre 1518am Palmsonntag entdeckt, wurde Anfangs nach die-sem Tag (Pâques Fleuries) benannt, welche schöne Be-ziehung gar nicht zu seinen dürren, versengten Küstenpaßte. Aber einige Meilen vom Gestade entfernt ändertsich allmälig die Beschaffenheit des Bodens, und dasLand zeigt sich seines Namens würdig: der Boden warmit einem Netz von Bächen und Flüßchen, fließendenund stehenden Wassern, kleinen Seen bedeckt; mankonnte meinen, man sei in Holland oder Guyana; aberdas Land wurde allmälig höher, und zeigte bald sei-ne fruchtbaren Ebenen, wo alle Pflanzenproducte desNordens und Südens gedeihen, seine unermeßlichenFluren, wo die tropische Sonne und die im Thonbodenenthaltene Feuchtigkeit allen förmlichen Anbau erspar-ten; endlich seine Wiesengründe voll Ananas, Yams,Tabak, Reis, Baumwolle und Zuckerrohr, welche sichin unabsehlicher Ausdehnung erstreckten und mit ih-rem Reichthum in sorgloser Ueppigkeit prangten.

Barbicane schien sehr befriedigt, als er die allmäligeErhebung des Bodens gewahrte, und als Maston ihndarüber befragte, erwiderte er:

»Mein würdiger Freund, wir haben ein bedeutendesInteresse, unsere Columbiade auf dem höher gelege-nen Grund zu gießen.«

– Um dem Mond näher zu sein? rief der Secretär desGun-Clubs.

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»Nein!« erwiderte Barbicane lächelnd. »Was ma-chen einige Toisen aus? Vielmehr, weil in dem höhe-ren Grund unsere Arbeiten leichter vorschreiten, wirhaben da wenig mit dem Wasser zu kämpfen, wasuns weitläufige und kostspielige Röhrenwerke erspa-ren wird, wenn sich’s darum handelt, einen 900 Fußtiefen Schacht zu graben.«

– Sie haben Recht, sagte darauf der IngenieurMurchison, man muß soviel wie möglich während desBohrens das Zuströmen des Wassers vermeiden; aberwenn wir auf Quellen stoßen, das macht nichts aus, wirwerden sie mit Maschinen auspumpen, oder wir wer-den sie ableiten. Es handelt sich hier nicht um einenartesischen Brunnen, wobei der Schraubenbohrer, dieDille, das Senkblei, kurz alle Bohrwerkzeuge im Dun-keln arbeiten. Nein, wir werden in freier Luft, bei hel-lem Licht arbeiten, der Spaten, die Hacke und Keilhauein der Hand, und mit Hilfe der Mine werden wir raschvorwärts kommen.

»Jedoch«, erwiderte Barbicane, »wenn wir durcheinen höher liegenden Boden oder die Beschaffenheitdesselben einem Kampf mit den unterirdischen Was-sern ausweichen können, so wird die Arbeit dabei ra-scher fördern und tüchtiger sein; suchen wir also unse-ren Schacht in einen Grund zu führen, der einige hun-dert Toisen über dem Niveau des Meeres liegt.«

– Sie haben Recht, Herr Barbicane, und irre ich nicht,so werden wir bald eine passende Stelle finden.

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– Ah! ich möchte beim ersten Spatenstich dabei sein,sagte der Präsident.

– Und ich beim letzten! rief Maston.– Wir werden dies Ziel erreichen, meine Herren, er-

widerte der Ingenieur, und glauben Sie mir, die Com-pagnie Goldspring wird Ihnen keine Verzugsstrafen zuzahlen haben.

– Beim heiligen Bart! Da werden Sie wohl daranthun! erwiderte Maston! hundert Dollars täglich, bisder Mond wieder in die nämliche Stellung kommt, d.h.achtzehn Jahre und elf Tage lang; wissen Sie wohl, daßdies 658,100 Dollars betragen würde.

– Nein, mein Herr, wir wissen’s nicht, erwiderte derIngenieur, und werden’s gar nicht zu lernen brauchen.

Gegen zehn Uhr Vormittags hatte die kleine Schaarbereits ein Dutzend Meilen zurückgelegt; sie kamenaus den fruchtbaren Feldern in die Region der Wäl-der. Da wuchsen mancherlei Essenzen in tropischerFülle. Diese fast undurchdringlichen Wälder bestan-den aus Granat-, Orangen-, Citronen-, Feigen-, Oliven-, Aprikosen-Bäumen, Pisang und großen Weinreben,deren Früchte und Blüthen mit Farben und Wohlgerü-chen um die Wette erquickten. Im duftenden Schattendieser prachtvollen Bäume flog und sang eine ganzeWelt von Vögeln mit glänzenden Farben, unter wel-chen besonders die Krebsfresser hervorstechen, derenNest ein Schmuckkästlein sein sollte, um diesen befie-derten Kleinodien würdig zu entsprechen.

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Maston und der Major konnten sich nicht enthalten,ihre Bewunderung der glänzenden Schönheiten dieserreichen Natur zu äußern.

Aber der Präsident Barbicane eilte, unempfänglichfür alle diese Wunder, voran; das Land mißfiel ihmeben durch seine Fruchtbarkeit; ohne gerade ein Was-serentdeckungskünstler zu sein, fühlte er das Wasserunter seinen Füßen, und suchte vergeblich nach An-zeigen einer unbestreitbaren Trockenheit.

Inzwischen kam man vorwärts; man mußte mehre-re Flüsse durchwaten, nicht ganz ohne Gefahr, denn siewaren durch fünfzehn bis achtzehn Fuß lange Kaimansgefährlich. Maston drohte ihnen kühn mit seinem ei-sernen Haken; aber nur die Pelikane, Kriechenten undPhaetons, die wilden Bewohner der Gegend, wurdenscheu, während große rothe Flamingos ihn dumm an-blickten.

Endlich verschwanden auch diese Bewohner feuch-ter Landschaft; minder starke Bäume sah man zer-streut in lichterer Waldung; inmitten unendlicher Ebe-nen zeigten sich vereinzelte Gruppen, wohin sich He-erden aufgescheuchter Damhirsche zogen.

»Endlich!« rief Barbicane in seinen Steigbügeln sichempor richtend, »hier kommt die Fichtenregion!«

– Und auch die der Wilden, erwiderte der Major.

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In der That zeigten sich am fernen Horizont einigeSeminolen; sie geriethen in Bewegung, rannten auf ih-ren raschen Pferden hin und her, schwangen lange Lan-zen oder schossen dumpf mit ihren Gewehren; übri-gens beschränkten sie sich auf diese feindseligen Kund-gebungen, ohne weiter zu beunruhigen.

Barbicane befand sich mit seinen Gefährten mittenauf einer felsigen Ebene, einen offenen wenige Mor-gen großen Raum, worauf die Sonne glühende Strah-len warf. Diese hervorragende geräumige Erhöhungdes Bodens schien den Mitgliedern des Gun-Clubs al-le für die Aufstellung ihrer Columbiade erforderlichenEigenschaften zu haben.

»Halt!« rief Barbicane, indem er stehen blieb. »Hatdieser Ort einen Namen im Land?«

– Er heißt Stone’s-Hill (Steinhügel), erwiderte einFloridaner.

Barbicane stieg schweigend ab, nahm seine Instru-mente, und begann seine Lage mit äußerster Genau-igkeit aufzunehmen; die kleine Truppe sammelte sichum ihn und beobachtete ihn im tiefsten Schweigen.

In diesem Moment trat die Sonne in den Meridian.Barbicane schrieb nach einigen Augenblicken rasch dasErgebniß seiner Beobachtung auf. »Dieser Platz liegt300 Toisen über der Meeresfläche unterm 27◦7’ nördli-cher Breite, und 5◦7’ westlicher Länge; es scheint mir,er biete durch seine trockene und felsige Beschaffen-heit alle dem Unternehmen günstigen Bedingungen

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dar; auf dieser Ebene wollen wir also unsere Magazine,unsere Werkstätten, Essen, Arbeiterwohnungen errich-ten, und von dieser, ja dieser Stelle aus«, wiederholteer, indem er mit dem Fuß den Gipfel von Stone’s-Hillbetrat, »soll unser Projectil in die Räume der Sonnen-welt empor fliegen!«

14. HACKE UND KELLE.

An demselben Abend kehrte Barbicane mit seinenGefährten nach Tampa-Town zurück, und der Inge-nieur Murchison schiffte sich auf dem Tampico wiedernach New-Orleans ein. Er mußte ein Heer von Arbei-tern dingen und den größten Theil des Materials dortholen. Die Mitglieder des Gun-Clubs blieben zu Tampa-Town, um mit Hilfe der Leute des Landes die erstenArbeiten einzurichten.

Acht Tage nach seiner Abfahrt kam der Tampico miteiner kleinen Flotte von Dampfbooten in die Bai Es-piritu Santo zurück. Murchison hatte 1500 Arbeiterzusammengebracht. Zu der leidigen Zeit der Sclave-rei hätte er Zeit und Mühe verloren. Aber seitdemdas Land der Freiheit, Amerika, nur freie Bewohnerhat, strömen diese von allen Seiten herbei, wo reich-lich bezahlte Arbeit sie hinruft. Da es dem Gun-Clubnicht an Geld mangelte, so bot er seinen Leuten hohenLohn nebst beträchtlichen verhältnißmäßigen Vergü-tungen. Der nach Florida gedungene Arbeiter konntedarauf rechnen, daß nach Vollendung der Arbeit auf

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der Bank von Baltimore ein Capital für ihn nieder-gelegt war. Murchison hatte daher nach Belieben dieWahl, und konnte strenge Anforderungen an die Ge-schicklichkeit und Tüchtigkeit seiner Arbeiter machen.Man darf wohl glauben, daß er in sein Arbeitsheer nurdie besten Leute sich wählte, Mechaniker, Heizer, Gie-ßer, Kalkbrenner, Grubenarbeiter, Ziegelstreicher undHandwerker aller Art, schwarze oder weiße, ohne Un-terschied der Farbe. Viele von ihnen nahmen ihre Fa-milien mit. Es war eine Art Auswanderung.

Am 31. October um zehn Uhr Vormittags stieg dieseSchaar zu Tampa-Town ans Land; man begreift, wel-che Bewegung und Thätigkeit in diesem Städtchen ent-stand, als auf einmal sich ihre Einwohnerzahl verdop-pelte. In der That mußte dieser Schritt des Gun-ClubsTampa-Town zu großem Vortheil gereichen, nicht so-wohl durch die Menge der Werkleute, welche sich un-verzüglich nach Stone’s-Hill begaben, als durch das Zu-strömen von Neugierigen, die nach und nach aus allenTheilen der Welt nach der Halbinsel Florida kamen.

In den ersten Tagen schiffte man das mitgebrachteGeräthe aus, die Maschinen, Lebensmittel, nebst ei-ner großen Anzahl von Wohnungen aus Eisenblech,deren Theile auseinandergelegt und numerirt waren.Zu gleicher Zeit steckte Barbicane zur Verbindung vonStone’s-Hill mit Tampa-Town eine fünfzehn Meilen lan-ge Eisenbahn ab.

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Es ist bekannt, wie man in Amerika Eisenbahnenbaut; launig in Beziehung auf Umwege, mit küh-nen Steigungen, Geländer und künstliche Bauten ver-schmähend, laufen dieselben bergan und bergab blind-lings weiter ohne Rücksicht auf die gerade Linie; siesind nicht kostspielig, nicht unbequem; nur daß man involler Freiheit darauf entgleist und Luftsprünge macht.Die Strecke von Tampa-Town nach Stone’s-Hill war ei-ne Bagatelle, die nicht viel Geld noch Zeit kostete.

Uebrigens war Barbicane die Seele dieser auf seinenRuf zusammengeströmten Leute; er belebte sie, theilteihnen seinen Hauch, seinen Enthusiasmus, seine Ue-berzeugung mit; er war allerwärts zugegen, als sei ermit Allenthalbenheit begabt, stets von Maston, wie voneiner summenden Mücke, begleitet. Sein praktischerGeist ersann tausend Erfindungen. Für ihn gab’s keinHinderniß, keine Schwierigkeit, keine Verlegenheit; erwar Bergmann, Maurer, Mechaniker sowie Artillerist,hatte Antworten auf alle Fragen und Lösungen für alleProbleme. Er correspondirte lebhaft mit dem Gun-Cluboder dem Hüttenwerk Goldspring; Tag und Nacht warmit angezündetem Feuer und gespanntem Dampf derTampico auf der Rhede zu Hillisboro seiner Befehle ge-wärtig.

Am 1. November verließ Barbicane mit einem Truppseiner Arbeiter Tampa-Town und vom folgenden Tagean wuchs um Stone’s-Hill herum eine Stadt maschinen-fertiger Häuser empor; man umgab sie mit Palissaden,

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und ihrem regen, emsigen Leben nach hätte man siefür eine der großen Städte der Union gehalten. DasLeben war darin disciplinarisch geordnet, und die Ar-beiten begannen in vollkommenster Ordnung.

Durch sorgfältig angestellte Untersuchungen kannteman schon genau die Beschaffenheit des Bodens, unddie Grabarbeit konnte bereits am 4. November in An-griff genommen werden. An diesem Tage versammelteBarbicane seine Werkmeister und sprach zu ihnen:

»Es ist Ihnen, meine Freunde, allen bekannt, wes-halb ich Sie in dieser öden Gegend Florida zusammenberufen habe. Es soll eine Kanone gegossen werden,von neun Fuß innerem Durchmesser, mit sechs Fußdicken Wänden und einer steinernen Verkleidung vonneunzehn und ein halb Fuß; dafür nun ist ein Schachtzu graben von 60 Fuß Breite und 900 Tiefe. Diese be-deutende Arbeit soll in acht Monaten fertig sein. Siehaben also 2,543,400 Kubikfuß Grund auszugrabenund binnen 255 Tagen, d.h. 10,000 Kubikfuß täglich.Diese Aufgabe, welche für tausend Arbeiter mit freienArmen nicht schwierig ist, wird in einem verhältniß-mäßig engen Raum etwas beschwerlicher sein. Den-noch, da es nothwendig ist, wird die Arbeit zu fertigensein, und ich zähle auf Ihren Muth, wie auf Ihre Tüch-tigkeit.«

Um acht Uhr Vormittags geschah der erste Spaten-stich in Florida’s Boden, und von diesem Moment an

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blieb dieses treffliche Werkzeug in der Hand der Gru-benleute nicht einen Augenblick müßig. Die Arbeiterlösten sich jeden Viertheil des Tages ab.

So kolossal übrigens die Aufgabe war, überstieg siedoch nicht das Maß menschlicher Kräfte. Wie mancheweit schwierigere, wobei die Elemente direct zu bewäl-tigen waren, wurden zu gutem Ende geführt! Und umnun von Arbeiten der nämlichen Art zu reden, brauch’ich nur den Brunnenschacht des Pater Joseph anzufüh-ren, welchen der Sultan Saladin bei Kairo aufführenließ, zu einer Zeit, als die menschliche Kraft noch nichtdurch Maschinen hundertfach stärker geworden war,und der vom Niveau des Nils 300 Fuß in die Tiefe ging.Sodann den zu Coblenz, welchen Markgraf Johann vonBaden 600 Fuß tief graben ließ. Und, um was handel-te sich’s denn hier, kurz zu sagen? Diese Tiefe dreimalzu nehmen bei zehnfacher Breite, wodurch das Grabennur leichter wurde. Darum zweifelte auch kein Werk-meister oder Arbeiter am günstigen Erfolg.

Die Beschleunigung der Arbeit wurde noch durcheinen wichtigen Beschluß erleichtert, welchen der In-genieur Murchison mit dem Präsidenten Barbicanefaßte. Ein Artikel des Vertrags besagte, daß die Colum-biade mit Ringen von Schmiedeeisen umgeben wer-den solle, welche glühend angelegt werden mußten. Eswar dies eine übertriebene Vorsicht, denn man konn-te diese Ringe wohl entbehren. Man verzichtete da-her auf diesen Punkt, und sparte dadurch viele Zeit;

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man konnte dann beim Graben das neue System an-wenden, welches man jetzt beim Schachtbau befolgt,indem man das Mauern gleichzeitig mit dem Grabenvornimmt. In Folge dieses einfachen Verfahrens ist esnicht mehr nöthig, den Erdgrund mit Strebepfählen zustützen, das Mauerwerk hält denselben unerschütter-lich fest.

Mit diesem Verfahren konnte man jedoch erst dannbeginnen, als die Hacke auf den Felsgrund gekommenwar.

Am 4. November gruben fünfzig Arbeiter im Mittel-punkt des umzäumten Raumes auf der Oberfläche vonStone’s-Hill ein kreisrundes Loch von 60 Fuß Breite.

Die Hacke stieß Anfangs auf eine sechs Zoll tiefeSchichte schwarzen Erdreichs, das leicht beseitigt war.Hierauf folgten zwei Fuß feinen Sandes, den man sorg-fältig aufhob, um ihn bei Fertigung der Gießform zubenutzen.

Hernach zeigte sich ein weißer, ziemlich fester Thon,ähnlich dem Mergel in England, der eine vier Fuß dickeSchichte bildete.

Jetzt kam man auf den harten Grund von ver-steinerten Muscheln, der sehr trocken und fest warund fortwährend die Anwendung von Handwerkszeugnothwendig machte. Man hatte bereits eine Tiefe vonsechs und einem halben Fuß erreicht, und die Maurer-arbeit konnte begonnen werden.

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Auf dem Boden dieser Grube fertigte man von Ei-chenholz eine radförmige stark ausgebolzte Scheibevon erprobter Festigkeit, mit einer Oeffnung in der Mit-te von einem Durchmesser gleich dem äußeren derColumbiade. Auf dieser Radscheibe1 ruhten die erstenSchichten des Mauerwerks, dessen Steine durch hy-draulischen Mörtel auf’s Zäheste verbunden waren. Alsdas Mauerwerk vom Umkreis bis zur Mitte aufgeführtwar, befanden sich die Arbeiter in einem 21 Fuß brei-ten Schacht eingeschlossen.

Als man damit fertig war, nahmen die ArbeiterHacke und Pickel zur Hand, hieben den Felsgrunddicht unter der Scheibe an, welche sie nach Maßga-be der fortschreitenden Arbeit mit äußerst starkem Ge-bälk zu stützen bedacht waren. Sobald die Grube umzwei Fuß tiefer geworden war, nahm man die Balken,einen nach dem andern, heraus; die Radscheibe senk-te sich allmälig sammt dem ringförmigen Mauerwerk,welches die Werkleute oben unaufhörlich weiter auf-führten, indem sie dabei »Abzugslöcher« frei ließen,durch welche während der Gußarbeit das sich ent-wickelnde Gas entweichen konnte.

Diese Art von Arbeit erforderte auf Seiten der Arbei-ter eine ausnehmende Geschicklichkeit und unabläs-sige Achtsamkeit; Mancher wurde beim Graben unterder Scheibe von Steinsplittern verwundet, aber ihr Ei-fer ließ bei Tag und Nacht nicht eine Minute nach: bei

1Auch bei uns oft angewendet.

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Tag, wo die Hitze einige Monat später bis auf neunzigGrad1 stieg; Nachts beim bleichen Schein elektrischerLichtströme, unterm Lärmen der klopfenden Steinhau-er, der explodirenden Minen, der knarrenden Maschi-nen, in einem Wirbel von Dünsten, welche in weitemKreis um Stone’s-Hill herum die Lüfte durchdrangen,so daß weder Büffelheerden noch Seminolen sich indie Nähe wagten.

Indessen schritten die Arbeiten regelmäßig vor; dasMaterial wurde vermittelst Krahnen durch Dampfkraftauf und ab geschafft; unerwartete Hindernisse gab’swenige, der vorausgesehenen ward man leicht Herr.

Nach Verlauf des ersten Monats hatte der Schachtdie für diesen Zeitraum bestimmte Tiefe, nämlich 112Fuß, erreicht; im December das Doppelte, im Janu-ar das Dreifache dieses Maßes. Während des Febru-ar hatten die Arbeiter gegen Wasser zu kämpfen, wel-ches durch den umgebenden Erdgrund eindrang. Manmußte stark wirkende Pumpen und Vorrichtungen mitzusammengepreßter Luft anwenden, um es herauszu-schaffen und dann die Mündungen der Quellen zu ver-mauern. So wurde man der widerwärtigen Einströ-mungen Meister; nur geschah es, daß in Folge des-weicheren Grundes die Radscheibe zum Theil nach-gab und ein theilweises Einstürzen eintrat. Man den-ke auch, welchen furchtbaren Druck das 450 Fuß hohe

1Fahrenheit = 40 Grad des hunderttheiligen (Celsius)Thermometers.

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Mauerwerk auf die Scheibe ausüben mußte. Dabei ka-men einige Arbeiter um’s Leben.

Drei Wochen gingen drauf, um das Mauerwerk zustützen, die Arbeit unten wieder aufzunehmen, und dieScheibe wieder so fest, wie früher, zu machen. Docherlangte das eine Zeit lang geschädigte Werk durchdie Geschicklichkeit der Ingenieure und die Tüchtig-keit der Maschinen seine Festigkeit wieder, und dieBohrarbeit wurde fortgesetzt.

Von nun an hielt kein neuer Zwischenfall den Fort-schritt der Arbeit auf, und am 10. Juni, 20 Tage vorAblauf der von Barbicane gesteckten Frist, hatte derSchacht mit seiner vollständigen Mauereinfassung dieTiefe von 900 Fuß erreicht. Unten ruhte das Gemäu-er auf einem massiven dreißig Fuß dicken Würfel, undoben reichte es an die Oberfläche des Bodens.

Barbicane und die Mitglieder des Gun-Clubs begrüß-ten warm den Ingenieur Murchison, daß seine Cyklo-penarbeit so außerordentlich rasch fertig geworden.

Im Verlauf dieser acht Monate verließ BarbicaneStone’s-Hill nicht einen Augenblick; während er Schrittfür Schritt die Bohrarbeit begleitete, bekümmerte ersich unablässig um das Wohlsein und die Gesundheitseiner Arbeiter, und wußte auch glücklich die Krank-heiten fern zu halten, welche bei großer Menschenan-häufung so leicht vorkommen, und in den Gegendentropischen Klimas so gefährlich werden können.

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Es hatten zwar mehrere Arbeiter ihre Unvorsichtig-keit mit dem Leben zu büßen; aber bei so gefährlichenArbeiten sind beklagenswerthe Unfälle der Art unmög-lich zu vermeiden, und sie gehören zu dem Detail, wasden Amerikanern wenig Sorge macht. Sie bekümmernsich mehr um die Humanität im Allgemeinen, als ge-gen das Individuum im Besonderen. Doch Barbicanehatte die entgegengesetzten Grundsätze und brachtesie bei jeder Gelegenheit zur Anwendung. Seiner Sorgeund Einsicht, seinem nützlichen Einwirken bei schwie-rigen Fällen, seinem erstaunlichen humanen Scharf-blick war es daher auch zu verdanken, daß die Un-glücksfälle durchschnittlich diejenige Zahl nicht über-schritten, wie sie in denjenigen europäischen Ländernvorkommen, welche man wegen überreicher Vorsichts-maßregeln als Muster anführt, unter anderen Frank-reich, wo man bei den Arbeiten auf 200,000 Francsohngefähr einen Unglücksfall rechnet.

15. DAS GUSSFEST.

Während acht Monate lang die Grubenarbeit vorge-nommen wurde, waren zu gleicher Zeit die Vorarbeitenfür den Guß äußerst rasch vorgeschritten; ein Fremder,der nach Stone’s-Hill kam, wäre durch den Anblick, dersich seinen Blicken darbot, sehr überrascht worden.

600 Yards von dem Schacht entfernt, im Kreise umdiesen Mittelpunkt, erhoben sich 1200 Streichösen, je-der sechs Fuß breit und drei von einander entfernt. Es

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war eine Linie von zwei Meilen Länge, woran diese1200 Oefen gereiht waren. Alle nach dem nämlichenMuster mit viereckigen Rauchfängen erbaut, machteneinen ganz besonderen Eindruck. J. T. Maston fand die-se Anordnung prachtvoll. Sie erinnerte ihn an die Mo-numente Washington’s. Für ihn gab’s nichts Schöneresauf der Welt; selbst in Griechenland oder sonst irgend-wo gab’s nie etwas der Art, meinte er.

Wir erinnern uns, daß das Comité in der drittenSitzung für die Columbiade Gußeisen, insbesonderegraues, zu verwenden beschloß. Dieses Metall ist inder That zäher, dehnbarer, weicher, leichter zu fei-len, für alle Verrichtungen des Formens geeigneter,und mit Steinkohlen behandelt von vorzüglicher Be-schaffenheit für die Stücke großer Widerstandskraft,wie Kanonen, Dampfmaschinencylinder, hydraulischePressen etc.

Aber das Gußeisen ist, wenn es nur einmal ge-schmolzen wird, selten gleichartig genug, und man rei-nigt und läutert es durch ein zweites Schmelzen, in-dem man es seiner letzten erdigen Bestandtheile da-durch entledigt.

Daher wurde auch das Eisenerz, bevor man es nachTampa-Town schaffte, in den Hochöfen zu Goldspringbehandelt, und mit Steinkohlen und Kieselstoff in Be-rührung einem hohen Hitzgrade ausgesetzt, war esmit Kohlenstoff verbunden zu Gußeisen geworden.Nach dieser ersten Zubereitung wurde das Metall nach

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Stone’s-Hill geschafft. Aber die Masse von 136 Mil-lionen Pfund war für Beförderung durch Eisenbahnzu kostspielig; die Kosten wären durch den Transportauf’s Doppelte gestiegen. Man zog daher vor, zu New-York Schiffe zu miethen, um sie mit dem Gußeisen inBarren zu befrachten. Es waren nicht weniger als 68Fahrzeuge von tausend Tonnen erforderlich, eine wah-re Flotte, die am dritten Mai aus den Gewässern vonNew-York auslief, den Ocean längs der amerikanischenKüste durchfuhr, durch den Kanal von Bahama um dieSpitze von Florida wieder aufwärts am zehnten dessel-ben Monats in der Bai Espiritu Santo ankam und ohneSchaden und Gefahr im Hafen von Tampa-Town anker-te. Hier wurde die Ladung der Schiffe in die Waggonsder Bahn nach Stone’s-Hill gebracht, und um die Mit-te des Januar befand sich die enorme Masse Metall anihrem Bestimmungsort.

Es ist leicht begreiflich, daß, um diese 60,000 Ton-nen Eisen zu gleicher Zeit zu schmelzen, 1200 Oefennicht zuviel waren. Jeder dieser Schmelzöfen konnteetwa 114,000 Pfund dieses Metalls fassen; sie wurdennach dem Muster derjenigen erbaut, welche man beimGuß der Rodmans-Kanone gebraucht hatte; sie warentrapezförmig und sehr niedrig. Der Heizungsapparatund der Rauchfang befanden sich an den beiden En-den des Ofens, so daß dieser seiner ganzen Länge nachgleichmäßig geheizt war. Diese aus feuerfesten Ziegel-steinen erbauten Oefen bestanden lediglich aus einem

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Rost, um die Steinkohlen darauf zu brennen, und ei-nem Heerd, »Sole«, worauf die Gußbarren gelegt wur-den; diese unter einem Winkel von 25 Grad geneigte»Sole« ließ das Metall in die Auffangebecken abfließen;von da leiteten es 1200 Rinnen dem Centralbecken zu.

Sobald die Grab- und Mauerarbeit beendigt war,schritt Barbicane zur Fertigung der inneren Gießform.Es handelte sich darum, im Mittelpunkt des Schachtsseiner Achse entlang einen 900 Fuß langen und neunFuß breiten Cylinder herzustellen, der genau den fürdie Seele der Columbiade bestimmten Raum enthaltensollte. Der Cylinder wurde aus einer thonartigen Er-de und Sand gefertigt, mit einer Beimischung von Heuoder Stroh. Der Zwischenraum, welcher zwischen demCylinder und dem aufgemauerten Mantel leer blieb,sollte mit dem geschmolzenen Metall ausgefüllt wer-den, welches demgemäß die sechs Fuß dicken Wändebilden sollte.

Dieser Cylinder mußte, um das Gleichgewicht zuhalten, durch eiserne Beschläge zusammengehaltenund in gewissen Entfernungen vermittelst Querstäben,die in der steinernen Umkleidung eingelassen wurden,befestigt werden; nach dem Guß mußten diese Quer-stäbe sich in der Masse des Metalls befinden, was kei-nen Nachtheil brachte.

Diese Arbeit wurde am 8. Juli fertig, und nun wurdeder Guß auf den folgenden Tag festgesetzt.

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– Der Guß wird ein hübsches Fest werden, sagte Ma-ston zu seinem Freund Barbicane.

»Allerdings!« erwiderte dieser, »aber ein öffentlichesFest darf’s nicht sein.«

– Wie so! Wollen Sie nicht die Pforten Jedem öffnen?»Davor werd’ ich mich hüten, Maston; der Guß der

Columbiade ist eine bedenkliche, wo nicht gefährlicheSache, und es wird besser sein, daß man dabei dieThüren schließt. Beim Abschießen des Projectils, wennman ein Fest will, meinetwegen, aber eher nicht!«

Der Präsident hatte Recht; es konnten sich bei derVornahme des Gusses unvorhergesehene Gefahren er-geben, bei welchen eine große Menge von Zuschauernhinderlich gewesen wäre. Man mußte Freiheit der Be-wegung haben.

Es wurde daher in den umschlossenen Raum Nie-mand zugelassen, außer Abgeordnete des Gun-Clubs,die nach Tampa-Town kamen. Da sah man den mun-tern Bilsby, Tom Hunter, den Obrist Blomsberry, denMajor Elphiston, den General Morgan, und Alle, denender Guß der Columbiade eine persönliche Angelegen-heit wurde. Maston wurde ihr Cicerone; er verschontesie mit keinem Detail, führte sie überall umher, in dieMagazine, Werkstätten, mitten unter die Maschinen, jasie mußten die 1200 Schmelzöfen der Reihe nach allebesuchen. Bei dem 1200sten waren sie allerdings einwenig erschöpft.

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Der Guß sollte gerade um Mittag vorgenommen wer-den; Tags zuvor wurden in jeden Ofen 114,000 PfundMetall in Barren geschafft und diese kreuzweise übereinander gelegt, damit die heiße Luft frei zwischen ih-nen spielen konnte. Seit dem frühen Morgen spieen die1200 Essen ihre Feuerströme in die Lüfte, und der Bo-den war in dumpf zitternder Bewegung.

Es schmolz ja eine so ungeheure Menge Metall, glüh-te eine so ungeheure Masse Kohlen. Die 68,000 TonnenKohlen mußten wohl einen dichten Vorhang schwar-zen Rauchs vor die Sonnenscheibe ziehen.

In der Umgebung der Oefen, die mit dumpfem Ge-töse, das dem Rollen des Donners glich, weithin ver-nehmlich waren, wurde die Hitze bald unerträglich;gewaltige Kühlmaschinen wehten beständig frischeLuft zu, und sättigten alle glühenden Essen mit Sau-erstoff.

Sollte der Guß gelingen, so mußte er rasch ausge-führt werden. Auf ein Signal mit einem Kanonenschußmußte jeder Ofen die flüssige Masse frei lassen undsich gänzlich entleeren. Gemäß dieser Anordnungenwarteten die Werkmeister und Arbeiter auf den be-stimmten Moment mit unruhig gespannter Ungeduld.Es befand sich Niemand mehr im inneren Raum, undjeder Gießmeister auf seinem Posten bei den Abflußlö-chern.

Barbicane mit seinen Collegen wohnte auf einer na-hen Erhöhung der Ausführung bei. Vor ihnen stand ein

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Geschützstück bereit, auf einen Wink des Ingenieursdas Zeichen zu geben.

Einige Minuten vor zwölf Uhr begannen die erstenTröpfchen Metall zu fließen; die Becken füllten sich all-mälig, und als der Guß völlig flüssig war, ließ man ihneinige Minuten ruhig stehen, um leichter fremdartigeTheile daraus zu entfernen.

Schlag zwölf donnerte der Kanonenschuß und blitz-te durch die Lüfte. Die 1200 Abflußlöcher öffneten sichzu gleicher Zeit und 1200 feurige Schlangen rieseltendem Schacht in der Mitte zu mit glühenden Ringen.Da stürzten sie, mit erschrecklichem Getöse, 900 Fußtief hinab. Es war ein erhebender, prachtvoller Anblick.Der Boden erbebte, während diese Fluthen von GußRauchsäulen zum Himmel empor wirbelten, zugleichdie Feuchtigkeit der Form verflüchtigend, welche alsundurchdringlicher Dampf durch die Zuglöcher derUmkleidung hervorqualmte. Diese künstlichen Wolkenwälzten ihre dichten Spiralsäulen bis 3000 Fuß hochzu dem Zenith empor. Mancher außerhalb des Ge-sichtskreises streifende Wilde mochte glauben, es bildesich im Schooße Florida’s ein neuer Krater, und dochwar kein Vulkanausbruch, kein Wetterwirbel, kein Ge-witter, noch sonst ein Ringen der Elemente, noch einfürchterliches Naturereigniß, wie sie sich mitunter be-geben! Nein! Lediglich Menschenwerk waren diese

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gerötheten Dampfwolken, diese eines Vulkans würdi-gen Riesenflammen, diese erdbebengleichen donnern-den Erschütterungen, dieses stumme und gewitterglei-che Dröhnen; seine Hand stürzte einen ganzen Niaga-ra strömenden Metalls in einen selbstgegrabenen Ab-grund.

16. DIE COLUMBIADE.

War der Guß gelungen? Man konnte darüber nurVermuthungen haben. Doch ließ Alles an den gutenErfolg glauben, weil die Gießform die ganze Masse desin den Oefen geschmolzenen Metalls in sich aufgenom-men hatte.

Wie dem auch sei, es sollte noch lange dauern, bisman darüber Gewißheit haben konnte.

In der That, als der Major Rodman seine Kanonevon 160,000 Pfund goß, waren nicht weniger als vier-zehn Tage zum Abkühlen erforderlich. Wie lange nochsollte die riesenhafte Columbiade, umgeben von ihrenDampfwirbeln und durch ihre große Hitze geschützt,sich den Blicken ihrer Bewunderer entziehen? Das warschwer zu berechnen.

Die Ungeduld der Mitglieder des Gun-Clubs wur-de inzwischen auf eine harte Probe gestellt. Aber esließ sich nichts dafür thun. Maston hätte sich beinaheaus Hingebung gebraten. Vierzehn Tage nach dem Gußstieg noch ein unendlicher Rauchwirbel zum Himmel

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empor, und im Umkreis von 200 Fuß um Stone’s-Hillverbrannte noch der Boden die Füße.

Tage verflossen, Wochen reiheten sich an Wochen.Kein Mittel, den ungeheuren Cylinder abzukühlen, kei-ne Möglichkeit, nahe zu kommen. Es galt nur abzuwar-ten, und die Mitglieder des Gun-Clubs mußten sich inGeduld fügen.

»Nun haben wir schon den 10. August«, sagte ei-nes Morgens J. T. Maston. »Keine vier Monate mehrbis zum 1. December. Den inneren Theil der Form her-ausnehmen, die Seele kalibriren, die Columbiade la-den, das Alles muß noch geschehen! Wir werden nichtfertig! Man kann ja noch nicht einmal nahe kommen!Wird die Kanone niemals kalt werden! Da wären wirgrausam angeführt!«

Vergeblich suchte man den ungeduldigen Secretärzu beruhigen; Barbicane äußerte nichts, aber seinSchweigen barg eine innere Aufregung. Gänzlich ge-hemmt sein durch ein Hinderniß, das nur die Zeit be-siegen konnte – die Zeit, unter den gegebenen Umstän-den ein fürchterlicher Feind, – und einem Feind waf-fenlos Preis gegeben, das war hart für Kriegerseelen!

Inzwischen ließen tägliche Beobachtungen eine Ver-änderung im Zustand des Bodens wahrnehmen. Umden 15. August war der emporsteigende Dampf be-reits bedeutend minder stark und dicht. Einige Tagehernach strömte der Boden nur noch leichte Dünste

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aus, ein letztes Hauchen des im steinernen Sarg ein-geschlossenen Ungeheuers. Nach und nach hörte dasZittern des Bodens auf, und der Kreis des Wärme-stoffs ward enger; die ungeduldigsten Zuschauer wag-ten sich näher; den einen Tag gewannen sie zwei Toi-sen, den folgenden vier, und am 22. August konnteBarbicane mit seinem Ingenieur und seinen Collegenschon auf dem Streifen-Guß Platz nehmen, welcherden Boden von Stone’s-Hill leicht bedeckte; gewiß einder Gesundheit zuträglicher Ort, wo man nicht kalteFüße bekam.

»Endlich!« rief der Präsident des Gun-Clubs mittiefer Befriedigung aus.

Denselben Tag noch begannen wieder die Arbeiten.Sofort schritt man dazu, das Innere der Form heraus-zunehmen; die Hacke und Spitzhaue, die Werkzeugezum Bohren waren unausgesetzt thätig; die Thoner-de mit dem Sand hatten durch Einwirkung der Wär-me eine äußerste Härte erlangt; aber mit Hilfe der Ma-schinen bewältigte man den Stoff, welcher in der Näheder Wände noch glühend heiß war; er wurde heraus-genommen, und rasch auf Karren mit Dampfkraft fort-geschafft. Dabei war der Eifer bei der Arbeit so großund förderlich, Barbicane’s Einwirkung so dringend,und seine Beweisgründe in Form von Dollars so wirk-sam, daß am 3. September jede Spur der Gußform ver-schwunden war.

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Sogleich begann darauf das Ausfeilen; unverzüg-lich wurden die Maschinen in Bewegung gesetzt, undmächtige Feilen waren eilig beschäftigt, alles Rauhedes Gusses zu beseitigen. Nach einigen Wochen wardie innere Fläche der ungeheuren Röhre völlig cylin-drisch und die Seele fein polirt.

Endlich, am 22. September, ehe noch ein Jahr seitBarbicane’s Bekanntmachung verflossen, war die enor-me Maschine sorgfältig kalibrirt und mit Hilfe genau-er Instrumente vollständig vertikal gerichtet, zum Ge-brauch fertig. Man hatte nur noch den Mond abzuwar-ten, konnte aber sicher sein, daß er beim Rendez-vouserscheinen werde.

Maston’s Freude ging über alle Schranken, und erhätte beinahe, indem er in die 900 Fuß lange Röhreblickte, einen schrecklichen Fall gethan.

Hätte er sich nicht an dem starken Arm Blomsber-ry’s festgehalten, so hätte der Secretär des Gun-Clubs,wie ein neuer Herostrat, in den Tiefen der Columbiadeseinen Tod gefunden.

Die Kanone war also fertig; an ihrer vollkommenenHerstellung war nicht zu zweifeln; daher erschien aucham 6. October der Kapitän Nicholl bei dem PräsidentenBarbicane, und dieser trug in seine Bücher den Einnah-meposten von 2000 Dollars ein. Man kann wohl glau-ben, daß der Kapitän im höchsten Grade erzürnt war,so daß er krank ward. Doch waren noch drei Wetten,zu 3-, 4- und 5000 Dollars so daß, wenn er nur zwei

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derselben gewann, seine Sache nicht schlecht, wo nichtvortrefflich stand.

Aber er brachte das Geld gar nicht in Anschlag, undder von seinem Rivalen errungene Erfolg, eine Kanonezu gießen, welcher 36 Fuß dicke Platten nicht wider-stehen konnten, versetzte ihm einen harten Schlag.

Seit dem 23. September war dem Publicum der Zu-tritt in den umschlossenen Raum von Stone’s-Hill er-laubt, und man kann sich denken, welch’ ein Zuströ-men von Besuchern stattfand.

In der That, zahllose Neugierige aus allen Theilender Vereinigten Staaten zogen sich nun nach Florida.Die Stadt Tampa hatte sich im Laufe des den Arbeitendes Gun-Clubs gewidmeten Jahres bedeutend vergrö-ßert, und sie zählte damals 150,000 Bewohner. Nach-dem sie zuerst das Fort Brooke mit einem Netz vonStraßen umgeben hatte, dehnte sie sich nun auf derErdzunge aus, welche die beiden Rheden der Bai Espi-ritu Santo scheidet; neue Quartiere, neue Plätze, einganzer Wald von Häusern war im Klima amerikani-scher Sonne an den kürzlich noch öden Uferstellenemporgewachsen. Es hatten sich Compagnien gebildet,um Kirchen, Schulen, Privatwohnungen zu bauen, undim Verlauf eines Jahres war die Stadt zehnmal größergeworden.

Bekanntlich sind die Yankees geborne Kaufleute;überall, wohin sie das Schicksal wirft, vom Pol bis zumAequator, muß ihr Geschäftsinstinct sich nutzbringend

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üben. Daher kam’s, daß blos neugierige Leute, die ein-zig zu dem Zweck nach Florida kamen, um den Ar-beiten des Gun-Clubs beizuwohnen, sich, sowie sie inTampa wohnhaft waren, mit Handelsunternehmungenbefaßten. Die Schiffe, welche für den Transport desMaterials und der Arbeiter gemiethet waren, hatten ei-ne Thätigkeit ohne Gleichen im Hafen veranlaßt. Baldfanden sich andere Fahrzeuge von jeder Größe undGestalt, mit Lebensmitteln, Vorräthen und Waaren be-frachtet, in der Bai und auf den beiden Rheden ein;es entstanden große Rhederei-Comptoirs und Wechsel-stuben, und die Schifffahrtszeitung zählte täglich neueSchiffe auf, die im Hafen von Tampa ankamen.

Während die Straßen sich um die Stadt herum ver-vielfältigten, wurde diese, in Betracht des erstaunli-chen Zuwachses der Bevölkerung und ihres Handels,durch eine Eisenbahn mit den Südstaaten der Unionin Verbindung gebracht. Bereits war Mobile mit Pensa-cola, dem großen Seearsenal des Südens, durch einenBahnweg in Verbindung, welcher von da aus nach Tala-hassee führte. Dieses war durch eine Strecke von 21Meilen mit St. Marks am Meeresufer in Verbindung.Diese kurze Bahnstrecke wurde nun nach Tampa-Townverlängert, und führte in dieser Richtung den erstor-benen Theilen Mittelflorida’s erneuertes Leben zu. Sokonnte Tampa, Dank der durch einen eminenten Kopfhervorgerufenen merkwürdigen Industrie, mit Recht

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sich als große Stadt benehmen. Man hatte ihr denBeinamen »Mondstadt« gegeben.

Nun ist’s Jedem begreiflich, weshalb die Eifersuchtzwischen Texas und Florida so arg gewesen, und dieTexaner so aufgebracht wurden, als sie durch die Wahldes Gun-Clubs ihre Ansprüche zurückgewiesen sahen.In vorausblickendem Scharfsinn hatten sie eine Ideedavon, welche Vortheile Barbicane’s Experiment demLande bringen werde. Es entging Texas dadurch ein be-deutender Mittelpunkt des Handels und der Eisenbah-nen, mit einem beträchtlichen Zuwachs an Bevölke-rung. Alle diese Vortheile wurden jetzt der armseligenHalbinsel Florida zu Theil, welche nun einen Dammzwischen den Fluthen des Golfs und den Wogen desOceans bilden zu sollen schien. Darum hatte auch Bar-bicane eine so arge Antipathie gegen Texas, wie sie derGeneral Santa-Anna hegte.

Obwohl ihrem Handelstrieb und ihrem industriellenEifer hingegeben, ließ doch die neue Bevölkerung vonTampa-Town die interessanten Werke des Gun-Clubsnicht unbeachtet. Im Gegentheil sie wendeten den ge-ringsten Details der Unternehmung eine leidenschaft-liche Theilnahme zu. Zwischen der Stadt und Stone’s-Hill strömte man beständig hin und her, es war eineProcession, eine Wallfahrt.

Man konnte schon voraussehen, daß am Tage desExperiments die Zuschauer nach Millionen zählen wür-den; denn sie kamen schon von allen Punkten der Erde

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her und strömten auf die schmale Landzunge zusam-men. Europa wanderte nach Amerika.

Aber bisher, muß man zugeben, war die Neugier-de dieser zahllosen Ankömmlinge nur wenig befriedigtworden. Viele rechneten bei dem Guß auf ein Schau-spiel und bekamen nur Rauch zu sehen. Das war fürdie gierigen Blicke zu wenig; aber Barbicane wolltebei dieser Operation durchaus keine Zuschauer. Da-her fluchte, murrte, schalt man; man warf dem Präsi-denten eine Willkür vor, die wenig »amerikanisch« sei.Beinahe hätte es einen Aufruhr bei den Palissaden vonStone’s-Hill gegeben. Barbicane blieb, wie wir wissen,unerschütterlich in seinem Entschluß.

Als aber die Columbiade völlig fertig war, gestatteteer den Zutritt; es wäre auch unhöflich, ja unklug ge-wesen, die Gefühle des Publicums zu mißachten. Bar-bicane ließ daher Jedermann zu; doch sein praktischerSinn gab ihm den Gedanken ein, aus dieser NeugierdeCapital zu schlagen.

Die riesenmäßige Columbiade anzuschauen, warwohl etwas Großes, aber in dieselbe hineinzusteigen,schien den Amerikanern ein Glück ohne Gleichen. Da-her versagte sich auch kein einziger Besucher diesesVergnügen, das man ihnen vermittelst einer mechani-schen Vorrichtung nebst Dampfkraft verschaffte. Wiewahnsinnig drängte man sich zu, Frauen, Kinder, Grei-se, in die Geheimnisse des Riesen bis auf den tiefstenGrund des Innern zu dringen. Trotz des hohen Preises

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von fünf Dollars für die Person strömten zwei Monatelang die Besucher zu, und brachten dem Gun-Club eineEinnahme von fast 500,000 Dollars.

Den ersten Besuch in der Columbiade statteten na-türlich die Mitglieder des Gun-Clubs ab, ein Fest, dasam 25. September stattfand. Der Präsident Barbicane,Maston, der Major Elphiston, Obrist Blomsberry, derIngenieur Murchison, und andere hervorragende Mit-glieder, im Ganzen zehn, fuhren hinab. Es war im In-nern der langen Metallröhre noch ziemlich warm, einwenig zum Ersticken; aber eine Freude dagegen zumEntzücken! Eine Tafel von zehn Gedecken war da un-ten hergerichtet, mit tagheller Beleuchtung durch elek-trisches Licht. Zahlreiche ausgesuchte Gerichte kamenwie vom Himmel herab vor die Gäste und die bestenWeine Frankreichs strömten reichlich bei dem Gast-mahl in der Tiefe von 900 Fuß.

Das Fest war sehr belebt, ja lärmend; man trank auf’sWohl des Erdballs und seines Trabanten, auf’s Wohldes Gun-Clubs, der Union, des Mondes, der Phöbe, Se-lene etc. etc. Alle diese Toaste gelangten in der aku-stischen Röhre donnerähnlich oben an, wo die Mengerings mit Jubel in die Rufe der zehn Gäste da unteneinstimmte.

Maston war außer sich, schrie und gestikulirte, hät-te seinen Platz nicht mit einem Königreich getauscht,»hätte auch die geladene Kanone ihn bis zu dem Pla-netenraum in die Lüfte geschleudert!«

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17. EINE TELEGRAPHISCHE DEPESCHE.

Die großen, vom Gun-Club unternommenen Arbei-ten waren, so zu sagen, fertig, und doch sollte es nochzwei Monate dauern, bis das Projectil nach dem Mondgeschleudert würde. Die zwei Monate mußten der all-gemeinen Ungeduld so lange wie zwei Jahre vorkom-men! Bisher waren die geringsten Details der Vorberei-tungen von den Journalen, die man mit gierigen undleidenschaftlichen Blicken verschlang, tagtäglich mit-getheilt worden; nun aber war zu befürchten, es möch-te diese dem Publicum gespendete »Interessendividen-de« sehr herabgemindert werden, und jeder erschrak,daß er nicht mehr seinen Theil an der täglichen Ge-müthsbewegung haben sollte.

Doch so kam es nicht; es begab sich ein höchst un-erwartetes, ganz außerordentliches, unglaubliches, un-wahrscheinliches Ereigniß, welches von Neuem die ge-spannten Geister fanatisiren, die ganze Welt in gestei-gerte Aufregung versetzen sollte.

Am 30. September, um drei Uhr 47 Minuten Nach-mittags, kam ein vom Kabel zwischen Valentia in Irlandund der nordamerikanischen Küste befördertes Tele-gramm an den Präsidenten Barbicane.

Derselbe öffnete und las die Depesche, und so großauch seine Selbstbeherrschung war, seine Lippen er-bleichten, seine Augen wurden trübe beim Lesen der20 Worte ihres Inhaltes.

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Der Text, wie er im Archiv des Gun-Clubs zu findenist, lautete:

Frankreich, Paris 30. Sept. 4 U. Morg.»Barbicane, Tampa, Florida. Vereinigte Staaten.Nehmen Sie statt rundem Projectil ein cylinder-

kegelförmiges. Werde darin mit hinauf reisen. Werdemit Dampfboot Atlanta kommen.

Michel Ardan.«

18. DER PASSAGIER DER ATLANTA.

Wäre diese Bestürzung erregende Neuigkeit, anstattdurch den elektrischen Draht einfach mit der Post un-ter versiegeltem Umschlag angelangt, wäre sie nichtden französischen, irländischen und amerikanischenTelegraphenbeamten zur Kenntniß gekommen, so wä-re Barbicane nicht einen Augenblick in Verlegenheitgewesen. Er hätte aus Klugheit geschwiegen, um seinWerk nicht in der Achtung herabzusetzen. Es konnteja, zumal da das Telegramm von einem Franzosen kam,eine Mystification dahinter stecken. War es denn wahr-scheinlich, daß irgend ein Mensch so kühn wäre, auchnur den Gedanken einer solchen Reise zu fassen? Undgab es so einen Menschen, war es nicht ein Narr, denman in eine Zelle einschließen mußte, nicht in eineKugel?

Aber die Depesche war bekannt, weil die Art der Be-förderung die Verschwiegenheit ausschließt, und der

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Vorschlag Michel Ardan’s war schon in allen Vereinig-ten Staaten verbreitet. Also war für Barbicane keinGrund ihn geheim zu halten. Er berief daher seine zuTampa-Town anwesenden Collegen, und las, ohne sei-ne Gedanken zu äußern, ohne über die Glaubwürdig-keit der Mittheilung ein Wort zu reden, ihnen kalt denlakonischen Text vor.

»Nicht möglich! – Unwahrscheinlich! – Purer Scherz!– Man macht sich über uns lustig! – Lächerlich! – Ab-surd!« Alle Ausdrücke zur Bezeichnung von Zweifel,Unglauben, Thorheit, Unsinn – ließen sich einige Mi-nuten lang vernehmen mit Begleitung üblicher Bewe-gungen. Jeder lächelte, lachte hell auf, zuckte die Ach-seln. Nur Maston hatte ein Wort der Befriedigung:

»Das ist eine Idee, das!« rief er aus.– Ja, erwiderte der Major, aber wenn es mitunter ge-

stattet ist, solche Ideen zu haben, so versteht sich da-bei, daß man keinen Gedanken hat, sie auszuführen.

– Und warum nicht? erwiderte lebhaft der Secretärdes Gun-Clubs, und wollte darüber streiten. Aber manwollte es doch nicht weiter treiben.

Doch war Michel Ardan’s Name zu Tampa bereits einStadtgespräch. Fremde wie Einheimische sahen sicheinander an, fragten sich und scherzten, nicht über die-sen Europäer, – eine Mythe, eine Person der Einbildung– sondern über Maston, der an die Existenz des sa-genhaften Individuums glauben konnte. Als Barbicaneden Vorschlag machte, ein Projectil nach dem Mond zu

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entsenden, hielt jeder das Vorhaben für natürlich, aus-führbar, lediglich eine Sache der Ballistik! Aber daß einvernünftiger Mensch sich erbot, in dem Projectil Platzzu nehmen, diese unwahrscheinliche Reise zu wagen,war eine Phantasterei, ein Scherz, eine Posse, und umeinen bei den Deutschen wie Franzosen eingebürger-ten Ausdruck zu gebrauchen, ein »Humbug!«

Die Spöttereien dauerten unaufhörlich bis zumAbend, und man kann behaupten, daß man in derganzen Union hell auflachte, was in einem Lande, wounmögliche Unternehmungen Lobredner, Theilnehmerund Anhänger finden, nichts Gewöhnliches ist.

Doch verfehlte Michel Ardan’s Vorschlag nicht, wiealle neuen Ideen, manche Geister zu beschäftigen. Dasbrachte die gewöhnlichen Gemüthsbewegungen ausihrem Gang. »An so was hatte man nicht gedacht!« Die-ser Fall gewann bald selbst durch seine Seltsamkeit ei-ne Kraft, die Leute davon besessen zu machen. Mandachte darüber nach. Wie Manches, was man Abendsverwirft, wird den folgenden Tag wirklich! Warum soll-te nicht eine solche Reise früher oder später einmalausführbar sein? Aber jedenfalls mußte der Mensch,der sich so der Gefahr aussetzen wollte, ein Narr sein,und gewiß, weil sein Project nicht ernstlich genom-men werden konnte, hätte er besser geschwiegen, an-statt eine ganze Bevölkerung durch lächerliche Hirnge-spinnste in Aufruhr zu bringen.

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Aber, für’s Erste, existirt wirklich diese Person? EineHauptfrage! Der Name »Michel Ardan« war in Ame-rika nicht unbekannt! Er gehörte einem wegen küh-ner Unternehmungen oft genannten Europäer. Sodann,dieses über die Tiefen des Atlantischen Oceans gesen-dete Telegramm, diese Bezeichnung des Schiffes, aufwelchem der Franzose kommen wollte, der für seinedemnächstige Ankunft festgesetzte Tag, alle diese Um-stände gaben dem Vorschlag einen Anstrich von Wahr-scheinlichkeit. Man mußte darüber in’s Reine kommen.Bald traten einzelne Personen in Gruppen zusammen.Diese Gruppen wurden in Folge der Neugierde dich-ter, wie Atome durch Einwirkung der Anziehungskraft,und zuletzt entstand daraus eine compacte Menge, diesich nach der Wohnung des Präsidenten Barbicane hinbewegte.

Dieser hatte seit Ankunft der Depesche seine Ansichtnicht ausgesprochen; er hatte Maston seine Meinungsagen lassen, ohne weder Billigung noch Tadel zu äu-ßern; er verhielt sich stille und nahm sich vor, die Er-eignisse abzuwarten, aber dabei hatte er die Ungedulddes Publicums nicht in Anschlag gebracht, und war we-nig befriedigt, als er die Bewohner Tampa’s sich unterseinen Fenstern sammeln sah. Bald nöthigte man ihndurch Murren und Rufen, sich zu zeigen. Man sieht, erhatte sammt den Obliegenheiten auch alle Unannehm-lichkeiten der Berühmtheit.

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Er erschien also; es ward stille, ein Bürger ergriff dasWort und stellte unumwunden die Frage: »Ist die in derDepesche mit dem Namen Michel Ardan bezeichnetePerson auf dem Weg nach Amerika, ja oder nein?«

– Meine Herren, erwiderte Barbicane, das weiß ichso wenig, wie Sie.

– Man muß es wissen, riefen ungeduldige Stimmen.– Das wird die Zeit lehren, erwiderte kalt der Präsi-

dent.– Die Zeit hat nicht das Recht, ein ganzes Land in

Spannung zu halten, entgegnete der Redner. Haben Sieden Plan des Projectils geändert, wie das Telegrammverlangt?

– Noch nicht, meine Herren; aber, Sie haben Recht,man muß wissen, woran man sich zu halten hat; derTelegraph, welcher diese ganze Aufregung verursachthat, wird wohl die Güte haben, Ihnen vollständige Aus-kunft zu geben.

– Zum Telegraphen! zum Telegraphen! schrie dieMenge.

Barbicane kam herab und begab sich, gefolgt von derungeheuren Menge, auf’s Bureau der Administration.

Einige Minuten darauf ging eine Depesche an denSyndikus der Schiffsmäkler zu Liverpool ab. Man be-gehrte Antwort auf folgende Fragen:

»Wie steht’s mit dem Schiff Atlanta? – Wann hat esEuropa verlassen? – Befand sich ein Franzose NamensMichel Ardan an Bord?«

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Zwei Stunden hernach empfing Barbicane so genaueAuskunft, daß nicht der mindeste Zweifel mehr blieb.

»Der Dampfer Atlanta aus Liverpool ist am 2. Octo-ber nach Tampa-Town unter Segel gegangen – an sei-nem Bord befand sich ein Franzose, der unter dem Na-men Michel Ardan im Passagierbuch eingetragen ist.«

Auf diese Bestätigung der ersten Depesche erglänz-ten plötzlich die Augen des Präsidenten, er ballte heftigdie Faust und man hörte ihn murren:

»Es ist also doch wahr! Doch möglich! Der Franzoseexistirt! und binnen vierzehn Tagen wird er hier sein!Aber ’s ist ein Narr, ein verbranntes Gehirn . . . Niemalswerd’ ich gestatten . . . «

Und inzwischen, denselben Abend, schrieb er an dasHaus Breadwill & Cie. und bat, bis auf weiteren Befehlden Guß des Projectils zu verschieben.

Sollte ich jetzt die Aufregung schildern, welche ganzAmerika ergriff, und die zehnmal größer war, als beider ersten Mittheilung Barbicane’s; die Aeußerungender Journale der Union, wie sie die Nachricht aufnah-men, und nach welcher Weise sie dem Helden des altenContinents zu seiner Ankunft ein Loblied sangen; vonder fieberhaften Bewegung, worin jeder die Stunden,Minuten, Secunden zählend lebte, ein Bild geben; nureine schwache Idee davon, wie alle Köpfe von einemeinzigen Gedanken beherrscht, besessen waren, einemeinzigen Lieblingsgedanken alle anderen wichen, dieArbeiter stille standen, der Handel gehemmt war, die

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zur Abfahrt bestimmten Schiffe vor Anker blieben,um die Ankunft des Atlanta nicht zu verfehlen; wiedie Eisenbahnzüge voll ankamen und leer zurückkehr-ten, die Bai Espiritu-Santo unaufhörlich von Damp-fern, Packetbooten, Vergnügungs-Yachten, Küstenschif-fen aller Größe durchkreuzt war; wollte ich die Tausen-de von Neugierigen aufzählen, welche in vierzehn Ta-gen die Bevölkerung von Tampa-Town vervierfachten,und gleich einer Armee im Felde unter Zelten zubrin-gen mußten, diese Aufgabe würde menschliche Kraftübersteigen, es wäre vermessen sie zu versuchen.

Am 20. October um neun Uhr Vormittags signali-sirten die Telegraphen des Bahamakanals einen dich-ten Rauch. Zwei Stunden später tauschte ein großerDampfer Erkennungssignale mit ihnen. Sogleich wur-de der Name Atlanta nach Tampa-Town gemeldet. Umvier Uhr näherte sich das englische Schiff der Rhe-de Espiritu-Santo. Um fünf Uhr segelte es mit vollemDampf durch das Fahrwasser der Rhede Hillisboro. Umsechs Uhr legte es sich im Hafen von Tampa vor Anker.

Der Anker hatte noch nicht Grund gefaßt, als bereitshundert Fahrzeuge den Atlanta umgaben. Der Damp-fer wurde im Sturm besetzt. Barbicane erstieg zuerstdie Verschanzung, und rief mit vergeblich unterdrück-ter Bewegung:

»Michel Ardan!«– Hier! rief ein Mann vom Hinterverdeck.

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Mit gekreuzten Armen, forschendem Auge, schwei-gendem Mund heftete Barbicane seine Blicke auf denPassagier.

Es war ein Mann von 42 Jahren, von hohem Wuchs,aber schon etwas gewölbtem Rücken, wie die Karya-tiden, welche Balkone stützen. Sein starker Kopf, einechtes Löwenhaupt, schüttelte mitunter ein brandro-thes Haar, das ihn wie eine Mähne umwallte. Sein kur-zes Angesicht mit breiten Schläfen, borstigem Schnurr-bart und einzelnen Haarbüscheln auf den Wangen hat-te etwas auffallend Katzenartiges, die runden Augenwaren kurzsichtig, mit etwas grassem Blick, die Nasekühn gezeichnet, der Mund besonders freundlich, dieStirne hoch, verständig und voll Runzeln. Ein kräftigentwickelter Oberkörper in fester Haltung auf langenBeinen, muskelstarke Arme, ein entschlossener Gangkennzeichneten diesen Europäer als solid gebauten Ge-sellen, der mehr geschmiedet als gegossen war.

Lavater’s Jünger hätten am Schädel und in denGesichtszügen dieses Mannes unverkennbare Zeichenvon Streitfertigkeit entdeckt, Muth in Gefahren, undNeigung Hindernisse zu beseitigen; von Wohlwollenund Liebe zum Wunderbaren, dem Instinct, von demmanche Charaktere zu leidenschaftlichem Interesse anübermenschlichen Dingen getrieben werden; dagegendie Kennzeichen der Erwerbsamkeit, des Bedürfnisseszu besitzen und sich anzueignen mangelten gänzlich.

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Seine Kleidung war weit geformt, Hosen und Paletotreichlich an Stoff, so daß er sich selbst »Tuchmörder«nannte, seine Halsbinde schloß mit breit ausgelegtemHemdkragen, zeigte einen starken Hals, und aus stetsaufgeknüpften Manschetten ragten fieberheiße Händehervor. Man fühlte, daß der Mann, auch im strengstenWinter und in ärgster Gefahr, niemals Kälte empfand,– selbst nicht im Blick.

Uebrigens ging er auf dem Verdeck, inmitten derMenge, beständig hin und her, blieb nie an derselbenStelle, gesticulirte, duzte jedermann und nagte gierigan seinen Nägeln.

In der That, die moralische Persönlichkeit Michel Ar-dan’s bot dem Analytiker zu Beobachtungen ein rei-ches Feld dar. Der seltsame Mensch lebte in bestän-diger Neigung zu Uebertreibungen, und er war überdas Alter der Superlative noch nicht hinaus; die Ge-genstände zeichneten auf der Netzhaut seines AugesBilder von übermäßiger Größe, woraus eine Associa-tion riesenhafter Ideen entsprang; er schaute Alles inkolossalem Maßstab, nur die Schwierigkeiten und dieMenschen nicht. Zudem war’s eine überreiche Natur,Künstler von Instinct, ein geistreicher Geselle, der zwarnicht Rottenfeuer von bons mots hören ließ, doch auf’sTirailliren sich verstand. Beim Disputiren kümmerte ersich wenig um Logik; ein Feind von Vernunftschlüssen,die er nicht erfunden hätte, versetzte er Schläge auf

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eigene Art. Ein wahrer Scheibenzertrümmerer, schleu-derte er sicher treffende Argumenta ad hominem ausvoller Brust, und verfocht gerne verzweifelte Sachenmit Händen und Füßen.

Unter anderen hatte er die Manie, sich einen »er-habenen Ignoranten«, gleich wie Shakespeare, zu nen-nen und die Gelehrten professionsmäßig zu verachten.»Das sind Leute«, sagte er, »die nur die Points markiren,während wir die Partie spielen.« Es war, kurz gesagt,ein Heidenkind aus dem Wunderland, abenteuerlich,doch kein Abenteurer, ein Wagehals, ein Phaeton, derden Sonnenwagen in voller Carrière zu leiten verstand,ein Ikarus mit Flügeln zum Wechseln. Schließlich, erstand mit eigener Person ein, und tüchtig; er stürztesich keck in tolle Unternehmungen, verbrannte seineSchiffe lustiger als Agathokles, und zu jeder Stunde be-reit sich den Rückgrat zu brechen, fiel er doch zuletztimmer wieder auf die Füße, wie die Purzelmännchenvon Hollundermark, womit die Kinder sich ergötzen.

Mit zwei Worten, sein Wahlspruch war: Wenn auch!und die ihn beherrschende Leidenschaft Neigung zumUnmöglichen.

Aber auch wie war dieser unternehmende Gesellemit allen Fehlern seiner Vorzüge begabt! Wer nichtswagt, gewinnt nichts, sagt das Sprichwort. Ardan wag-te häufig und gewann nichts dabei!

Es war ein Geldvergeuder, ein Danaidenfaß. Als einsonst uneigennütziger Mensch, spielte ihm eben so das

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Herz einen Streich, wie der Kopf; hilfreich, ritterlich,wäre er nicht im Stande gewesen, seines bitterstenFeindes Todesurtheil zu unterzeichnen, und hätte sichals Sklave verkaufen lassen, um einen Neger loszukau-fen.

In Frankreich, in Europa war diese glänzende, ge-räuschvolle Persönlichkeit Jedermann bekannt. Mach-te er nicht unaufhörlich von sich reden durch die hun-dert Stimmen der Fama, die bis zur Heiserkeit sein Lobpriesen? Lebte er nicht in einem gläsernen Hause, woer die ganze Welt zur Vertrauten seiner Geheimnissemachte? Aber er hatte auch eine beträchtliche AnzahlFeinde, Leute, die er mehr oder minder verletzt, ver-wundet, unbarmherzig gestürzt hatte, indem er die El-lenbogen gebrauchte, um sich in dem Gedränge derMasse Luft zu machen.

Doch liebte man ihn allgemein, behandelte ihn alsSchooßkind. Es war, wie man volksmäßig sagt, »einMann zum Nehmen oder Lassen.« Und man nahm ihn.Jeder interessirte sich für seine kühnen Unternehmun-gen und begleitete ihn dabei mit besorgten Blicken,weil man die Unvorsichtigkeit seiner Verwegenheitkannte. Als ihm ein Freund durch Warnungen vor einerbevorstehenden Katastrophe Einhalt thun wollte, ant-wortete er mit liebenswürdigem Lächeln: »Der Waldist nur durch seine eigenen Bäume verbrannt.« Er ahn-te nicht, daß er damit eins der schönsten arabischenSprichwörter citirte.

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So war der Passagier der Atlanta, stets in Bewegung,stets aufbrausend, von innerem Feuer getrieben, stetsaufgeregt, nicht durch das, was er in Amerika vor hat-te, – daran dachte er nicht einmal – sondern in Folgeseiner fieberhaften Organisation. Standen jemals zweiPersonen in auffallendem Contrast, so war es der Fran-zose Michel Ardan und der Yankee Barbicane, einer je-doch wie der andere unternehmend, kühn, verwegen,jeder in seiner Weise.

Die Betrachtung, welcher der Präsident des Gun-Clubs sich hingab, als er den Rivalen, der ihn an diezweite Stelle hinabdrücken sollte, vor sich sah, wurderasch durch die Hurrahs und Vivats der Menge unter-brochen. Dies Geschrei wurde so rasend, der Enthusi-asmus nahm dergestalt persönliche Formen, daß Mi-chel Ardan, nachdem er tausend Hände gedrückt unddabei fast seiner Finger verlustig geworden wäre, sichin seine Kabine flüchten mußte.

Barbicane folgte ihm, ohne ein Wort zu reden.»Sie sind Barbicane?« fragte ihn Michel Ardan, so-

bald sie allein waren, und in dem Ton, als seien sieschon 20 Jahre Freunde.

– Ja, erwiderte der Präsident des Gun-Clubs.– Ah! Guten Tag, Barbicane. Wie geht’s? recht gut?

Nun, um so besser, so besser!– Also, sagte Barbicane, ohne auf Weiteres einzuge-

hen, Sie sind entschlossen die Reise zu machen?– Fest entschlossen.

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– Lassen Sie sich durch Nichts abhalten?– Durch Nichts. Haben Sie das Projectil abgeändert,

wie meine Depesche angab?– Ich wartete auf Ihre Ankunft. Aber, fragte Barbica-

ne, von Neuem zusetzend, haben Sie wohl überlegt?. . .

– Ueberlegt! Ist denn Zeit zu verlieren. Ich finde dieGelegenheit, einen Abstecher in den Mond zu machen,und ergreife sie; was weiter? Es dünkt mir, dies bedürfenicht so vieler Ueberlegung.

Barbicane konnte seinen Blick von dem Manne nichtwegwenden, der von seinem Reiseproject mit solchemLeichtsinn, mit solcher Sorglosigkeit und ohne alle Un-ruhe sprach.

»Aber Sie haben doch wenigstens«, sprach er, »einenPlan, Mittel der Ausführung?«

– Vortreffliche, mein lieber Barbicane. Aber gestat-ten Sie mir eine Bemerkung: ich habe so große Lust,meine Geschichte einmal Jedermann zu erzählen, sodaß nicht mehr davon die Rede sein soll. Also, besse-res vorbehalten, berufen Sie Ihre Freunde zusammen,ihre Collegen, die ganze Stadt, ganz Florida, wenn Siewollen, ganz Amerika, und ich will morgen bereit sein,meine Mittel darzulegen und auf alle Einwendungenzu antworten. Seien Sie ruhig, ich werde Sie festen Fu-ßes abwarten. Sind Sie das zufrieden?

– Ich bin’s zufrieden, erwiderte Barbicane.

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Darauf trat der Präsident aus der Kabine, und theilteder Menge die Absicht Michel Ardan’s mit. Seine Wortewurden mit Beifallstampfen und Freudegrunzen auf-genommen. Damit war jede Schwierigkeit abgeschnit-ten. Am folgenden Tag konnte Jeder den Helden ausEuropa sich nach Luft ansehen. Doch wollten einigehartnäckige Zuschauer das Verdeck nicht verlassen; sieblieben die Nacht über an Bord. Unter ihnen war J. T.Maston, der seinen Haken in das Barkholz des Hinter-verdecks eingeschraubt hatte; man hätte ihn loswin-den müssen.

»Es ist ein Heros! ein Heros!« rief er in allen Tonar-ten, »und wir sind nur Weiblein gegen diesen Europä-er!«

Der Präsident begab sich, nachdem er die Besucherzum Fortgehen auffordert hatte, in die Kabine des Pas-sagiers zurück, und blieb da bis Mitternacht.

Darauf drückten sich die beiden Nebenbuhler um dieVolksgunst warm die Hand, und Michel Ardan duzteden Präsidenten Barbicane.

19. EIN MEETING.

Am folgenden Morgen erhob sich das Tagesgestirnzu spät für die Ungeduld des Publicums. Man hielt da-für, die Sonne sei träge, da es galt, ein solches Festzu beleuchten. Barbicane hätte gerne, um indiscreteFragen für Michel Ardan zu vermeiden, seine Zuhö-rer auf eine geringe Anzahl Eingeweihter beschränkt,

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z.B. seine Collegen. Aber das wäre ein Versuch gewe-sen, den Niagara durch einen Damm zu hemmen. Ermußte dieses Vorhaben aufgeben, und mußte seinenneuen Freund die Chancen einer öffentlichen Confe-renz bestehen lassen. Der neue Börsensaal zu Tampa-Town wurde trotz seines kolossalen Umfangs für unge-nügend zu dieser Versammlung gehalten, denn diesenahm die Verhältnisse eines Meetings an.

Eine sehr große Ebene außerhalb der Stadt wurdefür diesen Zweck ausgewählt; in einigen Stunden wur-de man mit der Errichtung eines ungeheuren Schutz-daches fertig; die Schiffe des Hafens lieferten mit ih-rem reichen Vorrath an Segeln, Takelwerk, Masten undStangen das nöthige Zubehör für ein kolossales Zelt.Nicht lange, so deckte ein unermeßlicher Zelthimmeldie trockene Wiese zum Schutz gegen die brennen-den Sonnenstrahlen. Hier fanden 300,000 MenschenPlatz, und trotzten in Erwartung des Franzosen einigeStunden lang einer erstickenden Temperatur! Von die-ser Masse von Zuschauern war doch nur ein Drittheilim Stande zu sehen und zu hören; ein zweites Drittelsah schlecht und hörte nichts; das dritte hörte und sahnichts. Und doch waren diese am eifrigsten im Beifall-spenden.

Um drei Uhr erschien Michel Ardan in Begleitungder hervorragenden Mitglieder des Gun-Clubs. Er gab

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den rechten Arm dem Präsidenten Barbicane, den lin-ken J.T. Maston, der so glanzvoll strahlte, wie die Mit-tagssonne, und fast ebenso röthlich.

Ardan bestieg ein Gerüste, von welchem herab seineBlicke über einen Ocean von schwarzen Hüten schweif-ten. Er schien durchaus nicht in Verlegenheit, suchteauch nicht zu imponiren; er befand sich da wie zuHause, munter, vertraulich, liebenswürdig. Die Hur-rahs, womit er empfangen ward, beantwortete er miteinem höflichen Gruß; darauf begehrte er mit einemWink Stille, ergriff das Wort, und sprach correct eng-lisch folgendermaßen:

»Meine Herren, obwohl es sehr heiß ist, will ich IhreGeduld einige Augenblicke in Anspruch nehmen, umIhnen einige Auskunft über Projecte zu geben, wel-che Sie zu interessiren schienen. Ich bin weder Redner,noch Gelehrter, und hatte nicht darauf gerechnet öf-fentlich zu sprechen; aber mein Freund Barbicane sag-te mir, es werde Ihnen Vergnügen machen, drum habeich mich dazu verstanden. Schenken Sie mir also mitihren sechsmal 100,000 Ohren Gehör, und entschuldi-gen die Mängel des Vortrags.«

Dieser ungezwungene Eingang war sehr nach demGeschmack der Anwesenden, welche ihre Befriedigungdurch ein unermeßliches Beifallsmurren zu erkennengaben.

»Meine Herren«, fuhr er fort, »Aeußerungen des Bei-falls oder der Mißbilligung sind nicht untersagt. Dies

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vorausgesetzt beginne ich. Und vor Allem, vergessenSie nicht, Sie haben’s mit einem Ignoranten zu thun,aber seine Unwissenheit ist so groß, daß er selbst dieSchwierigkeiten nicht kennt. Es dünkte ihm daher, essei eine einfache, natürliche, leichte Sache, in einemProjectil als Passagier Platz zu nehmen und eine Reisenach dem Mond zu machen. Früher oder später mußtediese Reise geschehen, und was die angenommene Artder Beförderung betrifft, so folgt sie ganz einfach demGesetz des Fortschritts. Der Mensch reiste zuerst aufvier Füßen, hernach, eines schönen Morgens auf zwei-en, dann auf einem Karren, hernach in der Kutsche dar-auf in der Patache, sodann im Waggon; und nun! DasProjectil ist der Waggon der Zukunft, und die Wahr-heit zu sagen, die Planeten sind nur Projectile, Kano-nenkugeln, welche des Schöpfers Hand abgeschossenhat. Doch kommen wir auf unser Fahrzeug zurück. Ei-nige von Ihnen, meine Herren, haben glauben können,die Schnelligkeit, welche ihm mitgetheilt werden soll,sei eine übermäßige; dem ist nicht so; alle Gestirneübertreffen dasselbe an reißend schneller Bewegung,und selbst die Erde in ihrer Bewegung um die Sonnereißt uns dreimal schneller mit sich fort. Ich will eini-ge Beispiele anführen. Nur bitte ich um die Erlaubniß,mich des Ausdrucks Lieues1 bedienen zu dürfen, denn

1Eine alte Lieue = 0,6 geogr. Meilen; die neue = 10 Kilometer= 1,35 geogr. Meilen.

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die amerikanischen Maße sind mir nicht recht geläu-fig, und ich besorge, in meinen Berechnungen dadurchirre zu werden.«

Die Bitte schien ganz natürlich, und es gab keineSchwierigkeit. Der Redner fuhr also fort:

»Zuerst, meine Herren, über die Schnelligkeit derPlaneten. Ich muß gestehen, daß ich trotz meiner Un-wissenheit dieses kleine astronomische Detail sehr ge-nau kenne; aber binnen zwei Minuten werden Sie da-von eben so viel verstehen, wie ich. So merken Siegefälligst, daß Neptun in einer Stunde 5000 Lieuesmacht; Uranus 7000; Saturn 8858; Jupiter 11,675;Mars 22,011; die Erde 27,500; Venus 32,190; Merkur52,520; einige Kometen 1,400,000 in ihrer Sonnennä-he! Dagegen sind wir wahrhaftig Faullenzer; saumse-lige Leute, unsere Schnelligkeit wird nicht über 9900Lieues gehen, und dabei stets abnehmen! Ich frage Sie,ist da ein Grund, vor Verwunderung außer sich zu ge-rathen, und ist’s nicht klar, daß dies Alles einmal durchnoch weit größere Geschwindigkeiten wird überbotenwerden, wobei das Licht oder die Elektricität vermuth-lich die mechanischen Agenten abgeben?«

Kein Mensch schien diese Behauptung Michel Ar-dan’s in Zweifel zu ziehen.

»Meine lieben Zuhörer«, fuhr er fort, »soll man ge-wissen bornirten Köpfen – der bezeichnende Ausdruckfür sie – glauben, so wäre die Menschheit in einen

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Kreis des Popilius1 eingeengt, aus dem sie nicht herauskönnte, und dazu verurtheilt, auf diesem Erdball zuvegetiren, ohne jemals sich in die Planetenräume em-porschwingen zu können! Daran ist nichts! Man ist imBegriff, auf den Mond zu reisen, man wird auf die Pla-neten, auf die Sterne reisen, so wie gegenwärtig vonLiverpool nach New-York, leicht, rasch, sicher, und eswird nicht lange dauern, so wird man über den atmo-sphärischen Ocean ebenso setzen, wie über den Ocean,der uns vom Monde trennt! Die Distanz ist nur ein rela-tiver Begriff, der schließlich auf ein Null reducirt wer-den wird.«

Obgleich die Versammlung sehr günstig für unserenfranzösischen Heros gestimmt war, so wurde sie dochetwas verblüfft über diese kühne Theorie. Michel Ar-dan schien’s zu begreifen.

»Sie scheinen nicht überzeugt, meine wackerenFreunde«, fuhr er mit liebenswürdigem Lächeln fort.»Nun denn! Ueberlegen wir ein wenig. Wissen Sie, wieviel Zeit ein Expreßzug brauchen würde, um auf demMonde anzulangen? 300 Tage, mehr nicht. Eine Fahrtvon 86,410 Lieues, aber was will das heißen? Nichtneunmal die Fahrt um die Erde, und es giebt keinenSeemann noch irgend einen bewanderten Reisenden,

1Der Leser wird sich erinnern, wie der römische Gesandte anden ägyptischen König Ptolemäus bei der Audienz mit einem Stabeinen Kreis um denselben zog, und seine Erklärung über Kriegoder Frieden von ihm verlangte, ehe er aus diesem heraus trete.

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der nicht eine größere Strecke in seinem Leben zurück-gelegt hätte. Denken Sie doch, daß ich nur 97 Stun-den unterwegs sein werde! Ach! Sie meinen, der Mondsei weit von der Erde entfernt, und man müsse zwei-mal überlegen, ehe man den Versuch wagt! Aber waswürden Sie erst sagen, wenn es sich darum handelte,auf den Neptun zu reisen, der in einer Entfernung von1147 Millionen Lieues um die Sonne gravitirt! Solch’eine Reise würden Wenige machen können, und wennsie nur fünf Sous per Kilometer kostete! Selbst der Ba-ron Rothschild würde mit einer Milliarde seinen Platznicht bezahlen können, es würden ihm 147 Millionenfehlen.«

Diese Art der Beweisführung schien der Versamm-lung sehr zu gefallen; übrigens gerieth dabei MichelArdan, der von seinem Gegenstand das Herz voll hat-te, in einen prachtvollen Schwung; er fühlte, daß manihm gierig zuhörte, und fuhr mit erstaunlicher Sicher-heit fort:

»Nun denn, meine Freunde, diese Entfernung desNeptun von der Sonne ist noch nichts, wenn man siemit der der Sterne vergleicht; in der That, will mandiese Entfernungen schätzen, so muß man Berechnun-gen vornehmen, wobei es einem schwindeln kann, diekleinste Ziffer ihre neun Stellen hat und die Milliardeals Einheit genommen wird. Ich bitte um Entschuldi-gung, daß ich in Beziehung auf diese Frage so gut be-wandert bin, aber sie ist von tiefdringendem Interesse.

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Hören und urtheilen Sie! Alpha des Centauren ist 8000Milliarden Lieues entfernt, Wega 50,000 Milliarden, Si-rius ebenso, Arcturus 52,000 Milliarden, der Polarstern117,000 Milliarden, die Ziege 170,000 Milliarden, dieanderen Sterne Tausende, Millionen und Milliardenvon Milliarden Lieues! Ist dagegen die Distanz der Pla-neten von der Sonne noch der Rede werth? Kann manbehaupten, das sei eine Entfernung? Irrthum! Unwahr-heit! Sinnentäuschung! Wissen Sie, was ich von derWelt halte, die von dem strahlenden Gestirn beginntund mit dem Neptun endigt? Soll ich Ihnen meineTheorie sagen? Sie ist sehr einfach: In meinen Augenist diese Sonnenwelt ein solider, gleichartiger Körper;die Planeten, aus welchen er besteht, sind sich ganznahe, berühren sich, und der zwischen ihnen befindli-che Raum will nicht mehr bedeuten, als der zwischenden Elementartheilchen des festesten Metalls, Silber,Gold oder Platina! Ich behaupte mit vollem Recht, undwiederhole mit einer Ueberzeugung, die Sie alle durch-dringen wird: Distanz ist ein inhaltsleeres Wort, Di-stanz existirt nicht!«

– Gut gesprochen! Bravo! Hurrah! rief einstimmigdie Versammlung, die von den Bewegungen, dem Ac-cent des Redners, von der Kühnheit seiner Begriffeelektrisirt war.

– Nein! rief Maston energischer als die anderen, dieDistanz existirt nicht.

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Und das Ungestüm seiner Bewegungen, der Schwungseines Körpers, dessen er kaum noch Meister war,brachte ihn fast dahin, daß er vom Gerüst herabfiel.Doch gelang es ihm, wieder in’s Gleichgewicht zu kom-men, und damit einen Sturz zu vermeiden, der ihmeinen derben Beweis geliefert hätte, daß die Distanznicht ein inhaltleerer Begriff ist. Darauf fuhr der fes-selnde Redner fort:

»Meine Freunde«, sprach Michel Ardan, »ich denke,diese Frage ist nunmehr gelöst. Wenn ich Sie nicht Alleüberzeugt habe, so liegt der Grund in der Schüchtern-heit meiner Beweisführung, der Schwäche meiner Be-gründung und Mangel an hinreichenden theoretischenStudien. Wie dem auch sei, ich wiederhole, die Ent-fernung der Erde von ihren Trabanten ist in Wirklich-keit von geringer Bedeutung, und nicht werth, einenernsten Geist befangen zu machen. Ich glaube dahernicht zu weit zu gehen, wenn ich behaupte, man werdebald Projectilzüge einrichten, um mit Bequemlichkeitdie Reise zum Mond vorzunehmen, und man wird diesZiel rasch erreichen, ohne Ermüdung, in gerader Linie,›im Flug der Biene‹, um einen Ausdruck Eurer Pelzjägerzu gebrauchen. Ehe 20 Jahre verflossen sind, wird dieHälfte der Erdbewohner einen Besuch auf dem Mondgemacht haben!«

– Hurrah! Hurrah! für Michel Ardan! riefen die An-wesenden, selbst die am wenigsten überzeugt waren.

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– Hurrah für Barbicane! erwiderte der Redner be-scheiden.

Diese Anerkennung des Urhebers der Unterneh-mung wurde mit einstimmigem Beifall aufgenommen.

»Jetzt, meine Freunde«, fuhr Michel Ardan fort,»wenn Sie eine Frage an mich zu richten haben, wer-den Sie mich armen Menschen wohl in Verlegenheitsetzen, doch ich will mich zu antworten bemühen.«

Bis dahin hatte der Präsident des Gun-Clubs Grund,mit der Haltung der Debatte zufrieden zu sein. Siewar auf die speculativen Theorien gerichtet, worin Mi-chel Ardan, von seiner lebhaften Phantasie fortgeris-sen, sich sehr glänzend zeigte. Man mußte ihn nur ab-halten, sich den praktischen Fragen zuzuwenden, wor-aus er sich schwerlich eben so gut gezogen hätte. Bar-bicane ergriff daher schnell das Wort und richtete anseinen neuen Freund die Frage, ob er meine, daß derMond oder die Planeten bewohnt seien.

»Du stellst mir da, mein würdiger Präsident, einegroße Aufgabe zur Lösung«, erwiderte der Redner lä-chelnd; »doch, irre ich nicht, so haben Männer vongroßer Einsicht, Plutarch, Swedenborg, Bernardin deSt. Pierre und viele Andere sich bejahend über dieselbeausgesprochen. Vom Standpunkt der Naturphilosophieaus wäre ich geneigt, ihnen beizustimmen; ich würdemir sagen, daß in der Welt nichts Zweckloses existirt,

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und indem ich eine Frage mit einer anderen beantwor-te, Freund Barbicane, würde ich die Behauptung auf-stellen: wenn die Welten bewohnbar sind, so sind sieentweder bewohnt, oder sind es gewesen, oder werdenes sein.«

– Sehr gut! riefen die Zuhörer der vordersten Reihen,deren Meinung Gesetzeskraft für die hinteren hatte.

– Man kann nicht logischer und richtiger antworten,sagte der Präsident des Gun-Clubs. Die Frage ist alsoauf die zurückgeführt: »Sind die Welten bewohnbar?«– Ich meines Theils glaube es.

»Und ich bin davon überzeugt«, erwiderte Michel Ar-dan.

– Doch giebt es, entgegnete einer der Anwesenden,Gründe gegen die Bewohnbarkeit der Welten. Offen-bar müßten bei den meisten die ersten Lebensbedin-gungen andere sein. So müßte man, um nur von denPlaneten zu reden, auf dem einen verbrennen, auf demanderen erfrieren, je nachdem sie der Sonne näheroder ferner sie umkreisen.

»Ich bedauere«, versetzte Michel Ardan, »daß ichmeinen ehrenwerthen Gegner nicht persönlich kenne,denn ich will eine Erwiderung versuchen. Sein Ein-wand ist nicht ohne Werth, aber ich glaube, er läßtsich mit einigem Erfolg bestreiten, gleich allen ande-ren, die gegen die Bewohnbarkeit der Welten aufge-stellt werden. Wäre ich Physiker, so würde ich sagen,man braucht nur auf den der Sonne näheren Planeten

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weniger Wärmestoff sich entwickeln zu lassen, dage-gen mehr auf den entfernteren, so reicht diese einfa-che Thatsache hin, um die Wärme auszugleichen, unddie Temperatur dieser Welten für Wesen, die organisirtsind, wie wir, erträglich zu machen. Wäre ich Naturfor-scher, so würde ich nach dem Vorgang vieler berühm-ter Gelehrten sagen, die Natur stelle uns auf der ErdeBeispiele von Geschöpfen auf, die unter sehr verschie-denen Bedingungen der Bewohnbarkeit leben, wie dieFische in einer Umgebung sich befinden, welche ande-ren lebenden Wesen tödtlich ist, die Amphibien einedoppelte, schwer zu erklärende Existenz haben; wiegewisse Meerbewohner sich in großen Tiefen aufhal-ten, ohne durch den Druck von 50 oder 60 Atmosphä-ren zerquetscht zu werden; wie manche Wasserinsec-ten so unempfindlich gegen die Temperatur sind, daßman sie ebensowohl in siedend heißen Quellen, wieim Eismeer der Pole findet; endlich man müsse bei derNatur eine Verschiedenheit in den Mitteln ihres Wir-kens anerkennen, welche oft unbegreiflich, aber dar-um doch wirklich ist, und bis zur Allmacht hinanreicht.Wäre ich Chemiker, so würde ich anführen, daß dieMeteorsteine, welche offenbar außerhalb des Bereichsder Erde gebildet sind, bei der Analyse unbestreitbareSpuren von Kohle erkennen ließen; daß diese Substanznur von organisirten Wesen herrührt, und daß sie,

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nach Reichenbach’s Experimenten, nothwendig thier-ischem Stoff angehörig, ›animalysirt sein‹ müssen. Wä-re ich Theologe, so würde ich ihm sagen, es scheine,man müsse die göttliche Erlösung, nach dem ApostelPaulus, nicht allein auf die Erde, sondern auf alle Wel-ten des Himmels beziehen. Aber ich bin weder Theolo-ge, noch Chemiker, noch Naturforscher oder Physiker.Darum beschränke ich mich, bei meiner großen Unbe-kanntschaft mit den Gesetzen der Welt, auf die Ant-wort: Ich weiß nicht, ob die Welten bewohnt sind, undweil ich’s nicht weiß, will ich dort einen Besuch ma-chen.«

Wagte der Gegner der Theorien Michel Ardan’s an-dere Beweise dagegen anzuführen? Man kann es nichtsagen, denn das wahnsinnige Geschrei der Menge hät-te die Aeußerung jeder Meinung gehindert. Als es biszu den entferntesten Gruppen wieder stille geworden,begnügte sich der triumphirende Redner, die folgendenBetrachtungen beizufügen:

»Sie denken wohl, wackere Yankees, daß ich eine sobedeutende Frage nur oberflächlich berührt habe; ichhabe nicht die Absicht, Ihnen einen wissenschaftlichenVortrag zu halten, und über diesen umfassenden Ge-genstand einen Streitsatz zu verfechten. Es giebt nocheine ganze Reihe von Gründen für die Bewohnbarkeitder Welten. Ich lasse sie bei Seite und erlaube mir nur,einen Punkt hervorzuheben. Den Leuten, welche be-haupten, die Planeten seien nicht bewohnt, muß man

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entgegnen: Sie können Recht haben, wenn es bewie-sen ist, daß die Erde die bestmögliche der Welten ist,aber das ist sie nicht, was auch Voltaire darüber ge-sagt haben mag. Sie hat nur einen Trabanten, wäh-rend Jupiter, Uranus, Saturn, Neptun deren mehrere zuDiensten haben, ein Vorzug, der nicht zu unterschätzenist. Aber was besonders unseren Erdball so unbehag-lich macht, ist die Neigung seiner Achse gegen seineBahn. Daher rührt die Ungleichheit der Tage und Näch-te, die leidige Verschiedenheit der Jahreszeiten. Aufunserem unglückseligen Planeten ist’s stets zu warmoder zu kalt; im Winter leidet man Frost, im SommerHitze; es ist eine Wohnstätte des Schnupfens, Katarr-hs und Rheumatismus, während auf dem Jupiter z.B.,dessen Achse sehr wenig geneigt ist,1 die Bewohner ei-ner stets gleichen Temperatur sich erfreuen können: dagiebt’s eine Zone des Frühlings, eine solche des Som-mers, wie des Herbstes und Winters, mit fortdauerndgleichem Klima; jeder Jupiter-Bewohner kann sich einsolches nach Belieben wählen, und sich sein Lebtag ge-gen die Abwechselungen der Temperatur schützen. Ihrwerdet wohl diesen Vorzug Jupiter’s vor unserem Pla-neten gerne anerkennen, ohne seiner Jahre zu geden-ken, deren eins zwölf der unserigen dauert! Ferner, fürmich ist es offenbar, daß unter diesen merkwürdigenLebensbedingungen die Bewohner dieser glückseligen

1Die Neigung der Achse des Jupiter zu seiner Bahn beträgt nur3◦5’.

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Welt Wesen höherer Gattung sind, die Gelehrten nochgelehrter, die Künstler noch mehr künstlerisch, die Bö-sen minder böse, die Guten noch besser. Ach! Woranmangelt’s unserem Planeten, um ebenso vollkommenzu sein? Nicht viel! Nur eine Umdrehungsachse, dieweniger geneigt wäre gegen die Ebene seiner Bahn.«

– Aber nun! rief eine Stimme voll Ungestüm, vereini-gen wir unsere Bemühungen, Maschinen zu erfinden,um die Erdachse zu ändern!

Ein Beifallklatschen gleich dem Donner erschalltebei diesem Vorschlag, der von Niemand sonst als J.T.Maston herrühren konnte. Aber man muß es heraussa-gen, denn es ist Wahrheit, Viele unterstützten ihn mitihrem Beifallgeschrei, und hätten die Amerikaner denStützpunkt gehabt, welchen bereits Archimedes ver-mißte, sie hätten ohne allen Zweifel einen Hebel con-struirt, der fähig wäre, die Welt aus ihren Angeln zuheben, und ihre Achse anders zu richten. Aber an die-sem Stützpunkt eben fehlte es diesen verwegenen Ma-schinenkünstlern.

Demungeachtet hatte diese »eminent praktische«Idee einen ungeheuren Erfolg; die Discussion wurdefür eine gute Viertelstunde unterbrochen, und lange,sehr lange noch sprach man in den Vereinigten StaatenAmerika’s von dem Vorschlag, welchen der beständigeSecretär des Gun-Clubs so energisch gemacht hatte.

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20. ANGRIFF UND ABWEHR.

Dieser Zwischenfall schien den Schluß der Bera-thung zu veranlassen. Ein besseres Schlußwort warnicht zu finden. Doch als die Aufregung sich gelegthatte, vernahm man mit starker und ernster Stimmefolgende Worte:

– Nunmehr, nachdem der Redner der Phantasiereichlich Raum gegeben, wolle er zu seinem Gegen-stand zurückkehren, weniger sich mit Theorie befas-sen, und die praktische Seite des Unternehmens be-sprechen?

Alle Blicke wandten sich auf die Person, welchedies sprach. Es war ein magerer, trockener Mann vonenergischem Aussehen, mit einem amerikanisch zuge-schnittenen Bart, der üppig sein Kinn umgab. Bei derin der Versammlung herrschenden Bewegung hatte erallmälig in der vordersten Reihe Platz gewonnen. Hierstand er mit gekreuzten Armen, glänzenden kühnenAugen mit unverwandtem Blick auf den Helden desMeeting. Nachdem er sein Begehren gestellt, schwieger, und es schienen weder die tausend auf ihn gerichte-ten Blicke, noch das durch seine Worte hervorgerufeneMurren der Mißbilligung Eindruck auf ihn zu machen.Da die Antwort auf sich warten ließ, stellte er seineFrage nochmals mit demselben klaren und bestimmtenTon, dann fügte er bei:

– Wir haben uns hier mit dem Mond zu befassen,nicht mit der Erde.

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»Sie haben Recht, mein Herr«, erwiderte Michel Ar-dan, »die Unterredung ist abgeschweift, kommen wirauf den Mond zurück.«

– Mein Herr, fuhr der Unbekannte fort, Sie behaup-ten, unser Trabant sei bewohnt. Gut. Aber wenn esMondbewohner giebt, so leben diese Leute sicherlichohne zu athmen, denn – ich bemerke es in Ihrem In-teresse zum Voraus – es giebt auf der Oberfläche desMonds nicht die geringste Spur von Luft.

Bei dieser Behauptung strich sich Ardan sein hellesHaar zurück; er begriff, daß der Streit mit diesem Man-ne auf den Kern der Frage einging. Er faßte ihn eben-falls scharf in’s Auge und sprach:

»So! Es giebt keine Luft auf dem Mond! Und werbehauptet das, wenn’s beliebt?«

– Die Gelehrten.– Wirklich?– Wirklich.»Mein Herr«, fuhr Michel fort, »allen Scherz bei Sei-

te, ich habe tiefe Achtung vor den Gelehrten, die etwasverstehen, aber eine tiefe Mißachtung gegen die, wel-che nichts verstehen.«

– Kennen Sie solche, die zu Letzteren gehören?»Sehr genau. In Frankreich giebt’s einen, der be-

hauptet, ›mathematisch könne der Vogel nicht fliegen‹,und einen anderen, der die Theorie aufstellt, der Fischsei nicht geeignet, im Wasser zu leben.«

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– Um diese handelt sich’s nicht, mein Herr, ich könn-te zur Stütze meiner Behauptung Namen anführen, dieSie nicht zurückweisen würden.

»Dann, mein Herr, würden Sie einen armen Ignoran-ten sehr in Verlegenheit setzen, der übrigens sich zubelehren sehr beflissen ist.«

– Warum befassen Sie sich denn mit wissenschaftli-chen Fragen, wenn Sie dieselben nicht studirt haben?fragte etwas barsch der Unbekannte.

»Warum?« erwiderte Ardan; »aus dem Grunde, weil,wer eine Gefahr nicht ahnt, stets tapfer ist! Ich weißnichts, es ist wahr, aber gerade in dieser meiner Schwä-che liegt meine Kraft.«

– Ihre Schwäche geht bis zum Wahnsinn, schrie derUnbekannte in übelgelauntem Ton.

»Dann um so besser«, entgegnete der Franzose,»wenn mich mein Wahnsinn bis zum Mond führt!«

Barbicane und seine Collegen warfen grimmigeBlicke auf diesen zudringlichen Menschen, der sich sokeck dazwischen geworfen hatte. Niemand kannte ihn,und der Präsident, in Unruhe über die Folgen einesso offen geführten Disputs, blickte mit einer gewissenBesorgniß auf seinen neuen Freund. Die Versammlungwar aufmerksam gespannt und ernstlich unruhig, denndieser Streit führte dazu, ihre Aufmerksamkeit auf dieGefahren, oder sogar wirkliche Unmöglichkeit des Vor-habens zu richten.

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– Mein Herr, fuhr der Gegner Michel Ardan’s fort,es giebt unzählige unbestreitbare Gründe, welche be-weisen, daß es keine Atmosphäre um den Mond her-um giebt. Ich sage sogar a priori, daß, wenn es je einesolche gab, sie ihm durch die Erde entzogen werdenmüßte. Doch will ich Ihnen lieber unbestreitbare That-sachen anführen.

»Führen Sie nur solche an, mein Herr«, erwiderte Mi-chel Ardan mit vollkommener Höflichkeit, »führen Siean, soviel es Ihnen beliebt.«

– Sie wissen, sagte der Unbekannte, daß, wennLichtstrahlen ein Medium der Art, wie die Luft ist,durchlaufen, sie von der geraden Linie abgelenkt wer-den, mit anderen Worten, daß sie eine Brechung erlei-den. Nun! Wenn Sterne durch den Mond verdeckt wer-den, haben ihre Strahlen, die an den Rand der Schei-be streifen, nie die geringste Abweichung, die leisesteSpur von Brechung bemerken lassen. Daraus folgt klar,daß der Mond nicht mit einer Atmosphäre umgebenist.

Man wendete seine Blicke auf den Franzosen, dennwurde die Wahrheit des Satzes zugegeben, so warenbedeutende Folgerungen daraus zu ziehen.

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»In der That«, erwiderte Michel Ardan, »das ist Ihrbester Beweisgrund, wo nicht der einzige, und ein Ge-lehrter wäre vielleicht in Verlegenheit, darauf zu ant-worten; ich sage Ihnen nur, daß derselbe keinen unbe-dingten Werth hat, weil er voraussetzt, daß der angula-re Durchmesser des Mondes vollständig bestimmt sei,was nicht der Fall ist. Aber gehen wir weiter und sagenSie mir, lieber Herr, geben Sie zu, daß es Vulkane aufder Oberfläche des Mondes giebt?«

– Ausgebrannte, ja; brennende, nein.»Lassen Sie mich jedoch glauben, und ohne die

Grenzen der Logik zu überschreiten, daß diese Vulkanezu einer gewissen Zeit in Thätigkeit gewesen sind.«

– Unstreitig, aber da sie den zum Verbrennen nöthi-gen Sauerstoff selbst gewähren konnten, so liefert dieThatsache ihres Ausbruchs durchaus keinen Beweis da-für, daß eine Atmosphäre auf dem Mond vorhanden.

»Gehen wir also weiter«, erwiderte Michel Ardan,»lassen wir diese Art Beweisgründe bei Seite, um unszu directen Beobachtungen zu wenden. Aber ich sageIhnen zum Voraus, ich werde Namen beibringen.«

– Bringen Sie diese nur bei.»Ich führe an. Im Jahre 1715 haben die Astronomen

Louville und Halley bei Beobachtung der Sonnenfin-sterniß des 3. Mai gewisse blitzartige Erscheinungensonderbarer Art wahrgenommen. Dieses rasche, öfters

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wiederholte Aufblitzen des Lichts schrieben sie Gewit-tern zu, die im Bereich der Mondatmosphäre entstan-den.«

– Im Jahre 1715, erwiderte der Unbekannte, habendie Astronomen Louville und Halley Erscheinungen,die lediglich zur Erde gehörten, für solche des Mon-des gehalten, Boliden1 oder andere, welche innerhalbunserer Atmosphäre vorgingen. So haben sich die Ge-lehrten über jene Thatsachen ausgesprochen, und diesgebe ich Ihnen zur Erwiderung.

»Gehen wir weiter«, versetzte Ardan, ohne sichdurch den Widerspruch irre machen zu lassen. »Hatnicht Herschel im Jahre 1787 eine große Anzahl vonLichtpunkten auf der Oberfläche des Mondes beobach-tet?«

– Allerdings, aber ohne über den Ursprung derselbeneine Erklärung zu geben; Herschel selbst hat darauskeinen Schluß auf das nothwendige Vorhandensein ei-ner Mondatmosphäre gezogen.

»Gut geantwortet«, sagte Michel Ardan, mit einemCompliment für seinen Gegner; »ich sehe, daß Sie sehrstark in der Selenographie sind.«

– Sehr stark, mein Herr, und ich füge bei, daß diegeschicktesten Beobachter, welche am meisten Studienüber den Mond gemacht haben, Beer und Mädler, über

1Aërolithen oder Meteorsteine bilden sich innerhalb, Bolidenaußerhalb der Erdatmosphäre.

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den gänzlichen Mangel an Luft auf seiner Oberflächeeinig sind.

Die Zuhörer, auf welche die Argumente des merk-würdigen Mannes Eindruck zu machen schienen, ge-riethen in Bewegung.

»Nur weiter«, erwiderte Michel Ardan mit größterSeelenruhe, »und nehmen wir eine bedeutende That-sache in Betracht. Laussedat, ein tüchtiger französi-scher Astronom, hat bei Beobachtung der Sonnen-finsterniß am 18. Juli 1860 constatirt, daß die Spit-zen der halbmondförmigen Sonnenscheibe abgerundetund verstümmelt waren.

Diese Erscheinung aber konnte nur von einer Bre-chung der Sonnenstrahlen durch die Atmosphäre desMondes herrühren; eine andere Erklärung ist nicht gutmöglich.«

– Aber steht auch die Thatsache fest? fragte lebhaftder Unbekannte.

»Unumstößlich fest!«Das Schweigen seines Gegners erregte in der Ver-

sammlung abermals eine Bewegung, und zwar zu Gun-sten ihres gefeierten Helden. Ardan ergriff wieder dasWort und sagte, ohne sich mit dem errungenen Vort-heil zu brüsten, einfach:

»Sie sehen also wohl, mein werther Herr, daß mansich nicht so bestimmt gegen das Vorhandensein einerAtmosphäre auf der Oberfläche des Mondes ausspre-chen darf; diese Atmosphäre ist vielleicht dünn, etwas

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sein, aber heutiges Tags hat die Wissenschaft allgemeinangenommen, daß sie vorhanden ist.«

– Nicht über die Berge hinaus, wenn Sie belieben,entgegnete der Unbekannte, der an seiner Meinungfesthielt.

»Nein, aber in den Thälern, und einige Hundert Fußhoch.«

– Jedenfalls würden Sie wohl thun sich vorzusehen,denn diese Luft wird erschrecklich dünn sein.

»O! mein wackerer Herr, für einen einzigen Men-schen wird sie immer hinreichen; übrigens, bin ich nureinmal oben, so werde ich möglichst haushälterischsein, und nur bei Hauptveranlassungen athmen.«

Entsetzliches Lachen donnerte dem geheimnißvol-len Disputanten in die Ohren; mit stolzem Trotzschweiften seine Blicke über die Versammlung hin.

»Da wir nun«, fuhr Michel Ardan mit ungezwunge-ner Miene fort, »über das Vorhandensein einer Atmo-sphäre einig sind, so müssen wir nothwendig zugeben,daß auch eine gewisse Quantität Wasser vorhandensei. Ueber diese Folgerung freue ich meinerseits michsehr. Außerdem, mein liebenswürdiger Gegner, gestat-ten Sie mir, Ihnen noch eine Bemerkung vorzulegen.Wir kennen nur eine Seite der Mondscheibe, und wennauf der uns zugekehrten Seite wenig Luft vorhandenist, so ist’s möglich, daß derselben viel auf der entge-gengesetzten sich findet.«

– Und aus welchem Grund?

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»Weil der Mond in Folge der Anziehung von Seitender Erde die Gestalt eines Eies angenommen hat, des-sen Spitze uns zugekehrt ist. Daher, nach Hansen’s Be-rechnung, die Folge, daß sein Schwerpunkt in der an-dern Hälfte liegt. Daraus schließt man, daß von denersten Tagen der Schöpfung unseres Trabanten an, alleMassen von Luft und Wasser sich auf die andere Seiteziehen mußten.«

– Pure Phantasieen! rief der Unbekannte.»Nein, pure Theorieen, die sich auf die Gesetze der

Mechanik stützen, und die, meines Erachtens, schwerzu widerlegen sind. Ich berufe mich darüber auf dieseVersammlung, und ich lege ihr die Frage zur Entschei-dung vor, ob ein solches Leben, wie es auf der Erde vor-handen, auf der Oberfläche des Mondes möglich ist?«

300,000 Zuhörer zollten dem Satze Beifall. Der Geg-ner Michel Ardan’s wollte noch reden, konnte abernicht zu Gehör kommen. Er ward von Schreien undDrohen wie mit einem Hagel überschüttet.

– Genug, genug, riefen die Einen.– Jagt den Eindringling fort! wiederholten Andere.– Hinaus! Hinaus! schrie die aufgeregte Menge.Er aber, fest an das Gerüst geklammert, wich und

wankte nicht, ließ den Sturm austoben, der zu einerfürchterlichen Höhe gestiegen wäre, hätte ihn nichtMichel Ardan durch eine Handbewegung gestillt. Erwar zu ritterlich, um seinen Gegner in solcher Nothstecken zu lassen.

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»Sie wünschen noch einige Worte hinzuzufügen«,fragte er im freundlichsten Tone.

– Ja! Hundert, tausend, erwiderte der Unbekannteempört. Oder vielmehr nein, ein einziges! Wollten Sieauf Ihrem Vorhaben beharren, so müßten Sie . . .

»Wie unklug! mir so dafür zu begegnen, daß ich vonmeinem Freund Barbicane ein cylindrokonisches Ge-schoß begehrte, um nicht unterwegs mich umdrehenzu müssen, wie die Eichhörnchen!«

– Aber, Unglückseliger, der fürchterliche Gegenstoßwürde Sie in Stücke zerfetzen!

»Mein lieber Widersacher! Sie legen den Finger aufdie wahre und einzige Schwierigkeit; doch habe icheine zu gute Meinung von dem industriellen Genie derAmerikaner, um zu glauben, sie könnten dieselbe nichtlösen!«

– Aber die Hitze, welche beim Durchschneiden derLuftschichten durch die Schnelligkeit des Projectilsentwickelt wird.

»O! Seine Wände sind so dick, und ich werde ja raschüber die Atmosphäre hinauskommen!«

– Aber Lebensmittel? Wasser?»Ich habe ausgerechnet, daß ich für die Dauer eines

Jahres mitnehmen kann, und meine Fahrt wird vier Ta-ge dauern!«

– Aber Luft zum Athmen unterwegs?»Ich werde solche auf chemischem Wege erzeugen.«

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– Aber wenn Sie je auf den Mond kommen, werdenSie dort zu Boden fallen.

»Ein Fall auf die Erde würde sechsmal schneller sein,weil auf der Oberfläche des Mondes die Schwerkraftsechsmal geringer ist.«

– Doch würde Sie noch hinreichend sein, um Sie wieGlas zu zerschmettern.

»Und wer würde mich hindern, meinen Fall vermit-telst angemessen angebrachter und rechtzeitig ange-zündeter Raketen langsamer zu machen?«

– Aber endlich, vorausgesetzt, daß alle diese Schwie-rigkeiten gelöst, alle Hindernisse beseitigt seien, daßAlles noch Ungewisse zu Ihren Gunsten ausfiele; an-genommen, daß Sie wohlbehalten auf dem Mond an-kämen, wie würden Sie wieder zurückkommen?

»Ich würde gar nicht wieder kommen.«Bei dieser durch ihre Einfachheit an das Erhabe-

ne reichenden Antwort blieb die Versammlung stumm,aber dies Schweigen war beredter, als enthusiastischesGeschrei. Der Unbekannte benützte dasselbe, um zumletzten Male seine Einsprache zu erheben.

– Sie würden unfehlbar sich umbringen, rief er aus,und Ihr unsinniger Tod würde nicht einmal der Wis-senschaft nützen!

»Fahren Sie nur fort, edelmüthiger Unbekannter,denn wahrhaftig, Sie prophezeihen recht angenehm!«

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– Ah! das ist zu viel, rief der Gegner Michel Ardan’s,und ich weiß nicht, weshalb ich eine so wenig ernst-hafte Unterredung fortsetzen soll. Führen Sie nur nachBelieben Ihr tolles Vorhaben aus. Ihnen hat man dar-über nichts vorzuwerfen.

»O! Geniren Sie sich nicht!«– Nein, ein Anderer wird für Ihr Thun verantwortlich

sein!»Und wer denn, wenn’s beliebt?« fragte Michel Ar-

dan in gebieterischem Ton.– Der Ignorant, welcher diesen so unmöglichen, rein

lächerlichen Versuch veranstaltet hat.Das war ein directer Angriff. Barbicane hatte seit

dem Dazwischentreten des Unbekannten sich mit äu-ßerster Anstrengung zurückgehalten, um, wie mancheKessel »seinen Rauch zu verzehren«; aber als er sichso beleidigend angegriffen sah, stand er eilig auf undschritt auf seinen Gegner zu, der ihm trotzig in’s Ge-sicht sah, – als er plötzlich von ihm getrennt ward.

Das Gerüst wurde auf einmal von hundert kräfti-gen Armen emporgehoben, und der Präsident des Gun-Clubs mußte mit Michel Ardan die Ehre eines Triumph-zugs theilen. Es war zwar ein schwerer Schild, aberdie Träger lösten sich einander unablässig ab, und je-der stritt sich darum, rang und kämpfte, um mit seinenSchultern zu dieser Huldigung beizutragen.

Inzwischen hatte der Unbekannte den Tumult nichtbenützt, um seinen Platz zu verlassen. Er hätte es auch

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in der dicht gedrängten Menge nicht vermocht. Für je-den Fall blieb er in der vordersten Reihe, mit gekreuz-ten Armen, die Augen fest auf Barbicane gerichtet.

Dieser verlor ihn auch nicht aus dem Gesicht, unddie Blicke beider Männer blieben wie gezückte Degengegen einander gerichtet.

Während dieses Triumphzugs blieb das Geschrei derunermeßlichen Menge fortwährend auf seinem Höhe-punkt. Michel Ardan ließ sich’s mit augenscheinlichemBehagen gefallen; sein Antlitz strahlte. Manchmal schi-en das Gerüst in ein Schwanken zu gerathen gleichdem Stampfen und Schlingen eines Schiffes auf denWogen. Aber die beiden Helden des Meetings verstan-den sich auf die See; sie wankten nicht, und ihr Fahr-zeug langte ohne Fährlichkeit im Hafen von Tampa-Town an.

Es gelang Michel Ardan, sich dem äußersten Gedrän-ge seiner kräftigen Bewunderer zu entziehen; er flüch-tete in’s Hôtel Franklin, begab sich unverzüglich in seinZimmer und schlüpfte rasch in sein Bett, während einHeer von 100,000 Mann unter seinen Fenstern Wachehielt.

Während dieser Zeit begab sich eine kurze, bedeut-same, entschiedene Scene zwischen der geheimnißvol-len Person und dem Präsidenten des Gun-Clubs.

Als Barbicane sich endlich frei fühlte, war er geradeauf seinen Gegner losgegangen.

»Kommen Sie«, sprach er barsch.

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Der Letztere folgte ihm auf den Quai, und bald stan-den sich die Gegner allein gegenüber am Eingang einerWerft.

Hier sahen sich die beiden Feinde, ohne sich zu ken-nen, einander in’s Angesicht.

»Wer sind Sie?« fragte Barbicane.– Der Kapitän Nicholl.»Ich vermuthete es. Bis jetzt hat der Zufall noch

nicht gewollt, mit Ihnen auf meinem Wege zusammenzu treffen . . . «

– Deshalb bin ich gekommen!»Sie haben meine Ehre angegriffen!«– Oeffentlich.»Und Sie werden mir für den Schimpf Genugthuung

geben.«– Augenblicklich.»Nein. Ich wünsche, daß Alles im Stillen unter uns

vorgehe. Drei Meilen von Tampa-Town ist das GehölzSkersnaw. Kennen Sie’s?«

– Ja.»Beliebt’s Ihnen, morgen früh fünf Uhr von einer Sei-

te her dorthin zu kommen?«– Ja, wenn Sie zu derselben Zeit sich von der andern

Seite her einfinden.»Und Sie werden nicht Ihren Rifle vergessen«, sagte

Barbicane.– So wenig, wie Sie den Ihrigen, erwiderte Nicholl.

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Nach diesen in aller Kälte gewechselten Worten gin-gen der Präsident des Gun-Clubs und der Kapitän aus-einander. Barbicane begab sich nach Hause, aber an-statt einige Stunden auszuruhen, sann er die Nachtüber auf Mittel, den Gegenstoß des Projectils zu ver-meiden, und das von Michel Ardan bei der Discussiondes Meetings aufgestellte schwierige Problem zu lösen.

21. WIE EIN FRANZOSE EINE SACHE ZUR

AUSGLEICHUNG BRINGT.

Während zwischen dem Präsidenten und dem Ka-pitän die Abrede über das Duell getroffen wurde, dasentsetzliche, unmenschliche Duell, worin jeder Gegnereinem Menschen das Leben zu nehmen trachtet, ruh-te Michel Ardan aus von den Strapazen seines Trium-phs. Ausruhen ist nicht der richtige Ausdruck, denn dieamerikanischen Betten können an Härte mit Marmor-tischen wetteifern.

Ardan schlief daher ziemlich schlecht, indem ersich zwischen den Servietten, die ihm als Leintücherdienten, hin und her warf, und er dachte darauf, in sei-nem Projectil sich ein bequemeres Lager einzurichten– als ein heftiges Getöse ihn in seinen Träumen störte.Es wurde mit übermäßigen Schlägen an seine Thüregepocht; es schien, sie rührten von einem eisernen In-strument her. Zwischen diesem etwas allzufrühen Lär-men vernahm man fürchterlich rufende Stimmen:

— 189 —

»Mache auf!« rief’s, »um’s Himmels willen, mach’gleich auf!« Ardan hatte keinen Grund, einem so lär-mend gestellten Begehren zu willfahren. Doch stand erauf und öffnete seine Thüre, als sie eben der Gewalt-übung des beharrlichen Besuchers nachzugeben im Be-griff war.

Der Secretär des Gun-Clubs drang in das Gemach.Eine Bombe würde nicht minder ohne Umstände sichEingang verschafft haben.

– Gestern Abend, rief J.T. Maston ohne Weiteres, istunser Präsident während des Meetings öffentlich be-schimpft worden! Er hat seinen Gegner gefordert, derNiemand sonst ist, als der Kapitän Nicholl! Diesen Mor-gen früh schlagen sie sich im Gehölz von Skersnaw! Ichweiß Alles aus Barbicane’s eigenem Munde! Fällt er, sowerden dadurch unsere Projecte zunichte! Also mußdies Duell verhindert werden! Niemand in der Weltaber kann auf Barbicane Einfluß genug haben, um ihndavon abzubringen, als Michel Ardan!

Während Maston so sprach, hatte Michel Ardan, oh-ne ihn zu unterbrechen, in aller Hast seine weiten Ho-sen angezogen, und binnen weniger als zwei Minutenbefanden sich die beiden Freunde eilenden Schritts inder Vorstadt von Tampa-Town.

Unterwegs setzte Maston seinen Begleiter in Kennt-niß von der Sache. Er theilte ihm den wahren Grundder Feindschaft beider mit, wie dieselbe von langer

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Zeit herrührte, weshalb durch die Bemühungen ge-meinschaftlicher Freunde der Präsident und der Kapi-tän sich bisher noch nicht persönlich begegnet waren;er fügte bei, es handle sich einzig um eine Rivalität derPlatte und Kugel, und Nicholl habe bei dem Meetingnur die Gelegenheit gesucht, einen alten Groll zu be-friedigen.

Es giebt nichts Schrecklicheres, als diese persönli-chen Feindschaften und Zweikämpfe in Amerika. Dasuchen sich zwei Gegner und lauern auf einander inWald und Gehölz, und zielen aus dem Gebüsch, wieauf Rothwild. Dann beneiden sie die Indianer der Prai-rien um ihre wunderbaren Naturgaben, den raschenVerstand, die angeborene Schlauheit, die instinctmäßi-ge Witterung des Feindes. Ein Irrthum, ein Anstoß, einFehltritt können den Tod herbeiführen. Solches Strei-fen nehmen die Yankees oft in Begleitung ihrer Hundevor, zugleich als Jäger und Wild, und treiben sich stun-denlang einander auf.

– Welche Teufel von Leuten seid Ihr! rief Michel Ar-dan, als ihm sein Gefährte mit viel Energie dies ganzeTreiben geschildert hatte.

– So sind wir, erwiderte Maston kleinlaut; aber eilenwir.

Indessen mochten sie noch so sehr in Eile über diethaufeuchte Ebene rennen, über Reisfelder und Bächesetzen, um die Wege abzukürzen; vor halb sechs Uhrkonnten sie nicht in’s Gehölz von Skersnaw kommen.

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Barbicane mußte schon seit einer halben Stunde sichauf dem Platz eingefunden haben.

Sie trafen da einen alten Buschmann, der mit Reiser-binden beschäftigt war.

Maston lief zu ihm, und rief ihm zu:– Haben Sie einen Mann mit einer Büchse in den

Wald gehen sehen – den Präsidenten Barbicane, mei-nen besten Freund? . . .

Der würdige Secretär des Gun-Clubs war so naiv,zu glauben, sein Präsident müsse der ganzen Welt be-kannt sein. Aber der Buschmann schien ihn nicht zuverstehen.

– Einen Jäger, sagte drauf Ardan.– Einen Jäger? Ja, erwiderte der Buschmann.– Ist’s schon lange?– Etwa eine Stunde.– Zu spät! schrie Maston.– Und haben Sie Flintenschüsse gehört? fragte Mi-

chel Ardan.– Nein.– Nicht einen einzigen?– Nicht einen. Der Jäger hat, scheint’s, keine gute

Jagd.– Was nun weiter? sagte Maston.– Wir gehen in’s Gehölz auf die Gefahr, von einer

Kugel getroffen zu werden, die nicht für uns bestimmtist.

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– Ach! rief Maston in einem Ton, der nicht mißzu-verstehen war, lieber hätte ich zehn Kugeln in meinemKopf, als eine einzige in Barbicane’s.

– Vorwärts also! fuhr Ardan mit einem Händedruckfort.

Nach einigen Minuten verschwanden die beidenFreunde im Gehölz. Es war ein Dickicht von Riesency-pressen, Sykomoren, Tulpenbäumen, Oelbäumen, Ta-marinden, immergrünen Eichen. Die Zweige dieserverschiedenen Bäume waren unentwirrbar mit ein-ander verwachsen, und gestatteten dem Blick keineweite Aussicht. Michel Ardan und Maston gingen al-so nicht weit von einander schweigend durch hohesGras, bahnten sich ihren Weg durch Lianen, fragten mitBlicken die Büsche und das dichte Laubwerk. Nirgendsließ sich eine Spur erkennen, die Barbicane’s Schrit-te hätte bezeichnen können, und sie gingen wie blindauf den mit Mühe gebahnten Pfaden, wo ein IndianerSchritt für Schritt seinem Gegner gefolgt wäre.

Nach einer Stunde vergeblichen Suchens blieben siestehen. Ihre Unruhe verdoppelte sich.

– Es muß wohl Alles vorbei sein, sagte Maston ent-muthigt. Ein Mann wie Barbicane hat nicht seinemGegner einen listigen Streich gespielt! Er ist zu offen,zu muthig, ist gerade vorwärts der Gefahr entgegengegangen, ohne Zweifel zu weit von dem Buschmannentfernt, als daß dieser den Schuß hören konnte!

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– Aber wir! wir! versetzte Michel Ardan, seit wir unsin dem Gehölz befinden, hätten ihn hören müssen! . . .

– Und wenn wir zu spät kamen! rief Maston im Tonder Verzweiflung.

Michel Ardan hatte kein Wort darauf zu antworten,und sie gingen weiter. Von Zeit zu Zeit erhoben sie lau-tes Geschrei, und riefen, bald Barbicane, bald Nicholl;aber keiner von Beiden gab eine Antwort. Muntere Vö-gel, von dem Lärm geschreckt, verließen in Schwär-men das Gezweig, und einige aufgescheuchte Damhir-sche flüchteten eiligst durch das Gehölz.

Noch eine volle Stunde suchten sie fort. Sie hattenfast den größten Theil des Buschwerks durchforscht,und keine Spur von der Anwesenheit der Kämpfer hat-te sich gezeigt. Die Aussage des Buschmanns war dochzu bezweifeln, und Ardan wollte schon das fruchtloseSuchen aufgeben, als Maston plötzlich stehen blieb.

– St! St! Da ist Jemand!– Jemand? erwiderte Michel Ardan.– Ja! ein Mann! Es scheint, er rührt sich nicht. Keine

Büchse in seiner Hand. Was treibt er doch?– Aber erkennst Du ihn? fragte Michel Ardan, den

bei solchem Anlaß sein kurzes Gesicht im Stiche ließ.– Ja! ja! er wendet sich um, erwiderte Maston.– Und es ist? . . .– Der Kapitän Nicholl!– Nicholl! rief Michel Ardan, dem das Herz sich zu-

sammen schnürte.

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Nicholl ohne Waffe! Also hatte er von seinem Gegnernichts mehr zu fürchten? Aber sie waren noch keinefünfzig Schritte weiter gegangen, als sie stehen blie-ben, um den Kapitän aufmerksamer zu betrachten. Siemeinten einen blutbefleckten, in seiner Rache gesättig-ten Menschen zu treffen. Und sie staunten, wie sie ihnsahen.

Zwischen riesenhaften Tulpenbäumen war ein Ma-schennetz gespannt, in dessen Mitte ein Vöglein, des-sen Flügel sich darein verwickelt hatten, mit klägli-chem Geschrei sich abzappelte. Der Vogelsteller, derdieses unzerreißliche Netz gespannt hatte, war keinmenschliches Wesen, sondern eine giftige, in der Land-schaft einheimische Spinne, von der Größe eines Tau-beneies mit enormen Krallen. Als das häßliche Thiereben über seine Beute herfallen wollte, wurde es fort-gescheucht und suchte auf den Zweigen des Baumesseine Zuflucht, denn es sah sich selbst von einem fürch-terlichen Feind bedroht.

Wirklich legte der Kapitän Nicholl seine Büchse beiSeite, vergaß die Gefahr seiner Lage, und war sorgfäl-tig bemüht, das im Garne der abscheulichen Spinne ge-fangene Thierlein zu befreien. Als er damit fertig war,ließ er das Vöglein flattern, das mit lustigem Flügel-schlag verschwand.

Nicholl sah mit gerührtem Blick ihm durch die Zwei-ge nach, als er die mit bewegter Stimme gesprochenenWorte vernahm:

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»Sie sind doch ein wackerer Mensch!«Er wendete sich um. Michel Ardan stand vor ihm,

und wiederholte in allen Tonarten:»Und ein liebenswürdiger Mensch!«– Michel Ardan! rief der Kapitän. Was wollen Sie

hier, mein Herr?– Ihnen die Hand drücken, Nicholl, und Sie abhal-

ten, entweder Barbicane oder sich selbst um’s Lebenzu bringen.

– Barbicane! rief der Kapitän, den ich seit zwei Stun-den vergeblich suche! Wo steckt er? . . .

– Nicholl, sagte Michel Ardan, das ist nicht fein! Manmuß stets seinen Gegner achten; seien Sie ruhig, wennBarbicane noch bei Leben ist, werden wir ihn finden,und um so leichter, als er, wenn er sich nicht damit ver-gnügt hat, verfolgten Vöglein beizustehen, uns eben-falls suchen muß. Aber wenn wir ihn gefunden haben,so wird – Michel Ardan sagt Ihnen dies – von einemDuell zwischen Ihnen keine Rede mehr sein.

– Zwischen dem Präsidenten Barbicane und mir, er-widerte Nicholl ernst, besteht eine so feindliche Rivali-tät, daß nur der Tod . . .

– Gehen Sie doch! Gehen Sie damit, fuhr Michel Ar-dan fort, so wackere Leute, wie Sie, können sich wohleinander zuwider sein, aber man achtet sich. Sie wer-den sich nicht schlagen.

– Ich werde mich schlagen, mein Herr.– Nimmermehr.

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– Kapitän, sagte darauf J.T. Maston mit tief beweg-tem Herzen, ich bin des Präsidenten Freund, sein alterego, ein anderes Exemplar von ihm; wenn Sie durchauseinen um’s Leben bringen wollen, zielen Sie auf mich,es wird ganz dasselbe sein.

– Mein Herr, sagte Nicholl, indem er krampfhaft sei-ne Büchse in die Hand nahm, solche Scherze . . .

– Freund Maston scherzt nicht, erwiderte Michel Ar-dan, und ich begreife die Idee, für den Mann, den manliebt, sein Leben zu lassen! Aber weder er, noch Bar-bicane werden durch die Kugel des Kapitäns Nichollum’s Leben kommen, denn ich habe den beiden Riva-len einen Vorschlag zu machen, der so verführerischist, daß sie eifrig bereit sein werden, ihn anzunehmen.

– Und welchen? fragte Nicholl, mit augenscheinli-chem Zweifel.

– Geduld, erwiderte Ardan, ich kann ihn nur in Ge-genwart Barbicane’s mittheilen.

– So wollen wir ihn suchen, rief der Kapitän.Und sofort machten sich die drei Männer auf den

Weg; der Kapitän entlud sein Gewehr, hing’s um seineSchulter und ging schweigend im Trott weiter.

Noch eine halbe Stunde lang suchten sie vergeblich.Maston ward von einer schlimmen Ahnung ergriffen.Er faßte Nicholl strenge in’s Auge und fragte sich, obetwa, nachdem des Kapitäns Rache befriedigt worden,der unglückliche Barbicane von einer Kugel getroffen

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bereits leblos in seinem Blute unter einem Gebüsch lie-ge. Michel Ardan schien den gleichen Gedanken zu ha-ben, und beider Blicke maßen bereits fragend den Ka-pitän Nicholl, als Maston plötzlich stille stand.

20 Schritte von da gewahrte man unbeweglich amFuß einer riesenmäßigen Catalpa mit dem Rücken wi-der gelehnt, im Grase halb versteckt eine Mannesge-stalt.

»Er ist’s!« sagte Maston.Barbicane rührte und regte sich nicht. Ardan senkte

seine Blicke in die Augen des Kapitäns, aber der wank-te nicht. Ardan schritt vor und rief:

»Barbicane! Barbicane!«Keine Antwort. Ardan stürzte auf seinen Freund,

aber im Moment, als er ihn beim Arm fassen wollte,hielt er ein mit einem Schrei der Verwunderung.

Barbicane, mit dem Bleistift in der Hand, machtegeometrische Figuren und Formeln in ein Notizbüch-lein, indeß sein Gewehr unschädlich auf dem Bodenlag.

In seine Arbeit versunken, hatte der Gelehrte eben-falls Duell und Rache vergessen, nichts gesehen, nichtsgehört.

Aber als Michel Ardan seine Hand auf die seinigelegte, richtete er sich auf und sah ihn verwundert an.

– Ah! rief er endlich, Du hier! Ich hab’s gefunden,Freund! gefunden!

– Was gefunden?

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– Mein Mittel.– Was für ein Mittel?– Das Mittel, die Wirkung des Rückstoßes beim Ab-

schießen des Projectils aufzuheben.– Wirklich? sagte Michel, und blickte schielend nach

dem Kapitän.– Ja! Wasser! bloßes Wasser wird die Federkraft ab-

geben . . . Ah! Maston! Sie auch!– Er selbst, erwiderte Michel Ardan, und erlaube mir,

Dir zugleich den würdigen Kapitän Nicholl vorzustel-len!

– Nicholl! rief Barbicane, und sprang augenblicklichauf. Verzeihen Sie, Kapitän, ich hatte vergessen . . . ichbin bereit . . .

Michel Ardan legte sich in’s Mittel, ehe noch die bei-den Feinde Zeit hatten sich anzureden.

»Wahrhaftig!« sprach er, »ein Glück, daß so wackereMänner, wie Sie, sich nicht eher begegneten! Wir hät-ten sonst einen oder den anderen zu beweinen. Aber,Gott sein Dank, er hat dafür gesorgt, daß nichts mehrzu besorgen ist. Wenn man seinen Haß vergißt, um sichin mechanische Probleme zu versenken, oder den Spin-nen einen Streich zu spielen, dann ist dieser Haß fürNiemand mehr gefährlich.«

Und Michel Ardan erzählte dem Präsidenten, wasmit dem Kapitän vorgegangen war.

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»Ich frage nun endlich«, sagte er zum Schluß, »obzwei so tüchtige Männer, wie Sie, dafür da sind, umsich einander den Kopf zu zerschmettern?«

Diese Sachlage enthielt etwas Lächerliches, etwas soUnerwartetes, daß Barbicane und Nicholl nicht rechtwußten, welche Haltung sie einander gegenüber an-nehmen sollten. Michel Ardan merkte es wohl, und be-schloß, die Auflösung mit einem Schlag herbeizufüh-ren.

»Meine wackeren Freunde«, sagte er, und ließ seinbestes Lächeln auf den Lippen spielen, »es hat stets nurein Mißverstehen zwischen Ihnen stattgefunden, sonstNichts. Nun denn! Zum Beweis, daß zwischen IhnenAlles im Reinen ist, und da Sie ja Männer sind, die ih-re Haut zu riskiren fähig sind, nehmen Sie frisch denVorschlag an, den ich eben Ihnen machen will.«

– Reden Sie, sagte Nicholl.– Freund Barbicane glaubt, sein Projectil werde gra-

des Wegs in den Mond gelangen.– Ja sicherlich, erwiderte der Präsident.– Und Freund Nicholl ist überzeugt, daß es wieder

auf die Erde fallen werde.– Ganz gewiß, rief der Kapitän.– Gut! versetzte Michel Ardan. Ich maße mir nicht

an, Sie miteinander in Harmonie zu bringen; aber ichsage Ihnen ganz einfach: – Reisen Sie mit mir, und wirwollen dann sehen, ob wir die Reise durchführen.

– Hm! sagte J.T. Maston bestürzt.

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Die beiden Rivalen sahen sich bei dem plötzlichenVorschlag einander an, warteten mit Spannung einerauf des anderen Wort.

»Nun?« fragte Michel Ardan mit gewinnendem Ton.»Weil ein Rückstoß nicht mehr zu fürchten!«

– Angenommen! rief Barbicane.Aber, so rasch er das Wort sprach, Nicholl sprach das-

selbe zugleich.»Hurrah! Bravo! Hip! Hip! Hip!« rief Michel Ardan,

und reichte den beiden Gegnern die Hand. »Und nun,da die Sache beigelegt ist, gestatten Sie mir, nach fran-zösischer Weise, Sie zu bewirthen. Gehen wir zumFrühstück.«

22. DER NEUE BÜRGER DER VEREINIGTEN STAATEN.

An demselben Tag erfuhr ganz Amerika den Han-del des Kapitäns Nicholl mit dem Präsidenten Barbica-ne, sowie seine eigenthümliche Erledigung. Die Rolle,welche der ritterliche Europäer dabei spielte, sein un-erwarteter Vorschlag, welcher die Schwierigkeit durch-schnitt, die gleichzeitige Annahme der beiden Rivalen,diese Eroberung des Mondcontinents, wobei Frank-reich und die Vereinigten Staaten zusammenwirkten,Alles vereinigte sich, um die Popularität Michel Ardan’szu steigern. Es ist bekannt, bis zu welchem Wahnsinndie Yankee’s ihre Leidenschaft für ein Individuum stei-gern. In einem Lande, wo ehrwürdige Magistratsperso-nen sich an den Wagen einer Tänzerin spannen und sie

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im Triumph herumfahren, was kann man da von derdurch den kühnen Franzosen entfesselten Leidenschafterwarten! Spannte man nicht seine Pferde aus, so ge-schah es vermuthlich nur deshalb, weil keine da wa-ren, aber alle anderen Huldigungsbezeugungen wur-den ihm gespendet. Nicht ein Bürger, der ihm nicht mitHerz und Geist ergeben war!

Von diesem Tage an hatte Michel Ardan keine ruhigeStunde mehr. Abgeordnete aus allen Ecken und Endender Union belästigten ihn unablässig. Er mußte sie un-weigerlich empfangen.

Das Händedrücken, das Duzen der Leute ist garnicht herzuerzählen. Es dauerte nicht lange, so warer erschöpft; seine Stimme, heiser von den unzähligenAnsprachen, konnte nur noch unverständliche Wortestammeln, und er hätte von der Menge der Toaste, dieer auszustehen hatte, fast eine Lungenentzündung be-kommen. Dieser Erfolg hätte einen Anderen am erstenTag benebelt, aber er wußte sich in geistreicher, reizen-der Halbtrunkenheit zu halten.

Unter den Deputationen aller Art, welche ihn be-stürmten, befand sich auch die der »Mondsüchtigen«,welche nicht vergaß, was sie gegen den künftige Er-oberer des Mondes zu beobachten hatte. Eines Tagssuchten Einige der armen Leute, deren es in Amerika

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ziemlich viele giebt, ihn auf, und baten, ihn in ihre Hei-mat begleiten zu dürfen. Einige von ihnen behaupte-ten, »selenitisch« zu sprechen, und wollten Michel Ar-dan diese Sprache lehren. Dieser zeigte sich gutmüthigbereit, ihrer naiven Manie zu willfahren, und Aufträgean ihre dortigen Freunde anzunehmen.

»Sonderbarer Wahnsinn!« sagte er zu Barbicane,nachdem er sie verabschiedet hatte, »ein Wahnsinn,der oft gescheite Leute befällt. Einer unserer berühm-testen Gelehrten, Arago, sagte mir, viele sehr gescheiteund in ihren Begriffen sehr nüchterne Leute geriethenallemal, wenn der Mond sie befangen mache, in großeAufregung bis zu unglaublichen Sonderbarkeiten. Duglaubst nicht an den Einfluß des Mondes auf die Krank-heiten?«

– Wenig, erwiderte der Präsident des Gun-Clubs.»Ich glaube auch nicht daran, und doch finden sich

Thatsachen zum Erstaunen in der Geschichte verzeich-net. So sind im Jahre 1693 zur Zeit einer Epidemieam 21. Januar im Moment einer Mondfinsterniß dieLeute in größerer Anzahl gestorben. Der berühmte Ba-con fiel während der Mondfinsternisse in Ohnmacht,und kam erst dann, wann sie völlig vorüber waren,wieder zu vollem Lebensbewußtsein. Karl VI. verfielim Jahre 1399 sechsmal, beim Neumond oder Voll-mond, in Irrsinn. Die Epilepsie wird von den Aerz-ten unter diejenigen Krankheiten gezählt, welche denMondphasen gemäß auftreten. Die Nervenkrankheiten

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scheinen oft dem Einfluß des Monds unterworfen zusein. Mead spricht von einem Kind, welches in Krämpfeverfiel, wenn der Mond in die Stellung der Oppositiontrat. Gall hatte bemerkt, daß bei schwachen Personendie Nervenaufregung zweimal monatlich, zur Zeit desNeu- und Vollmonds, zunahm. Endlich giebt es auchunzählige Wahrnehmungen dieser Art über Schwindel,bösartiges Fieber, Somnambulismus, welche zu bewei-sen geeignet sind, daß das Nachtgestirn einen geheim-nißvollen Einfluß auf die Krankheiten des Erdenlebensausübt.«

– Aber wie? warum? fragte Barbicane.– Warum? erwiderte Ardan. Wahrhaftig, ich gebe Dir

die nämliche Antwort, welche neunzehn Jahrhundertnach Plutarch Arago wiederholt hat: »Vielleicht, weiles nicht wahr ist!«

Bei seinem Triumph konnte Michel Ardan sich kei-ner der lästigen Zumuthungen entziehen, welche demStand eines berühmten Menschen anhängen. Die Un-ternehmer von Erfolg wollten ihn öffentlich aufstellen.Barnum bot ihm eine Million, um ihn in allen Staatender Union von Stadt zu Stadt zu führen und wie einWunderthier anstaunen zu lassen. Michel Ardan be-handelte ihn als Elephantenführer, und wies ihm sei-nen Weg.

Indessen, weigerte er auch in solcher Weise die öf-fentliche Neugierde zu befriedigen, so machte wenig-stens sein Bild die Runde durch die Welt und erhielt

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in den Albums einen Ehrenplatz; man gab es in allenGrößen heraus, von der natürlichen bis zu der mikro-skopischen der Postmarken. Man konnte den Heldenin allen denkbaren Stellungen haben, als Kopf- oderBrustbild, en face oder profil, ganze Figur etc. Es wur-den über 1,500,000 Exemplare abgezogen, und es gabeine hübsche Gelegenheit, sich selbst als Andenken zuverschleißen, wenn er hätte davon profitiren wollen. Erbrauchte nur seine Haare um einen Dollar das Stück zuverkaufen, und hätte sich damit ein großes Vermögengemacht!

Offen gesagt, war diese Popularität doch nach sei-nem Geschmack. Er stellte sich gerne dem Publicumzur Disposition, und correspondirte mit der ganzenWelt. Man wiederholte seine bons mots, verbreitete sieweiter, ganz besonders die, welche er gar nicht gespro-chen hatte. Man legte sie ihm, wie gewöhnlich, in denMund, denn er war reich in dem Punkt.

Nicht allein die Männer hatte er zu Anhängern, son-dern auch die Frauen. Was hätte er für eine Menge »gu-ter Partieen« machen können, wenn er hätte sich fes-seln lassen wollen. Zumal die alten Jungfern, welcheseit 40 Jahren schmachteten, träumten Tag und Nachtvon seiner Photographie.

Gewiß hätte er Hunderte von Lebensgefährtinnengefunden, selbst unter der Bedingung ihn in den Wel-tenraum zu begleiten. Die Frauen, welche sich nichtvor Allem fürchten, sind unverzagt. Aber es war seine

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Absicht nicht, auf dem Mondcontinent ein Stammvaterzu werden und eine Mischrace von französischem undamerikanischem Geblüt dorthin zu verpflanzen. Daherlehnte er ab.

»Dort oben«, sagte er, »die Rolle Adam’s mit einerTochter Eva’s zu spielen, danke schön! Da würde ich’smit Schlangen zu thun bekommen! . . . «

Als er sich endlich den allzu häufigen Triumphes-freuden entziehen konnte, machte er in Begleitung sei-ner Freunde der Columbiade einen Besuch. Das warauch seine Schuldigkeit. Uebrigens hatte er auch seitseinem Umgang mit Barbicane, Maston und Genossenin der Ballistik große Fortschritte gemacht. Es machteihm die größte Freude, den wackeren Artilleriebeflisse-nen oft vorzusagen, sie seien nur liebenswürdige undgelehrte Menschenschlächter. Ueber diesen Punkt warer unerschöpflich in Scherzreden. Bei seinem Besuchgab er der Columbiade seine hohe Bewunderung zuerkennen, und drang dem Riesenmörser, der ihn balddem Gestirn der Nacht entgegen schleudern sollte, bisauf den Grund der Seele.

»Wenigstens«, sagte er, »wird diese Kanone Niemandein Leid zufügen, – was bei einer Kanone etwas sehrErstaunliches ist. Aber von Euren Maschinen, die zer-stören, in Brand stecken, zertrümmern, das Leben rau-ben, – davon redet mir nicht, und vor Allem saget mirdoch nicht, sie haben ›eine Seele‹; ich würde es nichtglauben!«

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Nun muß ich noch einen Vorschlag J.T. Maston’s be-richten. Als der Secretär des Gun-Clubs hörte, wie Bar-bicane und Nicholl den Vorschlag Michel Ardan’s an-nahmen, entschloß er sich, als Vierter an der PartieTheil zu nehmen. Eines Tags stellte er das Begehren,sich anzuschließen. Barbicane, der ihm ungern etwasabschlug, suchte ihm begreiflich zu machen, das Pro-jectil könne eine so große Anzahl Passagiere nicht mit-nehmen. In Verzweiflung wendete sich Maston an Mi-chel Ardan, der ihn aufforderte, auf diesen Wunsch zuverzichten, und machte dabei Gründe ad hominem gel-tend.

»Siehst Du«, mein alter Maston, sprach er zu ihm,»Du darfst mir nicht übel nehmen, was ich Dir darüberzu sagen habe; aber wahrhaftig, unter uns gesagt, Dubist zu unvollständig, um auf dem Mond aufzutreten!«

– Unvollständig! rief der rüstige Invalide.– Ja! mein wackerer Freund! Denke Dir, wenn wir

dort oben Bewohnern begegnen. Möchtest Du ihnenwohl eine so traurige Vorstellung von dem, was hie-nieden vorgeht, geben; einen Begriff von dem, was einKrieg heißt: ihnen anschaulich machen, daß man sei-ne beste Zeit darauf wendet, sich gegenseitig zu zerflei-schen, aufzuzehren, Arme und Beine zu zerschmettern,und das auf einer Kugel, worauf hundert MilliardenBewohner ihre Nahrung finden können, kaum 1200

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Millionen sich befinden? Ah! Da würdest Du, würdi-ger Freund, Anlaß geben, daß man uns die Aufnahmeversagte!

– Aber wenn Ihr in Stücken ankommt, entgegneteJ.T. Maston, werdet Ihr eben so unvollständig sein wieich!

– Allerdings, erwiderte Michel Ardan, aber in Stückenwerden wir nicht anlangen!

In der That hatte ein am 18. October vorgenomme-nes vorbereitendes Experiment die besten Resultate ge-liefert und zu den besten Hoffnungen berechtigt. Inder Absicht, sich über den Rückstoß im Moment desAbfahrens eines Projectils genau zu unterrichten, ließBarbicane aus dem Arsenale zu Pensacola einen Mör-ser von 32 Zoll kommen. Man stellte ihn am Ufer derRhede von Hillisboro auf, damit die Bombe in’s Meerfalle, und so ihr Fall unschädlich werde. Es handeltesich nur darum, die Erschütterung beim Abschleudernzu probiren, nicht die Wirkung beim Anprallen.

Für dieses merkwürdige Experiment wurde mitgrößter Sorgfalt ein hohles Projectil hergerichtet. Dieinneren Wände wurden mit dichter Flockseide über ei-nem Netz von Springfedern aus dem besten Stahl aus-gefüttert, gleich einem sorgfältig auswattirten Nest.

– Wie schade, daß man sich nicht da hineinlegenkann! sagte J.T. Maston, mit Bedauern, da seine Tail-le ihm den Versuch nicht gestattete.

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In diese reizende Bombe, die mit einem Schrau-bendeckel verschließbar war, brachte man zuerst einegroße Katze, hernach ein Eichhörnchen, das dem be-ständigen Secretär des Gun-Clubs angehörte und sehrwerth war, aber man wollte wissen, wie diesem we-nig dem Schwindel unterworfenen Thierchen die Ver-suchsreise bekommen würde.

Der Mörser wurde mit 160 Pfund Pulver geladen, dieBombe hinein gethan. Man gab Feuer.

Mit reißender Schnelligkeit fuhr das Projectil heraus,beschrieb majestätisch seine Parabel bis zu einer Höhevon etwa tausend Fuß, und senkte sich in graciösemBogen in die Fluthen.

Unverzüglich fuhr ein Boot nach der Stelle, wo sieniedergefahren war; geschickte Taucher stürzten sichauf den Meeresgrund, und befestigten Taue an dieHenkel der Bombe, welche dann sofort herausgezogenwurde. Es waren kaum fünf Minuten verflossen, seitdie Thiere eingeschlossen wurden, bis man den Deckelwieder öffnete.

Ardan, Barbicane, Nicholl, Maston befanden sich aufder Barke und sahen mit begreiflicher Spannung demResultat entgegen. Kaum war die Bombe geöffnet, sosprang die Katze heraus, zwar ein wenig gequetscht,aber lustig und munter, und ohne daß man ihr dieLuftreise ansah. Aber das Eichhörnchen war nicht vor-handen. Man suchte nach; keine Spur. Man mußte sich

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überzeugen, daß die Katze ihren Reisegefährten auf-gezehrt hatte. J.T. Maston war sehr betrübt über diesMärtyrerthum der Wissenschaft.

Wie dem auch sei, in Folge dieses Experiments ver-schwand alles Bedenken, alle Besorgniß; übrigens warBarbicane darauf bedacht, das Projectil noch vollkom-mener zu machen, um die Wirkungen des Rückstoßesgänzlich zu beseitigen. Damit war es zum Abschießenfertig.

Zwei Tage hernach erhielt Michel Ardan eine Bot-schaft des Präsidenten der Union, eine Ehre, die ihmsehr schmeichelte.

Nach dem Beispiel seines ritterlichen LandsmannesLafayette ertheilte ihm die Regierung das Ehrenbürger-recht der Vereinigten Staaten Amerika’s.

23. DER PROJECTIL-WAGGON.

Nach Vollendung der berühmten Columbiade wen-dete sich das öffentliche Interesse sofort dem Pro-jectil zu, diesem neuen Transportmittel, welches diedrei kühnen Abenteurer durch den Weltraum beför-dern sollte. Jeder wußte, daß Michel Ardan in seinerDepesche vom 30. September eine Modification dervom Comité beschlossenen Einrichtung desselben be-gehrt hatte.

Der Präsident Barbicane war damals mit Recht derMeinung, daß die Form des Projectils wenig auf sichhabe, denn nachdem es in wenigen Secunden aus dem

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Bereich der Atmosphäre gekommen, sollte es in demabsolut leeren Raum weiter fahren. Das Comité hattedaher die runde Form gewählt, damit die Kugel sichum sich selber drehen und nach Belieben sich verhal-ten könne. Aber von dem Augenblick an, da man ihmdie Bestimmung eines Transportmittels gab, war dieSache eine andere. Michel Ardan hatte nicht Lust, sichgleich dem Eichhörnchen zu bewegen; er wollte auf-recht gehen, Kopf oben, Füße nach unten, mit ebenso-viel Anstand, wie die Passagiere des Luftballons in demSchifflein, zwar rascher, aber ohne unaufhörlich Luft-sprüngen ausgesetzt zu sein, die ihm wenig zu sagten.

Es wurde daher dem Hause Breadwill & Cie. zu Al-bany ein neuer Plan zugeschickt und die unverzüglicheAnfertigung anempfohlen. Das demnach abgeänderteProjectil wurde am 2. November gegossen und sofortdurch die Eisenbahn nach Stone’s-Hill befördert.

Am 10. kam es wohlbehalten an seinem Bestim-mungsort an. Michel Ardan, Barbicane und Nicholl er-warteten mit der größten Ungeduld diesen »Projectil-Waggon«, in welchem sie zur Entdeckung einer neuenWelt ausfliegen sollten.

Man muß zugeben, es war ein prachtvolles StückMetall, ein metallurgisches Product, welches dem in-dustriellen Genie der Amerikaner alle Ehre machte.

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Man hatte zum ersten Male Aluminium in so beträchtli-cher Masse gewonnen, was mit Recht als ein staunens-werthes Ergebniß angesehen werden konnte. Das kost-bare Projectil funkelte in den Sonnenstrahlen. BeimAnblick seiner imponirenden Formen mit der kegel-förmigen Spitze hätte man’s leicht für so ein dickesThürmchen in Gestalt einer Gewürzbüchse gehalten,wie sie die Architekten des Mittelalters an den Eckenihrer festen Schlösser anbrachten; es fehlte dafür nuran Schießscharten und einer Wetterfahne.

»Es sieht mir so aus«, rief Michel Ardan, »als kämeein mit Hakenbüchse und stählernem Panzer gewapp-neter Mann daraus hervor. Wir werden uns darin wieFeudalherren befinden, und mit etwas Artillerie könnteman darin allen Seleniten-Heeren Stand halten, sofernes deren auf dem Monde giebt!«

– Also ist das Fahrzeug nach Deinem Geschmack?fragte Barbicane seinen Freund.

– Ja! ja! gewiß, erwiderte Michel Ardan, der es miteinem Künstlerauge ansah. Ich vermisse nur schlanke-re Formen, eine graciösere Spitze; man hätte ihm einenBüschel, Verzierungen von guillochirtem Metall aufset-zen sollen, mit einer Chimäre, z.B. einem Schlaraffen-gesicht, einem Salamander, der mit ausgebreiteten Flü-geln und offenem Rachen aus dem Feuer heraus käme. . .

– Wozu das? sagte Barbicane, dessen positiver Geistwenig Sinn für Kunstschönheiten hatte.

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– Wozu? Freund Barbicane! Ach! Da Du mir so eineFrage stellst, fürchte ich wohl, daß Du’s niemals be-greifst!

– Sag’s nur heraus, wackerer Kamerad.– Nun denn, meiner Ansicht nach, muß man bei

dem, was man vornimmt, immer etwas Kunst anbrin-gen, das ist besser. Kennst Du ein indisches Stück, »DasKinderwägelein« betitelt?

– Nicht dem Namen nach, erwiderte Barbicane.– Das nimmt mich nicht Wunder, fuhr Michel Ardan

fort. So merke Dir, daß in diesem Stück ein Dieb vor-kommt, der im Begriff in ein Haus einzubrechen sichdie Frage stellt, ob er seinem Loch die Form einer Lyra,einer Blume, eines Vogels oder einer Amphora gebensolle? Nun sag’ mir, Freund Barbicane, wenn Du zu derZeit zur Jury gehört hättest, würdest Du diesen Diebverurtheilt haben?

– Ohne Bedenken, erwiderte der Präsident des Gun-Clubs, und zwar unter erschwerenden Umständen.

– Und ich hätte ihn freigesprochen, Freund Barbica-ne. Deshalb wirst Du nie mich begreifen!

– Ich werde es nicht einmal versuchen, mein tapfererKünstler!

– Aber zum Mindesten, fuhr Michel Ardan fort, weildas Aeußere unseres Waggon-Projectils etwas zu wün-schen übrig läßt, wird man mir gestatten, es nach mei-nem Geschmack zu meubliren, und mit allem Luxus,der den Botschaftern der Erde zusteht!

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– In der Hinsicht, mein wackerer Michel, erwiderteBarbicane, wirst Du’s nach Belieben machen, wir wer-den Dich gewähren lassen.

Aber, ehe er das Angenehme vornahm, hatte der Prä-sident des Gun-Clubs an das Nützliche gedacht, unddie von ihm erfundenen Mittel, um die Wirkungen desGegenstoßes abzuschwächen, wurden mit einer vollen-deten Einsicht in Anwendung gebracht.

Barbicane hatte sich gesagt, und nicht ohne Grund,daß keine Sprungfeder Kraft genug haben könne, umdie Wirkung des Stoßes gänzlich zu beseitigen, undwährend seines merkwürdigen Spaziergangs im Ge-hölz von Skersnaw war er am Ende darauf gekommen,diese große Schwierigkeit auf sinnreiche Weise zu lö-sen. Das Wasser, darauf rechnete er, sollte ihm diesenausgezeichneten Dienst leisten. Sehen wir, in welcherWeise.

Das Projectil sollte drei Fuß hoch mit Wasser ange-füllt werden, worauf eine hölzerne, vollständig was-serdichte Scheibe an den inneren Wänden des Projec-tils dicht hinglitt. Auf diesem Floß nahmen die Passa-giere ihren Platz. Die flüssige Masse war durch hori-zontale Scheidewände in Schichten zertheilt. Der Stoßbeim Abschießen mußte diese nach einander zerbre-chen, worauf sodann jede Wasserschichte, von derniedrigsten aufwärts bis zur höchsten, durch Abzugs-röhren nach dem oberen Theile des Projectils drang,und so den Zweck einer Federkraft erfüllte, während

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die Scheibe, selbst mit äußerst starken Pfropfen ver-sehen, nur nachdem allmälig die verschiedenen Schei-dewände zertrümmert waren, mit dem Bodenstück zu-sammenstoßen konnte. Ohne Zweifel würden die Rei-senden nach vollständigem Entweichen der flüssigenMasse noch einen heftigen Gegenstoß erleiden, aberder erste Stoß mußte doch durch jenen sehr starkenGegendruck fast gänzlich unwirksam gemacht werden.

Zwar mußten drei Fuß Wasser auf einer Fläche von54 Quadratfuß gegen 11,500 Pfund wiegen; aber dieTreibkräfte des in der Columbiade angesammelten Gasgenügten, nach Barbicane’s Annahme, diesen Zuwachsan Schwere aufzuwiegen; übrigens mußte der Stoß inweniger als einer Secunde all dieses Wasser hinaustrei-ben, so daß das Projectil gleich sein normales Gewichtwieder bekam.

Dieses also hatte der Präsident des Gun-Clubs ausge-dacht, und auf diese Weise glaubte er die wichtige Fra-ge des Gegenstoßes gelöst zu haben. Uebrigens wurdediese Arbeit von den Ingenieuren des Hauses Breadwillmit Einsicht begriffen und zum Erstaunen ausgeführt;war einmal die Wirkung geäußert und das Wasser hin-ausgetrieben, so konnten die Reisenden sich leicht derzerbrochenen Scheidewände entledigen, und die be-wegliche Scheibe, auf welcher sie im Moment der Ab-fahrt sich befanden, hinwegnehmen.

Oben waren die Wände des Projectils mit einer dich-ten Lederbekleidung gefüttert, über Spiralfedern vom

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besten Stahl, die so biegsam wie Uhrfedern waren. Un-ter diesem Lederfutter waren die Abzugsröhren so ver-deckt, daß man ihr Vorhandensein nicht wahrnehmenkonnte.

So waren also alle erdenklichen Vorkehrungen ge-troffen, um die Wirkung des ersten Stoßes zu beseiti-gen, und um sich erdrücken zu lassen, müßte man wieMichel Ardan sich ausdrückte, »von schlechter Compo-sition sein.«

Das Projectil hatte einen äußeren Breitedurchmesservon neun Fuß bei zwölf Fuß Höhe. Um das angegebeneGewicht nicht zu überschreiten, hatte man die Wändeetwas minder dick gemacht, den Boden dagegen stär-ker, weil er die ganze Gewalt des durch Verbrennender Baumwolle entwickelten Gases auszuhalten hatte.So ist’s übrigens auch bei den Bomben und konischenGranaten, deren Bodentheil immer dicker ist.

In diesen metallenen Thurm gelangte man durch ei-ne enge Oeffnung, welche an der Spitze angebrachtwar, gleich wie bei den Dampfkesseln. Sie wurdehermetisch durch eine Aluminiumplatte verschlossen,welche innen durch starke Stellschrauben befestigtwar. Die Reisenden konnten also nach Belieben ausihrem beweglichen Gefängniß herauskommen, sobaldsie auf dem Gestirn der Nacht angelangt waren.

Aber man mußte unterwegs auch sehen. Dies warsehr leicht gemacht. Es befanden sich unter dem Fut-ter vier Lucken mit sehr dicken Linsengläsern, zwei in

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der Rundwand, eine im Boden und eine in der Spitze.Dadurch waren die Reisenden im Stande, sowohl nachder Erde, als nach dem Monde und dem Sternenhim-mel zu schauen und zu beobachten. Nur waren dieseSchaulöcher gegen Stöße durch fest angepaßte Deckelgeschützt, welche man leicht im Inneren nach außenzurückschrauben konnte. Auf diese Art wurden die Be-obachtungen möglich, ohne daß die in dem Projectilenthaltene Luft entwich.

Alle diese bewundernswerthen mechanischen Vor-richtungen waren sehr leicht im Gang, und die In-genieure bewiesen ebenso viel Einsicht bei der inne-ren Einrichtung als bei der Versorgung des Waggon-Projectils.

Sehr fest gefügte Behälter waren bestimmt, das fürdie drei Reisenden nöthige Wasser und die Lebensmit-tel aufzunehmen; dieselben konnten sogar sich Feuerund Licht durch Gas verschaffen, welches in besonde-ren Behältern unter einem Druck mehrerer Atmosphä-ren aufbewahrt war. Man brauchte nur einen Hahnenzu drehen, und hatte für sechs Tage das zur Erleuch-tung und Heizung erforderliche Gas. Man sieht, es fehl-te an Nichts, was wesentlich zum Leben, und selbst zurBehaglichkeit diente. Außerdem war, dem GeschmackMichel Ardan’s gemäß, durch Kunstgegenstände dasAngenehme mit dem Nützlichen verbunden. Uebrigenswürde man irren, wollte man annehmen, es müsse

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drei Personen in diesem Thurm zu enge werden. Sei-ne Oberfläche betrug ungefähr 54 Quadratfuß zu zehnFuß Höhe, wobei Raum für einige Bewegung war. Siehätten im bequemsten Waggon der Vereinigten Staatennicht so viele Gemächlichkeit gehabt.

So war die Frage der Lebensmittel und Beleuchtunggelöst; es blieb noch die der Luft. Offenbar konnte diein dem Projectil enthaltene Luft nicht vier Tage zumAthmen der Reisenden ausreichen; denn jeder Menschverbraucht etwa in einer Stunde den gesammten inhundert Liter Luft enthaltenen Sauerstoff. Barbicane,seine beiden Gefährten, und zwei Hunde, die er mit-nehmen wollte, mußten in 24 Stunden 2400 Liter Sau-erstoff, d.h. ungefähr sieben Pfund verzehren. Es muß-te also die Luft im Projectil erneuert werden. Wie das?Durch ein sehr einfaches Verfahren, nach Reiset undRegnault, wie Michel Ardan während der Discussionbeim Meeting angegeben hatte.

Bekanntlich besteht die Luft hauptsächlich aus 21Theilen Sauerstoff und 79 Theilen Stickstoff. Beim Ath-men nun verzehrt der Mensch den Sauerstoff der ein-geathmeten Luft, und stößt den Stickstoff wieder aus.Die ausgeathmete Luft hat etwa fünf Procent ihresSauerstoffs verloren, und enthält dann fast ebensovielKohlensäure, welche durch Verbrennen von Elemen-ten des Bluts durch den eingeathmeten Sauerstoff ent-steht. Daraus ergiebt sich, daß in einem umschlosse-nen Raum nach einer gewissen Zeit aller Sauerstoff

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der Luft durch Kohlensäure ersetzt wird, ein wesent-lich schädlicher Stoff.

Die Aufgabe bestand also damals darin: 1) Den ver-zehrten Sauerstoff zu ersetzen; 2) die ausgeathmeteKohlensäure zu vernichten. Dies war sehr leicht durchchlorsaures Kali und kaustisches Kali.

Chlorsaures Kali ist ein Salz, das in Form von weißenFlitterblättchen vorkommt; wenn man es einer Tempe-ratur von mehr als hundert Grad aussetzt, verwandeltes sich in salzsaures Kali, und der Sauerstoff, welchenes enthält, entbindet sich völlig. Nun geben achtzehnPfund chlorsaures Kali sieben Pfund Sauerstoff, also so-viel, als die Reisenden binnen 24 Stunden brauchen.So also läßt sich der Sauerstoff ergänzen.

Kaustisches Kali verschlingt den in der Luft enthal-tenen Kohlenstoff sehr gierig, und man braucht es nurzu schütteln, damit es denselben an sich ziehe, unddoppeltkohlensaures Kali bilde. So kann man also dieKohlensäure vernichten.

Durch Verbindung dieser beiden Mittel konnte mansicher sein, der verdorbenen Luft alle belebenden Ei-genschaften wieder zu geben. Dieses hatten die beidenChemiker Reiset und Regnault durch glückliche Expe-rimente festgestellt.

Aber, nicht zu verhehlen ist, die Experimente wur-den bis jetzt nur mit Thieren – in anima vili – gemacht.

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Bei aller wissenschaftlichen Genauigkeit, womit diesel-ben veranstaltet wurden, wußte man durchaus nicht,wie sich Menschen dazu verhielten.

Diese Bemerkung war in der Sitzung, wo diese wich-tige Frage behandelt wurde, gemacht worden. MichelArdan wollte die Möglichkeit, mittels dieser künstlicherzeugten Luft zu leben, nicht im Zweifel lassen, underbot sich, vor der Abreise den Versuch zu machen.

Aber J.T. Maston nahm die Ehre, diesen Versuch zumachen, energisch in Anspruch.

»Da ich nicht mitreise«, sagte der brave Artillerist,»so darf ich doch wenigstens das Projectil acht Tagelang bewohnen.«

Es wäre undankbar gewesen, ihm seine Bitte abzu-schlagen. Man willfahrte ihm und stellte ihm die hin-reichende Quantität von chlorsaurem und kaustischemKali sammt Lebensmitteln für acht Tage zur Verfügung;darauf, am 12. November um sechs Uhr Morgens frü-he, drückte er seinen Freunden die Hand, und schlüpf-te, nachdem er ausdrücklich anempfohlen, vor dem 20.um sechs Uhr Abends sein Gefängniß nicht zu öffnen,in das Projectil, und man schloß die Oeffnung herme-tisch.

Was ging während dieser acht Tage vor? Man konn-te darüber durchaus nichts vernehmen, da die Dickeder Wände hinderte, daß irgend welches Geräusch imInneren außerhalb gehört wurde.

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Am 20. November präcis sechs Uhr wurde geöffnet;Maston’s Freunde waren doch etwas unruhig gewor-den. Aber sie wurden sogleich beruhigt, als sie mitfreudiger Stimme ein fürchterliches Hurrah rufen hör-ten.

Alsbald kam auch der Secretär des Gun-Clubs an derSpitze des Kegels in triumphirender Haltung zum Vor-schein.

Er war fetter geworden!

24. DAS TELESKOP DES FELSENGEBIRGS.

Am 20. October des verflossenen Jahres, nachdemdie Subscription beendigt war, hatte der Präsident desGun-Clubs dem Observatorium zu Cambridge die nö-thige Summe angewiesen, um ein ungeheures opti-sches Instrument zu verfertigen. Dasselbe sollte starkgenug sein, um auf der Oberfläche des Mondes einennur neun Fuß breiten Gegenstand sichtbar zu machen.

Zwischen Fernrohr und Teleskop ist ein bedeutenderUnterschied, woran hier zu erinnern nicht überflüssigist. Das Fernrohr besteht aus einer Röhre, welche anihrem oberen Ende mit einer convexen Linse versehenist, Objectiv genannt, am unteren mit einer zweiten,genannt Ocularglas, vor welchem das Auge des Beob-achters sich befindet. Die von dem erleuchteten Gegen-stand herkommenden Strahlen dringen durch die er-ste Linse, und bilden durch Brechung im Brennpunktederselben ein umgekehrtes Bild. Dieses betrachtet man

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mittelst des Oculars, welches dasselbe, gerade wie ei-ne Loupe, vergrößert. Also ist beim Fernrohr die Röhrean beiden Enden geschlossen, durch das Objectiv- unddas Ocularglas.

Beim Teleskop dagegen ist die Röhre am oberen En-de offen. Die von dem beobachteten Gegenstand aus-gehenden Strahlen dringen da frei ein und fallen aufeinen concaven Metallspiegel convergent. Von da zu-rückprallend treffen sie auf einen kleinen Spiegel, wel-cher sie einem Ocularglas zuwirft, das zur Vergröße-rung des hervorgebrachten Bildes geeignet ist.

So spielt bei den Fernröhren Brechung der Strahlendie Hauptrolle, bei den Teleskopen das Zurückprallenderselben. Daher nennt man die ersteren Refractore,d.h. Strahlenbrecher, die letzteren Reflectore, Zurück-strahler.

Die ganze Schwierigkeit bei der Fertigung dieses op-tischen Apparats liegt in der Bereitung der Objective,seien sie Linsen oder Metallspiegel.

Zur Zeit nun, als der Gun-Club sein großes Experi-ment machte, waren diese Instrumente äußerst voll-kommen und gaben prachtvolle Resultate. Galilei hatteseine Beobachtungen mit einem armseligen Fernrohrangestellt, welches höchstens siebenmal vergrößerte.Seit dem sechzehnten Jahrhundert wurden die opti-schen Instrumente beträchtlich weiter und länger, undgestatteten, die Sternenräume so gründlich, wie noch

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nie bisher, auszumessen. Unter den damals gebrauch-ten Refractoren nannte man das Fernrohr des Observa-toriums zu Pulkowa in Rußland, dessen Objectiv fünf-zehn Zoll breit ist, das des französischen Optikers Lere-bours mit einem Objectiv von gleicher Größe wie dasvorige, und endlich das Fernrohr des Observatoriumszu Cambridge mit einem Objectiv von neunzehn Zoll.

Unter den Teleskopen waren zwei von merkwürdi-ger Stärke und riesenhafter Größe bekannt. Das er-ste, von Herschel construirt, war 36 Fuß lang und hat-te einen 41

2Fuß breiten Spiegel; man konnte damit

6000fache Vergrößerungen erhalten. Das zweite be-fand sich in Irland, zu Birrcastle im Park von Parson-stown, und gehörte dem Lord Rosse. Seine Röhre war48 Fuß lang, sein Spiegel sechs Fuß breit; es vergrö-ßerte 6400fach, und man hatte ein ungeheures Mauer-werk aufführen müssen, um den für die Handhabungdes Instruments nöthigen Apparat anzubringen; das-selbe wog 28,000 Pfund.

Aber, wie man sieht, trotz dieser kolossalen Dimen-sionen betrug die Vergrößerung nicht über 6000mal,in runder Zahl; eine solche aber bringt den Mond nurbis auf 39 (engl.) Meilen nahe, und läßt nur Gegen-stände von 60 Fuß Durchmesser wahrnehmen, sofernsie nicht sehr lange sind.

Im vorliegenden Falle aber handelte sich’s um einProjectil von neun Fuß Durchmesser und fünfzehn Fuß

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Länge: man mußte daher den Mond bis auf fünf Mei-len (zwei Lieues) wenigstens nahe bringen, und dafür48,000fache Vergrößerung erzielen.

Diese Aufgabe ward dem Observatorium zu Cam-bridge gestellt. Ungehemmt von finanziellen Schwie-rigkeiten blieben nur noch die materiellen.

Für’s erste war zwischen Fernrohr und Teleskop zuwählen. Ersteres bietet größere Vortheile: bei gleichgroßem Objectiv gestattet es, beträchtlichere Vergrö-ßerungen zu erzielen, weil die Lichtstrahlen, welchedurch die Linsen dringen, weniger abgeschwächt wer-den, als durch die Reflexion vermittelst des Metallspie-gels. Aber der Linse kann man nur eine beschränkteGröße geben, weil sie bei zu großer Dicke die Licht-strahlen nicht mehr hindurchdringen läßt. Zudem istdie Anfertigung dieser ungeheuer großen Linsen äu-ßerst schwierig und erfordert jahrelange Zeit.

Obwohl daher die Bilder der Gegenstände im Fern-rohr besser beleuchtet sind, ein unschätzbarer Vorzugbei Beobachtung des Mondes, dessen Licht blos ein re-flectirtes ist, so entschied man sich doch für’s Teleskop,welches rascher zu fertigen ist und stärkere Vergrö-ßerungen erzielen läßt. Nur beschloß der Gun-Club,weil die Lichtstrahlen beim Durchdringen unserer At-mosphäre sehr an Stärke verlieren, das Instrument aufeinem der höchsten Berge der Union aufzustellen, derdünneren Luftschicht wegen.

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Bei den Teleskopen wird, wie wir gesehen haben, dieVergrößerung durch das Ocularglas, d.h. die vor demAuge des Beobachters befindliche Loupe, bewirkt, unddasjenige Objectiv ist dafür am förderlichsten, welchesden größten Durchmesser und die größte Distanz desBrennpunktes hat. Um eine 48,000malige Vergröße-rung zu erzielen, müßte man das Objectiv bedeutendgrößer machen, wie Herschel und Lord Rosse. Darinlag die Schwierigkeit, denn der Guß solcher Spiegel isteine sehr mißliche Sache.

Zum Glück hatte vor einigen Jahren ein französi-scher Gelehrter, Léon Foucault, Mitglied des Instituts,ein Verfahren erfunden, wodurch das Poliren der Ob-jective sehr leicht und rasch zu Stande gebracht wird,indem man an Stelle der Metallspiegel versilberte an-wendet. Man brauchte nur ein Glas von der erforder-lichen Größe zu gießen und vermittelst Silbersalz mitMetall zu überziehen. Dieses so trefflich bewährte Ver-fahren wurde bei Anfertigung des Objectivs befolgt.

Ferner wendete man für die Anordnung die vonHerschel für seine Teleskopen ersonnene Methode an.Bei dem großen Apparate des Astronomen von Sloughwurde das Bild des Gegenstandes von dem unten imTubus in geneigter Lage befindlichen Spiegel reflectirt,so daß es am entgegengesetzten Ende, wo das Ocu-larglas sich befand, sich darstellte. Dergestalt bekamder Beobachter, anstatt am unteren Theile der Röhre,

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am oberen seinen Platz, von wo aus er vermittelst sei-ner Loupe in den enormen Cylinder hinabschaute. Die-se Anordnung bot den Vortheil, daß der kleinere Spie-gel, welcher die Bestimmung hatte, das Bild dem Ocu-larglas zuzuwerfen, ganz wegfiel, so daß anstatt einerdoppelten Zurückstrahlung nur eine einmalige statt-fand, folglich eine mindere Anzahl von Lichtstrahlenverloren ging, demnach das Bild minder schwach war,mithin mehr Klarheit erzielt wurde, ein höchst schätz-barer Vorzug bei der Beobachtung, welche angestelltwerden sollte.

Nachdem diese Beschlüsse gefaßt waren, began-nen die Arbeiten. Nach den Berechnungen des Bu-reau des Observatoriums zu Cambridge sollte der Tu-bus des neuen Reflectors eine Länge von 280 Fuß,und sein Spiegel sechzehn Fuß Durchmesser bekom-men. So kolossal auch solch ein Instrument war, so wares doch nicht mit dem Teleskop zu vergleichen, wel-ches der Astronom Hooke vor einigen Jahren in Vor-schlag brachte, nämlich von einer Länge von 10,000Fuß (= 31

2Kilometer). Dennoch bot dessen Anferti-

gung große Schwierigkeiten.Die Frage, an welcher Stelle dasselbe aufzustellen

sei, wurde rasch entschieden. Es war ein hohes Gebirgzu wählen, und solche sind in den Vereinigten Staatennicht zahlreich.

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In der That beschränkt sich das Gebirgssystem die-ses großen Landes auf zwei Ketten von mittlerer Hö-he, zwischen welchen der majestätische Mississippiströmt, welchen die Amerikaner »König der Flüsse«nennen würden, wenn sie irgend ein Königthum gel-ten ließen.

In der östlichen Kette der Apalachen ragt der höch-ste in New-Hampshire gelegene Gipfel nicht über diebescheidene Höhe von 5600 Fuß hinan.

Im Westen dagegen findet sich das Felsengebirge, einTheil der ungeheuren Kette, welche von der Magella-nischen Enge an längs der Westküste Süd-Amerika’sunter dem Namen Anden oder Cordilleren hin zieht,über den Isthmus von Panama sich fortsetzt und durchNordamerika bis zum Gestade des Polarmeeres läuft.

Dieses Gebirge ist nicht sehr hoch, und die Alpen,wie der Himalaya würden mit größter Verachtung aufsie herabsehen. In der That ist sein höchster Gipfelnicht über 10,700 Fuß hoch, während der Montblanc14,439 mißt, und der Kintschindjinga1 26,767 überden Meeresspiegel sich erhebt.

Aber da der Gun-Club darauf hielt, daß das Teleskop,ebenso wie die Columbiade, innerhalb der Staaten derUnion errichtet würde, so mußte man sich mit demFelsengebirg begnügen, und das erforderliche Materialwurde auf den Gipfel Longs Peak im Gebiet von Mis-souri geschafft.

1Der höchste Gipfel des Himalaya.

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Unbeschreibliche Schwierigkeiten aller Art hattendie amerikanischen Ingenieure zu überwinden; sie ver-richteten Wunder an Kühnheit und Geschicklichkeit.Enorme Steinblöcke, schwere Stücke geschmiedetenMetalls, Klammern von beträchtlichem Gewicht, un-geheure Stücke des Cylinders, das Objectiv, welchesallein bei 30,000 Pfund wog, mußten über die Liniedes ewigen Schnees mehr als 10,000 Fuß hoch hin-auf geschafft werden, nachdem man sie zuvor überöde Wiesengründe, undurchdringliche Wälder und rei-ßende Gewässer, fern von bevölkerten Plätzen, mittendurch wilde Gegenden zu transportiren hatte, wo jedeExistenz fast unmöglich war. Dennoch triumphirte dasGenie der Amerikaner über diese tausend Hindernis-se. Es verfloß nicht ein volles Jahr seit dem Beginnender Arbeiten, in den letzten Tagen des September rag-te der riesenhafte Refractor mit seinem 280 Fuß langenTubus in die Lüfte empor. Er war von einem enormeneisernen Gerüste umgeben, und ein sinnreicher Mecha-nismus setzte in den Stand, ihn leicht nach allen Punk-ten des Himmels zu bewegen, um den Gestirnen aufihrer Bahn von der einen Seite des Horizonts bis zuranderen zu folgen.

Er hatte über 400,000 Dollars gekostet. Als er zumerstenmal auf den Mond gerichtet wurde, geriethen dieBeobachter vor neugierigem Wissensdrang in unruhi-ge Bewegung. Was sollten sie mit dem 48,000mal ver-größernden Teleskop da für Entdeckungen machen?

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Mondvölker und Heerden, Städte, Seen, Meere? –Nichts von dem fand sich, nichts, was die Wissen-schaft nicht bereits kannte; und auf allen Punkten sei-ner Scheibe ließ sich die vulcanische Natur des Mondesmit absoluter Genauigkeit feststellen.

Aber das Teleskop des Felsengebirgs leistete, nochehe es des Gun-Clubs Zwecke förderte, der Astrono-mie bereits unermeßliche Dienste. Durch seine weitreichende Kraft wurden die Tiefen des Himmels bis zuden äußersten Grenzen durchforscht, bei einer großenAnzahl von Sternen wurde der scheinbare Durchmes-ser sehr genau bestimmt, und H. Clarke auf dem Bu-reau zu Cambridge war im Stande, das Nebelgestirn»Krebs« im Stiere in seine Einzeltheile zu zerlegen, wasder Reflector Lord Rosse’s niemals hatte fertig bringenkönnen.

25. LETZTE BEGEBNISSE.

Es war der 22. November, und in zehn Tagen deräußerste für die Abreise bestimmte Zeitpunkt. Nocheine Operation war vorzunehmen und glücklich aus-zuführen, die viele Behutsamkeit erforderte, gefähr-lich, ja so mißlich war, daß der Capitän Nicholl sei-ne dritte Wette auf ihr Mißglücken gestellt hatte. DieColumbiade war mit 400,000 Pfund Schießbaumwol-le zu laden. Nicholl hatte, vielleicht nicht ohne Grund,besorgt, die Behandlung einer so furchtbaren Menge

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leicht entzündlichen Stoffes werde bedeutende Kata-strophen veranlassen, und jedenfalls die Masse unterdem Druck des Projectils sich von selbst entzünden.

Noch größere Gefahr drohte durch die leichtsinni-ge Sorglosigkeit der Amerikaner, welche während desBundeskriegs gar keinen Anstand nahmen, mit der Ci-garre im Mund ihre Bomben zu laden. Aber Barbicaneließ es sich angelegen sein, es mit Erfolg auszuführen,und nicht im Hafen zu scheitern; er wählte daher sei-ne besten Arbeiter aus, ließ sie unter seinen Augen ihrWerk verrichten, wendete nicht einen Augenblick denBlick von ihnen, und wußte durch Klugheit und Vor-sicht sich den glücklichen Erfolg zu sichern.

Vor Allem war er so vorsichtig, nicht die ganze La-dung auf einmal nach Stone’s-Hill bringen zu lassen,sondern nur nach und nach in vollkommen verschlos-senen Kisten. Die gesammte Baumwollenmasse war inPäcke von 500 Pfund Gewicht vertheilt, das waren 800starke Patronen, die von den geschicktesten Werkleu-ten zu Pensacola sorgfältig gefertigt waren. Jede Kisteenthielt deren zehn, und sie kamen eine nach der an-deren auf der Eisenbahn von Tampa-Town; auf dieseWeise hatte er nie mehr als 5000 Pfund auf einmal indem Werkhof. Sowie eine solche ankam, wurde sie vonArbeitern, die barfuß gingen, entladen und jede Patro-ne an die Mündung der Columbiade gebracht, wo mansie vermittelst Krahnen, die von Menschenhand ge-dreht wurden, hinabsenkte. Jede Dampfmaschine war

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entfernt, und auf zwei Meilen ringsum jedes FünkchenFeuer gelöscht. Es war schon eine starke Aufgabe, die-se Masse Schießbaumwolle gegen die Sonnenhitze zuschützen. Man arbeitete daher vorzugsweise bei Nachtbeim Schein eines künstlich erzeugten Lichtes, welchesmit Hilfe eines Ruhmkorff’schen Apparats das Innereder Columbiade bis auf den Grund taghell erleuchtete.Hier wurden die Patronen regelmäßig in Reihen geord-net und mit einem Metalldraht aneinander befestigt,welcher den elektrischen Funken gleichzeitig in’s Cen-trum einer jeden zu leiten bestimmt war.

In der That, die Anzündung dieser Masse Baumwollemußte vermittelst der Voltaischen Säule geschehen. Al-le diese, mit einem isolirenden Stoff umgebenen Draht-fäden vereinigten sich oben, wo das Projectil aufge-setzt werden sollte, bei einem engen Zündloch; hierliefen sie durch die dicke gußeiserne Wand durch ei-nes der in der Mauerkleidung gelassenen Luftlöcher,bis zum Boden hinaus. Hier auf der Höhe von Stone’s-Hill wurde der Draht, von Trägern unterstützt, zweiMeilen weit fortgeleitet, indem er durch einen Unter-brechungsapparat bis zu einer starken Voltaischen Säu-le lief.

Man brauchte dann nur mit dem Finger auf denKnopf des Apparats zu drücken, um den Strom au-genblicklich wieder herzustellen, und das Feuer theiltesich den 400,000 Pfund Baumwolle mit. Es versteht

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sich von selbst, daß die Säule erst im letzten Augen-blick in Thätigkeit gesetzt ward.

Am 28. November waren die 800 Patronen im In-nern der Columbiade eingelegt. Dieser Theil der Ar-beit war glücklich fertig. Aber welches Lärmen, welcheUnruhe, welche Kämpfe hatte Barbicane zu bestehen!Es half nichts, den Eintritt in Stone’s-Hill zu verbieten;tagtäglich stiegen die Neugierigen über die Palissaden,und manche gingen in ihrer Unvorsichtigkeit bis zumWahnsinn, rauchten mitten unter den Ballen Schieß-baumwolle. Barbicane gerieth täglich in Zornentrü-stung. Maston unterstützte ihn möglichst, indem er dieEingedrungenen lebhaft verjagte, und die brennendenCigarrenstumpfen sammelte, welche die Yankees hin-warfen. Ein schweres Stück Arbeit, denn es drängtensich über 300,000 Mann um die Palissaden. Michel Ar-dan hatte sich zwar erboten, die Kisten bis zur Mün-dung der Columbiade zu escortiren; aber da er ihnselbst mit einer Cigarre im Munde betraf, während erdie Unvorsichtigen, welchen er das schlimme Beispielgab, fortjagte, sah der Präsident des Gun-Clubs wohl,daß er sich auf diesen unermüdlichen Raucher nichtverlassen könne, und sah sich genöthigt, ihn ganz be-sonders überwachen zu lassen.

Endlich, da Gottes Auge die Artilleristen schützt,wurde das Laden ohne Explosion glücklich fertig ge-bracht. Die dritte Wette des Kapitäns Nicholl war alsosehr gewagt. Es war nur noch das Projectil hinein zu

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bringen, und auf der dichten Lage Schießbaumwolleaufzustellen.

Aber bevor man zu dieser Verrichtung schritt, wur-den die Reisebedürfnisse in dem Waggon-Projectil ge-ordnet aufgestellt. Es war deren eine ziemliche Anzahl,und hätte man Michel Ardan gewähren lassen, so hät-ten sie bald den ganzen für die Reisenden vorbehalte-nen Raum eingenommen. Man kann sich kaum vorstel-len, was dieser liebenswürdige Franzose Alles in denMond mitnehmen wollte. Ein wahrer Ballast unnöthi-ger Dinge. Aber Barbicane legte sich in’s Mittel, undman mußte sich auf das streng Nothwendige beschrän-ken.

Einige Thermometer, Barometer und Brillen wurdenin den Koffer zu den Instrumenten gethan.

Die Reisenden waren begierig, unterwegs den Mondzu studiren, und sie nahmen, um sich die Kenntnißdieser neuen Welt zu erleichtern, die ausgezeichneteMondkarte von Beer und Mädler mit, in vier Blättern,welche für ein wahres Meisterstück ausdauernder Be-obachtung gilt. Sie stellt mit gewissenhafter Genauig-keit die uns zugewendete Seite des Mondes im gering-sten Detail dar: Berge, Thäler, Circus, Krater, Rundplät-ze, Bergkegel und Streifen waren in genauen Maßan-gaben, richtiger Lage und Benennung, von den BergenDörfel und Leibnitz, mit seinem hohen Gipfel auf deröstlichen Seite der Scheibe bis zum Eismeer in der Um-gebung des nördlichen Pols.

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Es war also für die Reisenden ein kostbares Docu-ment, denn sie konnten darauf das Land studiren, be-vor sie noch den Fuß darauf gesetzt.

Sie nahmen ferner drei Büchsen und drei Jagd-Carabiner für explodirende Kugeln mit; dazu Pulverund Blei in reichlichem Vorrath.

»Man weiß nicht, mit wem man dort zu thun ha-ben wird«, sagte Michel Ardan. »Menschen oder Thie-re könnten’s übel nehmen, daß wir ihnen einen Besuchmachen! Man muß sich also vorsehen.«

Uebrigens wurde auch nützliches Werkzeug, wie Bei-le, Hacken und Handsägen, mitgenommen, sowie Klei-dungsstücke für alle Temperaturen und Zonen.

Michel Ardan hätte gern eine Anzahl Thiere mitge-nommen, obwohl nicht von jeder Gattung ein Paar,denn Schlangen, Tiger, Alligatoren und andere Raubt-hiere wollte er nicht auf dem Monde einführen.

»Nein«, sagte er zu Barbicane, »aber einige Saumt-hiere, Ochse oder Kuh, Esel oder Pferd würden dortdienlich und uns vielleicht sehr nützlich sein.«

– Ich gebe das zu, lieber Ardan, erwiderte der Prä-sident des Gun-Clubs, aber unser Waggon-Projectil istnicht eine Arche Noah. Das ist weder seine Bestim-mung, noch ist’s dazu eingerichtet. Also bleiben wirinnerhalb der Grenzen des Möglichen.

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Endlich, nach langem Widerreden, kam man über-ein, sich mit einer vortrefflichen Jagdhündin, die Ni-choll gehörte, und einem munteren, kräftigen Neu-foundländer zu begnügen. Einige Kisten nützlicher Ar-ten Saatfrucht wurden zu den unerläßlichen Gegen-ständen gerechnet. Hätte man Michel Ardan gewährenlassen, so hätte er auch einige Säcke mit Erde mitge-nommen, um sie darauf zu säen. Für alle Fälle nahmer ein Dutzend junger Bäumchen mit, welche sorgfältigmit Stroh eingepackt in einen Winkel gestellt wurden.

Nun blieb noch die wichtige Lebensmittelfrage, dennman mußte sich für den Fall vorsehen, daß man in einedurchaus unfruchtbare Gegend des Mondes gerathenwürde. Barbicane war so vorsichtig, für ein ganzes JahrVorrath mitzunehmen.

Doch muß ich bemerken, daß man nicht allzusehrstaune, diese Lebensmittel bestanden in Conserven vonFleisch und zusammengepreßten Gemüse, und zwarsolche, die viel Nahrungsstoff enthielten; zwar nichtviel zur Abwechselung, aber bei solch einer Fahrt darfman nicht heikel sein. Auch Branntwein war dabei, et-wa 200 Liter, und Wasser nur für zwei Monate; dennin Folge der neuesten astronomischen Beobachtungenzweifelte man nicht, daß auf der Oberfläche des Mon-des eine gewisse Quantität Wasser vorhanden sei. InHinsicht der Lebensmittel wäre es unsinnig gewesen,zu glauben, daß Erdbewohner dort keine Nahrung für

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sich fänden. Michel Ardan hatte in der Hinsicht gar kei-nen Zweifel mehr; sonst hätte er sich auch nicht zurReise dahin entschlossen.

»Uebrigens«, sagte er eines Tages zu seinen Freun-den, »werden wir von unseren Kameraden auf der Er-de nicht ganz im Stich gelassen werden, sie werdenuns nicht vergessen.«

– Nein, gewiß nicht, erwiderte J.T. Maston.– Wie verstehen Sie das? fragte Nicholl.»Ganz einfach«, erwiderte Ardan. »Ist nicht die Co-

lumbiade hier? Nun! So oft der Mond sich in der gün-stigen Zenithstellung findet, wenn auch nicht in Erdnä-he, also etwa einmal im Jahre, könnte man uns dennnicht eine mit Lebensmitteln befrachtete Kugel zusen-den, die wir am bestimmten Tage erwarten würden?«

– Hurrah! Hurrah! rief Maston, als ein Mann von Ide-en; trefflich gesagt! Gewiß, wackere Freunde, wir wer-den Euch nicht vergessen!

»Ich verlasse mich darauf! So, sehen Sie, bekommenwir regelmäßig Nachrichten vom Erdball, und was unsbetrifft, so würden wir sehr ungeschickt sein, wenn wirnicht Mittel fänden, uns mit unseren guten Freundenauf der Erde in Verbindung zu setzen!«

Diese Worte athmeten eine solche Zuversicht, daßMichel Ardan bei seiner entschiedenen Miene, seinerfesten Haltung den ganzen Gun-Club mit sich fortge-rissen hätte. Was er sagte, schien so einfach, elementar,leicht, von sicherem Erfolg, und man hätte wahrhaftig

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in kleinlicher Weise an diesem armseligen Erdball kle-ben müssen, wäre man nicht bereit gewesen, die dreiReisenden bei ihrer Mondfahrt zu begleiten.

Als die verschiedenen Gegenstände in dem Projec-til aufgestellt waren, wurde das zur Hemmung desRückstoßes bestimmte Wasser in seine Verschläge ge-bracht und das Leuchtgas in seine Behälter gepumpt.Von kohlensaurem und kaustischem Kali nahm Bar-bicane, um für eine unvorausgesehene Verspätung zusorgen, einen hinreichenden Vorrath mit, um zwei Mo-nate lang den Sauerstoff erneuern und die Kohlensäu-re entfernen zu können. Er hatte einen äußerst sinn-reichen Apparat, der automatisch wirkend der Luft ih-re belebenden Eigenschaften wiedergab und sie voll-ständig reinigte. So war denn das Projectil gerüstet, eswar nur noch nöthig, dasselbe in die Columbiade hin-abzubringen; eine übrigens schwierige und gefährlicheOperation.

Das enorme Geschoß wurde auf den Gipfel vonStone’s-Hill gebracht, wo starke Krahnen es faßten undschwebend über den metallenen Schacht hielten.

Es war ein Moment ängstlicher Besorgniß. Wenn un-ter dem ungeheuren Gewicht die Ketten rissen, so wäredurch das Herabfallen einer solchen Masse die Entzün-dung der Baumwolle unfehlbar erfolgt.

Zum Glück trat dieser Fall nicht ein, und nach ei-nigen Stunden lagerte das behutsam in die Seele derKanone hinabgesenkte Projectil auf der baumwollenen

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Unterlage wie auf Eiderdaunen. Seine Schwere wirk-te nur dahin, die Ladung der Columbiade stärker zuverpfropfen.

»Ich hab’ verloren«, sagte der Kapitän, und stelltedem Präsidenten Barbicane 3000 Dollars zu.

Barbicane wollte von seinem Reisekameraden dasGeld nicht annehmen; aber er mußte Nicholl’s Beharr-lichkeit nachgeben, der, bevor er die Erde verließ, alleseine Verbindlichkeiten erfüllen wollte.

»Dann«, sagte Michel Ardan, »habe ich nur nocheinen Wunsch für Sie, mein wackerer Kapitän.«

– Und der wäre? fragte Nicholl.»Daß Sie auch die beiden anderen Wetten verlieren

mögen! Dann werden wir sicherlich auf der Reise nichtdrauf gehen.«

26. FEUER!

Der erste des December nahte heran, ein verhäng-nißvoller Tag, denn wenn das Abschleudern des Pro-jectils nicht denselben Abend um 10 Uhr 46 Minutenund 40 Secunden zu Stande kam, so würden über acht-zehn Jahre verfließen, ehe der Mond unter denselbengleichzeitigen Bedingungen von Zenith und Erdnähesich darböte.

Es war prächtiges Wetter; trotz der Annäherung desWinters bestrahlte die Sonne glänzend diese Erde, wel-che drei ihrer Bewohner um einer neuen Welt willenzu verlassen im Begriff waren. Wie viele verbrachten

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die Nacht vor dem so ungeduldig ersehnten Tag schlaf-los! Wie manche Brust war von der schweren Last desWartens beklommen! Alle Herzen schlugen voll Unru-he, außer Michel Ardan’s. Dieser Mann, den nichts ausseiner Gemüthsruhe brachte, ging in gewöhnlicher Ge-schäftlichkeit ab und zu, und man konnte nicht wahr-nehmen, daß sein Geist ungewöhnlich in Anspruch ge-nommen war. Er schlief so ruhig, wie Turenne vor derSchlacht auf einer Lafette.

Seit dem frühen Morgen bedeckte eine unzähl-bare Menge die Wiesen, welche sich unabsehbarum Stone’s-Hill herum ausdehnen. Jede Viertelstun-de brachte die Eisenbahn Neugierige von Tampa-Townher; diese Einwanderung stieg bald in’s Fabelhafte undnach Angabe des Tampa-Town Observer betraten imLaufe dieses denkwürdigen Tages fünf Millionen Zu-schauer den Boden Florida’s.

Seit einem Monat bivouakirte die Menge zum größ-ten Theil in der Umgebung des Werkhofs und legteden Grund zu einer Stadt, die nachher Ardan’s-Towngenannt wurde. Die Ebene war mit Baracken, Hütten,Zelten bedeckt, unter welchen eine so zahlreiche Be-völkerung sich aufhielt, daß sie den Neid der größtenStädte erregte.

Es waren da alle Völker der Erde vertreten, es wur-den alle Sprachen der Welt gesprochen in einer Verwir-rung, wie einst um den Thurm zu Babel. Es herrschte

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da unbedingte Gleichheit der amerikanischen Gesell-schaftsklassen. Bankiers, Landbauern, Seeleute, Com-missionäre, Mäkler, Baumwollpflanzer, Großhändler,Schiffsleute, Magistrate drängten und stießen sich dain angeborener Rücksichtslosigkeit. Die Kreolen Loui-siana’s fraternisirten mit den Farmers Indiana’s; dieGentlemen aus Kentucky und Tennessee, die elegan-ten und stolzen Virginier, verkehrten mit den halbwil-den Pelzjägern von den Seen und den Eierhändlern ausCincinnati. Unterm weißen Castorhut oder klassischenPanama, in blauen Hosen aus den Fabriken Opelousas,eleganten Linnenblusen, mit bunten Stiefelchen legtensie übermäßige Jabot’s aus und behingen Hemden undManschetten, Cravatten, ihre Ohren und alle zehn Fin-ger mit einem Kleinodienlager von Nadeln, Brillanten,Ketten, Schnallen, Brelocken, die so theuer wie ge-schmacklos waren. Frauen, Kinder und Dienerschaft,ebenfalls reich geschmückt, begleiteten und umgabendie Männer und Väter, die in der Mitte zahlloser Fami-lienglieder den Stammeshäuptlingen glichen.

Zur Essenszeit hätte man sehen sollen, wie dieseMenge Leute über die Lieblingsspeisen des Südens her-stürzte, und mit einem Appetit, der Florida’s VorräthenGefahr drohte, die für einen europäischen Magen ekel-haften Gerichte verschlang, wie Frösche-Frikassee, ge-dämpftes Affenfleisch, Fisch-Allerlei, Beutelthierbra-ten, Waschbär-Rostbraten.

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Aber auch wie mancherlei Getränke oder Schnäp-se kamen der Verdauung zu Hilfe! Und welch auf-munterndes Geschrei, einladendes Zurufen hallten inden Schenkbuden und Gaststuben voll Gläsern und Be-chern, Flaschen und Karaffen von allen möglichen For-men, Mörsern zum Zuckerstampfen u. dgl.

»Hier Münz-Julep!« rief’s schallend aus einer Schenk-bude.

»Sangaree mit Bordeaux!« erwiderte ein Anderer mitkreischender Stimme.

»Und Gin-sling!« ließ ein Anderer sich vernehmen.»Und Cocktail! Brandy-smash!« schrie ein Anderer.»Wer echten Münz-Julep kosten will nach neuester

Mode!« riefen die gewandten Verkäufer, indem sie soflink wie Taschenspieler, Zucker, Citrone, Münzkraut,zerstoßenes Ei, Cognac, Ananas mit Wasser mengten,den erquickenden Trank zu bereiten.

So wiederholten sich gewöhnlich die lockenden Zu-rufe an die lechzenden, durch Gewürze gereizten Keh-len, durchkreuzten sich in betäubendem Lärm. Aberam 1. December hörte man wenig von solchem Ge-schrei; die Schenkwirthe hätten vergeblich sich heisergerufen. Kein Mensch dachte an Essen und Trinken,und um vier Uhr Nachmittags hatten Manche ihren ge-wohnten Imbiß noch nicht zu sich genommen. Nochmehr, die leidenschaftliche Spiellust der Amerikanerunterlag der Spannung der Gemüther. Wie ließ manKegel und Würfel bei Seite, kümmerte sich nicht um

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Roulette und Cribbage, ließ die Whistkarten, Rouge etnoir, Monte und Faro unangetastet: das Ereigniß desTages verschlang jedes andere Bedürfniß, und ließ fürkeinerlei andere Zerstreuung Raum.

Bis zum Abend lief eine dumpfe geräuschlose Bewe-gung, wie die Schwüle vor schweren Naturereignissen,durch diese harrende Menge. Unbeschreibliches Miß-behagen beherrschte die Geister, peinliche Zerschla-genheit, unerklärliche Beklemmung lastete auf den Ge-müthern. Jeder wünschte, »es möge vorüber sein.«

Gegen sieben Uhr wurde dies dumpfe Schweigenplötzlich unterbrochen. Der Mond stieg am Horizontempor, begrüßt von etlichen Millionen Hurrah’s. Erfand sich pünktlich auf seinem Platze ein. Das Geschreidrang bis zum Himmel empor; auf allen Seiten Hän-deklatschen, während die blonde Phöbe friedlich inbewunderungswürdigem Schein erglänzte und die be-rauschte Menge mit liebevollen Strahlen entzückte.

In diesem Moment erschienen die drei unerschrocke-nen Reisenden. Bei ihrem Anblick immer lauteres Zu-rufen. Urplötzlich, einmüthig erschallte der National-gesang aus beklommener Brust, und das Yankee doodledrang im Chor aus fünf Millionen Kehlen gleich rau-schendem Sturmwind bis zum Ende des Luftmeers hin-an.

Nach diesem unwiderstehlichen Aufschwung ver-stummte der Gesang, die letzten Harmonien lösten

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sich auf, das Geräusch verschwand, und eine schwei-gende Bewegung durchlief die tief ergriffene Menge.Inzwischen waren der Franzose und die beiden Ameri-kaner in den umzäunten Raum getreten, um welchenherum die unzählige Menge sich drängte. Sie erschie-nen in Begleitung der Mitglieder des Gun-Clubs undder von den europäischen Observatorien gesendetenDeputationen. Barbicane ertheilte mit kalter Seelenru-he seine letzten Befehle. Nicholl schritt mit geschlos-senen Lippen, die Arme auf dem Rücken gekreuzt, mitfestem, gemessenem Tritt einher. Michel Ardan, stetsleichten Herzens, in vollständiger Reisekleidung, mitLedergamaschen und Reisetasche, von weiter, braun-sammtner Kleidung umwallt, theilte im Vorüberge-hen warme Händedrücke mit fürstlicher Freigebigkeitaus. In unversiegbarer Laune munterster Heiterkeit la-chend, scherzend, schnitt er dem würdigen J.T. MastonGrimassen; mit einem Wort »Franzose«, und was nochschlimmer ist, »Pariser« bis zur letzten Secunde.

Es schlug zehn, und nun ward es Zeit in dem Projec-til Platz zu nehmen. Das zum Hinabsteigen erforderli-che Verfahren, das feste Zuschrauben des Verschlusses,das Hinwegschaffen der Krahnen und Gerüste über derMündung der Columbiade kostete eine gewisse Zeit.

Barbicane hatte sein Chronometer fast bis auf einZehntheil Secunde nach dem des Ingenieur Murchisongerichtet, der beauftragt war, das Pulver vermittelstdes elektrischen Funkens zu entzünden. So konnten

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die in dem Projectil eingeschlossenen Reisenden mitdem Auge die rührungslose Nadel verfolgen, welcheihnen genau den Augenblick der Abfahrt anzeigte.

Der Moment des Abschieds war gekommen; einerührende Scene. Trotz seiner fieberhaften Munterkeitempfand Michel Ardan eine Gemüthsbewegung. J.T.Maston hatte unter seinen trockenen Wimpern eine al-te Thräne wieder gefunden, die er ohne Zweifel fürdiese Gelegenheit gespart hatte. Er vergoß sie auf dasAntlitz seines theuren, wackeren Präsidenten.

»Wenn ich doch mitginge!« sagte er, »noch ist’s Zeit!«– Unmöglich, alter Freund, erwiderte Barbicane.Nach einigen Augenblicken befanden sich die drei

Reisegefährten im Projectil und hatten die Oeffnunginnen fest zugeschraubt; die Mündung der Columbiadeklaffte nach Entfernung des Gerüstes frei himmelwärts.

Nicholl, Barbicane und Michel Ardan waren in ihremmetallenen Waggon unabänderlich verschlossen.

Die allgemeine Bewegung der Gemüther auf ihremHöhepunkt zu schildern ist unmöglich.

Der Mond stieg in reinster Klarheit am Firmamentempor, die funkelnden Sterne seiner Umgebung über-strahlend; bereits über das Zwillingsgestirn hinaus be-fand er sich eben am Horizont auf halber Bahn bis zumZenith. Jeder begriff also leicht, daß man dem Ziel-punkt voran visirte, wie der Jäger dem Hafen, welchener treffen will, voraus visirt, seine Bewegung berück-sichtigend.

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Eine Stille zum Erschrecken lastete auf der ganzenScene. Kein Windhauch über der Erde! Kein Athemzugaus der Brust! Die Herzen wagten keinen Pulsschlag.Alle Blicke waren angstvoll auf die klaffende Mündungder Columbiade gerichtet.

Murchison’s Auge begleitete die Nadel seines Chro-nometers. Kaum noch 40 Secunden hatten zu verflie-ßen, und jede dauerte eine Ewigkeit.

Bei der 20sten entstand ein allgemeines Schaudern,es fiel der Menge ein, daß die eingeschlossenen Rei-senden ebenso die erschrecklichen Secunden zählten!Man vernahm einzelne Rufe:

»35! – 36! – 37! – 38! – 39! – 40! Feuer!!!«Sofort drückte Murchison mit dem Finger auf den

Unterbrechungs-Apparat, daß die hergestellte Strö-mung den elektrischen Funken auf den innerstenGrund der Columbiade leitete.

Augenblicklich ertönte ein fürchterlicher, unerhör-ter, donnerartiger Knall, ebenso wie das Blitzen undKrachen beim Ausbruch über alle menschlichen Begrif-fe hinaus ging. Eine himmelhohe Feuersäule schoß ausdem Boden, wie aus einem Krater empor. Die Erde er-bebte, und kaum einzelne Personen konnten einen Au-genblick das Projectil gewahren, wie es inmitten flam-mender Dünste siegreich in die Lüfte empor drang.

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27. BEDECKTER HIMMEL.

Der Feuerstrahl, welcher weißglühend zum Himmelsich erhob, verbreitete sein Licht über ganz Florida,und eine Weile war weit und breit das Land taghellerleuchtet. Das unermeßliche sprudelnde Feuer wardhundert Meilen weit auf dem Meere gewahrt und vonmanchem Schiffskapitän als riesenhaftes Meteor auf-gezeichnet.

Ein wahres Erdbeben begleitete die Explosion derColumbiade; Florida ward bis in die innersten Tiefenerschüttert. Das von der Hitze entwickelte Pulvergasdrängte mit unvergleichlicher Gewalt die Luftschich-ten zurück und der künstliche Orcan strich hundert-fach stärker als Gewitterstürme gleich einer Trombedurch die Lüfte.

Nicht ein einziger Zuschauer konnte sich auf denBeinen halten; Männer, Frauen, Kinder sanken wie dieAehren beim Hagel; es entstand ein entsetzlicher Tu-mult, unzählige Personen wurden schwer verletzt, undJ.T. Maston, der aller Vorsicht zuwider sich allzuweitvoran gewagt, ward 120 Fuß weit weg geschleudert,flog wie eine Kugel über die Köpfe seiner Mitbürger.300,000 Menschen waren momentan von Betäubunggetroffen.

Der Luftstrom warf die Baracken um, riß die Hüttennieder, entwurzelte die Bäume in einem Umkreis von

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20 Meilen, trieb die Eisenbahnzüge bis Tampa, stürz-te wie eine Lavine über diese Stadt und zerstörte ei-ne Menge Häuser, unter andern die Marienkirche unddas neue Börsengebäude, welches seiner ganzen Län-ge nach beschädigt ward. Manche Fahrzeuge im Hafenwurden wider einander geworfen und versanken, undein Dutzend Schiffe wurden von der Rhede an die Kü-ste getrieben, nachdem ihre Ketten wie Baumwollenfä-den zerrissen.

Der Kreis dieser Zerstörungen war noch weiter aus-gedehnt, reichte über die Grenzen der VereinigtenStaaten hinaus. Ja, die Wirkungen des Stoßes wurden,von den Westwinden begünstigt, über 300 Meilen vomamerikanischen Ufer entfernt auf dem AtlantischenMeere verspürt. Ein gemachter, unerwarteter Sturm-wind, welchen der Admiral Fitz-Roy nicht voraussehengekonnt, traf mit unerhörter Gewalt die Schiffe; man-che Fahrzeuge, die nicht Zeit hatten, sich dem fürchter-lichen Wirbel zu entziehen, scheiterten mit vollen Se-geln, unter anderen der Child Harold aus Liverpool, ei-ne bedauerliche Katastrophe, die von Seiten Englandslebhafte Anklagen hervorrief.

Endlich, um nichts zu übergehen, obwohl die That-sache keine andere Bürgschaft hat, als die Aussageeiniger eingebornen Bewohner von Goréa und Sier-ra Leone, welche behaupten, eine halbe Stunde nach

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Abfahrt des Projectils eine dumpfe Erschütterung ver-spürt zu haben, die äußerste Verpflanzung der Tonwel-len, welche über das Atlantische Meer drang und ander afrikanischen Küste erlosch.

Doch auf Florida zurück zu kommen. Als der ersteMoment des Tumults vorüber war, erwachten die Ver-wundeten, die ganze Menge aus ihrer Betäubung, undwahnsinniges Geschrei: »Hurrah für Ardan! Hurrah fürBarbicane! Hurrah für Nicholl!« drang zum Himmelempor. Einige Millionen Menschen, mit Fernröhren,Brillen, Lorgnetten bewaffnet, forschten in den Lüften,ihre Quetschungen und Erschütterungen vergessend,nur allein mit dem Projectil beschäftigt. Aber verge-bens. Es war nicht mehr wahrzunehmen, man muß-te sich darein geben, auf Telegramme von Longs Peakzu warten. Der Director der Sternwarte zu Cambridge,Belfast, war auf seinem Posten im Felsengebirge, unddiesem geschickten, ausdauernden Astronomen warendie Beobachtungen anvertraut.

Aber eine unvorausgesehene Erscheinung, die je-doch leicht vorauszusehen, obwohl nicht zu verhin-dern war, stellte die Ungeduld des Publicums auf eineharte Probe.

Das bisher so schöne Wetter änderte sich; der Him-mel ward trübe, mit Gewölk verhüllt. War es andersmöglich nach der fürchterlichen Veränderung in derLage der Luftschichten und nach der Zerstreuung der

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enormen Menge von Dünsten, welche durch die Ver-brennung von 400,000 Pfund Schießbaumwolle er-zeugt wurden? Die ganze Naturordnung war gestörtworden. Darüber sollte man sich nicht wundern, dennbei den Seeschlachten hat man oft wahrgenommen,daß durch die Kanonensalven der Zustand der Atmo-sphäre plötzlich verändert wurde.

Am folgenden Tag war bei Sonnenaufgang der Hori-zont mit dichtem Gewölk bedeckt, ein undurchdringli-cher Vorhang zwischen Himmel und Erde gezogen, derleider bis zu den Regionen des Felsengebirgs reichte.Eine ärgerliche Sache. Allerwärts in der Welt wurdenReclamationen laut. Aber die Natur ließ sich nicht rüh-ren, und gewißlich, da die Ordnung in der Atmosphärevon den Menschen gestört worden war, so mußten sieauch die Folgen davon sich gefallen lassen.

Während dieses ersten Tags suchte Jeder den dü-stern Wolkenschleier zu durchdringen, aber vergebens,und zudem irrte man auch, indem man seine Blickezum Himmel richtete, denn in Folge der täglichen Be-wegung der Erde befand sich das Projectil nothwendigüber den Köpfen der Antipoden.

Wie dem auch sei, da die Nacht wieder kam, un-durchdringlich finstere Nacht, konnte man, als derMond am Horizont emporstieg, ihn doch nicht sehen;man konnte meinen, er entziehe absichtlich seinen An-blick den Verwegenen, die nach ihm geschossen. Eine

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Beobachtung war also nicht möglich, und die Depe-schen aus Longs Peak bestätigten den leidigen Unstern.

Jedoch, wenn der Versuch glückte, so mußten dieam 1. December um 10 Uhr 46 Minuten und 40 Secun-den Abends abgefahrenen Reisenden am 4. zu Mitter-nacht ankommen. Daher geduldete man sich bis dahinohne allzuviel Murren, zumal da es unter diesen Um-ständen doch sehr schwierig gewesen wäre, einen sokleinen Gegenstand wahrzunehmen.

Am 4. December wäre es nun wohl, von acht UhrAbends bis zu Mitternacht, möglich gewesen, dem Pro-jectil, welches wie ein schwarzer Punkt vor der glän-zenden Mondscheibe erschienen wäre, auf die Spur zukommen. Aber das Wetter blieb unbarmherzig bedeckt,was die Erbitterung des Publicums auf die Spitze trieb.Man ging so weit, gegen den Mond Schmähungen aus-zustoßen, weil er sich gar nicht zeigen wollte. So geht’sleider stets hienieden!

J.T. Maston reiste in Verzweiflung nach Longs Peak.Er wollte selbst beobachten. Er hatte nicht den min-desten Zweifel, daß seine Freunde am Ziel ihrer Rei-se ankämen. Zudem hatte man noch nicht gehört, daßdas Projectil irgendwo auf den Inseln oder Continen-ten der Erde wieder niedergefallen sei, und J.T. Mastonhielt gar nicht für möglich, daß es in ein Meer gefallen,wovon doch die Erde zu drei Viertheil bedeckt ist.

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Am 5. gleiche Witterung. Die großen Teleskopen deralten Welt, Herschel’s, Rosse’s, Foucault’s waren un-ablässig auf das Nachtgestirn gerichtet, denn in Europawar es prächtiges Wetter; aber diese Instrumente wa-ren verhältnißmäßig zu schwach, um mit Erfolg beob-achten zu können.

Am 6. gleiches Wetter. Drei Viertheil der Erde wurdevon Ungeduld verzehrt. Man kam darauf, die unsinnig-sten Mittel vorzuschlagen, um die in der Luft gesam-melten Wolken zu zerstreuen.

Am 7. schien der Himmel ein etwas anderes Ausse-hen zu bekommen. Aber die gefaßte Hoffnung währ-te nicht lange, und am Abend verhüllte ein dichterWolkenvorhang das bestirnte Himmelsgewölbe allenBlicken.

Dieser Umstand wurde nun bedeutend. In der That,am 11. um 9 Uhr 11 Minuten Vormittags mußte derMond in sein letztes Viertel treten. Nach Ablauf die-ser Frist sollte er stets abnehmen, und wäre auch dasWetter wieder völlig heiter, so würden doch die Aus-sichten für die Beobachtung immer geringer; denn derMond würde dann nur einen stets geringer werdendenTheil seiner Scheibe zeigen, und am Ende Neumondwerden, d.h. er würde zugleich mit der Sonne unter-und aufgehen, so daß die Strahlen derselben ihn völ-lig unsichtbar machten. Dann müßte man bis zum 3.Januar um 12 Uhr 44 Minuten warten, um beim Voll-mond die Beobachtungen wieder aufzunehmen.

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Die Journale veröffentlichten diese Erwägungen mittausend Commentaren, und verhehlten dem Publicumnicht, daß es sich mit einer Engelsgeduld waffnen müs-se.

Am 8. Nichts.Am 9. zeigte sich die Sonne wieder einen Augen-

blick, als wolle sie der Amerikaner spotten. LautesHohngeschrei empfing sie, und ohne Zweifel dadurchbeleidigt, zeigte sie nur um so spärlicher ihre Strahlen.

Am 10. keine Aenderung. Maston wäre bald zumNarren geworden, und man hegte ernstliche Besorgnis-se für das Gehirn des würdigen Mannes, welches bisherunter seinem Gutta-Percha-Schädel sich gut conservirthatte.

Aber am 11. entluden sich fürchterliche Stürme, wiesie zwischen den Wendekreisen vorkommen. StarkeOstwinde fegten die so lange gehäuften Wolken hin-weg, und am Abend stieg das Nachtgestirn mit halbangenagter Scheibe majestätisch zwischen den übrigenSternen hinan.

28. EIN NEUES GESTIRN.

In derselben Nacht verbreitete sich die so ungedul-dig erwartete Nachricht zuckend wie ein Blitzstrahlin allen Staaten der Union, und durchlief über denOcean springend alle Telegraphendrähte des Erdballs.Das Projectil war durch den Riesenreflector zu LongsPeak bemerkt worden.

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Es folge hier die vom Director des Observatoriumszu Cambridge gegebene Meldung. Sie enthält den wis-senschaftlichen Schluß dieses großen Experiments desGun-Clubs.

Longs Peak, 12. December.An die Herren Mitglieder des Bureau des Observato-

riums zu Cambridge.»Das vermittelst der Columbiade zu Stone’s-Hill ab-

geschossene Projectil ist von den Herren Belfast undJ.T. Maston am 12. December um 8 Uhr 47 MinutenAbends wahrgenommen worden, als der Mond eben insein letztes Viertel trat.

Das Projectil ist nicht an seinen Zielpunkt gelangt,sondern neben vorbei, doch ziemlich nahe, so daßes von der Anziehungskraft des Mondes festgehaltenwird.

Seine Bewegung in gerader Richtung hat sich in ei-ne Kreisbewegung mit reißender Schnelligkeit verwan-delt, und es ist in eine elliptische Bahn um den Mondherum fortgerissen worden, so daß es ein wirklicherTrabant desselben ist.

Die Elemente dieses neuen Gestirns festzustellen,ist noch nicht möglich gewesen. Man kennt wederdie Schnelligkeit seiner Fortbewegung, noch der Bewe-gung um seine Achse. Seine Entfernung von der Mond-oberfläche läßt sich auf etwa 2833 Meilen anschlagen.

Jetzt sind zwei Fälle als möglich anzunehmen, wel-che eine Aenderung im Stand der Dinge herbeiführen.

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Entweder die Anziehungskraft des Mondes wirdüberwiegen, und die Reisenden gelangen dann an ihrZiel.

Oder unveränderlich festgehalten wird das Projectilbis zum Ende der Jahrhunderte um die Mondscheibeherum kreisen.

Darüber werden die Beobachtungen einmal Aus-kunft geben, aber bis jetzt hat der Versuch des Gun-Clubs nichts weiter erzielt, als daß unser Sonnensy-stem mit einem neuen Gestirn ausgestattet worden ist.

J. Belfast.«Wie viele Fragen wurden durch diese unerwartete

Lösung angeregt! Welche geheimnißvolle Lage bliebden Forschungen der Wissenschaft vorbehalten! Dankdem Muth und der Hingebung dreier Männer hattedieser dem Anschein nach ziemlich unbedeutende Ver-such, eine Kugel nach dem Mond zu schleudern, einunermeßliches Ergebniß von unberechenbaren Folgenbekommen. Hatten auch die in dem neuen Trabanteneingeschlossenen Reisenden ihr Ziel nicht erreicht, sogehörten sie doch wenigstens der Mondwelt an, krei-sten um das Nachtgestirn, und zum ersten Mal konntedas Menschenauge in alle seine Geheimnisse eindrin-gen. Die Namen Nicholl, Barbicane, Michel Ardan ha-ben sich in den Annalen der Astronomie ruhmvoll ver-ewigt, denn diese kühnen Forscher haben, aus Begier-de den Kreis der menschlichen Kenntnisse zu erwei-tern, sich verwegen in den Weltenraum gewagt und in

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dem seltsamsten Unternehmen der Neuzeit ihr Lebenauf’s Spiel gesetzt.

Wie dem auch sei, als die Meldung aus Longs Peaksich verbreitete, wurde die ganze Welt theilnehmendvon Staunen und Schrecken erfüllt. Gab’s eine Mög-lichkeit, diesen kühnen Erdbewohnern Beistand zu lei-sten? Nein, ganz gewiß nicht, denn sie hatten sichdurch Ueberschreitung der von Gott den Creaturen derirdischen Welt gesteckten Grenzen außer Verbindungmit der Menschheit gesetzt. Sie konnten sich zwei Mo-nate lang Luft bereiten. Mit Lebensmitteln waren sieauf ein Jahr versehen. Aber hernach? . . . Die fühllose-sten Herzen erbangten bei dieser fürchterlichen Frage.

Ein einziger Mensch wollte das Verzweifelte der Lagenicht zugeben; ein einziger hatte Zuversicht, ihr erge-bener, kühner und gleich ihnen entschlossener Freund,der wackere J.T. Maston.

Uebrigens verlor er sie nicht aus den Augen. Der Po-sten Longs Peak war von nun an sein Wohnsitz, derSpiegel des unermeßlichen Reflectors sein Horizont.Sobald an demselben der Mond emporstieg, faßte erihn in den Rahmen seines Sehfeldes, verlor ihn keinenMoment aus den Augen und begleitete ihn mit Beharr-lichkeit auf seiner Bahn durch die Sternenräume; mitunverwüstlicher Geduld beobachtete er den Weg desProjectils vor seiner silbernen Scheibe, und wahrhaftigder würdige Mann blieb in fortwährender Verbindung

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mit seinen drei Freunden, welche wiederzusehen er dieHoffnung nicht aufgab.

»Wir werden mit ihnen correspondiren«, sagte er zuJedem, der ihn hören wollte, »sobald die Umstände esgestatten. Wir werden Kunde von ihnen bekommen,und sie von uns! Zudem weiß ich, daß es sinnreiche,erfinderische Männer sind, die alle Hilfsquellen derKunst, Wissenschaft und Industrie bei sich haben. Da-mit richtet man aus, was man will, und wir werdensehen, daß sie sich aus der Verlegenheit ziehen kön-nen!«